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Einleitung

von Arthur Janov 1980

 

 

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Die Menschheit ist durch ein heimtückisches Leiden an Händen und Füßen gebunden. Es ist die ungreifbarste, verheerendste und am weitesten verbreitete aller Krankheiten. Zwar ist es ein physio­logisches, biologisches Leiden, doch kann es nicht mit Diäten, Übungen, Meditation, tugendhaftem Verhalten, Drogen und Arzneimitteln oder chirurgischen Eingriffen aus der Welt geschafft werden. Es läßt sich nicht an einer bestimmten Stelle lokalisieren. Es ist in der Tat die einzige Krankheit, die wirklich überall im Körper und im Gehirn zu finden ist. Doch kaum jemand ist sich dessen bewußt. Ärzte, die es behandeln, wissen nicht, wonach sie suchen sollen, und erkennen noch nicht einmal seine Existenz an. Es entfaltet dermaßen viele Symptome, daß es wie Hunderte von Krankheiten und nicht wie eine aussieht. Das Leiden heißt Neurose.

Die üblicherweise mit dem Ausdruck »Geisteskrankheiten« bezeichneten Leiden sind in Wirklichkeit eine biologische Krankheit — eine Wunde des ganzen Systems, deren Kern aus psychischem und physischem Schmerz* besteht. Normalerweise ist Schmerz eine unkomplizierte Angelegenheit; wir fühlen ihn, wir wissen, wie es ist, wenn etwas schmerzt, wissen, wo er sitzt und gewöhn­lich auch, woher er rührt. Doch sind die Schmerzen aus unserer frühesten Kindheit, obwohl wir alle sie mit uns tragen, ein vollkommenes Rätsel. Niemand erkennt sie oder nimmt sie als solche wahr. Und doch sehen wir jeden Tag ihre Auswirkungen in der Art, wie wir unser Leben führen, in unseren Beziehungen, unseren Symptomen und in unserer sozialen Anpassung. Für die meisten von uns ist es schwer vorstellbar, daß die so lange zurück­liegenden Geschehnisse uns noch in der Gewalt haben; nichts­desto­weniger tun sie es.

Ich werde zeigen, wie diese Krankheit ihren Anfang sogar am Anfang unseres Lebens hat. Doch statt sie nur zu beschreiben werde ich versuchen, eine präzisere Definition der Neurose zu geben, als es bisher geschehen ist. Dieses Leiden hat, trotz aller scheinbar komplexen Symptome, gewöhnlich eine einfache Geschichte. Wir werden verletzt, wenn wir am wenigsten dafür ausgerüstet sind, damit fertig zu werden — zur Zeit unserer frühen Entwicklung. Die Verletzung, die zu groß ist, um integriert werden zu können, wird begraben und verweilt in uns wie ein hartnäckiger Virus, beeinträchtigt unser Leben und läßt uns als Erwachsene maßlos leiden.

Wenn wir sehen, wie die Neurose entsteht, erkennen wir deutlicher, wie sie zu behandeln ist. Glücklicher­weise sind die Mittel zu unserer Heilung jederzeit in uns. Das Gegenmittel sind genau jene Gefühle, die uns in verdrängter Form krankmachen.

Zwölf Jahre des Testens der Theorie in klinischer Praxis haben es uns ermöglicht, sehr viel präzisere Richt­linien einer wirkungs­vollen Psychotherapie aufzuzeigen, und auf diese Weise geholfen, das in ein unsystemat­isches, unwissenschaftliches Durcheinander verfallene Gewerbe zu retten. Als Teil dessen möchten wir Methoden darstellen, die therapeutischen Fortschritt wirkungsvoll meßbar machen und eine wissen­schaft­liche Definition von Besserung und Gesundheit entwickeln.

Da Neurose eine Krankheit ist, welche die Biologie ändert, muß jede wirkliche Behandlung in der Lage sein, diese Biologie ihrerseits zu verändern. Die Primärtherapie leistet das. Wir haben bemerkenswerte Veränder­ungen im physischen System unserer Patienten beobachtet. In diesem Buch werden wir die Veränderungen und ihre Implikationen untersuchen.

Ein wichtiges Ergebnis unserer Arbeit ist ein besseres Verständnis menschlicher Funktionen, vor allem der Gehirnfunktionen. Wir haben in unserem Leben genug über die Entwicklung des Gehirns erfahren, um Hypothesen über dessen Entwicklung in der Spezies durch Jahrtausende hindurch aufzustellen. Um diese Vorgänge zu illustrieren, werden wir den Leser auf eine kurze Reise durch das Museum der Menschheits­geschichte — das Gehirn — mitnehmen. Wir werden noch viel über dieses faszinierende Organ und die Rolle, die es bei Krankheit und Gesundheit spielt, in Erfahrung bringen müssen, doch entdecken wir Schritt für Schritt die Funktion des Gehirns in der Geschichte des menschlichen Wesens und der Menschheits­geschichte.

Es ist die Fähigkeit, sich nicht bewußt zu sein, die es Männern und Frauen ermöglichte, die unsagbaren Leiden ihrer Vergangen­heit zu überleben, wie sie uns alle in unserem eigenen frühen Leben rettet. Das Unbewußte ist kein vages psycho­logisches Konzept, sondern eine Realität unserer Gehirne und Körper. Genauso wie es uns zunächst rettet, vermag es uns — als Individuen und als Spezies — zu töten. Die Primärtherapie bietet dem Individuum einen Weg ins Unbewußte und infolge­dessen auch einen Weg aus dem Unbewußten heraus.

Vielleicht wird am Ende der Hauptnutzen der aus dieser Therapie gewonnenen Erkenntnisse in dem Wissen darum bestehen, wie wir dem ganzen Problem der Neurose vorbeugen können. Wir können uns nicht damit zufriedengeben, eine Heilmethode zu formulieren, wenn wir die genauen Bedingungen einer Vorbeugung kennen. Generationen der Zukunft brauchen dieses Leiden nicht zu erben.

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* Janov unterscheidet Urschmerz/Pain von Schmerz/pain. Ich werde - bis auf möglicherweise mißverständliche Passagen - einheitlich <Schmerz> verwenden. Da der Autor der Auffassung ist, daß das deutsche Wort »Gefühl« nicht der Bedeutungsbreite des englischen <feeling> entspricht, wird der englische Begriff verwendet. Näheres dazu in <Das neue Bewußtsein> (Der Übersetzer)

 

 

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