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7.  Über Schmerz und seine Beziehung zu den Bewußtseinsebenen 

 von Arthur Janov

 

Einleitung  

191-202

Dr. Holden hat sich in einer früheren Arbeit mit der neuro-embryologischen Entwicklung des Menschen befaßt und dargelegt, daß sich das Gehirn in Schichten strukturiert und daß die äußerste Schicht die beim Menschen am weitesten entwickelte ist; es ist diejenige, die für die höheren gedanklichen Prozesse zuständig ist.* 

* Michael Holden, <Levels of Consciousness>, in Journal of Primal Therapy, Jg. 1, Nr. 2 (Herbst 1973).

Die beiden tiefer gelegenen Schichten, die aus dem spinalen Nervennetzsystem und dem Limbischen System bestehen, sind embryologisch primitiver. In der Evolutionsgeschichte des Menschen gab es eine Zeit, zu der unsere Vorfahren nur mit diesem primitiven spinalen Nervensystem ausgestattet waren. Später dann entwickelte sich das sogenannte Reptilien- oder Paläosäugerhirn, das Affekte vermittelte oder das, was wir heute Gefühle nennen. Schließlich — in der Evolution der Primaten — tauchte dann der typisch menschliche, gewundene Neokortex auf, der es uns ermöglichte zu denken, begriffliche Vorstellungen zu entwickeln und zu symbolisieren.

In gewisser Weise wiederholt unsere Ontogenese unsere Phylogenese. Die drei Schlüsselstadien der Gehirnentwicklung entsprechen der Entwicklung des Bewußtseins erster, zweiter und dritter Ebene. Wir beginnen unser Leben mit einem relativ primitiven Nervensystem mit ausgeprägter sensorischer Komponente. Es entwickelt sich in der Gebärmutter und bestimmt auch noch in den ersten Monaten unseres sozialen Lebens unsere Reaktionen. 

Wie ich bereits in einem der vorherigen Kapitel dargelegt habe, entspricht die erste Ebene des Bewußtseins dieser intrauterinen Entwicklungsphase. Ein Ansatz für Bewußtsein zweiter und dritter Ebene ist dann zwar bereits vorhanden, ist jedoch zu diesem Zeitpunkt nur mangelhaft entwickelt, so daß das Bewußtsein erster Ebene dominiert. Ein Neugeborenes registriert seine Erlebnisse eher organismisch, als daß es Begebenheiten vorstellungsmäßig wahrnimmt. 

Seine Bedürfnisse sind hauptsächlich biologischer Natur: Körperkontakt, Schlaf, gefüttert werden, trocken liegen, angemessen stimuliert werden und dennoch eine ruhige Umwelt haben und so weiter. Diese Bedürfnisse sind entscheidend; sie müssen befriedigt werden, wenn sich der Säugling richtig entwickeln soll. Werden sie nicht befriedigt, entsteht ungeheurer Schmerz, denn die Befriedigung der basalen kindlichen Bedürfnisse ist eine Frage von Leben und Tod. Das Leben des Säuglings ist gefährdet wie das einer Pflanze, wenn sie nicht genügend begossen wird.

Es sei angemerkt, daß Schmerz erster Ebene nicht ausschließlich die erste Ebene betrifft. Denn von Anfang an gibt es Ansätze einer zweiten und dritten Ebene, die mit der ersten in einer Wechselbeziehung stehen; sie können von frühem Schmerz auf die eine oder andere Art in Mitleidenschaft gezogen werden.

Mit fortschreitender Entwicklung, wenn ein Kleinkind Wörter zu erfassen und sich nach und nach auf eine größere Welt zu beziehen beginnt als die der Mutterbrust und der Wiege, betritt es die zweite Ebene des Bewußtseins: in dieser Zeit dominiert bei seinen Reaktionen auf seine Umwelt das Limbische System. Es kann jetzt eine emotionale Bindung an seine Eltern und an andere Familienmitglieder entwickeln. Es hat die Fähigkeit, mehr als nur körperliches Unbehagen und körperlichen Schmerz zu erleben; es kann emotionales Leiden fühlen. Dieses Leiden tritt ein, wenn seine Bedürfnisse der zweiten Ebene nicht befriedigt werden.

Wenn es seine Gefühle — seien sie feindselig oder anderer Art — seinen Eltern gegenüber nicht ausdrücken darf, wird die allgemeine Ausdrucksfähigkeit von Gefühlen und das Bewußtsein von ihnen abstumpfen. Wenn das Kind sehr früh spürt, daß es nicht sicher ist, daß den anderen an ihm nichts gelegen ist, daß sie nicht da sind, um es zu beschützen, wird es gezwungen sein, für sich selbst zu kämpfen, und das bedeutet, sich gegen sich selbst und die eigenen Bedürfnisse abzublocken.

Noch später dann dominiert das Bewußtsein dritter Ebene in der Beziehung des Kindes zu seiner Umwelt. Und es ist dieses Bewußtsein dritter Ebene, das Schmerz wahrnehmen, reflektieren, rationalisieren und symbolisieren kann. Es ist das System der Vernunft und der Logik, des vollen Verstehens und der Orientierung nach außen. Wenn auf der zweiten Ebene zu viel Schmerz besteht, kommt es zu einer »Blockierung«, so daß die dritte Ebene in den Dienst der zweiten gezwungen wird und diesen Schmerz rationalisieren und abwehren muß, anstatt sich seiner Natur entsprechend als das integrierende und verarbeitende System höheren Bewußtseins zu entwickeln.

Wenn Schmerz (darunter verstehe ich Urschmerz, der sowohl körperlichen als auch seelischen Ursprungs sein kann) der unteren Ebenen, der nicht verknüpft ist, die dritte Ebene zunehmend beeinflußt, entsteht eher eine Symbolisierung des Schmerzes als eine korrekte Verknüpfung. 

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So wird eher die Wahrnehmung eines Kindes entstellt, als daß es den Wahnsinn in den Augen der Eltern tatsächlich sieht — eine Erkenntnis, die für das Kind unerträglich wäre. Bei genügend späterem Schmerz kann ein solcher Mensch halluzinieren, Augen seien »lauernd und gefährlich«. Diese halluzinierten Augen sind eine abgeschirmte und symbolisierte Erinnerung; etwas, das auf der zweiten Ebene registriert und der dritten gegenüber dann abgeblockt wurde. 

Kontinuierlicher Schmerz hat eine immer stärker werdende Verzerrung zur Folge, bis schließlich die dritte Ebene später auch nicht mehr die leiseste Ahnung von Schmerz auf den beiden unteren Ebenen hat, ja nicht einmal mehr davon, daß diese Bewußtseinssysteme weiter unten überhaupt existieren. Die dritte Ebene wird einfach dazu verdammt, in dem Maße symbolisch zu werden, wie sie von den unteren Ebenen abgeblockt wird. Die drei Bewußtseinskategorien sind keine rigiden Kategorien: wie Abb.1, S. 199, zeigt, gibt es weitgreifende Überschneidungen. Bei der Geburt ist die erste Ebene vollends und die zweite Ebene teilweise funktionsfähig. Von der Geburt an entwickeln sich dann die Ebenen zwei und drei gleichzeitig, allerdings ist die Entwicklung der dritten Ebene erst nach etwa zwanzig Jahren endgültig abgeschlossen. Der Neokortex ist bei der Geburt in gewissem Maße funktionsfähig. Nur ist er vermutlich noch nicht hinreichend entwickelt, um alle Begebenheiten strukturiert zu registrieren, aber ein gewisses höheres Repräsentationsniveau von Begebenheiten erster Ebene ist von Geburt an vorhanden.

Schmerz ist das Ergebnis mangelnder Befriedigung basaler Bedürfnisse des Organismus. Wir haben verlernt, wie katastrophal der Schmerz ist, weil wir den Kontext zu diesen Bedürfnissen verloren hatten. Schmerz ist das Mittel, mit Hilfe dessen Abwehr­mechanismen in Bewegung gesetzt werden. Das Abwehrsystem versucht, die Integrität des Körpers und dessen Fortbestehen aufrechtzuerhalten.

Ich werde aufzeigen, daß mit der ontogenetischen (und phylogenetischen) Entwicklung des Gehirns jeweils bestimmte Bewußtseinsebenen verbunden sind und daß diese drei Bewußtseinsebenen Schmerz verarbeiten, jede auf ihre spezifische Art. Das bedeutet, daß drei entscheidende schmerzverarbeitende Systeme mit spezifischen Bewußtseinsebenen verbunden sind. Spezifischen Schmerz zu blockieren heißt, diesem Ausmaß entsprechend unbewußt sein; und auf bestimmten Ebenen blockiert zu sein heißt auf dieser Ebene relativ unbewußt sein. Der jeweilige Grad des Schmerzes diktiert mithin den Grad des Bewußtseins.

Der Schmerz unbefriedigter Bedürfnisse ist die zentrale treibende Kraft im Menschen. Sie diktiert, wie wir fühlen, wahrnehmen, uns verhalten und denken. Schmerz diktiert Bewußtsein deshalb, weil er ein Erlebnis besonderer Art ist, anderen nicht vergleichbar. Diejenigen, die die Fähigkeit verloren haben, Schmerz wahrzunehmen, sind buchstäblich ständig in Lebensgefahr. 

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Bei der ganzen Entwicklung von der einzelligen Amöbe bis hin zum Menschen ging es darum, Schmerzreize zu vermeiden und Bedürfnisbefriedigung zu suchen. In unserem Fachbereich lag das Problem bislang darin, daß Bewußtsein und Schmerz immer getrennt voneinander untersucht wurden, nicht als jeweils voneinander abhängige Funktionen. Wenn, wie ich behaupte, Schmerz das eigentlich strukturierende Prinzip des Bewußtseins ist, dann folgt daraus, daß volle Bewußtmachung von Urschmerz ein ganzes Bewußtseinssystem befreit und nicht nur eine Bewußtheit des einen oder anderen spezifischen Schmerzes. Schmerz blockiert die Bewußt­seins­systeme, und dadurch, daß man den Schmerz fühlt, werden die Blockaden aufgehoben. Ohne die Partizipation aller drei Bewußtseinsebenen kann es keinen voll ausgereiften Menschen geben. Diese drei Bewußtseinsebenen sind die folgenden:

  1. das viszeral-sensorische: es verarbeitet sensorische Wahrnehmungen und vermittelt körperliche Impulse und Zustände;

  2. das affektiv-expressive: es liefert Emotion und Gefühl;

  3. das kognitive: es liefert die Unterscheidung und das Verstehen der Gefühle und befaßt sich mit inhaltlicher Bedeutung.

 

Die Interaktion dieser drei Systeme erzeugt integriertes Feeling. Bei zuviel Schmerz werden Schleusen aktiviert, um ihn auf einer bestimmten Ebene zu halten. Jedes Bewußtseinssystem hat seinen eigenen Schleusenmechanismus, und im Falle einer Überlastung sorgen die Schleusen dafür, daß wir partiell unbewußt werden. Es wird nicht nur der Schmerz blockiert (verdrängt), sondern gleichzeitig wird auch das jeweils spezielle Bewußtseinssystem in Mitleidenschaft gezogen und verhindert den fließenden Zugang für alle weitere Reizzufuhr (nach innen wie nach außen). Auf diese Weise macht uns Schmerzblockierung auch nicht-schmerz­hafter Reize unbewußt, sie beeinträchtigt unser allgemeines Wahrnehmungsvermögen, unser Reflexions­vermögen und Introspektion und hält uns von Teilen unseres Selbst »abgespalten«.

Ziel der Primärtherapie ist es, den Zugang zwischen den Bewußtseinssystemen (oder Ebenen) zu öffnen, so daß es zu wechselseitiger Verknüpfung und vollem Erleben kommt. Je mehr Zugang dieser alte Schmerz gewinnt, um so stärker lebt ein Mensch in der unmittelbaren Gegenwart, ohne von unbewußten Impulsen zu neurotischem Verhalten angetrieben zu werden.

Ronald Melzack ist eine Schlüsselfigur auf dem Gebiet der Schmerzforschung. In einem kürzlich erschienenen Buch* faßt er die wesentlichen Erkenntnisse aus der Schmerzforschung zusammen. Er zieht die Schluß­folgerung, daß es drei zentrale schmerzverarbeitende Systeme gibt; er hat diese Systeme numeriert, und seine Numerierung entspricht zufällig der meiner drei Bewußtseinsebenen: 

 

*  Ronald Melzack, The Puzzle of Pain, Basic Books, New York 1973.

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»1. Die Selektion und Modulation sensorischer Reizzufuhr durch das neospinothalamische Projektionssystem stellt - zumindest teilweise - die neurale Basis der sensorisch-diskriminierenden Dimension von Schmerz dar (Ebene eins). 2. Die Aktivierung retikulärer und limbischer Strukturen durch das paramedian aufsteigende System unterliegt dem starken motivationalen Drang und dem unangenehmen Affekt, der den Organismus in Aktion versetzt (Ebene zwei). 3. Neokortikale Prozesse oder höhere Prozesse des Zentralnervensystems (wie die Auswertung der Reizzufuhr im Hinblick auf ältere Erfahrungen) üben auf die Aktivitäten der diskriminierenden und motivationalen Systeme eine Kontrolle aus (Ebene drei).«

Melzack fährt fort: »Man nimmt an, daß diese drei Kategorien miteinander in Interaktion stehen, um folgende Komponenten zu erstellen: 1. perzeptuelle Informationen hinsichtlich der Lokalisierung, der Größe und der spatiotemporalen Eigenschaften des noxischen (schmerzhaften) Reizes; 2. motivationale Tendenzen in Richtung Flucht oder Angriff; 3. kognitive Informationen, die auf der Analyse multimodaler Informationen, vergangener Erfahrungen und der zu vermutenden Ergebnisse verschiedener Reaktionsstrategien basieren.«* Melzack führt Anhaltspunkte an, die dokumentieren, daß die höheren Prozesse im Zentralnervensystem einen starken Einfluß auf das Schmerzerleben ausüben. Diese unterdrückende Tendenz verläuft bis ganz hinunter zum Ende der Wirbelsäule, so daß Bewußtsein dritter Ebene sensorische Reizzufuhr kontrollieren und Nervenbahnen auf den frühesten Synapsenebenen des somästhetischen Systems beeinflussen kann.**

Die Formatio reticularis des Hirnstamms (s. Abb. 1) übt eine potentiell starke Kontrolle über Informationen aus, die vom Spinalsystem projiziert werden. Sie hat ein absteigendes hemmendes Projektionssystem, das aufsteigende Informationen wirksam schleust. Und auf höherer Ebene führen Fasern vom Kortex zum reticulären System, die den Schleusenprozeß unterstützen.

Melzack hat einen wichtigen Beitrag zum Verständnis jenes Mechanismus geleistet, mit Hilfe dessen sich die Schleusen öffnen oder schließen. Er ist der Auffassung, das spinale Schleusensystem werde beeinflußt durch die unterschiedliche Aktivität in Fasern mit großem Durchmesser (die Übertragung hemmen und dadurch die Schleuse schließen) und in Fasern mit kleinem Durchmesser (die aufsteigende Übertragung erleichtern und dazu neigen, die Schleuse zu öffnen). Die Fasern mit kleinem Durchmesser öffnen die Schleuse, liefern die Basis für die Summation und bewirken dadurch, daß sich der Schmerz auf andere Bereiche des Körpers ausweitet. 

 

*   Ibid., S. 162f. 
**  Ibid., S. 160. 

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All das besagt, daß Reizzufuhr vom Körper geschleust werden kann, noch ehe es zu einer richtigen und vollständigen Wahrnehmung ihrer Bedeutung kommt; dadurch wird ein Mensch auf der ersten Ebene mehr oder weniger unbewußt. Ein Erlebnis wird auf den verschiedenen Bewußtseins­ebenen verarbeitet; und nur wahres, volles menschliches Erleben umfaßt sie alle.* 

Melzack diskutiert eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten über die Eigenschaften der Nervenzellen. Er glaubt, daß es eine Ebene afferenter Sperrung gibt, auf die die Zelle reagiert, des weiteren eine kritische Ebene, auf der infolge von Hemmung Ruhe herrscht. Wenn wir von Schmerzverarbeitung sprechen, befassen wir uns mit ganzen Zellsystemen, die koordiniert arbeiten und den Informationsfluß von einer Bewußtseinsebene zu anderen entweder hemmen oder fördern. 

Es ist hier nicht erforderlich, alle Einzelergebnisse wiederzugeben, die zu Melzacks Schlußfolgerung geführt haben, da sie in sich selbst hinreichend abgeschlossen und vollständig ist. Mir geht es darum, daß die Forschung die Auffassung zu bekräftigen scheint, daß es verschiedene Bewußtseinsebenen gibt, etwas was wir an Hunderten von Patienten bei Tausenden von Primals haben beobachten können. Weiterhin gibt es innerhalb jedes Bewußtseinssystems Projektionsfasern, die mit allen anderen Ebenen in einer Interaktion stehen und sowohl eine hemmende als auch eine unterstützende Funktion ausüben. Auf diese Weise werden die Schleusen entweder geöffnet oder geschlossen. 

Die Schleusung kann total oder partiell sein. Melzack weist darauf hin, daß einige zentrale Aktivitäten die Schleusen für jegliche Reizzufuhr schließen oder aber selektiv sind und nur einige Informationen durchlassen, während sie andere unterdrücken. Das besagt, daß Schleusung nicht absolut, sondern relativ ist. Sie verhindert die Verknüpfung zu höheren Ebenen, die den Schmerz zu einem überwältigend qualvollen Erlebnis machen könnte. Die Verknüpfung vervollständigt das Erlebnis des Fühlens und erzeugt uneingeschränkt bewußten Schmerz. Deshalb wird nur ein Teil der Energie des Gefühls durchgelassen, das dann psychophysisch als Spannung empfunden wird.

Dieser Prozeß ist leider noch etwas komplizierter. Es gibt Schmerzen erster Ebene, die kaum zu ertragen sind — zum Beispiel wenn ein Säugling durch eine Berührung oder ein Geräusch überstimuliert wird — und die die Schleuse erster Ebene dann unter Umständen nicht völlig abblocken kann. Angenommen dieses Kind wird später durch ständig nörgelnde Eltern oder durch eine ständig streitende Familie überstimuliert, so erzeugt der Verbund dieser Schmerzen der ersten und zweiten Ebene gemeinsam eine Blockierung auf der zweiten Ebene. Wenn wir uns vorstellen, daß Schleuse 1 Schmerz mit einem Spannungsgehalt von 3, nicht aber von 4 durchlassen kann; und wenn die limbische Schleuse (Schleuse 2) Schmerz mit einem Spannungsgehalt von 4, nicht aber von 5 durchlassen kann; und wenn dann ein Schmerz mit einem Spannungsgehalt von 3 die erste Ebene betritt und sich mit einem anderen unterschwelligen Schmerz zweiter Ebene mit einem Spannungsgehalt von 2 vereint, dann wird sich die Schleuse der zweiten Ebene gegen beide verschließen.

 

* Detailliertere Beschreibungen der genauen Schleusenmechanismen in The Puzzle of Pain, S. 102 f.

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Es sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, daß das noch nicht voll entwickelte Gehirn weniger fähig ist, Schmerz zu integrieren, als das voll entwickelte. Jede Art der Ablehnung kann für einen 14 Tage alten Säugling katastrophal sein, für einen Zehnjährigen jedoch sehr viel weniger Gewicht haben. Ein wesentlicher Grund dafür ist einfach der, daß wir später ein erheblich besser funktionierendes Gehirn haben2 mit dem wir ein solches Erlebnis verarbeiten können. Deshalb sind Primals auf der ersten Ebene so intensiv, und deshalb auch dürfen sie nicht erlebt werden, ehe Schmerzen höherer Ebene nicht aufgelöst sind.

 

Wenn wir das oben angeführte Beispiel nehmen, haben wir im Endeffekt einen Menschen vor uns, der zusätzliche Reizung nicht vertragen kann; und die Menge, die er auf der dritten Ebene als Erwachsener verkraften kann, hängt ab von dem Reservoir blockierter Überstimulierung, das auf den tieferen Ebenen schwelt. So kann der eine Neurotiker, der ein solches frühes Erlebnis nicht hatte, allerhand Reizzufuhr verkraften und verarbeiten, während ein anderer durch eine uns gering erscheinende Reizzufuhr völlig frustriert, ungeduldig und irritiert werden kann. Wir haben alle den Menschen erlebt, der in die Luft geht, wenn ihm auch nur eine einzige zusätzliche Frage gestellt wird. Er mag immer noch versuchen, die erste Frage zu integrieren. Das läßt sich durch folgende Gleichung ausdrücken: Je größer der Spannungsgehalt eines speziellen verdrängten Gefühls, um so geringer muß der Spannungsgehalt des Reizes sein, der dieses Gefühl auszulösen vermag. Dem entspricht, daß der zeitliche Abstand zwischen symbolischem Verhalten und dessen Verknüpfung mit einem realen Gefühl ein Indikator für das Ausmaß der Störung ist. 

 

Das Ausmaß der Verdrängung entspricht der Zeitspanne zwischen einem Gefühl und dessen Aufsteigen zum Bewußtsein. Diese Zeitspanne ist eine meßbare Größe für Verdrängung. Zum Beispiel kann ein neuer Primärpatient Stunden brauchen, um zur Wurzel seiner Angst vorzudringen, während bei einem fortgeschrittenen Patienten zwischen der Erregung eines Gefühls und dessen bewußtem Erleben nur wenige Sekunden liegen können. Einer unserer Patienten, der sich zufällig den Kopf an der Tür stieß, erlebte unmittelbar darauf eine Szene wieder, in der er sich als Kind auf ähnliche Weise wehgetan hatte und wegen seiner Unachtsamkeit gescholten anstatt getröstet wurde. Der Macho-Mann würde in dieser Situation wahrscheinlich ganz anders reagiert und jeglichen Schmerz, auch den gegenwärtigen geleugnet haben. Bei einem verknüpft fühlenden Menschen kann nahezu jeder Sinnesreiz ein Feeling auslösen. Ein sehr stark abgewehrter Mensch ist gegen die meisten derartigen Reize abgestumpft, ihn kann in der Tat so etwas wie eine liebevolle, zärtliche Berührung nur noch stärker blockieren.

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Ich möchte die obige Gleichung im Hinblick auf die Bewußtseinsebenen durch ein Beispiel veranschaulichen: Auf der dritten Ebene kann ich fühlen, daß Joe in letzter Zeit nicht sehr freundlich zu mir war, und ich bin ein wenig gekränkt. Ich beschließe, mich nicht von mir aus zu melden, sondern abzuwarten, bis er sich meldet. Auf der zweiten Ebene wird das zu einem Gefühl des Verlassenseins, wie beispielsweise damals, als ich als Vierjähriger die unerträgliche Entdeckung machte, daß meine Eltern mir nicht freundlich gesonnen waren und ich von zu Hause fortlief, um mich nicht allein gelassen zu fühlen.

Auf der ersten Ebene schließlich wurde daraus die totale Verlassenheit und das Grauen unmittelbar nach der Geburt, als ich in einen Brutkasten gesteckt wurde, fort von einem Menschen, bei dem ich mich hätte sicher und geborgen fühlen können. Der Zugang zu diesem Gefühl erster Ebene, und zwar in der richtigen Reihenfolge, ist nur möglich, wenn ein fühlendes Bewußtsein höherer Ebenen vorhanden ist. Bei Neurotikern ist diese Zeitspanne zwischen jenem Gefühl unterer Ebenen und dem Bewußtsein enorm, wohingegen es bei dem fortgeschrittenen Primärpatienten eine Sache von Sekunden ist. Einem Neurotiker ist es meistens so gut wie unmöglich, derartigen Zugang zu erlangen, es sei denn, er nimmt irgendwelche Halluzinogene. Der in unserer Zivilisation weitverbreitete Mangel an derartigem Zugang macht allein schon den Gedanken an eine Erlebnisfähigkeit auf dieser Ebene für die meisten Intellektuellen und wissenschaftlich orientierten Menschen unserer Gesellschaft unannehmbar.

Schleusung ist ein Prozeß, der in zwei Richtungen verläuft: aufsteigend und absteigend. Die Schleusen halten Schmerz nicht nur von höherem Bewußtsein dritter Ebene fern, sie verhindern auch, daß von außen kommende Reize das System überwältigen. Das ist einer der Gründe für falsche Wahrnehmungen in jungem Alter. Wir hören auf, das zu sehen, was schmerzhaft ist, zum Beispiel, daß »die anderen« uns nicht lieben. Die Schleusen haben die Funktion, zu verhindern, daß uns eingehende Informationen (von innen oder von außen kommende) überwältigen. Auf diese Weise wird die Integrität des Organismus bewahrt. Schleusen bewirken, daß wir unsere innere Realität (den vergrabenen Schmerz) in seiner ursprünglichen Form bewahren. Wir verlieren die Realität nie; wir verlieren nur den Kontakt zu ihr. 

Falsche Wahrnehmung kann allerdings auch einen Schmerzverbund zur Folge haben. Wenn wir bereits aufgrund früher Entbehrungen leiden, dann kann es passieren, daß wir an sich neutrale Begebenheiten fälschlich als negativ wahrnehmen — so können wir zum Beispiel nach einiger Zeit unsere Eltern grundsätzlich fehlinterpretieren, einerlei was immer sie sagen mögen, und in allem eine Verletzung sehen. Etwa wenn die Eltern sagen: »Hast du deine Handschuhe verloren?«, mag das Kind das als Rüge empfinden. Und wenn die Eltern dann sagen: »Komm, wir helfen dir, sie wiederzufinden«, mag das Kind empfinden:

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»Warum behandelt ihr mich immer wie ein kleines Kind? Ich kann meine Handschuhe selber wiederfinden.« So können die Eltern früher oder später nichts mehr richtig machen, die Verletzungen schließen sich zum Verbund zusammen.

Eine andere Reaktion auf frühen Schmerz ist das nahezu totale Abblocken der Realität, das ein Kind und später den Erwachsenen unempfindlich gegenüber allem werden läßt, was um ihn herum geschieht. Bewußte Wahrnehmung wird dann ungemein selektiv und läßt nur schmerzfreie Reize zu. Mit enger werdendem Bewußtsein breitet sich Unbewußtheit aus, so daß das Kind immer weniger von seiner Umwelt wahrnimmt. Dieses mangelhafte Wahrnehmungsvermögen kann unter widrigen Umständen bereits im Uterus beginnen. Wenn eine Mutter unter Spannung steht und deshalb während der Schwangerschaft raucht, trinkt oder Drogen nimmt, beginnt der Fetus allmählich, seinen sensorischen Apparat und damit sein Wahrnehmungs­vermögen abzublocken. Wir werden mit einem Bewußtsein, nicht mit dem Unbewußten im Freudschen Sinne geboren. Wir können jedoch bereits vor der Geburt so viele widrige Erlebnisse gehabt haben, daß wir in gewissem Sinne bereits partiell unbewußt zur Welt kommen können.* 

 

* Ausführlicheres darüber in  Das befreite Kind,  S. Fischer, Frankfurt am Main 1975.

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Ich möchte noch einmal die primärtheoretische Auffassung von Wahrnehmung verdeutlichen. Es ist die dritte Ebene, die wahrnimmt und uns von bestimmten Realitäten Bewußtheit verschafft. Wahrnehmung ist ein organischer, holistischer Prozeß, der durch Schmerz abgestumpft wird. Im Falle einer Überlastung durch Urschmerz wird die gesamte Funktion der inneren wie äußeren Wahrnehmung beeinträchtigt. Wenn also bestimmte innere Realitäten aufgrund ihres Schmerzgehalts nicht wahrgenommen werden können, dann wird das automatisch die Wahrnehmung äußerer Realitäten abstumpfen, die zu dieser inneren Wahrheit in Beziehung stehen. Auf diese Weise schirmt das System reflexartig all das vor der Wahrnehmung ab, was mehr Schmerz auslöst als integriert werden kann.

Die uns allen bekannten sogenannten Löcher oder blinden Stellen sind nichts anderes als diese unbewußten Wahrheiten, die sich in der Außenwelt widerspiegeln. Die Wahrheit ist, daß wir jenseits unserer Bedürfnisse und unserer Schmerzen nichts wahrnehmen können. Je tiefer der Schmerz, um so weniger nehmen wir in den damit verbundenen Bereichen wahr. Je stärker wir im Kontakt zu uns selber stehen, um so stärker stehen wir im Kontakt mit der Welt.

Selbstverständlich können Neugeborene und Säuglinge nur mit der bei ihnen vorhandenen zerebralen Ausstattung Schleusen­operationen durchführen. Der Kortex ist anfangs noch nicht voll entwickelt, und die höheren Schleusenmechanismen sind erst später voll funktionsfähig. Das bedeutet, daß Schmerz, da noch keine funktionsfähige dritte Ebene vorhanden ist, um aufsteigenden vernichtenden Schmerz zu verarbeiten — beispielsweise dadurch entstanden, daß man stundenlang im Kinderbettchen allein gelassen wird —, von dem unteren System verarbeitet werden muß. Eine große Schmerzüberlastung kann die Bewußtseinssysteme eines Säuglings überfordern, und das hat dann eine Vielzahl von Auswirkungen zur Folge — von Anfällen bis hin zum Tod.

Schmerz erster Ebene ist körperlich und die Abwehrmechanismen dagegen desgleichen. Körperliche Bedürfnisse werden als erste blockiert. Wenn der Säugling seine Bedürfnisse vergräbt (weil sie unbefriedigt bleiben und deshalb schmerzhaft sind), entsteht die erste Schicht Unbewußtheit. Die Unterdrückung körperlicher Impulse (Weinen, Schreien) und die entsprechenden Empfindungen (Hunger) erzeugt die unterste (erste) Ebene der Verdrängung. Geburtstraumata und Traumata, die sich noch vor der Geburt ereignen, sind auf dieser Ebene eingegraben; und in der Regel bleiben sie so lange unzugänglich, bis man in der Primärtherapie in der richtigen Reihenfolge durch die verschiedenen Bewußtseinsebenen zu ihnen hinabsteigt. 

Mit zunehmendem Alter wird das Kind vollerer Gefühle und Emotionen (der äußere Ausdruck von Gefühlen) auf der zweiten Ebene fähig. Die Entwicklung des Gehirns ermöglicht ihm dann nicht nur Emotionen, sondern auch emotionalen Schmerz.

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Das Kind kann jetzt fühlen: »Meine Eltern lieben mich nicht und kümmern sich nicht um mich.« Wenn dieses Gefühl katastrophal ist, erzeugt der Schmerz eine Schleusung oder Blockierung, und dann wird das Kind auf dieser Entwicklungsebene unbewußt; es wird sich seiner Gefühle partiell unbewußt. Sein emotionales System wird abgestumpft, und früher oder später kann der Punkt erreicht werden, da das Kind nicht einmal mehr fühlt: »Ich brauche meine Mami und meinen Papi.« Es beginnt vielmehr seinen Kampf, um sie symbolisch zu bekommen — besonders gute Schulleistungen, Zeitungen verkaufen, bei der Hausarbeit helfen etc. 

 

Nach weiterer Entwicklung des Gehirns dominiert dann die dritte Ebene. Das Kind kann jetzt sowohl seine Bedürfnisse (erste Ebene) als auch seine Gefühle (zweite Ebene) rationalisieren. Ein solcher Mensch kann im zweiten Lebensjahrzehnt zu einem Psychotherapeuten gehen und ihm sagen: »Meine Eltern haben mich wirklich geliebt, und ich habe eine sehr glückliche Kindheit gehabt.« Wenn er das ohne jeden negativen Affekt sagt, können wir davon ausgehen, daß seine dritte Ebene sehr gut dahingehend funktioniert, daß sie ihn von seinen Gefühlen abschirmt. Sollte er schluchzen oder weinen, während er das sagt (ohne zu wissen warum), so spräche das für einen gewissen Zugang zur zweiten Ebene. 

Wenn allein schon die Erwähnung seiner Eltern einen Anfall auslöst, können wir vermuten, daß eine Infiltration erster Ebene zur dritten Ebene vorliegt (mehr darüber später). Wenn jemand überzeugt ist, daß er geliebt wurde (ohne tatsächlich geliebt worden zu sein), können wir sagen, daß er auf allen drei Ebenen unbewußt ist. Die Schmerzschleusung hat sein Bewußtsein geschleust. Er wird voll und ganz symbolisch und lebt in seinem Kopf anstatt von seinen Gefühlen und Bedürfnissen. Die intellektuelle Abwehr gegen den Schmerz tritt in Aktion. Wie Luria bemerkt, wird der präfrontale Kortex, der Teile der dritten Ebene vermittelt (Sitz der intellektuellen Abwehr), nicht vor dem Alter von vier bis sieben Jahren wirklich voll und ganz funktionsfähig.*

Wir sehen daran, daß sich die Abwehrmechanismen im Einklang mit dem Reifungsprozeß des Gehirns und des Körpersystems entwickeln. Das kleine Kind wehrt hauptsächlich auf viszeraler und emotionaler Ebene ab. Die Gefühle, die noch nicht in Symbole dritter Ebene absorbiert sind, werden auf eine Gefühlsebene umgelenkt, so daß es zu Wutausbrüchen, Quengelei und ständigem Weinen oder ständigen Prügeleien mit Gleichaltrigen kommt. Dieses emotionale Agieren kann später von Phantasievorstellungen (dritte Ebene) über Mord oder Rache abgelöst werden; oder ein solcher Mensch kann »in seinem Kopf« leben und ständig lesen und intellektualisieren.

Es gibt einen Zeitpunkt, zu dem das Kind in jedem Falle emotional ist, auch wenn noch so viel umgelenkt wird. Aber im Laufe der Zeit, mit hinreichend Strafe, Schelte und Schläge wird diese Verhaltensebene zugeschüttet, so daß das Kind aufhört, ein emotionaler Mensch zu sein.

Es hat inzwischen den Kontakt zu seinem Körper und dessen Empfindungen und zu seinen Gefühlen verloren. Gleichzeitig wird er zunehmend unbewußt. Wir sehen also, daß uneingeschränkt fühlen gleichbedeutend ist mit voll bewußt sein und umgekehrt. Der Verlust der für das Fühlen erforderlichen Elemente ist ein fortschreitender Prozeß, ebenso wie der Prozeß, durch den man Bewußtsein verliert — in physischem Sinne (von wach bis komatös).

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 *  A. Luria, The Working Brain, Basic Books, New York 1973, S. 87.

 

 

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