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  Teil 2     Die Umkehrung der Neurose   

 

1  Entwurf für den Wandel   

Janov 1980

 

73-102

Neurose ist vor allen Dingen ein System, und die Auflösung der Neurose ist in diesem System zu finden. Wenn wir dies nicht zur Kenntnis nehmen, wird das Auflösen der Neurose unübersichtlich komplex. Das neurotische System erzeugt fortwährend irreale Vorstellungen, Wahrnehmungen, Überzeugungen und Bedingungen, sowohl geistig als auch körperlich. Das neurotische System ist buchstäblich ein anderes bio-chemisches System als das normale.1

Die Behandlung der Neurose ist der Entwirrung der Struktur eines Gens sehr ähnlich. Kennen wir erst einmal die zentralen Kodierungs­mechanismen, die die Elemente aneinander­binden, fügt sich das Puzzle zusammen. Wir glauben, daß es bei der Neurose zentrale Kodierungs­mechanismen gibt. Es existiert ein grundlegendes Prinzip, und dieses Prinzip ist in den verdrängten Feelings und Bedürfnissen des Individuums zu finden.

Wenn wir unsere Anstrengungen nicht auf das System richten, werden wir uns in einer fragmentarischen Jagd verlieren, wir rennen dann dieser Einstellung hinterher und jenem Verhalten, dieser Wahrnehmung oder jener Empfindung, ohne Bezug zur Gesamtheit der Struktur, die Hunderte von neurotischen Symptomen ausspuckt — sowohl physische als auch psychische. Buchstäblich Tausende von Verhaltens­weisen basieren auf nur wenigen Primär-Feelings.

Neurose entsteht aus dem Widerspruch von Ausdruck und Verdrängung — Expression und Repression. Alles andere — Empfindungs­vermögen, Einstellungen, Erkenntnis, Problemlösungs­verhalten, Lernen sowie Persönlichkeitsaspekte — ist diesem Widerspruch untergeordnet. Die mannigfaltigen neurotischen Probleme sind nur Abkömmlinge dieser zwei in Widerstreit stehenden Kräfte. Um wirksam sein zu können, muß die Therapie den zentralen Widerspruch in den Brennpunkt nehmen. Sie darf sich nicht nur um die Synthese bemühen. Wenn die Schlüsselprobleme gelöst worden sind, wird sich alles andere zusammen­fügen.

1)  Wird in Teil 4 erläutert.


Primärtherapie ist der umgekehrte Prozeß der Neurotisierung. Statt Urschmerz zu blockieren, was zur Neurose führt, gibt sie diese Schmerzen frei und befreit somit den Menschen. Statt das Unbewußte zu komplizieren, wie es durch die Verdrängung von Urschmerz geschieht, drückt die Umkehrung Unbewußtes aus, um das Bewußtsein zu befreien. Statt Abwehr gegen das Erleben von Urschmerz zu errichten, werden Abwehrformen freigelegt, so daß der bereits im System vorhandene Schmerz in seiner ganzen ursprünglichen Intensität gefühlt werden kann. Statt neurotischen Ausagierens zum Zweck der Spannungs­abfuhr wird das Ausagieren hinausgezögert, so daß sich Spannung bis zum Augenblick des Durchbruchs aufbaut. 

Da sich die Neurose folgerichtig vom Innern des Gehirns nach außen niederlegt, muß die Behandlung eine Reise auf dieser historischen Route in umgekehrter Reihenfolge mit einbeziehen, von den allerneuesten Ereignissen bis zu den entscheidenden Erfahrungen der frühesten Kindheit. Neurose ist ein unbewußter Prozeß. Primärtherapie ist ein bewußter.

Die Primärtherapie ist um das Verständnis der Entwicklung des Neurotisierungsprozesses herum aufgebaut, sowohl in neuro­physio­logischer als auch psychologischer Hinsicht. Entwicklung muß in jeder Theorie der Neurose berücksichtigt werden.

Zum Beispiel, in der Verhaltenstherapie, die Entwicklung negiert, mag man die Technik eines gemäßigten Schocks anwenden, jedesmal etwa, wenn ein Raucher zu einer Zigarette greift. Die Implikation dieser Technik ist, daß Rauchen eine schlechte Angewohnheit ist, etwas, das man gelernt hat und das verlernt werden muß, eine Gewohnheitssache, die durch Strafe abgewöhnt werden kann. Verhaltenstherapie hört sich wie eine wissenschaftliche Verfeinerung dessen an, was Eltern ihren Kindern sagen. Sie berücksichtigt keine der Gewohnheit zugrunde liegenden Ursachen. Behandelt wird das »Verlangen« nach einer Zigarette, statt richtiger das »Verlangen« als das bewußte psychologische Resultat einer Entwicklungsgeschichte zu betrachten. Wir wollen Zigaretten, wenn wir unsere realen Bedürfnisse nicht fühlen können. Indem man uns unsere Wünsche durch Strafe, Mahnung oder rationale Begründung ihrer schädigenden Wirkung wegnimmt, läßt man die verursachenden Quellen und damit auch die Neurose intakt.

Wenn wir darin übereinstimmen, daß die Vergangenheit bei uns bleibt und Druck ausübt, stellt sich die Frage, wie wir mit ihr ein Ende machen können. Einige Schulen - die Freudsche eingeschlossen - glauben, daß man sie wegreden kann; daß man ein Verständnis davon erlangen kann, so daß sie sich irgendwie auflöst.

Im Gegensatz dazu ist Primärtherapie ein Prozeß, der auf der Vorstellung basiert, daß Neurose ein Daseins-Zustand ist. Sie ist weder eine »Psychotherapie« noch eine »Körpertherapie«. Sie ist beides zugleich. Ihr liegt die einfache Annahme zugrunde, daß das, was mit uns als Kindern geschieht, sich nicht nach dem Erlebnis verflüchtigt, sondern im Gegenteil als Teil unserer Physiologie bestehenbleibt.

Urschmerz ist nicht einfach nur ein Begriff oder eine Einstellung. Er wird als eine Erfahrung registriert und muß durch Erleben gelöst werden. Daher muß man seine Anstrengungen darauf richten, durch feeling eine gründliche Aufarbeitung und ein Verständnis davon zu erlangen, wie sich diese frühen Geschehnisse niederlegen, wo sie begraben worden sind und wie die Prozesse verlaufen, mit denen sie verdrängt gehalten werden.

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2.  Die heilende Kraft   

 

 

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In der Geschichte der Psychologie sind Emotionen mit Argwohn behandelt worden. Man hat sie als Eindringlinge in den Geist betrachtet, als etwas, das uns irrational macht. In der Tat ist das Wort »emotional« mit »irrational« gleichgesetzt worden. Jetzt erst begreifen wir, daß nur angefühlte Emotionen das Bewußtsein verzerren. Gefühle sind an und für sich ungemein rational. Sie haben ihre eigene Logik, und wenn sie gefühlt worden sind, bekommen viele unserer Verhaltensweisen einen Sinn.

Die Emotionen sind nie sinnlos, es sei denn, sie sind blockiert und können nicht gefühlt werden. Dann sind sie planlos, weil sie das Rationale und Reale überfluten. Dann treiben sie uns in falsche Wahrnehmungen und Fehlinterpretationen und lassen uns verrückte, symbolische Sachen tun. Der sogenannte logische Verstand wird nur durch ungefühlte, umgeleitete Emotionen entstellt und verzerrt. Nicht-emotional zu sein heißt deshalb, irrational zu sein. Emotional zu sein heißt, rational zu sein.

Feelings im Einklang mit dem Intellekt bringen wahre Rationalität hervor. Die Aufgabe ist es, sie zur Zusammenarbeit zu bringen. Wenn der zentrale innere Widerspruch zwischen dem Fühlen von Bedürfnissen und ihrer Verdrängung gelöst ist, besteht die Haupt-Interaktion nicht mehr zwischen dem Menschen und dem Selbst, sondern zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Wir können uns direkt der Außenwelt zuwenden, statt einen unaufhörlichen Kampf gegen unsere inneren Dämonen zu führen.

Feelings sind Zustände des Seins und gestalten das menschliche Verhalten. Blockierte Feelings schaffen neurotisches Verhalten. Es gibt einen sehr guten Grund, warum die Mehrzahl von uns ihre Bedürfnisse nicht fühlt und warum die meisten damit beschäftigt sind, sich selbst der Befriedigung zu berauben. Dem Neurotiker erscheint es viel besser zu versuchen, etwas in der Gegenwart zu bekommen, was einem das Feeling vom Leibe hält, als wegen dieser ganzen Deprivation in Agonie zu verfallen. Und so setzt sich die Deprivation mit strafender Ironie fort.


Die Agonie der Heilung

 

Es ist die natürlichste Sache der Welt, auf Schmerz zu reagieren. Wenn wir uns zum Beispiel verbrannt haben oder gebissen worden sind, weinen, heulen oder schreien wir, schütteln wir die verletzte Hand oder hüpfen herum. Diese natürlichen Reaktionen tragen dazu bei, die Energie des Schmerzes zu verbrauchen und sie schließlich zum Verschwinden zu bringen. Doch wenn Urschmerz im Übermaß auftritt und verdrängt wird, verbraucht sich die Energie nicht. Sie bleibt als konstante innere Kraft zurück. Statt sie in einem Heilungsprozeß, der ein hochenergetischer Zustand ist, nutzbar zu machen, wird diese Energie umgeleitet und in verschiedene Wege gelenkt, die das System fortwährend aktivieren. Der heilende Prozeß der Entspannung ereignet sich nicht. Die Heilungssequenz läuft nicht ab und die Wunde wird nicht geschlossen.

In Begriffen der Neurologie ausgedrückt, heißt das, daß ein Übergewicht an Urschmerz durch den Thalamus von den heilenden Strukturen des Hypothalamus abgelenkt und auf den Kortex (und das limbische System) übertragen wird, um die Energie zu entschärfen und aufzuheben. Das »Bewußtsein« muß sich jetzt mit einem Übermaß an Energie beschäftigen, das es mit Gedanken überspült hält. Der davon betroffene Mensch — sollte ihm bewußt sein, daß er davon betroffen ist — kann sich in eine konventionelle psychotherapeutische Behandlung begeben und sich mit der Entwicklung neuer Einsichten in seine Neurose beschäftigen. Unglücklicher­weise verwerten diese Einsichten umgeleitete, nicht-heilende Energie, die keine Verbindung zum Ursprung hat. Diese Einsichten werden keine gründliche Hilfe sein, sondern sind nur unverbundene, geistige Turnübungen.

Neurose ist kein abstraktes Konzept oder ein unklares »psychologisches« Problem. Sie ist eine wirkliche Wunde. Jede Wunde muß schmerzen, um zu heilen. Der Schmerz ist der tätige Heilungsprozeß. Je größer die Verletzung, desto größer sind die Schmerzen und desto aufreibender und kritischer ist der Heilungsprozeß. Wenn zum Beispiel dein Finger erfriert, ist das anfangs sehr schmerzhaft und wird dann zunehmend quälender. Das Leiden wird schlimmer, bis es kaum noch erträglich erscheint. Dann läßt es allmählich nach, bis man es fast nicht mehr wahrnimmt. Es kann sich sogar ins Gegenteil kehren, in ein Gefühl der Wärme. Oder es existiert überhaupt kein Gefühl.

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Ist der Schmerz vorbei? Man könnte es annehmen. Aber wenn der Finger erwärmt wird, ist der Schmerz wieder schrecklich. Was du dann fühlst, ist das vorher unterbrochene Leiden. Das System konnte nur dieses bestimmte Maß an Schmerz empfinden, bevor es den Schmerz davon zurückhielt, ins Bewußtsein zu dringen. Jetzt wird der Schmerz durch die Wärme und die Wieder­belebung des fast abgestorbenen Gewebes einfach freigesetzt.

Und daher tut es höllisch weh. Du kannst weinen, wimmern, dich krümmen, aber jetzt heilt es wenigstens. Solange du empfindungs­los bist, solange der Schmerz unterbrochen ist, heilt überhaupt nichts, und falls du in diesem Zustand verbleiben würdest, wäre dein Finger verloren. Nur das Wiederaufleben des Fühlens — von Schmerz — rettet dich.

Erfrierungen bedrohen normalerweise nur einige Extremitäten, eine Fingerspitze, einige Zehen. Doch dieses Beispiel ist von größter Bedeutung, weil viele von uns an Erfrierungen des ganzen Organismus leiden. Wir leben in der Phase der Betäubung. Wir sind übel und wiederholt verletzt worden und haben noch die Agonie dieser Schmerzen zu fühlen.

Die Folge davon ist, daß wir nie gesunden. Wenn ein Kind in seinen frühen Jahren so verletzt wurde, daß es viele Stunden brauchte, um sich auszuweinen. Wenn ihm jedoch Ruhe geboten wurde, es geschlagen und wegen des Weinens getadelt wurde oder es einfach nicht fähig war zu weinen, dann hat es — buchstäblich — noch viele Stunden des Weinens hinter sich zu bringen. Geschieht dies in seinem Leben immer und immer wieder, hat es eine Menge gespeicherter Energie. Ihre Freisetzung ist ein hochenergetischer Zustand, und ein hochenergetischer Zustand ist eine Voraussetzung für den Heilungsprozeß. (Man hat entdeckt, daß die Knochenheilung nach einer Fraktur durch einen konstanten Zufluß geringer Stromstärke an die Bruchstelle stimuliert wird.)

Wegen der unglaublichen Traumata, die die meisten Säuglinge erdulden, würden sie normalerweise die meiste Zeit ihres ersten Lebensjahres weinen. Doch dies ist selten der Fall. Wenn sie zu Dauerweinern werden, hindern die Eltern sie gewöhnlich durch Gleichgültigkeit, rohe Behandlung, Schlagen, Prügel daran oder durch Beruhigungsmittel wie etwa Phenobarbital, das viele Jahr­zehnte lang das Allheilmittel der Kinderärzte war.

Hierin liegt eine traurige Ironie. Die Babys werden entmutigt, verletzt oder mit Arzneimitteln betäubt, um sie vom Weinen abzuhalten, obwohl es wahrscheinlich gerade die Reaktion des Weinens, diese natürliche Reaktion auf traumatische Erlebnisse ist, die diese ursprünglichen Primär-Wunden heilen würde. Allein schon eine schwere Geburt kann Anlaß zu einem anhaltenden Weinbedürfnis sein.

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Im Gegensatz dazu weinen »Leboyer-Babys« charakter­istischerweise sehr wenig. Da sie eine viel leichtere, sanftere Geburt hinter sich haben, muß keine Folge des Traumas ablaufen und geheilt werden. Die meisten Säuglinge haben ein Trauma erfahren, müssen aber auf den Tag warten, an dem sie in der Lage sind, darauf zu reagieren und mit der Heilung des durch Urschmerz verursachten Schadens beginnen können.

Aus diesem Grund weinen unsere erwachsenen Patienten auch oft (unbeabsichtigt) wie Babys, die man allein in ihrem Bettchen gelassen hat. Sie müssen eine Wein-(Heilungs-)Sequenz beenden, die ursprünglich durch Verdrängung verhindert wurde. Es kann sein, daß sie früh in ihrem Leben aufgegeben haben, auf die Verletzungen zu reagieren, weil die Traumata so gewaltig waren oder weil man sie wütend angeguckt hat, sie angeherrscht, geschüttelt oder geschlagen wurden. Jetzt, als Erwachsene in der Therapie, weinen sie nicht nur als Erwachsene über jene Erfahrung, sie weinen als das Baby, lange und laut genug, um den Kreis zu schließen und die katastrophale Erkenntnis zu fühlen: »Sie sind nicht hier«, »Sie kommen nicht mal, wenn ich sie brauche«, oder unkompliziert und grundlegend »Sie lieben mich nicht«.

Wenn wir uns das Gehirn anschauen, können wir genau erkennen, wie die Verdrängung überwältigenden Schmerzes unsere Leben rettet, selbst wenn sie die Heilung unterbricht. Das Ablenken des Urschmerzes von Gehirnstrukturen, die die Heilung kontrollieren, ist eine Möglichkeit, uns vor tödlichen, in die Höhe schießenden vitalen Körperfunktionen zu schützen. Wenn der Hypothalamus versuchte, die ganze Last zu bearbeiten, ergäben sich Erhöhungen bei der Mobilisierung des Körpers, die uns töten könnten; konstante Körpertemperatur von 103 Grad Fahrenheit, beständiger Puls von mehr als 200 und ein Blutdruck, der über 200 liegt. Wir wissen dies, weil wir bei unserer langsamen und sorgfältigen Hilfe, einen Teil der Urschmerzen dem Bewußtsein der Patienten wieder zugänglich zu machen, häufig Befunde dieser vitalen Körperfunktionen in dem Augenblick sehen, bevor der Patient eine Verbindung zu seinen Feelings herstellt.

Verdrängte Reaktionen verbleiben im System als Sequenzen, die darauf warten, ablaufen zu können. Im Fall der Erfrierung verfügt der Betroffene über keine vollständige Reaktion auf das Trauma; er leidet nicht genug unter den Schmerzen.

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 Um gesunden zu können, muß er die Verletzungssequenz beenden. Diese Symptome des Leidens sind Teil der Befreiung vom Schmerz und daher auch des Heilungsprozesses. Man sollte vorsichtig sein, bevor man sich einmischt. Wenn jemand Beruhigungsmittel gegen Angst oder Lithium gegen Depressionen verabreicht, fühlt sich der Patient wohler, aber das Fühlen von Schmerz, das eine Notwendigkeit für die Gesundung ist, wurde aufgeschoben. Die Symptome des Leidens, besonders die Neurose, sind überlebens-orientiert. Es liegt in der Natur der Krankheit, die Kräfte zu ihrer Beseitigung in Gang zu setzen. Seinen eigenen natürlichen Prozessen überlassen, produziert der Körper das, was er braucht, um die Krankheit loszuwerden. In den Krankheiten steckt der Kern zur Behebung und Gesundung. In der Primärtherapie erkennen wir diese Kräfte und lassen ihnen Raum zur Entfaltung.

Richard Lippin, ein Arzt, der früher an der medizinischen Abteilung der Untersuchungshaftanstalt in Philadelphia tätig war, berichtete von einem eindrucksvollen Beispiel dafür, wie Schmerz und die darauf folgende Gesundungsreaktion aufgeschoben und gespeichert werden kann. 

Einer seiner Patienten hatte hohe Dosen Methadon eingenommen, das, wie das Heroin, das es ersetzen soll, ein Schmerz-Killer ist. Er wurde einem Tuberkulose-Haut-Test unterzogen. Der war negativ. Ein Jahr darauf, man hatte dem Mann das Methadon entzogen, entwickelte er plötzlich einen deutlichen, positiven TB-Hautfleck — an der Stelle, an der er getestet worden war. Zum erstenmal kämpften Immunstoffe gegen das TB-Antigen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Test keine Reaktion gezeigt, weil die Droge die Schmerzen des Mannes abgestumpft hatte. Wir können sehen, daß die Droge den Patienten teilweise unbewußt machte. Methadon trug dazu bei, Schmerz abzuschirmen — und zwar von Zentren, die eine Heilung eingeleitet hätten. Der Körper konnte nicht reagieren. Als sich das Bewußtsein beim Entzug der Droge weitete, war Schmerz da, vollständige Reaktion, und zum erstenmal Gesundung. Der Organismus hatte die Reaktion und die Heilungssequenz ein Jahr lang gespeichert.

Wenn ein einfacher, örtlicher Schmerz ein Jahr lang gespeichert werden kann, fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, daß größere Urschmerzen für Jahrzehnte gespeichert werden können und darauf warten, die Heilungssequenz zu vervollständigen.

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Diese Schmerzen werden tatsächlich in unverminderter Stärke und Deutlichkeit bis zu dem Tag gespeichert, an dem wir sie schließlich fühlen. In seinen unentwegten Gesundungsversuchen läßt uns unser Organismus in einer Art agieren, die uns heilen würde, wäre die Situation nur die reale, ursprüngliche Situation und nicht nur ein Symbol derselben. Eine Therapiesitzung, in der vor Wut total die Kontrolle verlorengeht, führt den Patienten normalerweise an den originalen Brennpunkt heran, wenn auch das scheinbare Ziel jemand oder etwas aus der Gegenwart ist. So befremdlich es klingen mag, neurotisches Verhalten ist auf Heilung gerichtet. Doch wird das Ziel nicht eher erreicht, als bis die symbolische Sequenz in eine reale gekehrt wird.

Bevor wir den Schmerz nicht fühlen, leiden wir; Schmerzen heilen; Leiden ist der Dauerzustand einer nicht erfolgten Heilung. Ein Beispiel dieser Dialektik, das vielen von uns vertraut ist, bietet uns die Trauer. Wenn jemand, der uns nahesteht, stirbt, und wir es nicht »herauslassen«, wenn wir nicht traurig sind und weinen, wenn wir es nicht zulassen, unter der ganzen Wucht des Verlustes durchzudrehen — wenn wir statt dessen das Gefühl haben, wir müßten »tapfer« sein, daß »das Leben weitergeht« und wir »uns nicht hängen­lassen« sollten —, leiden wir chronisch unter diesem Verlust. Wir werden niemals da durchkommen, weil wir es nicht fühlen. Indem wir den Schmerz verleugnen, fahren wir fort, seine Last zu tragen. Wir bringen unser eigenes Leben in Gefahr, wir riskieren ernsthafte Krankheiten, die durch den Streß nicht gefühlter Feelings verursacht werden.1

GENE:  

Ich kann mich daran erinnern, wie mir die erste Träne kam und aus dem Augenwinkel über die Wange lief. Es war in der ersten Woche meiner Therapie. Ich weiß nicht mehr, worüber ich geweint habe, aber an dem Tag waren es zwei oder drei Tränen. Sowas hatte ich noch nie erlebt. Ich kann mich an den Tag in der zweiten oder dritten Therapie­woche erinnern, an dem ich nicht aufhören konnte zu weinen. Mir liefen die Tränen nur so die Wangen herunter. Hinterher sagte ich meinem Therapeuten, daß ich es fast nicht glauben könne, es sei zu schön, um wahr zu sein. Als ich zum Motel zurückfuhr, war ich entspannter als jemals zuvor in meinem Leben. Ich war ganz glücklich.

1)  Zahlreiche Untersuchungen weisen auf das vermehrte Auftreten schwerer Krankheiten nach dem Verlust eines geliebten Menschen hin.

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Um eine Heilung zu erreichen, muß Leiden in Schmerz umgewandelt werden. Wir beobachten dies, wenn wir Therapiesitzungen kontrollieren, in denen Patienten den alten Urschmerz wieder erleben, der unter dem alltäglichen Leiden begraben liegt. Der Patient fängt seine Sitzung mit Leiden an. Sein Nervensystem mobilisiert jeden einzelnen Teil von ihm in dem natürlichen Bemühen, den Urschmerz abzuwehren; er leidet, um den Urschmerz fernzuhalten. Vorübergehend sind die vitalen Körper­funktionen sehr hoch, was typisch für einen Leidenszustand ist. Der Körper »weiß«, daß der Schmerz naht, und reagiert auf die Bedrohung, wie er es im Leben des Patienten schon immer getan hat, abgesehen davon, daß jetzt, wo der Patient den Schmerz zuläßt, die Reaktion viel heftiger ist. Das einzige Mal, bei dem der Patient diesen dermaßen schmerzhaft empfunden hat, war der Augenblick, in dem sich der Urschmerz ursprünglich ereignete und verdrängt wurde.

Wenn das Leiden einen Höhepunkt erreicht (wie etwa in einer Primal-Sitzung), versagt das Abwehrsystem, und der Patient fällt in das Gegenteil des Leidens — das Fühlen des Urschmerzes. Hinterher entspannt sich der Körper, die vitalen Körperfunktionen fallen, der Patient fühlt und drückt den Schmerz aus, der Zugang zum Bewußtsein gefunden hat, und die Heilung beginnt. Das tatsächliche Erleben und Auflösen von Urschmerz bringt ein tiefgreifendes, umfassendes Gefühl der Erleichterung nach den ihm vorausgegangenen heftigen Schmerzen mit sich.

Wenn Leiden zum Urschmerz wird, verschwindet beides, und dem Patienten bleibt etwas anderes — Feeling. Seine Fähigkeit, sich selbst und seine Umgebung wahrzunehmen, war durch den Urschmerz, den er verdrängen mußte, blockiert. Sein Leiden bedeutete für ihn, ohne Unterbrechung in einem nicht geheilten Zustand gewesen zu sein.

Feeling ist gleich Heilung. Mit dem Fühlen beginnen die Wunden der Neurose ihre Auflösung, Symptome fallen weg, und die Heilungs­hormone werden (wie wir später sehen werden) freigesetzt. Die offenen Verletzungen wie Magengeschwüre und Colitis fangen an, sich zu bessern, chronische Infektionen beginnen zu verschwinden und der Körper beginnt sich wiederherzustellen.

Urschmerz und Leiden sind dermaßen unterschiedlich, daß sie ihren Verlauf durch zwei verschiedene Systeme unserer neuro­logischen Struktur nehmen. Leiden wird durch das ältere System, nahe der Mitte und dem Inneren des Nervensystems, befördert.

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Schmerz, der die selektive, unterscheidende Identifikation der Art der Verletzung mit einbezieht, bewegt sich durch neuere Strukturen von der tiefen Mitte des Gehirns fort. Das Leidenssystem projiziert Informationen auf höhere Gehirnzentren nur diffus und gestattet uns gelegentlich ein Bewußtsein der inneren Agonie, ohne uns mitzuteilen, warum oder was sie ist. Die Schmerz-Wege gestatten uns eine genaue Vorstellung von dem Leiden, um die physiologische Verletzung mit all den sie umgebenden Ereignissen und deren Implikation integrieren zu können.

Deshalb kann zwar jedes Tier leiden, doch ist ein vollständiger menschlicher Neokortex nötig, um Urschmerz zu fühlen. Zweifels­ohne war es zunächst Leid und das Bedürfnis, es zu verdrängen, das im Dienste menschlichen Überlebens für die Entwicklung der höchsten Gehirnstrukturen verantwortlich war. Dies ermöglichte uns die Verdrängung von Urschmerz — und ermöglichte uns dankenswerterweise auch das Wiedererleben schmerzhafter Geschehnisse und dadurch Gesundung.

Einfach zu wissen, daß man Urschmerzen hat, ist nicht dasselbe, wie sich ihrer bewußt zu sein. Wissen heilt nicht. Die meisten von uns können sich ihrer Vergangenheit auf historische Weise gewärtig sein. Jedoch gehen wir nicht weinend zu Boden und vergießen Tränen darüber. Dazu bedarf es notwendigerweise der Wiederherstellung jenes biologischen Zustandes und der Zuleitung des Urschmerzes an jene Gehirnstrukturen, die die Heilung vermitteln. In der Tat bedarf es einer genauen Freisetzung der Energie, die mit dem frühen Trauma assoziiert ist, nicht mehr und nicht weniger. Die einzige Art, wie ein Mensch heraus­bekommen könnte, welches die genaue Energiemenge ist, hieße für ihn, sich total in die Erfahrung des Kindes zu verstricken — eine Wiedererlangung der Erinnerung und der Ebene der Gehirnfunktion.

Stellen wir es uns als Störung des Gleichgewichts oder als Mißverhältnis von Input und Output vor. Soviel ist hineingekommen, soviel herausgekommen. Massive Reize in der Kindheit ohne entsprechenden Output führen ganz einfach zu gespeicherter Spannung.

Glücklicherweise gibt es für uns alle eine Zeit vor dem Urschmerz, und wir haben in unseren Körpern eine Art organischen Erinnerungscode dessen, was es heißt, gesund zu sein und richtig zu wachsen. Wenn Schmerz das System verläßt, ist es allen Heilungskräften und allen Kodierungsprozessen möglich, das zu tun, was sie normalerweise tun. Aus diesem Grund ist die Wiederkehr der Gesundheit nach der Auflösung von Urschmerz so automatisch. Wir brauchen uns nicht daran zu erinnern, was es heißt, gesund und normal zu sein. Der Körper erledigt das für uns.2

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Die »Primal-Zone«

Es existieren eindeutige physiologische Bedingungen, die bestimmen, wann dieser Heilungsprozeß stattfinden kann. Es kommt darauf an, weder zu offen zu sein und vom Schmerz überflutet zu werden, noch allzu sehr abgewehrt zu sein. Zwischen diesen Extremen liegt der Bereich der Heilung. Dies ist die »Primal-Zone«, weil es der Bereich ist, innerhalb dessen Feeling und seine Integration stattfinden kann.

Es gibt viele Möglichkeiten, die Primal-Zone* zu erreichen. Einige Menschen haben diesen Bereich schon ohne äußere Hilfe erreicht; sie verfügen über das richtige Gleichgewicht von Zugang zu ihrem Urschmerz und der Fähigkeit, ihn zu integrieren. Viele Menschen sind jedoch dermaßen gehemmt und überlastet, daß sie nicht in der Lage sind, zu fühlen. Sie werden sich auf die Gegenwart konzentrieren, sie werden ein wenig oder auch heftig weinen, sie werden es jedoch aus einem einfachen Grund nicht mit den Schmerzen der Vergangenheit in Zusammenhang bringen: sie sind von Emotionen überwältigt. Dies trifft besonders auf jene zu, die im gegenwärtigen Leben in hohem Maße Streß ausgesetzt sind. Das ist deutlich bei prä-psychotischen Patienten zu erkennen, die überlastet und nicht zu fühlen in der Lage sind. Es ist ihnen nur möglich, mittels Halluzinationen und Selbst­täuschungen zu symbolisieren. Verabreicht man ihnen sorgfältig bemessene Dosen von Beruhigungsmitteln, dann sind sie zum erstenmal imstande zu fühlen; das heißt, ihre Leidens-Ebene ist auf kontrollierbare Proportionen reduziert worden.

2)  Ich ignoriere nicht den Wert anderer Faktoren im Kampf gegen die Neurose, wie etwa angemessene Ernährung, Bewegung und ähnliches, und wünschte, jeder, der sich mit Urschmerz beschäftigt, würde auch begreifen, daß das Leben nicht aufhört und daß diese Dinge entscheidend sind. Wir richten unser Hauptaugenmerk auf Urschmerz, weil er für die Neurose ausschlaggebend ist. Ernährung als solche kann die Neurose nicht »heilen«. Sie kann den Körper vor dem Zusammenbruch bewahren und dadurch der Verdrängung Hilfe leisten. Dies ist nur für einen hochgradig gestörten Menschen wünschenswert.

* <Primal> wurde früher mit <Urerlebnis> übersetzt. Ich werde die schon im <Das neue Bewußtsein> verwendete Bezeichnung <Primal> gebrauchen. (Übersetzer)

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Mit Unterstützung und Rückversicherung ist es einem Patienten möglich, sich erfolgreich einer Primär­therapie zu unterziehen, und das aufgrund der einfachen Tatsache, daß er über jemand verfügt, der ihn ausreichend beruhigen kann. Paradoxerweise scheinen Leute, die einen sehr »verdrängten« Eindruck machen, mit Schmerz unterbelastet zu sein; sie fühlen nichts. In Wirklichkeit sind diese Menschen aufs äußerste überbelastet.3

Der Neurotiker lebt sein ganzes Leben lang außerhalb der Primal-Zone und kann sich nie eine Vorstellung von einem Feeling machen. Wir brauchen nur eine Sitzung zu beobachten, in der gerade eine Überlastung stattfindet, um erkennen zu können, wie bei zuviel Urschmerz ein »Dichtmachen« vor sich geht. So wird zum Beispiel ein Mensch mit einer Primär-Erfahrung aus der Kindheit beginnen, und plötzlich wird sich ein dazu in Beziehung stehendes Säuglingstrauma eindrängen. Er wird innerhalb von Sekunden Schleim spucken, würgen, außer Atem kommen und eine fötale Haltung einnehmen. Er wird vom Primal vollständig in die Gegenwart kommen. Ein gigantischer Schock hat sie aus der Primal-Zone in die Gegenwart zurückgeworfen.

Bis ein Patient in der Lage ist, sich einer Primärtherapie auf der Ebene früher Traumata zu unterziehen — also nach der Auflösung der weniger schwerwiegenden Traumata —, wird fast jeder frühe Übergriff eine Überlastung und ein Dichtmachen hervorrufen.

Menschen, die körperlich sehr leiden, sei es auch unter psychosomatischen Schmerzen wie Migräne, können keinen Primal erleben. Wir müssen die Schmerzebene ausreichend senken, so daß sie wieder fühlen können. Daher ist im Falle eines Symptoms wie Kopfschmerzen unsere erste Aufgabe, es auf handhabbare Proportionen zu bringen.

3)  In den frühen Tagen der Primärtherapie hielten wir nicht sehr viel vom Gebrauch von Tranquilizern, weil sie zum Abstumpfen der Urschmerzen beitrugen und Patienten von einer richtigen Verknüpfung mit ihren Feelings abhielten. Es gibt jedoch Patienten, die beruhigt werden müssen, um die Art von verknüpfenden Auflösungen machen zu können, die ihnen eine endgültige Befreiung von Urschmerz bieten. Diese Patienten lernen, bei strenger Überwachung durch den medizinischen Direktor, nach einiger Zeit selbst zu entscheiden, wann die Dosis der Beruhigungsmittel herabgesetzt werden sollte. Mit der Auflösung von Urschmerz verringert sich allmählich das Bedürfnis nach medikamentöser Behandlung. Die Bedeutung des primärtherapeutischen Ansatzes bei medikamentöser Behandlung liegt darin, daß sie einzig und allein zur Erleichterung von Feelings und dem Integrationsprozeß angewandt wird, nicht im Dienst der Verdrängung.

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Andere bedürfen einer ausreichenden Spannungsentladung des Körpers, um schließlich fähig zu sein, ein verknüpftes Feeling zu erleben. Ein Therapeut muß wissen, wann und wie lange ein Mensch Spannung abreagieren sollte, bevor er ihn zu einem Feeling geleitet. Wenn versucht wird, einen Patienten zu früh in ein Feeling zu stoßen, wird er überlastet. Falls man eine zu lange Entladung zuläßt, wird er abgelenkt, wird unter die Zone gleiten und das Feeling nicht auflösen.

Jemand mit sehr schnellen Gehirnwellen (ein ruheloser Geist) befindet sich außerhalb der Primal-Zone, während jemand, dessen Puls und Blutdruck zu niedrig ist, unter der Zone liegt, ohne ausreichende Kraft, das Feeling beleben zu können.

Ein außergewöhnlich betriebsamer Arbeitstag oder eine stressende Situation wie ein Besuch der Eltern, eine Auseinandersetzung mit dem Freund usw. entsprechen der Art von Umständen, die jemanden aus der Primal-Zone werfen können. Sehr oft ist es für Patienten notwendig, einige der gegenwärtigen »Exzesse« aufzulösen, um wieder die Fähigkeit des Fühlens zu erlangen, es sei denn, sie können etwas von diesem Exzeß verwenden, um in das Feeling hinunterzukommen.

Menschen mit intakter Neurose und Schleusen-Struktur brauchen in gewisser Hinsicht einen Anstoß, um Zugang zu irgend­welchen Urschmerzen zu bekommen. So, wie es Menschen mit zuviel Zugang gibt, gibt es auch welche mit zu wenig. Wir würden nie auf den Gedanken kommen, das Abwehrsystem von jemandem, der bereits zerbrechlich und verletzlich ist, anzugreifen — es würde ihn weit aus der Primal-Zone drängen. Der einzige Mensch, der diese Art des »Knackens« braucht, ist ein Mensch, dessen Verdrängungs­system luftdicht ist.

Wenn der Input zu hoch ist, werden bestimmte Hirnfunktionen abgeschaltet. So verhindert zum Beispiel die Behandlung mit Elektroschocks ein Bewußtsein über den Vorgang, weil der Input einfach zu groß ist.4 Einem schrecklichen Vorfall zuzusehen und in Ohnmacht zu fallen, verursacht wegen des exzessiven Inputs ebenso Unbewußtsein. Ein Kind, das eine traumatische Szene sieht, verdrängt die Szene und ist sich ihrer nicht bewußt. Das heißt, wenn das Kind zum Zeitpunkt des Geschehens nicht schon »zu« gewesen ist.

Die Bedeutsamkeit der Primal-Zone liegt darin, daß keine Heilung eintritt, wenn jemand nicht in diesen Bereich kommt. Es ist der Bereich der Primal-Zone, in dem Feelings angenommen und integriert werden. Für den Neurotiker bedeutet sie die Schwelle von den verdrängten Bereichen zum realen Selbst. Wenn das reale Selbst erst einmal beginnt, Ansprüche auf die an die Neurose verlorengegangenen Bereiche zu erheben, verliert die Primal-Zone allmählich ihre Relevanz.

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4)  Elektroschockbehandlung wirft den Menschen weit außerhalb der Primal-Zone, und es braucht normalerweise jahrelange Primärtherapie, bevor der Patient anfängt, diese Schock-Erfahrung wiederzuerleben. 

  


3.  Primärtherapie   

 

 

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Es folgt Francines Geschichte, die einst im wahrsten Sinne des Wortes eine Gefangene ihres Urschmerzes war. Englisch ist nicht ihre Muttersprache, und ein Versuch, ihren Stil zu glätten, wurde nicht unternommen.*

FRAN:

Hallo, ich heiße Francine, bin 12 Jahre alt, saufe schon, zieh mir Stoff rein, die Bullen sind hinter mir her und ich zerstöre alles um mich herum.  
Well, da bin ich wieder. Ich bin 17. Oh, ich habe mich nicht geändert, es ist schlimmer geworden. Ich verkaufe mich jetzt und treibe mich mit gewalttätigen »Clockwork Orange«-Typen herum. Ich werfe soviel Tabletten, daß man damit ein ganzes Krankenhaus schmerzfrei kriegen würde. Ich bin wirklich in schlechter Verfassung, ich bin schwanger, werde jeden Tag geprügelt und muß eine Abtreibung machen lassen — ich bin fast im siebten Monat, der Doktor will, daß ich das Baby behalte. 
Jetzt bin ich 20, total fertig und fast ausgeflippt - fast bisexuell, zwei Jobs und das allerhöchste Glück auf Erden ist eine FIXE UND EIN LÖFFEL, und viele Kerle, die mich von den Schmerzen befreien. (Es funktioniert nicht!!)

Die folgenden Sprüche sind fast an der Tagesordnung: 

»Allo? Myron, ich bin's. Hast du was?« - »Scheiße, Mann, versuch's. Ich bin krank, hilf mir, ich zahl jeden Preis. Ich geb' dir ...« - »Scheiß drauf, Mann, besorg' mir was. Methadon, Morphium, Valium, irgendwas. Die Scheiß-Hepatitis kommt wohl wieder. Ich fühl' mich schlechter als sonst .....«

Junkies gibt's nicht nur bei »Kojak« oder in »French Connection«, Junkies sind draußen auf der Straße, überall und jeden Tag fixen sie sich tot. Jeden Tag Schmerzen — wann, wie und wo kriege ich den Stoff her. Wenn du stirbst und der Typ am anderen Ende der Strippe braucht eine Stunde, dir was zu erklären, weil er randvoll ist, daß er nichts machen kann, daß er nicht mal weiß, daß er deine connection ist, oder du bist krank und brauchst zu lange um hinzukommen ...

* Ich habe versucht, die charakteristisch emotionale Sprache, im Englischen oft holprig, ins Deutsche zu übertragen -A.d.Ü.


Laß uns mal darüber sprechen, was es heißt, an der Fixe zu hängen! Ich habe nie was so gefühlt, daß ich's beschreiben könnte — der körperliche Schmerz ist auuuah! Wahnsinn. Meine Beine und Hände, meine Finger und oh! mein Bauch, ich habe zweimal eine schlimme Hepatitis gehabt und statt es zu heilen, habe ich gedrückt, daß ich es nicht gespürt habe. War so schmerzhaft, ich erinnere mich, wie ich im Bett lag und vor Schmerzen brüllte, mein Kopf und mein Körper waren ein Haufen von Schmerz. Ich bin nie vom Stoff runter, nur einmal haben sie mich drei Monate ins Gefängnis gesteckt.

Ich habe immer Geld, meine Jobs bringen mir viel ein, aber meine Sucht ist schlimmer geworden. Am Anfang habe ich 15 Dollar am Tag für guten Stoff gebraucht, am Ende war der Stoff nicht so gut, und es hat mich 100 Dollar am Tag gekostet, nicht krank zu werden. Meine letzte Nacht vor der Therapie hat mich 350 Dollar gekostet. In den letzten zwei Monaten habe ich mit 3000 versucht stoned zu sein.

Alain ist 20, seit er 15 ist hängt er voll am Stoff. Wir leben zusammen. Er hat mir schon oft ein Messer unter die Nase gehalten um Stoff zu kriegen, und ich habe ihn oft an die Wand geschmissen, habe ihm voll was mit der Faust gegeben, um mehr zu bekommen. Wir haben alles verkauft, was wir hatten, ich und er haben unsere Körper verkauft und für die Scheiße jeden Tag Gefängnis riskiert.

Ein- oder zweimal im Jahr verlier ich einen Freund, einen Pusher - Überdosis oder Mord, wer weiß es? Wen kümmert's? Wir kommen vom Friedhof zurück und drücken uns die Schmerzen weg ... Niemand hat mir gezeigt, wie ich sonst meine Schmerzen wegkriegen soll.

Viele Junkies sind stolz darauf, Junkies zu sein. Ich war's auch ... Aufmerksamkeit erregen. Wenn wir nachts oder am hellichten Tag rausgehen, fallen wir irgendwo auf die Straße. Wenn wir nicht zu oft einschlafen, reden wir ... über Stoff! Alles in unserem Leben dreht sich um Stoff. Ist doch sehr »cool«, auf die Straße zu fallen oder im Restaurant mit dem Kopf ins Essen zu fallen. Manchmal ist es komisch, ich denk drüber nach und lächle. Ab und zu machen wir einen Wettbewerb, wer mehr drücken kann.

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Seit ich zwölf bin, paß ich auf, kämpfe wie ein Tier ums Überleben, ich lindere meine Schmerzen und heile meine Verletzungen mit allem, was ich kriegen kann, ein Mann, Stoff, Geld, Alkohol, Treue.
Es hat Verletzungen in mir gegeben, die nie heilen werden.  
Die Regel war: Kämpf oder stirb. Ich hab alles gesehen, was man sehen kann, gehört, was man hören kann, und kann's noch nicht ganz glauben. Ich erinner mich, unheimliche Angst gehabt zu haben, ich mußte mich übergeben, wenn jemand kam und mich erwürgen wollte oder mir eine Kanone an den Kopf hielt. . . Alain und sein Bruder schießen auf sich wegen Stoff .... haben Angst rauszugehen .... verstecken sich tagelang, daß die Bullen dich nicht finden .... jede Nacht mit einer Kanone neben dir schlafen, und ich rede jetzt nich über Paranoia, die Gefahr war da und ganz real. Glaubt mir, wenn ich ein Geräusch gehört habe, war es nicht in meiner Einbildung.
Ich könnte stundenlang so weiterschreiben, und ihr würdet glauben, es ist ein Drehbuch für den nächsten »Kojak«. Aber das ist wahr das ist jeden Tag um mich herum passiert. Ich glaub nicht an eine Welt der Liebe. Es ist doch für keinen anders, wir lassen es nur mehr raus ...
Ich habe Junkies in New York, Mexiko und überall in Montreal gesehen, das tut weh, wenn du's siehst, aber kann man nichts machen, wenn sie nicht den ersten Schritt machen.
Und es stimmt, niemand kümmert sich, wenn du nicht eines Tages aufstehst und überlegst.
Angeline hat mich gestoßen und angeschrien, als ich durch diese ganze Scheiße ging, der letzte Monat vor der Therapie war schlimmer als alles bisher Beschriebene, und ich hab mir das Herz rausgeschrien, ich würde jetzt was tun und aufhören — ich versprechs, ich schwörs, und geh die gleiche Nacht raus, und die finden mich fast mit einer Überdosis.

Ich weiß noch, als ich meine 25.000 Dollar gekriegt habe, fühlte ich mich nicht besser, mein erster Gedanke war, wer hat jetzt Stoff (guten Stoff)? So ging es einen Monat weiter. Ich war Angeline am Verlieren, sie muß sich die Scheiße sechs Jahre anhören und mitmachen. Meine Fights mit meinem Onkel, jeden Tag vor ihm auf den Knien und um Geld weinen, MUTTER bittet mich aufzuhören. Also eines Nachts ist Schluß, und ich werde die Therapie versuchen, die mein Bruder mir seit zwei Jahren vorbetet. 

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Die Hälfte von mir sagt, ich werds beweisen, daß mir nichts hilft, und laßt mich in Ruhe sterben! Die andere Hälfte sagt, hilf mir doch jemand, ich komme nicht mehr klar, Hilfe, ich sterbe. 

Februar 75 bin ich hierher gekommen. Ich gab meinen Brief der Sekretärin und sagte: »Kann das mal jemand lesen, weil ich wieder nach Hause gehe.« Zwei Tage später war die Antwort: Ja! Ich habe Todesangst gehabt, als ich nach Hause fuhr, um das Geld zu holen, 24 Stunden am Tag wurde ich bewacht, Angeline hat dafür gesorgt, daß ich betrunken blieb, um nicht rauszugehen und zu fixen. Mein Onkel hat mich im Arm gehalten ... Ich habe am 24. März 75 angefangen.

ES WAR DAS ENDE VON ZEHN JAHREN SCHMERZEN UND KAMPF, UM AM LEBEN ZU BLEIBEN. 

Bevor ich weitermache, muß ich euch erzählen, daß meine Adoptiveltern sehr bourgeois sind, sehr ordentliche Mittelklasse-Menschen, die Anstandsregeln können sie auswendig, sie haben nie was von Trinken, Stoff, Strich oder was auch immer gehört!  

Jetzt bin ich 23 und habe ganz schön was durchgemacht und rauche nicht mehr! Manchmal kann ich es gar nicht glauben, daß ich dies hier sage. Heute bin ich glücklich und traurig, wütend und ruhig, offen und schüchtern und habe keine Angst vorm Sterben. Ich bin alles, was ich sein sollte, ich bin ICH SELBST mit allem, was dazugehört.

Meine Eltern haben mich mal ausgelacht, und dann hab ich Angst gehabt, daß Leute mich auslachen. Als ich klein war, habe ich alles verloren, Sachen, die man nicht verlieren sollte, sowas wie Schuhe, Mütze, Rosenkranz! Und meine Mutter hat mich dumm genannt, »kopflos«, und nichts kann man dir anvertrauen. Als ein Therapeut mich gefragt hat, warum, habe ich angefangen zu weinen und gesagt: Mein Kopf war woanders. Seit ich von zu Hause weg bin, verliere ich nichts mehr. Das Gefühl »Nie ist's genug« ist oft da, wenn ich verletzt bin. Zu Hause habe ich nie was getan, um ihnen eine Freude zu machen. Ich wußte, daß es keinen Zweck hat. Wenn dein Vater auf dem Sofa sitzt und den Hund auf dem Arm hat und du siehst vom Fußboden aus zu und stellst dir vor, wie schön es wäre, wenn ...

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Ich bin von der Schule geflogen ... sie haben nichts gesagt. Ich habe ihr oft gesagt, wie ich sie hasse. Mit 12 bin ich kaputt­gegangen, sie haben sich etwas beklagt ... Mit 16 bin ich an meinem Geburtstag abgehauen und habe ihnen damit ein Geschenk gemacht ... Ich habe ihr gesagt, daß sie nicht sehen sollte, wie ich jede Nacht betrunken oder stoned bin und ihr immer sagen zu müssen warum! Ich gehe jetzt, hier gibt's nichts für mich. Ich weinte, sie lag vor mir auf den Knien ... Es hat so weh getan ...

Seit ich die Therapie angefangen habe, war ich einmal zu Hause, sie hat die Arme geöffnet, mich am Arm genommen wie nie vorher, und als ich mich umgedreht habe, wußten wir, »es ist zu spät«, ich hatte vor sieben Jahren recht gehabt. Ich beneide Leute, die nicht so früh von zu Hause wegmüssen.

Liebe zu Hause ist Geld, Geld, Geld, alle Zuneigung wurde mit Geld gegeben - Geschenke - materiell gesehen war alles bestens ... Mein Bauch war immer gefüllt ...
Mein Herz war immer kalt ...
So war es immer bei mir, ich habe mit Menschen gehandelt, sie gekauft und sie verkauft. Sobald jemand länger als einen Tag mit mir bleiben wollte, sagte ich: »O.K., wieviel.« Alles, was du kaufst, kannst du ersetzen. Nie hat mich jemand verletzt, den ich gekauft habe. Wenn es kaputtging, bin ich raus und habe mir einen neuen gekauft. Ich habe nie eine Frau gekauft. Mit mir konnte man immer gut handeln, der Preis war nie zu hoch ...... und das alles um zu kriegen, was ich vermißt habe und ausfüllen wollte.

Eines Tages treffe ich jemanden, der den Preis für mich festgelegt hatte. Er hat kein Geld benutzt, er gebrauchte Liebe. Ich war nicht auf der Hut. Als er herausgefunden hat, wie ich zu zähmen bin, war ich entwaffnet, ohne Abwehr ..... Noch wenn ich heute daran denke, tut's weh .... .
Mein Leben war so ... Alles, was ich gemacht habe, sollte die Schmerzen lindern.
Als ich keine Abwehr mehr hatte, nachdem ich den Typ verlassen habe, habe ich sofort mit Junk angefangen.

Es ist heute immer noch so, wenn ich wirklich verletzt bin, will ich nicht offen sein, weil es weh tut. Manchmal bin ich mit Leuten zusammen und fühle mich allein und kämpfe mit Leuten, die sich einen Scheißdreck drum kümmern. Ich versuche ihnen zu helfen, und sie ziehen mich mit runter. Wenn ich mich aufrege, drehen sie sich um und sagen, daß ich ausagiere. Deshalb habe ich Angst, dafür verletzt zu werden, wenn ich ihnen helfe. Und wenn ich Angst bekomme, werde ich wütend, aggressiv.
Ich kämpfe darum, daß sie Verständnis aufbringen sollen. Sie werden es nie verstehen ... Seit 22 Jahren versuche ich es, das reicht.

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Es gibt eine Menge von Sachen, die ich mir nie eingestanden habe, viele Gefühle habe ich nie zugelassen, aber du selbst zu sein heißt, Sachen zu erkennen, die man vor sich versteckt hat, weil sie wehtun können. Eine der größten Sachen war zuzugeben, »Ich habe unrecht«, und es auch zu meinen, weil ich nie unrecht hatte. Wenn ich mich mit jemand gestritten habe und es auch nur eine kleine Chance gab, recht zu behalten, habe ich mein Leben darauf verwettet. Meine Eltern haben nie nein zu mir gesagt, vielleicht ein- oder zweimal, und glaub mir, ich erinner mich an die Wutanfälle. Zu Hause habe ich immer gewonnen, ihnen war es egal, auf der Straße war ich clever und habe da auch gewonnen, ICH HABE IMMER GEKRIEGT, WAS ICH WOLLTE, ABER NICHT, WAS ICH BRAUCHTE. Ich erinnere mich, daß mein Vater froh war, als ich wegging, und er ist immer noch froh, seine Meinung war: Bring dich auf der Straße um, aber blute nicht auf meinem Teppich. Ich erinnere mich, daß er zu mir sagte, als ich ungefähr neun war: »Sei froh, daß du Mutter hast, ich würde dich dahin befördern, wo du hergekommen bist.« Ich habe vergessen zu sagen, daß mein Vater 14 Jahre in seinen Hund verliebt war und sich nach seinem Tod wie ein Witwer benahm.

Werfen wir einen Blick auf mich, als ich sagte, ich wäre bisexuell. Als ich ungefähr acht war, fing ich an, mit einer kleinen Freundin zu schlafen, sie war so hübsch und nett, sie lebte bei uns, meine Mutter war ihr Babysitter. Ich habe sie so geliebt und als sie sie mir weggenommen haben, sagten sie (ich erinnere mich verdammt gut): »Sie muß jetzt gehen, du bist ein schlechtes Vorbild . . .« Davon habe ich sehr viel Wut in mir behalten, soviel Schmerzen . . . Mit zwölf habe ich mit Männern angefangen - einer war nie genug. Ich habe in meinem Leben so viel gefickt, ich habe Wochen, Monate im Bett verbracht!

Claudine ist hübsch, sie liebt mich innig, sie hat mich gefragt, ob ich sie begehre, ich habe ja gesagt, aber hat sich keine Gelegenheit ergeben (zu schade). Als ich nach vier Monaten Therapie nach Hause gefahren bin, hat sie mich wieder gefragt. Es tat weh, und ich sagte: »Ja, aber weißt du, ich werd's nie tun, und je mehr ich drüber nachdenke und weißt du, wenn ich ein starkes Bedürfnis nach meiner Mutter habe, denke ich an dich, mit dir zu schlafen, dich anzufassen, und es tut weh, aber es ist meine Mutter, die ich brauche und jetzt will.« Sie guckte mich an, küßte mich, lächelte und sagte: »Bis morgen, ich liebe dich ...«

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Angeline ist die Frau, die mir zugehört hat, die mit meiner Verrücktheit fertiggeworden ist, seit sechs Jahren ist sie meine beste Freundin, auf die ich mich verlassen kann. Sie ist nicht schwul und kein Drogen-Freak. Ich habe ihr nicht mein Vertrauen geschenkt, sie hat's genommen, sie kannte mich, bevor ich mich selbst kannte. Sie hat es nie gegen mich verwendet, sie ist die einzige auf der Welt, die mich um meiner selbst willen geliebt hat. Mit mir die ganzen Jahre fertigzuwerden, sie ist die einzige, der ich wehgetan habe, und sie hat versucht zu helfen. Sie war 24 Stunden am Tag für mich da und wußte nie, was als nächstes passieren würde ...

Männer, naja! Wie jemand gesagt hat: »Ich hänge an den Tieren, sie bringen mich um, ich werde nicht schlau aus ihnen, aber verdammt nochmal, ich brauche sie... Ich weiß nicht warum, aber immer halt ich Ausschau nach einem ...«

Besser hätte ich's auch nicht sagen können, allen habe ich meine Seele gegeben. Das Geld, das ich ihnen gegeben habe, das Gold, Autos, Motorräder, Jahre meines Lebens habe ich für diese Männer weggeschmissen. Nur einer war gut zu mir. Ich war 15. Als ich abhaute, war er immer noch gut zu mir ... er hat sich an das kleine Mädchen erinnert, das er mal kannte. Aber ich habe mein Herz und meinen Kopf nur einmal weggegeben, man hat mir so weh getan, ich bin der schlimmste Junkie in der Stadt geworden .. . Ich bin es, die zuerst fragt und zuerst abhaut ...... Ich habe es nie wieder darauf ankommen lassen, daß man mich abschiebt ...

Schluß damit, ich weiß was ich brauche, ich habe das Bedürfnis nach einem Vater gefühlt, keine verrückten Kerle mehr, ich sage ja nicht, daß ich nicht manchmal daran denke, irgendeinen Widerling zu vögeln, aber jetzt schrei ich es raus und fühle es, statt mir wieder weh zu tun, und das ist eins der Löcher, die mir mein ganzes Leben lang weh tun werden ...

Meine Freundin Angeline hat mir geschrieben: »DIE KRAFT, DIE DU BENUTZT HAST, DICH ZU ZERSTÖREN, SIE BENUTZT DU JETZT, DICH WIEDER AUFZUBAUEN. ICH BIN STOLZ AUF DICH, STOLZ DARAUF, DEINE FREUNDIN ZU SEIN.« Glaub mir, nach all den Jahren wartet sie auf diesen Tag, an dem ich wieder zu ihr zurückkomme. Sie wußte, daß sie auf etwas gewartet hat, sie ist die einzige, die an mich geglaubt hat.

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Heute bin ich Sieger, ich geh gerade drauf los. Ich erinnere mich, daß ich manchmal so down war, habe mich Stunden eingeschlossen, bin total ausgeflippt, habe geschrien. Ich werde nie gesund, aus-vorbei, gebt mir meinen Stoff wieder, ja und da bin ich wieder rausgekommen, habe mich besser gefühlt, aber seit zwei Monaten ist das Schlimmste, an das ich denke, Essen und Zigaretten, und das passiert nur, wenn ich fühle, daß was hochkommt. Als (meine Therapeutin) sagte, ihr sei's auch manchmal so gegangen, sagte ich zu mir Hey! Baby, du bist nicht verrückt, das ist ein Teil davon, real zu sein. Manchmal ist die Realität so schlimm, daß wir glauben, da kommen wir nie raus.

Manchmal war ich eine Zeitlang traurig, mein Körper hat sich nicht wohl gefühlt, aber mein Kopf wußte nicht warum, Ich habe nicht verstanden, warum das so ist, jetzt weiß ich es, ich bin nicht an Denken gewöhnt, habe nicht gefragt warum? Wenn ich mich schlecht gefühlt habe, habe ich gefixt, mir einen Mann besorgt oder sowas, und das hat mich (für einige Zeit) erleichtert, wenn es ans Denken ging, hat es mich verrückt gemacht, wenn jemand warum? gefragt hat und ich weiß keine Antwort! Ich weiß nicht warum, es ist so frustrierend. Ich weiß nur, daß mein Körper mir sagt, ich müsse vor Wut rumspringen, aber ich weiß nicht warum? Und nach einiger Zeit pop! Da ist es, da ist die Verbindung! Einige Leute können das so schnell, aber was soll ich machen Grrr! Gespräche mit (meiner Therapeutin) haben mir geholfen, es zu verstehen. Die Therapie, tja, eines Tages habe ich zu mir gesagt:
Ich schaffe es.
Ich bin ich, niemand sonst.
Ich
bin's, die mich gesund macht

»You can't always get what you want, but if
you try, sometime you get what you need.«
M. Jagger

Ich habe das alles erwähnt, weil ich Leute gesehen habe, die sich damit beschäftigt haben, zu sterben, es ist kein Märchen, keiner hat da drin* einen Zauberstab, das sind alles Menschen, und sie wissen alle, wie es auf dem Fußboden aussieht**, und wie sie's wissen! Ich glaube, Leute vergessen das!

The Primal Institute
**  Das heißt, haben selbst eine Therapie hinter sich; d. Übers.

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Die Therapeuten da geben dir, was sonst NIEMAND weggibt, Aufmerksamkeit, ein Lächeln, Wärme, Zeit zum Zuhören und offene Arme wie nie jemand vorher . .. Mit Geld kann man das nicht bezahlen . . . In ein paar Tagen fahre ich nach Hause, mein ganzes Leben wartet auf mich, und glaub mir, ich bin bereit dafür, es hat so lange gedauert - zehn Jahre, was für eine Erleichterung zu wissen, daß der Druck der alten Schmerzen mich nicht wieder umbringen kann. Meine Schmerzen haben mich ein Vermögen gekostet, jetzt nur ein bißchen mehr Zeit. . . Ich war nie zu stolz, um Liebe zu erbetteln, ich habe oft auf den Knien gelegen, aber nie wieder, man hat mir so weh getan, und die Art Liebe gibt es nicht. NIEMAND kann das Loch vollfüllen ...

Ich werde mich dem Leben stellen, wie es ist. Manchmal macht es Angst, aber ich fühle mich wohl, stark und bin glücklich, daß ich AM LEBEN BIN. Ich gehe wieder auf die Schule, vielleicht bewerbe ich mich eines Tages um eine Ausbildung als Therapeut. Dieses Wieder-zur-Schule-Gehen wird einen Haufen Feelings auslösen. Ich habe die Schule in der 8. Klasse abgeschlossen. Ich war zu verrückt, konnte in der Klasse nichts machen, Reform-Schule, pah! Letztes Jahr habe ich es versucht und war so stoned und krank, und als ich mich dieses Jahr beworben habe, bin ich sofort genommen worden!

Ich gehe frei, keine Wut mehr im Bauch, ich bereue nichts, weil mich all das hierhergebracht hat, wo ich heute bin, und glaub mir, man kann es gar nicht beschreiben. Ich fühle es in meiner Haut, meinem Bauch, meinem Kopf, fragt mich, und das einzige was ich nach dieser Schreiberei noch sagen kann ist WOW! Bin ich es, die das alles geschrieben hat?!! Wenn du's wissen willst, antworte ich mit einem Freudenschrei.

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Psychotherapie beginnt normalerweise mit einer Diagnose des Patienten. In meiner Zeit als konventioneller Therapeut interviewte ich einen Patienten ein bis zwei Stunden, führte eine Reihe psychologischer Tests durch und stellte dann die Diagnose ... Zwangs­vorstellungen / Zwangshandlungen, hysterisch, Charakterstörungen mit mangelnder Triebkontrolle, passiv-aggressive Persön­lichkeitsstruktur und so weiter und so fort. Es gab kaum eine Beziehung zwischen der Diagnose und der darauf folgenden Art der Therapie. Für jeden gab es so ziemlich das gleiche: eine Anzahl von Einsichten, mit Ermahnungen verziert, Ratschläge und eine Analyse des Verhaltens. Obwohl die Diagnose oft präzise war, wurde niemand geheilt.

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Der konventionelle Ansatz zur Erstellung einer Diagnose ist nicht sehr brauchbar, einerseits, weil alle die gleiche Krankheit haben, und andererseits, weil sich das Leiden bei jedem anders ausdrückt. In der Medizin besteht eine objektive Notwendigkeit zur Erstellung von Diagnosen. Es existieren unterschiedliche Krankheitssyndrome; eine bakterielle Infektion ist nicht dasselbe wie eine Virusinfektion. In der Primärtherapie gibt es keine psychologische Diagnose als solche. Wir sind mit nur einer Krankheit, der Neurose, konfrontiert, die sich auf unterschiedliche Art und Weise manifestiert. Obwohl jeder von uns mit seiner besonderen Neurose einzigartig ist, wissen wir, daß Bedürfnis und Urschmerz einen ziemlich universellen Charakter haben. Neue Patienten aus fast allen Ländern der Erde sind zu Beginn der Gruppensitzungen davon oft beeindruckt.

Die gewöhnlichen diagnostischen Kategorien sind von geringem Nutzen, da sie einfach Beschreibungen der unterschiedlichen Handlungsweisen sind, die Individuen entwickelt haben, um mit ihrem Urschmerz fertigzuwerden. Zum Beispiel könnte man einen Vergewaltiger als jemanden mit »mangelhafter Triebkontrolle« bezeichnen, was ja offensichtlich ist, doch sagt das nichts darüber aus, welcher Art die Triebe tatsächlich sind. Wir haben herausgefunden, daß Vergewaltiger nicht unter unzureichender Kontrolle des Sexualtriebes leiden, sondern unter unglaublichen frühen Traumata, die häufig nichts mit Sexualität zu tun haben.

 

Drei Ebenen des Bewußtseins: Zugang zu Urschmerz

Da es das Ziel der Primärtherapie ist, unter den Deckel der Verdrängung zu kommen und Zugang zu eingeprägten Traumata auf tieferen Ebenen zu erlangen, wird weniger eine Diagnose des Verhaltens erstellt als vielmehr eine Diagnose des Ausmaßes an Zugang, den ein Mensch zu seinem Innenleben oder seinem Unterbewußten hat. Dies bietet uns einen Maßstab für das Stadium der Verdrängung, den Grad seiner Neurose, der Qualität seiner Abwehr und der Prognose seiner Therapie. Diagnose in diesem Sinne hat sowohl eine psychologische als auch eine neurobiologische Bedeutung, da Zugang zu den Feelings ein biologischer und, wie wir sehen werden, auch ein meßbarer Zustand ist.

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Unsere jahrelangen Beobachtungen von Patienten, die verschiedene Aspekte ihrer Säuglingszeit und ihrer Kindheit wieder­erlebten, haben es uns ermöglicht, ein Konzept der Natur des Bewußtseins zu entwickeln. Wir haben herausgefunden, daß es drei zentrale Ebenen des Bewußtseins gibt, die jederzeit aktiv sind. Zum Verständnis eines Patienten ist es sehr hilfreich, wenn man herausfinden kann, in welchem Maße ihm jede dieser Ebenen zugänglich ist. Dieser Ansatz erlaubt uns zu verstehen, wie Urschmerz und seine Abwehr aufgebaut sind und wie tiefgehend der Zugang des Patienten zu sich selbst ist. Davon ausgehend können wir dann entscheiden, mit welchem Ansatz wir an den jeweiligen Menschen herantreten.1

Diese Ebenen sind die intellektuelle, die emotionale und die viszerale Ebene. Der tiefliegendste und früheste Urschmerz wird auf der viszeralen Ebene aufgebaut. Ereignisse der frühen Kindheit werden auf der emotionalen Ebene verzeichnet; Jahre später kommt die intellektuelle Ebene ins Spiel. Abwehrformen auf der intellektuellen Ebene beinhalten den Gebrauch von Gedanken, Worten, Vorstellungen, Symbolen, Statistiken und Begriffen. Der Intellektuelle lebt in dieser symbolischen, abstrakten Welt und handelt Urschmerz intellektuell ab.

Ein Mensch, der gefühlsmäßig zugänglich ist, neigt dazu, lebhaft und affektiv zu sein, verschließt sich nicht seinen Träumen und Alpträumen und kann weinen.

Der Mensch, der Zugang zu den tiefliegendsten Bewußtseinsebenen hat, ist häufig sehr gestört und prä-psychotisch. Sein früher Schmerz kann wiederholt ins Bewußtsein dringen. Dieses Eindringen verhindert jede Form eines intellektuellen Zusammenhalts. Jemand mit zu frühem Zugang zu sehr tiefliegendem Urschmerz ertrinkt oft im Leiden, da sein Zugang viel größer ist, als es gut für ihn ist.

Siehe dazu Kapitel 3, »Die Windungen des Bewußtseins«, in Teil III. Dort befindet sich eine detaillierte Erörterung der unterschiedlichen Ebenen des Bewußtseins.

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   Der Weg hinein   

 

Der primärtherapeutische Prozeß besteht im Auslösen von Feelings und gleichzeitigem Zurückhalten der Abwehr, weshalb sich die anfängliche Reaktion auch in Leiden ausdrückt. Wir nehmen die Abwehr nicht weg — wir setzen sie einfach nur außer Betrieb, so daß der Mensch Zugang zu sich selbst findet.

Die Abwehr freizulegen bedeutet nicht, jemandes Lebens- und Verhaltensweisen freizulegen. Eher, so könnte man sagen, heißt es, einen Weg durch seine Kämpfe zu seinen Feelings zu bahnen. Sowie das eingeleitet worden ist, bricht die Abwehr automatisch zusammen. Das Herausfinden und Entschärfen sekundärer Abwehrformen ist der heikelste und schwierigste Aspekt der Primärtherapie. Einige Abwehrformen »sehen aus« wie Feelings, und es mag sein, daß eine Person dermaßen rational handelt, daß es den Anschein erweckt, sie sei überhaupt nicht abgewehrt.

Je mehr ein Mensch fühlt, desto mehr verläuft die Beziehung zwischen Feeling und Verdrängung in eine gesunde Richtung. Beim Neurotiker ist die Tendenz zum Verdrängen stärker als die Neigung zum Fühlen. Der Mensch, der sich selbst gegenüber offener wird, erlebt das Gegenteil. Gefühle in einen Kontext zu stellen, gestattet es einem Menschen, das Ausagieren zu beenden. Viele Patienten haben vor ihrer Ankunft und dem Beginn der Therapie lange Zeit geweint. Sie sind von den Schmerzen der Vergangenheit so überwältigt, daß sie sich nicht auf eine Sache konzentrieren können. Das aber heißt nicht unbedingt, daß sie fühlen. Häufig ist ihr Weinen eine Form der Abwehr oder eine Entladung von Spannung. Es ist unsere Aufgabe, den Patienten dabei zu helfen, ihr Weinen in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit zu rücken und es in den primären Kontext zu stellen. Wir sind nicht hinter dem Gefühl her, weil das bereits da ist; wir versuchen indessen, dieses Gefühl in vergangene Ereignisse zu verlegen, die es verursacht haben können.2

2)  Es ist nicht immer notwendig, Handlungen oder spezielle Ereignisse wiederzuerleben. Manchmal ist das Primal-Feeling für sich ausreichend — auch dies ist eine historische Erinnerung, ein Resultat lebenslanger Erfahrung. Die Szene ist ein Mittel zur Öffnung eines blockierten Feelings.

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Der primärtherapeutische Prozeß besteht im Aufgreifen gegenwärtiger symbolischer Verhaltens- und Ansichtsweisen (»Ich muß doch niemandem sagen, wo ich hingehe«) und dem Einordnen in einen Kontext (»Mama, ich werde dir nicht sagen, wo ich jede Minute meines Lebens verbringe«). Das Verhalten ist nicht immer so unkompliziert und direkt, Gefühle jedoch sind es. Wir verfahren uns nicht in Symbolen. Wir konzentrieren uns auf ihren Ursprung.

Feelings müssen präzise sein, nicht einfach nur eine Auslösung kathartischer Energie. Man kann leicht ins Abreagieren kommen. Ein Patient kann lernen, beim ersten Anzeichen eines Urschmerzes in seinen Körper zu fliehen. Es kann vorkommen, daß er sich in scheinbar frühkindlichem Schmerz windet und um sich schlägt, weil das leichter zu ertragen ist, als zu fühlen, was der Urschmerz aus der späteren Kindheit wirklich bedeutet.

Abwehrformen können aber auch in die andere Richtung wirken. Möglicherweise verbalisiert ein Patient Traumata, die aus einer vorsprachlichen Entwicklungs­phase stammen.

All unsere therapeutischen Interventionen werden im Dienste des Feelings, nicht der Verdrängung angewandt. Falls ein Therapeut ein Bedürfnis hat, seinen Patienten ein freundlicher, warmherziger Papa zu sein, um ihre Liebe zu gewinnen, wird er auf unangebrachte Art und Weise freundlich und warm sein und die Patienten in einem Zustand des Verdrängens — und somit neurotisch — halten.

Ein Mensch, der gewöhnt ist, auf Anweisung zu handeln und nicht nach Gefühl, ein Mensch, dessen Bezugspunkte eher extern als intern sind, muß dahingehend re-orientiert werden, daß er mehr auf sein Selbst hört als auf andere. Seine Abwehr besteht in der Entgegennahme von Anweisungen und allzu nachgiebigem Erledigen dessen, was ihm auf getragen wurde. Diese Art von Patient kann zu einem »Quälgeist« werden, das heißt Gefühle, Verärgerung, Unglücklichsein und Verletzungen zeigen. Ihm Einsichten anzubieten, könnte ihn neurotischer machen, weil es sein passives Akzeptieren von Dingen verstärkt.

Ein Patient hörte von dem Tag, an dem er zum erstenmal das Institut betrat, nicht mehr auf, sich zu beklagen; seine Abwehr war blockiert, und dann hatte er das Feeling — sein ganzes Leben lang war er von Urschmerz gequält worden, der aus seiner vorsprachlichen Zeit stammte. Er beklagte sich über dies und jenes, weil er einen bohrenden Urschmerz hatte, der einen Fokus brauchte. Als er eine Verbindung zur realen Ursache seines Problems hergestellt hatte (er ist in seinem Laufställchen dauernd von seinem älteren Bruder gequält worden), hörte er auf zu jammern.

100/101


Wir beschäftigten uns nicht mit den Inhalten seiner Klagen, obwohl er mit einigen wahrscheinlich recht hatte. Auf jede Klage, die wir für ihn erledigt hätten, hätte er mit einer neuen geantwortet. Der frühe bohrende Schmerz hielt die Klagen am Leben. Das Klage-Syndrom war eine konstante symbolische Erinnerung an etwas Unerledigtes.

Wenn das irreale symbolische Selbst seine Aufgabe nicht erfüllen kann, ist Urschmerz die Folge — häufig zum Vorteil des Feelings. Ich erinnere mich, daß ich einmal in einer Gruppentherapie gleichzeitig alle Leute, die laut sprachen, leise sprechen und all jene, die leise sprachen, laut sprechen ließ. Es war erstaunlich, wie viele sofort mit Urschmerz reagierten, weil die Art zu reden, sei sie aggressiv und laut oder leise und schüchtern, Teil des Abwehrsystems ist.

Nach zwei bis drei Wochen individueller Therapie fängt der Patient in der Primal-Gruppe an. Eine Primal-Gruppe ist mit keiner anderen Gruppe zu vergleichen. In ihrer Intensität ist sie fast unbeschreiblich. Vor allen Dingen handelt es sich nicht um eine Encounter-Sitzung. Die Patienten kommen und beziehen sich auf sich selbst — auf ihre Vergangenheit und ihren Urschmerz. Die Therapeuten arbeiten mit einigen Patienten individuell; die Patienten sind nicht da, um etwas von anderen zu bekommen, sondern um sich selbst zu finden. Das ist eine sehr persönliche Erfahrung, auch wenn man sich ihr mit sechzig anderen Patienten zusammen unterzieht.

Wie lange dauert diese Therapie? 

Sie ist immer noch relativ kurz, wenn auch nicht so kurz, wie wir ursprünglich angenommen hatten. Die Patienten bleiben zwischen ein und zwei Jahren, im Durchschnitt zwischen dreizehn und sechzehn Monaten. Danach machen sie mit ihren Primals allein weiter. Die Primals beginnen von einem gewissen Punkt an abzunehmen, und die Häufigkeit verringert sich, obwohl sie immer noch sehr intensiv sein können. Wichtige Fortschritte werden sogar noch zwei bis drei Jahre nach Beendigung der Therapie gemacht.

Die Geschwindigkeit, mit der ein Mensch in seine Feelings vordringt, ist individuell verschieden, es existiert kein genauer Zeitplan. Die Patienten begreifen, daß je mehr sie jetzt fühlen, desto weniger werden sie später fühlen müssen.

Obwohl der Patient ununterbrochen Urschmerz fühlt, ist er darüber auch erleichtert, weil er weiß, daß es höllisch ist, sein Leben mit wiederholter Migräne, Asthmaanfällen oder Phobien führen zu müssen.

Es ist die Hölle, die meiste Zeit des Lebens an Schlaflosigkeit zu leiden, während der Arbeit immer müde zu sein und nie gut schlafen zu können. Es ist eine Tortur, jeden Tag mit Depressionen aufzuwachen, Angst zu haben und nicht zu wissen warum.

Nach zwölf Jahren der Beobachtung und Verbindung zu den ersten Primär-Patienten scheint es mir, als setzten sich Veränderungen weiter fort und hörten nie auf. Feeling wird zu einer Lebensweise, obwohl das nicht bedeutet, daß man lebt, um Urschmerz zu fühlen.

Der Prozeß, sich dem Urschmerz zu öffnen, ist keine »glatte Sache«. Es gibt Höhen und Tiefen, Plateaus, Zeiten, in denen keine Feelings kommen, und Zeiten, in denen sie quälend und schmerzhaft sind. Es ist kein angenehmer Prozeß.

Sich dem Urschmerz zu öffnen ist ein Prozeß des Alles-oder-Nichts. Wenn man sich frühen Traumata der Kindheit öffnet und dann abrupt versucht, sich zu verschließen, geschieht das um den Preis fortgesetzter Neurose. Manchmal ist es schlimmer, sich zu öffnen, denn damit aufzuhören und überhaupt nicht zu fühlen, weil der erst einmal erlangte Zugang ein konstantes Durchsickern von Urschmerz zur Folge hat. Dieses veranlaßt den Menschen, nach verzweifelteren Maßnahmen zu suchen, um seinen Schmerz unten zu halten. In diesem Sinne ist Feeling nicht einfach nur eine Frage der Therapie, sondern eine Lebensweise.

Abwehrformen beginnen sich in der Primärtherapie aufzulösen, doch bleiben einige weiterhin bis zu dem Punkt bestehen, in dem noch unerledigter Schmerz vorhanden ist. Es bleiben noch jene normalen Mechanismen, mit denen man dem täglichen Streß begegnet und mit denen man noch eventuelle niederschmetternde Ereignisse in der Gegenwart verdrängen kann. Doch gibt es kein Bedürfnis nach neurotischen Abwehrformen mehr, da sie ja im Ansturm der Urschmerzen sichtbar wurden und nur dazu dienten, ihn zurückzuhalten.

Die Therapie lehrt die Patienten nicht, sich in Schmerz zu suhlen. Sie ist keine masochistische Methode. Vielmehr zeigt der Schmerz einen Weg aus dem Elend.

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