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Therapeutische Implikationen   

von A. Janov

 

 

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Die richtige Reihenfolge bei der primärtherapeutischen Behandlung ist überaus wichtig. Wenn ein Patient dazu gebracht wird, zu früh zur ersten Ebene vorzudringen, kann er keine wirklich integrierenden Primals haben, weil fast jedes Gefühl auch Komponenten zweiter und dritter Ebene hat, die dann weiterhin Spannung erzeugen würden. Wenn sich ein Patient seinen Weg zur ersten Ebene allmählich erarbeitet, kann er auf dieser untersten Ebene voll integrieren, weil die Schmerzen höherer Ebenen bereits erlebt und aufgelöst wurden. 

Es verhält sich keineswegs so, daß die Toleranzgrenze für Schmerz größer geworden ist, wenn ein Patient die erste Ebene erreicht. Nachdem zunächst der Schmerz auf höheren Ebenen abgetragen wurde, ist vielmehr die gesamte zu verarbeitende Schmerzenslast erheblich reduziert, so daß die großen Traumata erster Ebene schließlich gefühlt und gelöst werden können.

Wir versuchen in der Primärtherapie ein altes Gefühl entsprechend seinen eigenen Gesetzen zu reaktivieren; das heißt, wenn es um ein präverbales Trauma geht, benutzen wir nichtverbale Mittel — zum Beispiel indem wir Druck auf Kopf, Brust oder Rücken ausüben. Wenn ein Patient im Begriff ist, ein Ersticken wiederzuerleben, hilft es ihm unter Umständen, wenn wir ihm vorsichtig ein Kissen gegen den Mund drücken. Wenn ein Patient im Begriff ist, eine Szene wiederzuerleben, in der er vom Großvater auf den Arm genommen wird, könnte der Therapeut ihn unter Umständen umarmen, um das alte Gefühl auf der Ebene wieder­zuerwecken, auf der es ursprünglich aufgetreten war. 

Bei einer Szene zweiter Ebene greifen wir gelegentlich zu Hilfsmitteln. So kann man über den Kopf des Patienten eine Peitsche halten, wenn sein Vater ihn zu schlagen pflegte. Oder vielleicht findet sich ein Teddybär wie der, den der Patient als Kind besaß. Manchmal nehmen wir alte Photographien zu Hilfe. Oder wenn eine Operation wiedererlebt werden soll, kann ein leichter Äthergeruch den Patienten in die Krankenhausszene zurückversetzen. Wir ermutigen den Patienten, die Häuser ihrer Kindheit aufzusuchen, alte Spielkameraden wiederzusehen — all das zugunsten des Fühlens.


Ein Patient, der ausschließlich Zugang zur dritten Ebene hat, braucht Wörter; er muß über seine Vergangenheit reden, und sei es nur über die jüngste Vergangenheit, wenn das alles ist, woran er sich erinnert. Vielleicht löst eine gegenwärtige Szene ein altes Gefühl aus, dessen sich der Patient überhaupt nicht bewußt ist. Die Szene, die er dann beschreibt, ist gegenwartsbezogen, das Gefühl jedoch ist vergangenheits-bezogen. Unsere Aufgabe ist es, ihm zu helfen, Verknüpfungen herzustellen, und seien es auch nur Verknüpfungen zu einzelnen Elementen des Gefühls in der Vergangenheit; das machen wir, indem wir uns der Gegenwart bedienen. Bei Neurotikern geht es ja letztlich darum, daß alte Gefühle der Gegenwart aufgepfropft sind; einige Patienten wissen das, einige nicht. Bei denen, die es nicht wissen, beginnen wir unseren Weg auf der dritten Ebene.

Filme sind für Primärpatienten gut, weil es da um Bilder, um Szenen geht, und es kommt nicht selten vor, daß Filmszenen dem Leben des Patienten sehr nahe kommen. Wir bedienen uns dieser Szenen, um ihn aufzustören, um ihn zum Weinen zu bringen, um so Zugang zu unteren Ebenen, insbesondere zur zweiten Ebene zu gewinnen. 

In der Primärtherapie ist es auf fast jeder Ebene möglich, ein Urfeeling aufzusuchen. Allerdings muß die Ebene im Hinblick auf den Zeitpunkt und Zugang richtig gewählt sein. Es bedarf des Einfühlungsvermögens des Primärtherapeuten, um zu wissen, auf welcher Ebene sich ein Patient befindet, welches Material er verkraften kann und welches noch nicht. Zu früher Körperkontakt, als Hilfsmittel benutzt, um den Schmerz erster Ebene wegen mangelnden Körperkontakts nach der Geburt hervorzubringen, kann bewirken, daß sich der Patient abblockt. Er ist zunächst vielleicht nur in der Lage, von mangelndem Körperkontakt zu sprechen, um so erst einmal einen kleinen Teil des Schmerzes aus dem Weg zu räumen.

Normalerweise beginnen wir mit einem Patienten auf der dritten Ebene. Er spricht über sein gegenwärtiges Leben, fällt dann in Szenen zweiter Ebene, und vielleicht Monate später erst verknüpft er dann das Gefühl einer dieser Szenen mit Material der ersten Ebene. Wenn ein Patient von vornherein Zugang zur zweiten Ebene hat, können wir unter Umständen gleich mit diesen Szenen beginnen und die Gegenwart übergehen. Wenn ein Patient nur wenig Zugang hat, können wir versuchen, ihn in einer REM-Schlaf-Phase zu erwischen, ihn aufwecken, während er in den Fängen eines Traumes ist, und ihn so in die zweite Ebene bringen. Träume treten auf, wenn ein Mensch vom Tiefschlaf zum Bewußtsein aufsteigt. Er muß auf dem Weg nach oben und nach unten durch die zweite Ebene hindurch, und wenn er diese Ebene aus einer der beiden Richtungen erreicht, dann träumt er.*

* Die meisten Träume spielen sich auf der zweiten Ebene ab, deshalb wecken wir Patienten meistens auf der zweiten Ebene auf; das ist ein guter Zeitpunkt, sie in Material der zweiten Ebene zu bringen.

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Ich sagte bereits, daß es aller drei Bewußtseinsebenen bedarf, um Schmerz zu erleben, und im Schlaf können wir deshalb keinen Schmerz fühlen, weil dann die dritte Ebene, die die schmerzhaften Empfindungen des Körpers interpretieren kann, unterdrückt ist. Das ist in starkem Maße auch bei Hypnose der Fall, ein hypnotisierter Mensch fühlt keinen Schmerz, weil seine dritte Ebene systematisch stillgelegt wurde.

Je mehr sich ein Patient im Verlauf seiner Therapie öffnet, um so geringerer Bruchstücke einer vergangenen Szene bedarf es, um ihn in das entsprechende Gefühl zu bringen. Am Anfang muß der Patient eine Szene als Sechsjähriger mit seinem Vater im Elternhaus vielleicht eine ganze Stunde oder noch länger beschreiben, ehe er sie fühlen kann. Später reicht schon der Gedanke daran oder ein einziges Wort oder ein einziger Klang, um ihn in ein Primal zu stürzen zum Beispiel der barsche Klang einer Stimme, die der seines Vaters ähnelt. Dadurch kommt es zu einer Verknüpfung; und das heißt denken, was man fühlt, und fühlen, was man denkt. Bei dieser Therapie kommt eine direkte Verbindung zum Feeling zustande, und ist dieser Punkt einmal erreicht, dann bedarf es einer bewußten Anstrengung, um ein Feeling zu blockieren.

Ein Primärtherapeut muß all die verschiedenen Techniken meistern, um Zugang zu einer spezifischen Bewußtseinsebene zu erlangen. Die Bedeutung des Schemas der Bewußtseinsebenen liegt darin, daß es uns einen Hebel an die Hand gibt, mit Hilfe dessen wir uns einem Patienten nähern und verstehen können, wo er sich befindet. Die Gefahr dieser Therapie liegt darin, gegen die Regeln des Bewußtseins zu verstoßen, so daß die falsche Ebene zu früh betreten oder infiltriert wird; oder darin, den Patienten auf der dritten Ebene festzuhalten, obwohl er bereits zur zweiten übergehen könnte. Es gibt eine unendliche Vielzahl möglicher Fehler, und deshalb ist die Ausbildung eines Primärtherapeuten so langwierig und so schwierig.

Die Kenntnis der Bewußtseinsebenen ermöglicht es uns, Fortschritte bei Patienten genau zu beobachten (und zu messen). Wir können sagen, wann ein Patient für eine tiefere Ebene bereit ist, und wir können sehen, wie sein Bewußtsein sich öffnet, wenn er ein dreischichtiges Primal hat, wenn er bei einer einzigen Sitzung von der dritten über die zweite in die erste Ebene gleitet. Unser Ziel ist es, dem Patienten zu helfen, ein fühlender bewußter Mensch zu werden. Und normalerweise sind wir nicht darauf angewiesen, zu raten, wo sich ein Patient jeweils befindet, ob oder welche Fortschritte er macht. Er weiß es ebensogut wie wir, weil er fühlen kann, wie sich sein Bewußtsein öffnet und weil seine auf verdrängtem Bewußtsein basierenden Symptome verschwinden. Er weiß es, weil er nicht mehr unter dem Zwang steht, aufgrund irgendwelcher unbewußten verdrängten Kräfte zu agieren.

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Der Neurotiker hält seine Kohärenz durch ein System gut funktionierender Schleusen aufrecht, so daß nur wenig Schmerz von einer Ebene zur anderen durchdringt. Primäre Kohärenz beruht auf fließender wechselseitiger Verknüpfung, die ihrerseits durch die Abnahme der erschütternden Schmerzintensität erleichtert wird. Es gibt Menschen, die funktionsfähig bleiben und ihre Kohärenz beibehalten, obwohl ihr System der dritten Ebene geschwächt ist.

Im wesentlichen gibt es zwei Wege, diese Kohärenz zu erschüttern: entweder durch Drogen, die das Aufsteigen des Schmerzes unterstützen; oder durch gegenwärtige Traumata, die die Fähigkeit des Systems überfordern, das, was geschieht, zu integrieren. Das kann durch einen schwerwiegenden Fehlschlag im beruflichen Leben oder durch den Verlust eines geliebten Menschen ausgelöst werden. Eine der gebräuchlichen Methoden, diese Kohärenz wiederherzustellen, ist eine Elektroschock-Therapie. Ein Elektroschock ist ein massiver Reiz, der zu einer Überlastung und dadurch zum Abblocken führt. 

Dabei wird jedoch nicht berücksichtigt, daß ein Schock eine massive Reizzufuhr ist, auf die der Organismus keine andere Reaktionsmöglichkeit hat als Unbewußtheit. Das schafft einen permanenten Abwehrzustand — ohne einen in der Gegenwart liegenden Grund. Ferner stellt es sicher, daß sich ein Reservoir nicht vollzogener Reaktionen bildet. Ein Primal ist die letztliche Verknüpfung, das bewußte Erleben einer zuvor nicht vollzogenen Reaktion. So gesehen, können wir Neurose als eine Reihe vergrabener Reaktionen betrachten; es wurden Reize empfangen, ohne daß man die Möglichkeit hatte, angemessen zu reagieren.

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Ich möchte einen entscheidenden Punkt erneut hervorheben, daß nämlich jedes Gefühl Komponenten aller drei Bewußtseinsebenen enthält. Jede Ebene trägt ihre Dimension bei. Allerdings gibt es Gefühle, die überwiegend Elemente der ersten Ebene enthalten, und andere mit überwiegend Elementen der zweiten Ebene. Wenn zum Beispiel ein Baby unmittelbar nach der Geburt keinen Körperkontakt hat — wenn es in den ersten Stunden und Tagen seines Lebens der Mutter ferngehalten wird —, dann wird es auf der ersten Ebene traumatisiert. Wenn es später von seinen Eltern nicht genügend Körperkontakt und Zärtlichkeit erhält, dann wird es auf der zweiten Ebene traumatisiert. 

Das Geschehen erster Ebene wird auf einer höheren Bewußtseinsebene weiter ausgearbeitet. Das Kind erhält nicht nur zu wenig Zärtlichkeit, es beginnt auch, sich »ungeliebt« zu fühlen. Das ist kein grundlegend neues Gefühl. Der Schmerz der ersten Ebene hat sich mit Schmerz weiterer Ebenen verbündet. Später, je nach der weiteren Lebensgeschichte des Betreffenden, kann er sexuell agieren (versuchen, Körperkontakt zu erhalten, sich in den Arm genommen und geliebt zu fühlen), oder er kann agieren, indem er Körperkontakt grundsätzlich meidet, um Schmerz der unteren Ebenen nicht zu reaktivieren. Später glaubt er dann vielleicht, daß er kein Bedürfnis nach Körperkontakt und Zärtlichkeit habe; daß »Männer, die so etwas brauchen, Waschlappen sind«. 

An diesem Punkt ist die dritte Ebene so gut wie völlig von jeglichem Zugang zu tieferen Ebenen abgeschirmt. Das kleine Kind mag jahrelang vergeblich versucht haben, sich um seine Eltern und um ein wenig elterliche Zärtlichkeit zu bemühen, bis es eines Tages seine Bemühungen einstellt, sein Bedürfnis vergißt und mit seinem Verstand die Vorstellung entwickelt, es brauche keine Zärtlichkeit. Einer solchen Vorstellung wird Vorschub geleistet, wenn ein Vater seinem Sohn Belehrungen vorhält wie beispielsweise: »Männer umarmen und küssen sich nicht, sie geben einander die Hand.« Der Sohn versucht dann, um sich selbst zu überzeugen, daß er geliebt wird, eben dieser Mann zu sein, und verleugnet seine Bedürfnisse erster Ebene. Aus Angst vor »Liebesverlust« würde er vor Körperkontakt zurückschrecken — und das ist in der Tat ein eigenartiger Widerspruch. Die dritte Ebene täuscht sich dahingehend, daß sie sich geliebt fühlt, während die erste und zweite Ebene sich danach verzehren.

Aus primärtherapeutischer Sicht kann ein Mensch, der seine Bedürfnisse agiert — und sei es auch noch so symbolisch —, der zum Beispiel durch Nymphomanie Erfüllung zu finden sucht, ein besserer Kandidat für die Behandlung sein als jemand, der sich gegen seine Bedürfnisse entschieden hat. Das heißt, daß ersterer (beispielsweise die Nymphomanin) ständig auf unteren Ebenen operiert, ohne sich dessen auf höherer Ebene auch nur bewußt zu sein. Die dritte Ebene hat keine vollständige Kontrolle, und es kommt permanent zu Eruptionen von Gefühlen und Bedürfnissen der unteren Ebenen. Das Problem ist nur, daß keine fließende wechselseitige Verknüpfung vorhanden ist, die es dem

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Betreffenden ermöglicht, zu wissen, was er oder sie agiert. Und eben diese mangelnde Verknüpfung verhindert die Kontrolle der dritten Ebene. Es ist einfach zu viel Bedürfnis vorhanden. Wir sehen das insbesondere bei Triebneurosen, wie etwa Exhibitionismus, bei denen ein ansonsten intelligenter und verständiger Mensch, wohl wissend, daß ihm eine lange Gefängnis­strafe bevorsteht, weiterhin in der Öffentlichkeit agiert.

Hier noch ein abschließendes Beispiel für ein alle drei Ebenen umfassendes Gefühl, das die Arbeitsweise der Abwehrmechanismen veranschaulicht. Ein Fetus kann nach einer langen und komplizierten Geburt endlich sicher auf die Welt gelangen; ihm mag eine Sinneserinnerung erster Ebene verbleiben, daß man »raus« muß, um in Sicherheit zu gelangen. Später hat dieser Mensch dann vielleicht ein unerfreuliches Zuhause, in dem es ständig Streitereien gibt. Seine einzige Schutzmaßnahme ist dann unter Umständen die, einfach fortzulaufen, rauszukommen. Als Erwachsener, wenn er unter Streß steht, beispielsweise Streit mit seiner Freundin hat, wird er vielleicht seine Koffer packen und fortlaufen wollen — um rauszukommen.

Seine Fluchtmaßnahmen können mit zunehmendem Alter immer komplizierter und ausgefallener werden — so kann er zum Beispiel, sobald er überlastet ist, mit einem Flugzeug irgendwohin fliegen —, doch das Leitmotiv bliebe von Geburt an immer das gleiche.

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Gefühle werden nach jeder weiteren Schleuse stärker umgelenkt, symbolischer und komplexer.
Abb. 2:  Schleusenaktion zwischen den Bewuß
tseinsebenen

 

Die Abwehr hatte sich um die erste Ebene errichtet, handelt es sich doch eher um eine körperliche Aktion als um eine introspektive, geistige. Die wenigsten von uns wissen, daß unsere heutigen Reaktionen auf Streß oft in den ersten Minuten unseres Lebens ihren Anfang fanden; das hat seine Erklärung darin, daß wir keinen integrierenden Zugang zur ersten Ebene haben. Die Lösung irrationalen Agierens muß auf allen drei Ebenen stattfinden; andernfalls (angenommen nur Ebene zwei wird erreicht) wäre bei dem obigen Beispiel auch weiterhin die Tendenz vorhanden, die Flucht zu ergreifen, wenn auch in gemäßigter Form. Es ist nicht damit getan, den Menschen zu »überzeugen«, es sei nicht richtig, davonzulaufen. Er wird von der Erinnerung der ersten Ebene dazu gezwungen, sie sagt: »Du mußt raus, wenn du dein Leben retten willst.« Fortlaufen als Abwehrverhalten ist mithin unbewußt eine Frage von Leben und Tod.

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Davonlaufen als Abwehr wird entsprechend der weiteren Lebensumstände entweder verstärkt oder gemildert. Die zweite Ebene kann sich unter Umständen mit der Abwehr verbünden, sie komplizierter und komplexer machen, aber der eigentliche Impuls ginge von der starken anfänglichen Kraft auf der ersten Ebene aus; und deshalb leiden Triebneurotiker, diejenigen, die sich mit dem Verstand nicht kontrollieren können, für gewöhnlich unter schweren Traumata erster Ebene.

Wenn ein Gefühl die Verknüpfung zu-höherem Bewußtsein nicht herzustellen vermag, übt die Energie nach wie vor ihre Kraft aus; und diese Kraft wächst entsprechend der Schmerzensmenge, die nicht verknüpft, sondern verdrängt wird. Je mehr die Kraft zunimmt, um so mehr Abwehrreaktion erzeugt sie, und die Abwehrmechanismen werden so verästelt und kompliziert, daß sich später kaum noch sagen läßt, welches Gefühl ihnen ursprünglich zugrunde lag. Die Komplexität wird noch größer, wenn man bedenkt, daß es viele schwere Traumata erster Ebene geben kann, die blockiert und umgelenkt werden. Wenn ihre Energie zur zweiten Ebene durchdringt, kommt es zu einem Verbund, der wiederum zu erneutem Umlenken und Abblocken führt, so daß die Situation immer komplizierter wird; und es gibt keine Möglichkeit, bei der Analyse irgendeiner Verhaltensweise via Verstand die erste und zweite Ebene auseinanderzudividieren. Das läßt sich nur erreichen, indem man allmählich Ebene für Ebene in den Schmerz hinabsteigt und ihn auflöst.

Wenn ein solcher Mensch dann schließlich das Erwachsenenalter erreicht hat, kann jeder seiner Verhaltensweisen — wie zwanghaftes Essen oder zwanghaftes Reden — eine unendliche Vielzahl verdrängter Gefühle zugrunde liegen. Es gibt keine eindeutige Ursache. Aber die Energie, die einen Menschen veranlaßt, ständig zu reden oder sehr laut zu sprechen, sagt uns etwas über die Energie, die dieses Verhalten verursacht. Ein Mensch, der exzessiv redet — und das kann bedeuten, daß er sein Gegenüber mit endlosen Abschweifungen und Fakten überschüttet, die mit dem eigentlichen Thema nicht das geringste zu tun haben , verbrennt diese Primärenergie. Sein Redefluß hat weniger mit Kommunikation zu tun als mit persönlicher Spannungsabfuhr und Katharsis; und deshalb schaltet man bei einem solchen Menschen ab. Man spürt, daß es ihm weniger darum geht, eine Beziehung herzustellen, als darum, »Dampf abzulassen«. Er wird durch seinen Schmerz auch die Beziehung zu seinem eigenen Kind verlieren (und in dem Kind Schmerz schaffen), weil die Energie seines ständigen Redens es dem Kind unmöglich macht, selbst zu denken, sich eigene Gedanken zu machen und sich nach innen zu wenden. Das Kind muß seine ganze Aufmerksamkeit ständig nach außen, auf den Vater richten. 

Die Art der Abschweifungen, das Ausmaß der Weitschweifigkeit seiner Gedanken sind ein weiterer Indikator dafür, wieviel vergrabener Druck ihn von dem forttreibt, was er eigentlich mitteilen möchte. Er hat seine einfachen Bedürfnisse verloren und kann sie nicht artikulieren. Seine Worte sind jetzt Ventile und Abwehr gegen Bedürfnis. 

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Es gibt einige neurologische Beweise, die die Auffassung unterstützen, daß die Energie eines Gefühls andere Bewußtseinsebenen infiltriert, während die spezifische Verknüpfung nicht zustande kommt. A. R. Luria weist in seinem neuen Buch darauf hin, daß »jede spezifische afferente oder efferente (kortikale) Faser von einer Faser des unspezifischen Aktivierungssystems und der Reizung individueller Areale kortikaler Gehirnstrukturen begleitet ist.«* 

Es besteht also die Möglichkeit einer allgemeinen Aktivierung des Systems, ohne daß spezifische Verknüpfungen hergestellt werden. Das heißt, die aktivierenden Teile des Reizes werden nach unten geleitet, um den Körper zu aktivieren, während die spezifischen Verknüpfungen das nicht tun. So fühlt sich der Mensch in bestimmten Situationen erregt, und weiß nicht warum.

Die Unterteilung des Bewußtseins erklärt auch, warum ein Mensch in seinem Fachgebiet ein Genie und ansonsten völlig irrational und mystisch sein kann. Ein Mensch kann in seinem Fachgebiet alle Fakten verstehen, logisch und systematisch sein, gleichwohl, wenn Schmerz unterer Ebenen aufsteigt, wird bei ihm eine Spaltung des Bewußtseins dritter Ebene ausgelöst, die zu absonderlichen und unlogischen Gedanken führt. Dann besteht keinerlei Beziehung mehr zwischen den Fakten, die er kennt, und seinen Vorstellungen über Leben, Ehe, Raum, Drogen, farbige Menschen und so weiter. Ein Mediziner, der zusieht, wie ein Patient auf dem Operationstisch stirbt, kann gleichwohl glauben, der Patient werde in anderer Form weiterleben; ein anderes Beispiel wäre ein Mediziner in der gleichen Situation, der zu glauben vermag: »Es hat so sollen sein«, es seien höhere Kräfte am Werk, die es so gewollt haben. 

Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Vor dem Ausmaß der menschlichen Fähigkeit zur Irrationalität schreckt der Verstand im wahrsten Sinne des Wortes zurück. Einer der Gründe, warum einige Menschen mit anderen nie über Religion diskutieren, ist kein anderer als der, daß ein solcher Glaube oft auf der Spitze eines Vulkans von Gefühlen sitzt. Angenommen, ein Mensch hatte in seinen Eltern nie die Freunde, die er brauchte, und macht sich Gott zu diesem nie gehabten, ersehnten Freund - dann wird ihn nichts auf der Welt davon überzeugen, daß es keinen Gott gibt. Bei Irrationalität geht es kurz gesagt nicht darum, Auffassungen zu ändern, sondern darum, den Schmerz zu ändern.

Daran läßt sich erkennen, daß die dritte Ebene plastisch ist; sie hat die Fähigkeit zu beidem, Logik und Alogik. Sie kann Schmerz rationalisieren und symbolisieren und versuchen, ihn logisch zu machen; und sie kann diese Alogik von der Fähigkeit trennen, reale Probleme, beispielsweise auf einem naturwissenschaftlichen Gebiet, zu lösen.

 

* Luria, S. 58.

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Ich bin der Überzeugung, daß unsere Intelligenz zu allen Zeiten überwiegend logisch ist, sofern kein Schmerz aus den unteren Ebenen durchsickert. Deshalb werden Primärpatienten nach der Therapie richtiggehend klug. Sie lassen sich von falschen Werten (Leistungszwang, Ehrgeiz und dergleichen) nicht mehr einfangen, nachdem sie einmal die Basis ihrer falschen Vorstellungen gefühlt haben.

Die zweite Ebene ist das Bindeglied zum Bewußtsein der Vergangenheit. Es ist ungemein wichtig, daß Patienten diese Ebene passieren, ehe sie die erste Ebene erreichen. Drogen wie LSD können Schmerz erster Ebene frühzeitig nach oben katapultieren; und mit genügend Trips kann sich unter Umgehung der zweiten Ebene eine eingeschliffene Bahn zwischen der dritten und ersten Ebene entwickeln. 

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Schmerz zweiter Ebene wird dann eingeschlossen und bildet eine Enklave, die unverknüpft bleibt, Verhalten antreibt und fortwährend irrationale Vorstellungen erzeugt. Eine falsche Therapie kann das gleiche bewirken. Dadurch, daß der Patient zu früh in Schmerzen erster Ebene getrieben wird, kann die gleiche eingeschliffene Bahn auftreten, die die zweite Ebene umgeht.

Wenn die Gegenwart zu unerbittlich und hart ist, kann sie den Menschen so fixieren, daß er nie wieder zur zweiten Ebene zurückkehren kann. Wenn er kein Geld, keine Arbeit, keinen liebenden Menschen und keine Zukunft hat, kann er mit der Gegenwart völlig ausgelastet und beschäftigt sein. Ein Primärpatient, dem die Gegenwart nichts bietet, kann auf ähnliche Weise in der Vergangenheit steckenbleiben. Der Mensch braucht eine funktionstüchtige dritte Ebene, und man sollte keinesfalls glauben, völlig in der Vergangenheit zu leben, sei eine primärtherapeutische Tugend.

 

Bewußtsein als wechselseitige Verknüpfung 

 

Bei der Diskussion der drei Bewußtseinssysteme sollte stets bedacht werden, daß diese Systeme den Körper innervieren; deshalb können wir auf einer Ebene unter Urschmerzen leiden, die zu einem Magengeschwür oder zu Diabetes führen, und gleichwohl der Tatsache, daß Schmerz auf einer anderen Ebene existiert, völlig unbewußt sein. So weist eine Entdeckung der jüngsten Zeit darauf hin, daß einige Fälle von Diabetes mit einem Überschuß an Wachstumshormonen, die von der Hirnanhangsdrüse abgesondert werden, im Zusammenhang stehen. Man hat eine Substanz identifizieren können, die die Kontrolle von Diabetes verbessert, indem sie den Ausstoß dieses Hormons beeinflußt. Dieses Mittel trägt den passenden Namen Somatostatin.* 

Ziel dieser Untersuchungen ist es, Diabetes unter Kontrolle zu bekommen, fraglos ein lohnendes Ziel; nur wird nicht darauf eingegangen, warum die Hirnanhangsdrüse (die mit dem Hypothalamus und dem Limbischen System in Verbindung steht) sich in einem permanenten Zustand der Überproduktion befindet. Ich bin der Überzeugung, daß wir nach einer Konstanten im Nervensystem Ausschau halten müssen (nach einer permanent aktiven Rückkoppelungsschleife für Primärschmerz). 

 

* Somatostatin hemmt ebenfalls die Glukagon-Produktion, ein Hormon, das den Blutzuckerspiegel hebt. In einem Artikel von Alford und anderen in The Lancet (10/26/74) wird auf die Bedeutung dieser Diabeteskontrolle eingegangen (EMH).

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Es ist zum Beispiel nachgewiesen worden, daß ein hormoneller Faktor im Hypothalamus für das Wachstum von Tumoren eine wesentliche Rolle spielt. Die Häufigkeit von Brustkrebs bei Ratten wurde reduziert, indem man einen kleinen Bereich des Hypothalamus ausbrannte. Der Hypothalamus ist aufs engste mit dem Immunsystem verbunden. Und einige Untersuchungen weisen darauf hin, daß Krebs (und Tumoren) sich entwickeln, wenn das Immunsystem versagt, ihr Wachstum zu stoppen.*

Meine These lautet: Schmerz unterer Ebenen, der von höheren Ebenen blockiert wird, hat Zugang zum Körpersystem und erzeugt dort eine ständige Aktivierung, die ihren Weg ins Hormonsystem finden kann und zur Überproduktion eines spezifischen Hormons führt; und die infolgedessen auftretende Krankheit wird allzu oft behandelt, ohne daß Schmerz und die Bewußtseinsebenen auch nur irgendwie in Betracht gezogen würden.

Chronische Kopfschmerzen sind ein gutes Beispiel für ein Symptom, das auf blockiertem Schmerz unterer Ebenen basiert. Blockierung dritter Ebene bedeutet, daß Gefühle unterer Ebenen nicht verknüpft werden und daß der Energiedruck dieser geschleusten Gefühle zerstreut und als Druck in »Druck-Kopfschmerzen« empfunden wird. Sobald Verknüpfungen hergestellt werden, findet auch die Zerstreuung der Gefühle ein Ende (die Gefühle fließen unbehelligt durch die Schleusen) und gleichzeitig auch das Empfinden von Druck. Das macht deutlich, warum Verknüpfung von unteren zu höheren Ebenen chronischen Kopfschmerzen ein Ende setzt, und es erklärt, warum die Primärtherapie bei diesem Symptom so erfolgreich ist. Wenn es durch die Therapie zu fließendem Zugang zwischen den Ebenen eins, zwei und drei kommt, verschwinden die Symptome. Solange nur eine Verbindung zwischen zwei und drei oder zwischen eins und drei besteht, ist mit einem Weiterbestehen der Symptome zu rechnen, wenn auch in gemäßigter Form.

Ich bin der Auffassung, daß die Wurzeln psychischer Erkrankungen und der meisten Psychosen auf Urschmerz zurückzuführen sind. Da Urschmerzen das ganze Körpersystem beeinträchtigen, kommt es notgedrungen zu biochemischen Veränderungen. Ich hielte es für falsch, aufgrund von Meßergebnissen dieser Veränderungen zu behaupten, die Wurzeln psychischer Erkrankungen seien demzufolge biochemischer Natur. Ich glaube vielmehr, daß die meisten biochemischen Veränderungen sekundäre Folgeerscheinungen von Urschmerz sind. Wir haben inzwischen genügend Psychosen auf natürliche Weise (primär-therapeutisch) geheilt, um davon ausgehen zu können, daß zumindest viele Psychosen nicht biochemischen Ursprungs sind. Das schließt die Möglichkeit biochemisch bedingter Psychosen nicht aus, unsere Erfahrung weist lediglich nach, daß sie nicht überwiegen.

 

*  Ich habe an anderer Stelle gesagt, Krebs sei der Wahnsinn der Zelle, und wenn wir verstehen, daß Bewußtsein ein zellularer Prozeß ist und Unbewußtheit Druck (durch Schmerz) bedeutet, dann weist Unbewußtheit erster Ebene auf einen ungeheuren zellularen Druck hin. Je mehr Schmerzen, um so größer die Unzugänglichkeit. Das ist einer der Gründe, warum sich Krebs meiner Ansicht nach bislang jeder Behandlung widersetzt hat.

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Psychose ist mithin eine Reaktion des Gehirns auf einen schweren Angriff. Dieser Angriff kann ein körper­liches Trauma, Drogengenuß, Vergiftung etc. sein. Meiner Ansicht nach überwiegen bei einer Psychose primäre Angriffe. Es ist möglich, ausgeklügelte Geräte wie einen Spektrophotometer zu benutzen, um die in einer Rückenmarkspunktur erzeugten Metaboliten zu messen und biochemische Veränderungen festzustellen. Aber von daher zu extrapolieren und zu behaupten, diese Veränderungen seien die Ursache der Neurose, wäre meiner Meinung nach unzulässig. Es sei noch einmal wiederholt, psychische Krankheiten sind im Grunde psychophysische Krankheiten. Bei abweichenden Zuständen des Geistes und der Psyche liegen selbstverständlich auch physische Veränderungen vor.

Durch die Primärtherapie finden aufgrund des physischen Schmerzzugangs Veränderungen im Körpersystem statt. Wenn wir von Bewußtseinsveränderungen sprechen, müssen wir verstehen, daß diese Veränderungen auf die eine oder andere Weise von physischen Veränderungen begleitet sein müssen, andernfalls wären derartige Veränderungen nur oberflächlich und beträfen lediglich die dritte Ebene. Kurz gesagt, wir verändern Bewußtseinsebenen, die mit einem physischen System verknüpft sind. Wir verändern nicht lediglich den »Geist« oder die Bewußtheit, wie es die konventionellen auf Einsicht bauenden Therapien tun.

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Bei diesen Veränderungen handelt es sich um dauerhafte Veränderungen, und das ist das Entscheidende, denn es gibt eine Vielzahl psychotherapeutischer Methoden, wie beispielsweise Meditation, Biofeedback, Hypnose und andere mehr, die ebenfalls gewisse Veränderungen bewirken, nur mit dem Unterschied, daß jene nicht von Dauer sind. Sie dringen nicht bis zum Urschmerz vor, der kausalen Ursache der Neurose, noch zu deren somatischen Korrelaten. Sie ordnen die Komponenten der dritten Ebene lediglich neu an. 

 

Wie ich in dem Kapitel »Über Schlaf und Träume — Bewußtsein in unbewußten Zuständen« ausführlicher zeigen werde, gibt es für die einzelnen Bewußtseinsebenen jeweils spezifische EEG-Muster. Untersuchungen haben nachgewiesen, daß zum Beispiel ein Abstieg in untere Ebenen durch eine Senkung der Hirnstromfrequenz zustande kommt. Tiefschlaf ist mit langsamen Delta-Wellen verbunden. Aus den Arbeiten Elmar Greens vom Murphy Research Center geht hervor, daß seine Probanden von ihren interessantesten traumähnlichen Bildern berichteten, wenn ihre Alpha-Aktivität von zehn auf acht Schwingungen pro Sekunde gesunken war, und ganz besonders, wenn die Aktivität aus dem Alpha-Rhythmus in den Theta-Bereich überging und unter acht Schwingungen pro Sekunde lag. 

Ich glaube, daß der Theta-Rhythmus ein Maß für Gefühlszustände ist; der Alpha-Rhythmus ist ein Maß für wirksame Verdrängung. Daß sich Menschen bei mittlerer Alpha-Frequenz entspannt fühlen, ist meiner Ansicht nach auf die Effizienz ihrer Verdrängung zurückzuführen, durch die ein Zustand entsteht, der einem das Gefühl der Entspanntheit vermittelt. Im schnellen Beta-Bereich schließlich fühlt sich der Mensch erregt und ängstlich. 

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Druck der zweiten Ebene auf die dritte Ebene

 

Wichtig an all dem ist die Möglichkeit, auf einer bestimmten Bewußtseinsebene zu intervenieren und spezifische Ergebnisse zu erzielen. Wir können mit Hilfe stroboskopischer Instrumente die Frequenz der Hirnstromaktivität senken; bei Primärpatienten führt das oft zu einem Primal und bei Nicht-Patienten zu einem Gefühl, »als schwebten sie im Raum«. (Diese Instrumente werden heute in der Primärtherapie nicht benutzt; sie erübrigen sich.) Die Arbeiten von T. H. Budzynski vom University of Colorado Medical Center sind in diesem Zusammenhang äußerst interessant. Er trainiert Patienten mit Biofeedback-Methoden, um langsame Hirnströme zu erzeugen. Einige seiner Patienten schlafen infolge der Entspannung ein, andere scheinen freieren Zugang zu vordem verdrängten Gedanken (zu Gefühlen) zu gewinnen. 

Dr. Jose Delgado hat am Gehirn einiger seiner Patienten Elektroden angebracht. Diese Patienten zeigten bei elektrodischer Reizung bestimmte Reaktionen, über die sie keinerlei Kontrolle (dritter Ebene) hatten. Die unterbewußte elektrische Reizung war stärker als jeder bewußte Willensakt. Und mehr noch, die dritte Ebene erfand Rationalisierungen für das elektrisch stimulierte Verhalten, um es plausibel zu machen. Ein Patient zum Beispiel, der derart stimuliert worden war, antwortete auf die Frage, was er da mache, mit der Erklärung: »Ich suche meine Schuhe.«

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Mir geht es hierbei um folgendes: Urschmerz ist ein starkes unterbewußtes Geschehen, das gelegentlich das Bewußtsein dritter Ebene überfluten kann; wir rationalisieren diesen Schmerz auf der dritten Ebene, weil wir ihn nicht verknüpfen können. Verknüpfungen setzen Selbsttäuschungen ein Ende.

Dr. I. S. Cooper aus New York hat nachgewiesen, daß eine Reizung des Kleinhirns die Kontrolle bei bestimmten Fällen von Epilepsie merklich verbessert. Hemmung (oder Schleusung) kann ohne die bewußte Kenntnis des Patienten stattfinden. Wir können abblocken (und neurotisch werden), ohne die geringste. Ahnung zu haben, was mit uns geschieht.

Im gleichen Zusammenhang ist auch die in jüngster Zeit sich breitmachende Anwendung von Akupunktur bei Narkotikasucht, insbesondere bei der Behandlung von Entzugserscheinungen zu sehen. Das ergibt durchaus einen Sinn (wenn auch nicht im primärtherapeutischen Sinn), zeigt sich doch, daß Akupunktur zumindest eine Schleuse beeinflußt (Blockierung der Erregungsleitung aufsteigender Impulse im Rückenmark), wenn nicht gar mehrere. Meiner Ansicht nach kommt es dabei zu einer Überlastung, zu einer Stauung sensorischer Reizzufuhr, die die Schleusentore schließen hilft, so daß der Schmerz nicht mehr empfunden wird.

Offenbar hilft diese Überlastung den Schmerzrückstoß verhindern, der, wenn Drogen abgesetzt werden, einsetzt, um den Schmerz zu unterdrücken. Da ist kein Wunder am Werk. Aus primärtheoretischer und neurologischer Sicht spricht alles dafür, daß wir Erinnerungen speichern, insbesondere schmerzhafte Erinnerungen. Wenn eine Behandlungsmethode sich nur an der Peripherie des Schmerzes bewegt, kann sie keine dauerhafte Wirkung erzielen. Es ist wirklich bedauerlich, daß alle in jüngster Zeit angepriesenen Neuerungen auf dem Gebiet der Behandlung von Suchtkrankheiten kaum mehr sind als reine Schleusenunterdrücker. Ich würde sie als notwendig akzeptieren, wenn es nicht bereits eine tatsächlich wirksame Form der Therapie gäbe.

Ich bin bereits in meinem Buch Anatomie der Neurose auf die Arbeiten von Wilder Penfield eingegangen. Er machte bei Epileptikern hirnchirurgische Eingriffe, dabei brachte er im Schläfenlappen — in enger Verbindung zum Limbischen System — Elektroden an und stellte fest, daß diese Patienten dann Begebenheiten aus ihrer Jugend unmittelbar wiedererlebten. Ich frage mich, wenn die Elektroden mit tieferen Bewußtseinsebenen verbunden würden, ob die Patienten dann nicht Traumata erster Ebene wie zum Beispiel den Urschmerz der Geburt wiedererleben würden.

Im folgenden zitiere ich aus einem Buch, das sich mit den Arbeiten Penfields auseinandersetzt und das für meine Diskussion der Bewußtseinsebenen von größter Relevanz ist. Es handelt sich um das Buch The Brain Revolution.*

 

* Marilyn Ferguson, The Brain Revolution, Taplinger, New York 1973.

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»Einer von Penfields Patienten hatte offenbar einen Ablagespeicher für das Konzept <wegschnappen>. Ein Geschehen, das an ein Kindheitserlebnis erinnerte, in dem ihm etwas weggeschnappt worden war, pflegte einen schweren epileptischen Anfall auszulösen. Die direkte Erinnerung an diesen Vorfall löste also einen Anfall aus; es kam jedoch auch dann schon zu einem Anfall, wenn dieser Patient zum Beispiel ein Kind sah, das einem Hund einen Stecken aus der Schnauze schnappte (dritte Ebene; meine Anmerkung). Offenbar wurde hier ein und dasselbe Ablagesystem benutzt, um sowohl die Gegenwart auszuwerten, als auch um den Bewußtseinsstrom anzuzapfen.«

Ich glaube, daß dieses Ablagesystem Gefühlen entsprechend angelegt ist. Denn was die verschiedenen Erlebnisse untereinander verbindet, ist jeweils ein spezifisches Gefühl; und dieses Gefühl hat seine Elemente tieferer Ebenen, die durch Ereignisse in der Gegenwart reaktiviert werden können. Ein normaler Mensch würde dann die Verknüpfung zu diesem Gefühl herstellen, bei einem Neurotiker jedoch kann es statt dessen zu einem Anfall kommen, und zwar aufgrund von Verdrängung dritter Ebene, die das Gefühl zurückdämmt und dadurch einen enormen Druck schafft, der auf allgemeine, nicht gezielte Weise entladen wird. Penfield ist es gelungen, das Gehirn zu stimulieren und spezifische Halluzinationen oder Träume zu erzeugen. In einigen Fällen ist es immer die gleiche Halluzination oder der gleiche Traum, der einem Anfall vorangeht. Auch hier wieder wird meiner Ansicht nach überzeugend nachgewiesen, daß Gefühle unterer Ebenen spezifische symbolische Derivate erzeugen; und umgekehrt, daß es möglich sein kann, zu unbewußten Gefühlen unterer Ebenen zu gelangen, indem man entlang diesen Symbolen hinabsteigt.

Penfields jüngste Veröffentlichungen (September 74) stehen offenbar mit primärtheoretischen Thesen im Einklang: »So gelangen wir zu der Schlußfolgerung, daß es mindestens drei Einheiten der grauen Substanz gibt, die beim Abtasten und Zurückrufen früherer Erlebnisse mitwirken: 1. der interpretierende Kortex des Schläfenlappens, 2. die Hippocampi mit ihren direkten Verbindungen zum Hirnstamm und 3. die empirischen Aufzeichnungen im oberen Hirnstamm ..... demnach können wir davon ausgehen, daß neurale Potentiale von den Hippocampi zu der zentral gelegenen empirischen Aufzeichnung führen, die sie dann selektiv aktivieren ..... demzufolge spielen die Hippocampi eine wesentliche Rolle bei dem (bewußten) Abruf früherer Erlebnisse.«*

Penfield glaubt also, daß Begebenheiten im Gehirn aufgezeichnet werden und dadurch reaktiviert werden können, daß man die interpretierenden Areale des Schläfenlappens reizt. Der interpretierende Kortex scheint der Schlüssel für ein »eigenartiges Tonband« im Gehirn zu sein, das vergangene Szenen, Klänge, Bilder und Gedanken zurückbringen kann.

 

*  Penfield, W. et al.: »Memory«, in Archives of Neurology, Bd. 31, September 1974, S. 152 ff.

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 Er spricht im weiteren von Zugangsschlüsseln, die offenbar im Hippocampus des Schläfenlappens (in beiden Hemisphären) gebildet werden, und diese Schlüssel scheinen Duplikate zu sein. Diese hippocampalen Schlüssel können den interpretierenden Kortex aufschließen und es dem Menschen somit ermöglichen, nahezu alles zu erinnern, was er je erlebt hat. Auch wir sprechen gewissermaßen von Zugangsschlüsseln, und eben jener Zugang zur Vergangenheit ist der Eckpfeiler der Primärtherapie.

Hören wir noch einmal, was Penfield zu sagen hat: »Das Tonband im (oberen) Hirnstamm ist unveränderbar, jedenfalls den auf Reizung hin erfolgenden Reaktionen nach zu urteilen.« Wie auch immer das Band aktiviert wird, es scheint immer die gleiche Weise zu spielen. Aber die mit dem Hippocampus verbundenen zusammenfassenden Zugangsschlüssel verändern sich. Der Zugang kann größer und kleiner werden.

»Angenommen, daß nun die Bahnen für permanent erleichterte Verbindung (Hervorhebung von mir) vom Hippocampus zum Bandgerät sich früh im Leben (Hervorhebung von mir) am hinteren Ende der Hippocampi ausbilden und erst später weiter vorn«, so erklärt das seiner Meinung nach die retrograde Amnesie als Unfähigkeit, besondere Zugangsschlüssel zu schaffen, denn um zu bestimmten Erinnerungen Zugang zu haben, bedarf es der vorderen Hälfte zumindest eines Hippocampus.

Penfield ist im Rahmen seiner gehirnchirurgischen und sonstigen wissenschaftlichen Untersuchungen jetzt dabei, genau herauszufinden, wo einige der hier erörterten Verbindungen (Verknüpfungen) genau lokalisiert sind. Er schreibt dem Hippocampus die allergrößte Bedeutung zu; das entspricht meiner bereits vor Jahren in dem Buch Anatomie der Neurose vertretenen Hypothese. Der Hippocampus scheint mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit am Erinnerungsvermögen beteiligt zu sein. Er hilft, die gespeicherte Vergangenheit abzutasten. Die Aufzeichnungen der Vergangenheit sind ein kontinuierliches »Muster neuraler Verbindungen, die für neurale Ströme permanent durchlässig gemacht wurden. Dieser kontinuierliche Faden der Durchlässigkeit ist das dem Erleben entsprechende Engramm.«

Ich bin der Überzeugung, daß dieses Engramm [bleibende Gedächtnisspur] sich wie eine Rückkoppelungsschleife verhält, die Kortex und Körper ständig auf allgemeine Weise stimuliert, weil der richtige Zugangsschlüssel, der zu bewußter Verknüpfung führt, nicht vorhanden ist. Es ist möglich, daß gegenwärtige Begebenheiten diese Rückkoppelungsschleifen auf tieferen Bewußtseinsebenen anstoßen, ohne dabei jedoch höheres Bewußtsein einzuschalten.

Die Fähigkeit, eine bewußte Erinnerung und Verknüpfung der zu früh gespeicherten Erlebnisse herzustellen, erfordert die aktive Hilfe bestimmter Bereiche des Hippocampus. Ich bin der Überzeugung, daß frühe Erlebnisse, die einen großen Schmerzgehalt haben, Aspekte hippocampaler Funktion überlasten und blockieren, so daß der Zugang geschleust und umgeleitet wird.

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Kodierung von Erinnerungen 

 

Ich möchte die Diskussion noch einen Schritt weiter führen. Ich glaube, daß nicht nur das Gehirn Erinnerungen kodiert, sondern daß das Gegenstück zu bestimmten Erinnerungen auch im Körper kodiert und gespeichert wird. In meinem Buch Das befreite Kind schrieb ich, daß bei einer Patientin, die ihre Geburt wiedererlebte, genau die Blutergüsse und Druckstellen wieder auftraten, die sie sich im Verlauf ihrer Geburt zugezogen hatte. Auf einer bestimmten Ebene des Bewußtseins bestand nicht nur eine mentale Erinnerung, sondern auch eine körperliche, die mit diesem mentalen Geschehen einherging. Das heißt, die Erinnerung war ein psychophysisches Ereignis, nicht nur ein zerebrales.

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Man hat diesbezügliche Untersuchungen mit Würmern (Planaria) angestellt, in denen man die Würmer zunächst trainierte, auf Licht zu reagieren, dann wurden sie jeweils in zwei Teile geschnitten, und einen Monat später wuchsen den kopflosen Hälften neue Köpfe nach. Die mit völlig neuem Kopf erinnerten sich fast genau so gut wie die anderen.*

Der Versuchsleiter schloß daraus, daß die Erinnerung in den einzelnen Zellen gespeichert wurde und nicht nur im Gehirn. Was für die Planaria zutrifft, könnte für alles organische Zelleben gelten. Daraus folgt, daß Bewußtsein völlig neu betrachtet werden müßte — als ein totales System von Körper und Geist. Die Bedeutung dessen im Hinblick auf die Primärtherapie liegt darin, daß eine wirkliche psychophysische Veränderung im menschlichen Organismus nur zustande kommt, wenn ein psychophysisches Erlebnis (ein Primal) vorliegt — im Gegensatz zu einem rein geistigen, wie beispielsweise bei Therapien, die auf Einsicht beruhen. Erinnerung ist mithin ein holistischer Zustand; und der Körper erinnert auf seine eigene Weise und auf seiner eigenen Ebene. 

Hier noch ein weiteres Beispiel, um meinen Punkt zu verdeutlichen: Kürzlich kam ein Patient mit einer Erinnerung zur Sitzung; er hatte sich daran erinnert, wie sein Vater ihm vorzusingen pflegte, als er ein kleiner Junge war, und wie er sich wohlig zur Musik wiegte. Eines Tages war sein Vater wütend geworden, hörte auf zu singen und sagte ihm, er solle aufhören, so zur Musik zu schaukeln. Auf der Sitzung konnte er sich an jede einzelne Kleinigkeit dieser Szene erinnern, nur vermochte er sie nicht zu fühlen. Der Therapeut wies den Patienten an, sich genau so zu wiegen, wie er es damals als kleiner Junge getan hatte. Kurz darauf wand sich der Patient in Qualen aus Schmerz darüber, daß sein Papi ihm nicht mehr vorsang. Die Erinnerung blieb in seinem <Kopf> (dritte Ebene), bis er die frühe Szene körperlich wiedererschuf. Diese Szene hatte etwas an sich, was ihn völlig aus der Fassung brachte, und was mir anzeigte, daß eine Erinnerungsspeicherung unterer Ebene vorliegen mußte. Es wurde erst zum Gefühl, als er aus seinem Kopf herauskam und in seinen Körper stieg. Dieses Beispiel veranschaulicht auch die Spaltung sehr lebhaft.

Ich glaube, daß mit der ersten Zelle ein archaisches Bewußtsein beginnt — ein zellulares Bewußtsein. Diese Zelle kann Informationen speichern, reagieren und noxische Reize vermeiden. Wenn Billionen von Zellen zusammenkommen, haben wir ein äußerst komplexes und kompliziertes Bewußtsein, aber die Dynamik dieses Bewußtseins liegt in der Plastizität und Reaktivität der einzelnen Zelle. Die Tatsache, daß sehr primitive Lebensformen, die aus sehr wenigen Zellen bestehen, konditioniert werden können, bedeutet, daß sie Information speichern, und daß diese Information auf künftiges Verhalten bezogen werden kann.

 

* Maya Pines, The Brain Changers, New York 1973, S. 171.

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Wir beginnen auf zellularer Ebene die Verbindung zwischen der elektrochemischen Aktivität der einzelnen Zellen und den sogenannten psychologischen Phänomenen herzustellen. Reaktivität, Empfindungs­vermögen, Vermeidungsverhalten sind sowohl psychischer als auch physischer Natur. Das heißt, sie sind psychophysiologischer Natur. Wir Wissenschaftler haben physiologische und psychische Aspekte in der Wissenschaft voneinander getrennt; in der Natur sind sie jedoch eins. Reaktivität und Empfindungsvermögen sind Elemente des Bewußtseins, und diese Elemente existieren auf allen Bewußtseinsebenen, ob sie wahrgenommen werden oder nicht. Die Reaktivität und Empfindungsvermögen leitenden Gesetze gelten für alle Zellen, einerlei welcher Bewußtseinsebene sie angehören (der ersten, zweiten oder dritten Ebene). Obwohl Zellen differenzierte Funktionen haben, so daß die Zellen der dritten kortikalen Ebene andere Funktionen haben als die der ersten und der zweiten, bleiben die Gesetze, die das zellulare Leben regeln, die gleichen. Zellen können überlastet und in ihrer Funktion dauerhaft gestört werden (wie es meiner Ansicht nach bei einigen Fällen von Krebs geschieht.)

Jede Zelle hat ihren eigenen Gleichgewichts- oder normalen Ruhezustand. Eine Schmerzüberlastung durchbricht dieses Gleichgewicht und stört die Struktur der Zelle. Diese Störung setzt einen Prozeß in Gang, der für alle Formen organischen Lebens grundlegend ist, nämlich die Bewegung in Richtung Homöostase — das Bemühen des Organismus, seinen ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Die Natur ist immer auf Einigung ausgerichtet. Wir sehen das bildhaft veranschaulicht bei Patienten, bei denen angeborene Gebißanomalien durch kieferorthopädische Eingriffe im zweiten Lebensjahrzehnt beseitigt wurden, die jedoch nach Primals feststellen mußten, daß sich ihr Gebiß wieder zu seinem ursprünglichen Zustand zurückentwickelte. 

Wenn eine Ansammlung von Nervenzellen durch Urschmerz zerrüttet wurde, macht sich auch hier das Bemühen um Wiederherstellung bemerkbar. Dieser Prozeß liegt auch neurotischem Verhalten zugrunde; denn Neurose ist der (symbolische) Weg, auf dem wir uns bemühen, alte Traumata und Störungen normaler Funktionsweisen zu meistern. Der psychologische Name, mit dem wir diesen organischen Prozeß versehen, ist »Hoffnung«. Hoffnung ist kein anderes Phänomen als Wiederherstellung und Homöostase. Es ist der Name, mit dem wir die psychologischen Aspekte des organischen Vorgangs belegen. Hoffnung tritt auf, wenn eine organische Störung vorliegt, bei der der Organismus versucht, seinen ursprünglichen Zustand wiederherzustellen, indem er das Trauma symbolisch meistert: »Ich hoffe, daß ich jemanden finden werde, der mich liebt und der sich um mich kümmert«, ist ein Beispiel dafür.

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Hoffnung ist das, was Nervenzellen als ihr psychisches Gegenstück anbieten, aber letztlich ist es doch nur ein organismischer Prozeß der Wiederherstellung, der stattfindet, wenn Einheit und Kohäsion einer Zellstruktur (intra- und interzellular) gestört wurden. 

Das zeigt sich deutlich, wenn der noxische Reiz von außen kommt - wenn wir eine Sonde gegen eine Zelle halten und sehen, wie sie sich davon fortbewegt. Aber wir müssen verstehen, daß interner Urschmerz ebenfalls ein Reiz ist, der den normalen Fluß des Geschehens im Gehirn blockiert und die Funktion der Zellen beeinträchtigt. 

All das bedeutet, daß keine Bewußtseinsebene die Arbeit einer anderen leisten kann. Wenn Traumata und Funktionsstörungen sehr früh auftreten und Zellen der ersten Ebene betreffen, dann können diese und nur diese Zellen das Problem lösen und die Einheit wiederherstellen. Die dritte Ebene ist, um es kurz zu sagen, unfähig, Traumata der ersten Ebene zu meistern. Und deshalb können Einsichtstherapien frühe Traumata nicht lösen.

Vielleicht verstehen wir jetzt, was es mit Urschmerz alles auf sich hat. Was uns »weh tut«, ist die strukturelle Zerrüttung der Zellen — die Störung unseres normalen Ruhezustands auf der untersten Strukturebene. Wir sind dann auf allen Ebenen unseres Organismus buchstäblich »aus dem Lot«.

Schmerz »tut weh«, weil ein Störfaktor ein ausgewogenes System aus dem Lot bringt. All die körperlichen Systeme müssen diesen Störfaktor kompensieren und können deshalb nicht mehr normal funktionieren. Der Körper kann sozusagen nicht mehr er selbst sein. Wenn wir einen Arm in unnatürlicher Position halten, tut er bald weh. Er hört auf, weh zu tun, sobald wir ihn in seine natürliche Ruhehaltung zurücknehmen. Das trifft auf andere Systeme nicht weniger zu, nur daß das Wehtun weniger graphisch und offensichtlich ist.

Urschmerz erzeugt oft eine permanente Konstriktion bestimmter Blutgefäße. Das beeinträchtigt wiederum Nerven- und Muskelsysteme, und das tut seinerseits wiederum weh. Es »tut weh«, unnatürlich zu sein. Das System scheint ein Bedürfnis nach Natürlichkeit zu haben und wird durch Urschmerz daran gehindert. Es klingt vielleicht paradox, daß der Neurotiker oft unter Urschmerz leidet, der nicht weh tut. Das heißt, der Körper registriert Urschmerz, sein System setzt ihn um, gleichwohl wird er nicht bewußt erfahren. Ob er sich dessen gewahr ist oder nicht, scheint unwichtig zu sein, da sich das System in jedem Falle mit dem Urschmerz auseinandersetzt. Irgendwann einmal kann der Neurotiker systemischen Schmerz dann vielleicht systemisch wahrnehmen, nämlich wenn er zum Beispiel ein Magengeschwür entwickelt, weil sein System (ohne daß er davon wußte) zu viel Salzsäure produziert hat; dann fühlt er körperlichen Schmerz. Aber auch das ist nichts anderes als das Endprodukt von Urschmerz.

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Abb. 3:  Bewußtseinsebenen: vergleichende Analyse 

 

 

Katastrophaler Schmerz und Stillstand im Reifungsprozeß 

Ich habe Urschmerz als katastrophal bezeichnet, ohne diesen Begriff näher zu erläutern. Für mich ist katastrophal gleichbedeutend mit lebensbedrohend. Urschmerz tut nicht nur weh, er ist ein enormer Angriff auf ein System, der durchaus zum Tod führen kann. Zum Beispiel haben wir Laboruntersuchungen mit einem Patienten angestellt, der in der Phase vor einem Primal eine anhaltende Pulsfrequenz von 200 Schlägen pro Minute hatte. Diese Pulsfrequenz ist eine Reaktion auf einen frühen Kindheits- oder Säuglings­schmerz. 

Es ist vermutlich die gleiche Pulsfrequenz, die das Kind gehabt hätte, wäre es nicht in der Lage gewesen, abzublocken und den Schmerz vom Bewußtsein fernzuhalten. Ein anhaltender Pulsschlag von 200 würde bei dem Kind über kurz oder lang zum Tode geführt haben. Mithin ist der Schmerz tödlich, wenn er ständig zum Bewußtsein zugelassen wird. Hier nun schreitet die Neurose hilfreich ein und verhindert, daß das tatsächlich geschieht. Wenn sich aber der Schmerz über Jahre und Jahrzehnte nicht verändert, dann ist auch kaum damit zu rechnen, daß sich die physiologische Reaktion auf diesen Schmerz ändern wird. Der Erwachsene kann einen Puls von 200 eine Zeitlang aushalten, weil er kräftiger ist, wichtiger jedoch ist, daß er den Schmerz auflösen kann, indem er ihn fühlt, und das kann das Kind nicht.

Vielleicht machen wir uns nicht richtig klar, wie verletzlich und unabgewehrt ein Säugling ist. Er hat noch nicht den voll funktionsfähigen Neokortex des Erwachsenen. Er kann keine geistigen Saltos schlagen, um sich selbst zu täuschen. Er bringt allenfalls Verdrängung zustande, und die findet statt, ehe der Neokortex vollends entwickelt ist.

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Später kann er dank dieser wuchernden Masse von Hirnrindengewebe Schmerz fühlen. Aber man stelle sich vor, daß ein sechs Monate alter Säugling einen Urschmerz erleidet, der seinen Puls auf 240 Schläge pro Minute beschleunigt. Was tut er? Er verdrängt. Das ist sein Überlebensmechanismus. Um sein Leben zu retten, wird er neurotisch; Neurose ist der letzte Überlebensmechanismus. Das ist ein automatischer und unwillkürlicher Prozeß. 

Angenommen, in seinem frühen Leben häuft sich Urschmerz über Urschmerz — Kindheit im Internat, ohne Körperkontakt, ohne Zärtlichkeit. Dann kann es passieren, daß die Schleusen überansprucht werden. Sie sind überfordert und funktionieren nicht mehr richtig. Schmerzen der ersten Ebene sind bei ihm immer nur um Haaresbreite von der Oberfläche entfernt — eine Folge des Verbunds, den ich an anderer Stelle ausführlich behandelt habe. Die Neurose funktioniert nicht mehr. 

Wenn die Schleusen unter ihrer Last zusammenbrechen, kommt es zur Psychose. Sie ist der letzte psychische Abwehrmechanismus. Die Schleusen arbeiten bis zu einem bestimmten Punkt, an dem sie nicht mehr weiterkönnen, jenseits dessen sie nicht mehr funktionieren. Das zeigt sich eindeutig an Patienten, die häufig LSD genommen haben. Der Körper tut alles ihm Mögliche, um den Schmerz in Schach zu halten, aber alle dafür in Frage kommenden Mechanismen sind von der Droge infiziert worden und geben nach. 

Wenn wir in der Primärtherapie die Abwehr abbauen, greifen wir auch in diese Mechanismen ein. Und während wir das tun, gerät der Patient in einen Zustand der Panik, in einen Zustand, der, wie gesagt, zum Tode führen könnte. Aber zum Glück können wir das Geschehen lenken; wir können den Patienten zur Quelle seiner Panik bringen — zum Urschmerz. Wir können das einzig Vernünftige tun, nämlich die Ursache für die Schleusung eliminieren.

Ein katastrophaler Urschmerz erzeugt nicht nur Neurosen schlechthin, sondern jeweils eine bestimmte Neurose besonderer Art. In dem oben genannten Beispiel führte ein prototypischer früher Schmerz zu einer chronisch erhöhten Pulsfrequenz. Unbewußt gleicht der Mensch beim Heranwachsen seine äußere Umwelt seiner inneren an. Dieser Mann mit dem beschleunigten Puls war permanent in Aktion. Das bestimmte seine Berufswahl und seine Interessen. Er wuchs in einem rauhen Milieu in Detroit auf. Er blieb nie zu Hause und wurde ein Einzelgänger, um sich zu schützen. Er suchte ständig Streit und Kampf. Er brachte sich in Situationen, in denen er um sein Leben laufen mußte

Ein anderer Mensch mit einer anderen prototypischen physiologischen Reaktion hätte sich völlig anders verhalten. Er hätte dazu neigen können, Dinge für sich zu behalten, und infolgedessen wäre sein Leben viel zurückgezogener, viel seßhafter. Diese prototypischen Urschmerzen führen zu einem »Physiotypus«. 

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Es gibt nicht nur eine bestimmte charakteristische körperliche Art, mit Streß fertigzuwerden (schneller Puls, hoher Blutdruck), sondern mit einem derartigen physiologischen Muster verweben sich auch Persönlichkeitsmerkmale: schneller Puls, in Kämpfe geraten und um sein Leben laufen, noch stärkere Beschleunigung der Pulsfrequenz etc. Die physiologischen und psychischen Aspekte werden zu einer Einheit verwoben, bis sie schließlich nicht mehr auseinanderzuhalten sind, und das Leben wird dann einfach zur unbewußten Entflechtung des eigenen Physiotypus. 

Schmerz, oder genauer gesagt Schmerzerleben, kommt durch Bewußtsein zustande. Die physiologischen Meßwerte steigen an, wenn die Gefühle in starkem Maße unbewußt werden. Das heißt, Schmerz wird durch Verknüpfung erzeugt, und mangelnde Verknüpfung unterdrückt ihn. Zwischen Schmerz und Leiden besteht ein wesentlicher Unterschied. Nahezu alle Formen tierischen Lebens können leiden. Um aber Schmerz voll und ganz erleben zu können, bedarf es eines Neokortex, denn Schmerz ist ein voll bewußtes Erlebnis. Leiden hingegen nicht. Neurotiker leiden, weil sie unbewußt sind. Sie befinden sich in einem vagen, unspezifischen Schmerzzustand. Schmerz zu fühlen bedeutet, aufhören zu leiden. Umgekehrt ist Leiden ein nichtfühlender Zustand; und erst wenn wir diesen Zustand überwinden, das heißt erst durch Schmerz, werden wir zu fühlenden Menschen.

Magenschmerzen sind Leiden. Die Leere des Lebens fühlen, die dieses Leiden verursacht, ist Schmerz. Wie Dr. Holden bereits dargelegt hat, gibt es zwei verschiedene Schmerzbahnen, eine für Leiden und eine andere für Schmerz. Die phylogenetisch älteren sind die Bahnen für Leiden. Die anderen sind eine sehr viel spätere Entwicklung, die embryologisch wie evolutionär erst mit dem Reifungsprozeß des Gehirns und des Rückenmarks auftreten. Schmerz in unserem Sinne ist ein ausschließlich menschliches Phänomen; es bedarf aller Bewußtseinsebenen, um Schmerz hervorzurufen, aber nur einer Ebene, um Leiden zu erzeugen.

Das Erleben von Schmerz ist ein wechselseitig verknüpftes Geschehen. Ein Patient kann sich winden, schreien, weinen, er kann entsetzlich leiden und doch nicht voll unter Schmerz stehen. Und weil er nur leidet, wird er sein Elend nicht lösen und wird weiterhin leiden. Es ist auch möglich zu leiden, ohne daß es zu diesem erstaunlichen Anstieg physiologischer Meßwerte kommt, den wir bei Urerlebnissen erleben. Wenn Schmerzen nicht gefühlt werden, werden sie zu Leiden; sie verbreiten sich im System, so daß dieser Mensch unter Kopfschmerzen, Rückenschmerzen oder Magenschmerzen leidet. Diese Symptome sind das Ergebnis mangelnder Verknüpfung. Sie verschwinden, sobald die richtige Verknüpfung hergestellt wird. Das uneingeschränkte Fühlen des eigenen Schmerzes ist der einzig dauerhafte Ausweg aus dem Leiden. Als Erwachsene leiden wir unter Schmerzen, die sich in den ersten Tagen oder Wochen unseres Lebens ereignet haben können. Wir müssen in unserer persönlichen Lebensgeschichte zurückgehen, um befreit zu werden.

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Die Tatsache, daß es zwei Bahnen — eine alte und eine neue — gibt, ist entscheidend für das Verständnis der neurotischen Spaltung. 

Die der Mittellinie des Nervensystems am nächsten gelegene Bahn leitet Leiden; die von der Mittellinie weiter entfernte Schmerzbahn leitet unterscheidende, charakteristische Schmerzinformationen. Das Leidenssystem projiziert von den inneren Kernen des Thalamus diffus auf den ganzen Kortex, wohingegen die unterscheidende Schmerzbahn selektiv auf die primären sensorischen Hirnrindenfelder projiziert und die spezifischen Verknüpfungen zu alten, unverknüpften schmerzvollen Gefühlen liefert.

Leiden kann Verhalten aufgrund seiner diffusen kortikalen Repräsentationen global beeinflussen, wohingegen das neue Schmerzsystem eine selektive, spezifische Vorstellung des Leidens vermittelt. Das erklärt, warum Verknüpfung Leiden beendet und warum mangelnde Verknüpfung es aufrechterhält.

Einige Therapien gehen einfach deshalb in die Irre, weil sie sich nur mit den unverknüpften Aspekten eines spezifischen Schmerzes befassen: Psychoanalyse behandelt die mit der Vorstellungswelt verbundenen Folgeerscheinungen und die Reichianer die somatischen (Körperspannung). Verhaltenstherapie befaßt sich mit dem unverknüpften Symbol, dem Schmerz zugrunde liegt; so können zum Beispiel Ängste vor den Eltern später in Phobien der einen oder anderen Art umgewandelt werden, und Gegenstand der Verhaltenstherapie wären dann diese Phobien und nicht der eigentliche Schmerz. So gesehen, befassen sich Behavioristen mit höheren kortikalen Repräsentationen des Leidenssystems, mit Derivaten des spezifischen Schmerzsystems. In der Primärtherapie verwandelt die Umkehrung des Leidens in Schmerz Phobien in spezifische Ängste der Kindheit und amorphe Ängste in Schmerz.

Was unseren Reifungsprozeß anbelangt, so muß betont werden, daß es ohne die vollständige Auflösung unverknüpfter Schaltkreise keine Möglichkeit gibt, sich voll als psychophysisches Wesen zu entwickeln. Die therapeutische Umkehrung von Leiden in Schmerz ist die eigentliche Voraussetzung dafür, daß zum Beispiel bei einem Primärpatienten ein richtiger Bartwuchs einsetzt oder bei einer Primärpatientin ein Wachstum der Brüste.

Auch hier wieder zeigt sich die Dialektik; im Allgemeinen (Leiden) liegt das Besondere, und im Besonderen (Schmerzsystem) liegt das Allgemeine (Leiden). Auf der einfachsten neuralen Strukturebene ist das die Spaltung zwischen Schmerz und Leiden. Wir konnten leiden, lange bevor wir Schmerz fühlen konnten; und das bedeutet, daß wir leiden konnten, ehe wir fühlen konnten. Auch hier wieder können wir sehen, wie die Ontogenese die Phylogenese rekapituliert. Zwischen dem Wurm (der leiden kann) und dem Menschen (der fühlen kann) liegen Jahrmillionen der Entwicklung.

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Ein in der Relation ähnlicher Zeitabstand besteht im ontogenetischen Reifungsprozeß; nur daß hier die Spanne zwischen Leiden (als Neugeborenes) und Schmerzfühlen (als Erwachsener) nicht Jahrmillionen, sondern nur einige Jahre beträgt. Und beim Erwachsenen kann die Spanne zwischen Leiden (zum Beispiel durch einen Hammerschlag auf die Finger) und Schmerz Bruchteile von Sekunden betragen. Ich frage mich übrigens, ob es nicht eine feste Relation zwischen Phylogenese und Ontogenese gibt — in dem Sinne, als daß soundso viele Minuten oder Wochen der Ontogenese für soundso viele Jahrtausende der Phylogenese stehen.

Beim erwachsenen Menschen gibt es ein interessantes Phänomen in der Reaktion auf Schmerz. Er kann sich selbst mit einem Hammer auf die Finger schlagen und sagen: »Auweh, da hab ich aber ganz schön zugeschlagen«, und Sekunden später leidet er dann doppelt so stark. In dieser Zeitspanne jedoch besteht die Möglichkeit, das Leiden zu blockieren und dessen bewußtes Erleben abzuschwächen. Kurz gesagt, der »Geist« kann die Verletzung wahrnehmen und sich blitzschnell von deren affektiven körperlichen Komponenten abspalten. Ich frage mich, ob der Hauptgrund für die Entwicklung des Neokortex möglicherweise zum Ziel hatte, dem Leiden des Menschen ein Ende zu setzen. Nur was er bislang noch nicht vermochte, ist, seinem Schmerz ein Ende zu setzen.

Ein besseres Verständnis der Beziehung zwischen Phylogenese und Ontogenese hätte uns vielleicht erkennen lassen, daß der Mensch, um heranzureifen, vom Augenblick der Empfängnis bis zur Geburt durch die frühesten Stadien seiner phylogenetischen Entwicklung hindurch muß, und daß der Mensch, um in seinem späteren Leben Reife zu erlangen, durch jedes Stadium seines Lebens hindurch und es meistern muß, ehe er weitergehen kann. Und genau das ist die primärtheoretische Grundannahme; der Mensch muß seine Geburt als Erwachsener meistern, sofern er dieses Erlebnis zu Beginn seines Lebens nicht gemeistert (integriert und gelöst) hat. Solange er das nicht tut, erlangt er nicht die volle Reife. Dieser Prozeß findet in umgekehrter Reihenfolge statt, er beginnt mit der jüngsten Vergangenheit und führt hin bis zur fernsten Vergangenheit.

Das Versagen, auf irgendeiner Entwicklungsstufe Schmerz zu integrieren, ist gleichbedeutend mit einem Anhalten des Reifungsprozesses auf eben dieser Stufe. Wir müssen die frühen Stadien des Lebens geordnet und in der richtigen Reihenfolge durchmachen, sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch. Wir müssen zu einem bestimmten Zeitpunkt laufen lernen und zu einem bestimmten Zeitpunkt Reinlichkeit gelernt haben, und diese Zeitpunkte sind genetisch determiniert. Diese Verhaltensweisen frühzeitig erzwingen wollen bedeutet, die Entwicklung auf die eine oder andere Art anzuhalten. Wenn dieses sogenannte reife Verhalten erzwungen wurde, bleibt es als nicht integriertes Trauma zurück. Die emotionale Weiterentwicklung erfordert, daß derartige Traumata aufgelöst werden müssen.

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Andernfalls bleibt der Mensch in irgendeiner Weise auf dieser Ebene stecken. Er wird für immer unreif bleiben, auch wenn sich sein Intellekt weiterentwickelt. Das erklärt, wie es zu diesen Lücken zwischen emotionaler und intellektueller Entwicklung kommen kann. Die dritte Ebene kann die Regeln für emotionales Verhalten lernen und reif agieren. Doch die unteren Ebenen können das nicht; und wenn man die reifen Akte beiseite rückt, stößt man auf das Kind. Die Freudianer glauben, wenn sich ein Mensch unreif und kindisch verhält, dann befindet er sich in einem Zustand der Regression, und das sei gleichbedeutend mit psychischer Krankheit.

Wir verstehen jetzt, daß es Regression im konventionellen Sinne, wie sie in der psychotherapeutischen Fachliteratur beschrieben wird, nicht gibt. Wenn ein Akt beseitigt wird, werden wir einfach das, was wir sind — Kinder. Wir gehen nicht in die Vergangenheit zurück. Wir gehen zu dem, was jetzt in uns real ist; etwas, das immer gegenwärtig ist. Regression ist nichts anderes, als sein wahres emotionales Selbst zu sein. Das Phänomen der Regression, wie es zum Beispiel bei Hypnose zutage tritt, ist Zeugnis dafür, daß es sich dabei um einen organismischen Zustand handelt, nämlich um angehaltene Entwicklung. Der primärtherapeutische Prozeß ist insofern dialektisch, als ein Zurückgehen, um die eigene angehaltene Entwicklung, die der Unreife zugrunde liegt, zu meistern, gleichzeitig dazu führt, den Organismus zu befreien, so daß er letztlich voll und ganz, und nicht nur auf der dritten Ebene, zur Reife gelangen kann.

Das hat seine biologische Grundlage. Eine kürzlich erschienene Arbeit von Dr. Graham Liggins (University of Auckland) erbringt den Nachweis, daß der Fetus selbst »entscheidet«, wann er auf die Welt kommt. Wenn er spürt, daß er die notwendige Reife hat, setzt er bestimmte Hormone frei, die auf das Gewebe der Uteruswand wirken. Das wiederum löst chemische Veränderungen in der Mutter aus, und die Wehen setzen ein.

Die Gehirnstruktur, die all das vermittelt, ist der Hypothalamus, den wir bereits ausführlich besprochen haben. Solange keine gewichtigen Traumata während der Schwangerschaftszeit vorliegen, kann man davon ausgehen, daß die Geburt zur angemessenen Zeit eintreten wird. Wenn jedoch intrauterine Traumata vorliegen (die Mutter ist eine starke Raucherin, steht unter Drogen oder Tabletten oder ist einfach generell ungewöhnlich angespannt), ist es möglich, daß der Hypothalamus (die Struktur, die Schmerzen erster Ebene vermittelt) bereits vor der Geburt überbeansprucht wird. Dann können die Signale, die anzeigen, daß das Kind zur Geburt bereit ist, unzeitgemäß erfolgen, und dann kommt es zur Frühgeburt.

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Der Hypothalamus ist eine der ältesten Gehirnstrukturen. Er arbeitet lange vor der Geburt und kann bereits in dieser Zeit durch Schmerz verändert werden. Diese Struktur stellt während der Schwangerschaftszeit die höchste funktionsfähige Ebene neuraler Strukturen dar. Sie integriert die äußere Welt mit der inneren. Wenn der Fetus in einer unstabilen neurotischen intrauterinen Welt lebt, kann das durchaus Auswirkungen auf seinen späteren Reifungsprozeß haben. Eine kürzlich durchgeführte Untersuchung ergab interessanterweise, daß schwarze, in den Slums geborene Babys bei der Geburt eine schnellere Herzfrequenz hatten als weiße.

Der Hypothalamus reguliert einen Großteil unserer Hormonproduktion; mithin kann es durch Traumata in der Schwangerschaftszeit durchaus zu bleibenden Hormonstörungen kommen. Was zunächst als genetisch oder erblich bedingte Störung erscheinen mag, könnte auf widrige Umstände vor der Geburt zurückzuführen sein; Traumata, die in etwa zu der Zeit auftreten, in der die Thyrosinproduktion beginnt (zwanzigste Schwangerschaftswoche), könnten zum Beispiel zu einer von Geburt an vorhandenen Unterfunktion der Schilddrüse führen. Bei den Traumata, die wiedererlebt werden müssen, damit der Hypothalamus wieder in Ordnung kommt, kann es sich durchaus um vorgeburtliche Traumata handeln. Jedenfalls ist die neurale Struktur vorhanden, sie zu registrieren, zu kodieren und zu speichern. All das besagt, daß wir bereits vor der Geburt neurotisch werden können, und Neurose so gesehen bedeutet eine »Funktionsveränderung des Hypothalamus«.

Daraus ersehen wir, daß Neurose zum großen Teil eine innere Angelegenheit ist und weniger eine des zwischenmenschlichen Bereichs. Neurose ist keine spezifische Art des Verhaltens. Und die Behandlung von Neurose ist keine Frage bestimmter Arten sozialer Interaktion — sei es die der Analyse der Übertragung oder der intellektuellen Abwehrmechanismen eines Menschen durch einen Psychoanalytiker oder die der Konfrontation in einer Gruppentherapie. Das Verhalten des Fetus ist nach innen gerichtet; seine Neurose ist innerlich, und diese Neurose begleitet ihn sein Leben lang. Keine soziale Konfrontation der Welt wird diesen Aspekt der Neurose auflösen können. 

Die Beziehung all dessen zu Regression besteht darin, daß Neurose den Hypothalamus von Anfang an beeinträchtigt, und jedes irgendwie geartete Blockieren dieser Struktur macht den Menschen systematisch jünger, als er den Jahren nach ist. Der Neurotiker ist mit anderen Worten unterhalb der neokortikalen Ebene im Hinblick auf beides, Körper und Gehirn, ein Kind. Es ist das verängstigte Kind, das in jedem von uns lebt, das unser Herz jagen läßt und Magensäure im Übermaß produziert, selbst in einer ausgeglichenen Umwelt. Es ist das bei der Geburt traumatisierte Kind, das noch immer in unseren Systemen wohnt. Es ist das, was wir im Grunde sind, weil es das ist, was wir nie gemeistert oder gelöst haben. 

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