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6. Das sensorische Fenster und Zugang zu Urschmerz 

 

 von Michael Holden  

 

 

 

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Leiden ist ein Seinszustand. Es hat physische und psychische Komponenten oder Repräsentationen im Körper. Zwischen Leiden und »unter Schmerz stehen« sollte unterschieden werden, da es keineswegs ein und dasselbe ist. 

Im Rahmen dieser Abhandlung ist Leiden der Zustand eines Menschen vor einem Primal. Unter Schmerz stehen ist das totale psychophysiologische Erleben des Schmerzes, der bei einem Primal auftritt, wenn man sich in das alte Gefühl hineinbegibt oder »hineinfällt«. Zwischen Leiden und unter Schmerz stehen besteht ein Übergangsstadium, über dessen Natur wir in unseren Forschungs­arbeiten einiges in Erfahrung gebracht haben. 

Ich bin der Auffassung, daß dieses Übergangsstadium entlang eines Spektrums oder Kontinuums verläuft, und dieses Kontinuum ist der Zugang zu Schmerz. Bei nur geringem Zugang (in konventioneller Terminologie bei starker Verdrängung) leidet man nicht, man weiß dann nichts von dem eigenen Schmerzzustand und käme nicht auf den Gedanken, sich primärtherapeutisch behandeln lassen zu wollen, oder dem Urschrei persönliche Relevanz zuzumessen. Bei vermehrtem Zugang zu Schmerz steht man mehr oder weniger unter Leidensdruck, je nach der persönlichen Geschichte und der Wirksamkeit der eigenen Abwehrmechanismen. 

Ein Mensch mit mäßigem Leidensdruck würde sich vom Urschrei zutiefst persönlich angesprochen fühlen und sich aktiv um eine primärtherapeutische Behandlung bemühen. Ein Mensch mit gewaltigem Leidensdruck hat vermutlich auf anderen Wegen bereits Erleichterung gefunden: Heroinsucht, Alkoholismus, regelmäßiger Konsum von Tranquilizern, oder in einigen Fällen Psychose. Einige Menschen, die relativ offen für Schmerz sind (aber nicht völlig), die permanent unter einem Leidensdruck stehen, werden versuchen, ihre lindernden oder symptomatischen schmerzdämpfenden Angewohnheiten aufzugeben, und sich in primär­therapeutische Behandlung begeben. Andere, vielleicht fatalistischer eingestellte werden an ihren Schmerzdämpfern als der einzig annehmbaren Art, mit ihrem Schmerz fertig zu werden, festhalten.


Ein Mensch, der unter Leidensdruck steht, ist per definitionem jemand, der für Schmerz relativ offen ist. Solange man noch keine Primals hat, gibt es nur zwei Wege, wie mit dem Schmerz umgegangen oder wie er repräsentiert werden kann. Der Schmerz kann einerseits internalisiert, in den Körper selbst integriert werden; das führt zu psychosomatischen Krankheiten. Und Schmerz kann andererseits verarbeitet werden von oder zurückgelenkt werden zur Großhirnrinde; dann wird er externalisiert. Die Externalisierung von Schmerz führt zu äußerlich ausgedrücktem neurotischem Verhalten in den zwischenmenschlichen Beziehungen und beinhaltet alle Formen des Agierens. Wenn die Umschaltung zwischen äußerem Hirn (Großhirnrinde) und innerem Hirn stattfindet, dann hat das letztlich Denkstörungen oder Psychose zur Folge. Im Primärinstitut gibt es Patienten, die ausschließlich unter psychosomatischen Symptomen oder Krankheiten leiden, und wieder andere mit leichten Denkstörungen, die ihren Schmerz ausagieren. 

Üblicher sind wahrscheinlich jedoch die Menschen, die mit beiden Modalitäten reagieren: diejenigen, die psychosomatische Symptome haben und gleichzeitig ihren Schmerz agieren. Der Körper ist unser Aktionssystem, das heißt der Teil unserer selbst, mit dem wir auf eine schmerzhafte Vergangenheit reagieren können. Wir wissen, daß das Gehirn die Reaktionen auf Schmerz einbezieht, vermittelt und reguliert, aber der Körper schreit, hustet, verkrampft sich, leidet unter Atemstörungen etc., etc.

Zu Beginn der Primärtherapie ist der Zugang zu Schmerz im Vergleich zu später recht gering, wenngleich ein ungeheurer Leidensdruck vorhanden sein kann. Der primärtherapeutische Prozeß vermehrt den Zugang zu Schmerz, und so gewinnt man mit den ersten Primals eine neue Alternative: uneingeschränkt unter Schmerz zu stehen anstatt zu leiden. Die Alternative, voll und ganz unter Schmerz zu stehen, bedeutet, daß sich der Leidensdruck verringert. Gehirn und Körper haben den natürlichen Weg gefunden, auf Schmerz zu reagieren — nämlich uneingeschränkt. Infolgedessen beginnt sich die biologische Motivation, Schmerz in physische Symptome umzulenken oder zu agieren, zu verlieren. Im Laufe der Zeit löst sich die Neurose dann nach und nach auf. Allmählich, manchmal nur sehr allmählich, aber stetig verlieren sich die physischen Symptome und man agiert immer seltener. 

Ist der Zugang zu Schmerz meßbar?

Ich glaube ja. Der Körper reagiert in vorhersagbarer, uniformer Weise auf zunehmenden Zugang zu Schmerz, so daß man das Reaktionsmuster messen kann. Wir haben das in jüngster Zeit im Labor des Primärinstituts durchgeführt. Bei der Betrachtung, ob ein Mensch wenig oder viel Zugang zu Schmerz hat, sind zwei Variablen zu berücksichtigen. Die erste betrifft die zeitliche Komponente. 

Wie lange dauert bei einem Menschen das Übergangsstadium zwischen dem Zustand des Leidens und dem des Unter-Schmerz-Stehens? Menschen mit offenem Zugang zu altem Schmerz vollziehen den Übergang in wenigen Sekunden (ein dramatisches, plötzliches und erstaunlich zu beobachtendes Phänomen). Menschen mit wenig Zugang zu altem Schmerz vollziehen den Übergang weniger schnell; es kann mehrere Minuten dauern, in seltenen Fällen sogar über eine Stunde, ehe die (charakteristische) volle Reaktion auf alten Schmerz tatsächlich eintritt.

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Die zweite Variable, die das Ausmaß des Schmerzzugangs anzeigt, ist die Intensität der Reaktion auf ihrem Höhepunkt. Schluchzen und Weinen ohne erhöhten Blutdruck, ohne EEG-Reaktion, mit einem Puls von 120 pro Minute und nur äußerst geringfügigen Veränderungen der Körpertemperatur sind Anzeichen für nur mangelhaften Zugang zu Schmerz. Im Gegensatz dazu sind Schreien und qualvolles Weinen, das einhergeht mit einem Puls von 140 bis 200 Schlägen pro Minute, hohem Blutdruck von etwa 180/120, einem Anstieg der Körpertemperatur und der EEG-Aktivität, sichere Anzeichen dafür, daß Schmerz einen offeneren Zugang zum Bewußtsein zu gewinnen beginnt. Zusammenfassend sei noch einmal gesagt, daß Zugang zu Schmerz veränderbar und der Grad des Zugangs meßbar ist. Und ferner, je größer der Zugang zu Schmerz in einem Primal, um so größer der Abfall der Meßwerte vitaler Körperfunktionen und um so tiefgreifender die Entspannung nach dem Primal.

Ehe wir die subjektiven und objektiven Merkmale des Schmerzzugangs betrachten, sollte kurz das Konzept des »sensorischen Fensters« erörtert werden. Viele Autoren haben über menschliche sensorische Erlebnisse und Wahrnehmungen geschrieben und sind vertraut mit dem, was ich hier das sensorische Fenster nenne. Ich möchte das im weiteren Verlauf auf Schmerzzugang bezogen wissen.

Wir setzen aufgrund unserer alltäglichen Erfahrungen als selbstverständlich voraus, daß Augen, Ohren, Nase und Berührungs­sinne sich angemessen anpassen, so daß Licht nicht zu grell wird, Geräusche nicht zu laut werden, Gerüche uns nicht überwältigen und Berührungen uns nicht unangenehm sein werden. Ein Teil dieser Anpassung wird in unmittelbarer Nähe des jeweiligen Rezeptors vollzogen, so zum Beispiel eine Pupillenverengung bei grellem Licht oder ein Anspannen des Trommelfells (durch einen winzigen Ohrmuskel) als Reaktion auf ein lautes Geräusch. Solange unsere sensorischen Fenster hinreichend geschlossen sind, erleben wir sensorische Reizzufuhr nicht als unangenehm. Der größte Teil der Anpassung, die die sensorischen Fenster schließt, vollzieht sich innerhalb unseres Zentralnervensystems. 

Es besteht ein Gleichgewicht zwischen der Aktivierung des Gehirns — nahezu ausschließlich eine subkortikale und den Hirnstamm betreffende Funktion — und der Hemmung dieser Aktivierung. Zum Beispiel ist die Zornreaktion (oder »Flucht-Kampf«-Reaktion) eine Reaktion, die potentiell jederzeit in uns auftreten könnte. De facto jedoch tut sie es nicht. Sie wird meistens stark gehemmt und tritt erst ein, wenn ein äußerst intensiver Reiz von lebensbedrohender Intensität vorliegt. Wenn die Alarmreaktion eintritt, wird die (kortikale) Hemmung vermindert, und die subkortikale Reaktion findet uneingeschränkt Ausdruck, befreit von kortikaler Hemmung.

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Psychische Gesundheit und Angstfreiheit in der Gegenwart erfordern eine bestimmte Relation zwischen der Aktivierung des Hirnstammes und kortikaler Hemmung. Es wird allgemein anerkannt, daß die Großhirnrinde eine hemmende Kraft ausübt, im Gegensatz zur Aktivität des Hirnstammes. Nach kortikalen Läsionen beobachtet man »Entladungs«-Phänomene, die zuvor gehemmt wurden. Frontalläsionen lösen. Saug- und Greifreflexe aus, die normalerweise nur bei Säuglingen zu beobachten sind. 

Läsionen im motorischen Kortex führen zu vermehrter Muskelspannung und Spastizität in den betroffenen Gliedmaßen — beides Reaktionen, die normalerweise gehemmt werden. In diesem Rahmen von besonderem Interesse und für das Thema Schmerzzugang von Belang ist, daß einige Läsionen unmittelbar in oder etwas unterhalb der Oberfläche des sensorischen Kortex bewirken, daß der Mensch ein zu weit geöffnetes sensorisches Fenster hat. Dieser Zustand ist äußerst unangenehm, und solche Menschen leiden. Die extremsten Fälle treten bei dem sogenannten Thalamus-Syndrom auf, bei dem eine Berührung als ungemein qualvoll-schmerzlicher Reiz empfunden wird.

Im Prinzip besteht mithin ein Gleichgewicht zwischen subkortikaler Aktivierung und kortikaler Hemmung. Ist dieses Gleichgewicht ausgewogen und normal, dann ist auch das sensorische Fenster normal, dann werden sensorische Reize nicht als schmerzhaft oder unangenehm empfunden.

Es gibt zwei Wege, dieses Gleichgewicht dahingehend zu stören, daß das sensorische Fenster zu weit geöffnet wird, und beide Wege führen dazu, daß gewöhnliche Reize als schmerzhaft empfunden werden. Diese Öffnung des sensorischen Fensters erfolgt, wenn die Funktion des Kortex reduziert oder wenn die Aktivierung durch den Hirnstamm (Formatio reticularis) verstärkt wird. Auf beiden Wegen verändert sich das Gleichgewicht der Aktivitäten so, daß die Relation subkortikaler/kortikaler Funktionen ansteigt.

 

   Schmerz, Drogen und Verrücktheit  

 

Wenn diese Relation ansteigt und das sensorische Fenster zu weit geöffnet wird, ist der Mensch biologisch so strukturiert, daß Hirnstammfunktionen durch den Kortex weniger gehemmt werden, als es normalerweise der Fall ist. Dieser »zu offene« Zustand ist subjektiv äußerst unangenehm und führt gemeinhin zu Panikreaktionen. Psychiater und Psychologen werden erkennen, daß dieser extrem offene Zustand der gleiche ist, der typischerweise einem akuten Angstzustand oder einer akuten psychotischen Episode vorangeht.

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Der äußere Ausdruck, mit dem sich dieser extrem offene Zustand manifestieren kann, zeigt sich nicht notwendigerweise in psychotischem Verhalten allein, sondern kann sich auch durch innere viszerale Reaktionen ausdrücken, die zu psychosomatischen Krankheiten führen. Die gemäßigten Formen dieser Reaktion sind zu beobachten bei plötzlichen Attacken von Magen- oder Darmgeschwüren, bei akuten Asthma- und Migräneanfällen oder bei akuten Anfällen von Angina pectoris (Koronarinsuffizienz). 

Dr. Janov und ich glauben, wenn der extrem offene Zustand sich in schwerer Form nach innen, das heißt viszeral ausdrückt, so hat das den Beginn von Krebsbildung oder eine kardiovaskuläre Krise zur Folge. Wir haben nur zwei Möglichkeiten, auf permanent erhöhtes Offensein zu reagieren: wir werden entweder innerlich oder äußerlich verrückt. Innere Verrücktheit ist psychosomatische Krankheit. Äußere Verrücktheit ist Psychose. Und übermäßiges Offensein — der Deutlichkeit halber sei es noch einmal gesagt — kann auf zweierlei Wegen entstehen: entweder wird die kortikale Hemmfunktion gegenüber dem Hirnstamm beeinträchtigt oder die Hirnstammaktivierung steigt an. In beiden Fällen ist die Aktivität des Hirnstammes größer als normal.

Als Neugeborene oder Säuglinge sind wir biologisch nur im inneren Gehirnbereich und im inneren Körperbereich angemessen funktionsfähig (viszerale Homöostase). Wenn wir zu diesem Zeitpunkt ein Trauma erleben, wird der Schmerz im inneren Gehirnbereich und Körperinnern registriert. Es entspricht einer oft gemachten Beobachtung, daß Psychotiker und Prä-Psychotiker bereits sehr früh in der Primärtherapie Geburtsprimals erleben. Das führt zu der Schlußfolgerung, daß Schmerzen erster Ebene psychotogen sind. Anders gesagt ist Psychose eine Störung, die ihren kausalen Ursprung sehr früh im Leben hat. Dafür gibt es zwei Hauptgründe. Erstens, die Schmerzen werden im inneren Kern registriert; dadurch werden sie später relativ unzugänglich. Zweitens, diese Schmerzen treten zu einer Zeit auf, in der die mittleren und äußeren Bereiche des Gehirns noch recht unausgereift sind und noch keine funktionsfähigen Verdrängungsmechanismen entwickeln können. Diese frühen Schmerzen sind nahezu immer lebensbedrohend, und ihr jeweiliger Wert oder Spannungsgehalt ist katastrophal.

Mit weiterem Schmerz im späteren Leben auf anderen Bewußtseinsebenen werden die Schleusensysteme auf zweiter und dritter Ebene beeinträchtigt, so daß ein permanenter Austritt von Schmerz erster Ebene entsteht, der entsprechend seinem Spannungs­gehalt Symbolisierung erzeugt: Psychose.

Die Fähigkeit zu leiden ist Monate und Jahre vor der Fähigkeit entwickelt, Schmerz zu unterscheiden und zu verstehen. Wir können leiden, noch ehe wir die Fähigkeit haben, völlig unter Schmerz zu stehen (in einem Primal).

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Wenn katastrophaler Schmerz der frühen Kindheit an die Oberfläche steigt, kann er nicht verstanden oder integriert werden, und das führt zu den symbolischen, absonderlichen Wahrnehmungen und Reaktionen, die für eine Psychose charakteristisch sind. Es stimmt zwar, daß kortikale Beeinträchtigung oft Psychose freisetzt (wie bei sehr hohem Fieber oder bei sensorischer Deprivation), doch was dabei tatsächlich freigesetzt wird, ist im Hirnstamm registrierter Schmerz. Die Funktionsfähigkeit des Hirnstammes ist bei Ende der Schwangerschaftszeit und bei der Geburt angemessen ausgebildet, der Hirnstamm kann zu diesem Zeitpunkt potentiell psychotogene Traumata registrieren, um sie später freizusetzen. 

Die Tatsache, daß antipsychotische Medikamente kollaterale Fasern der Formatio reticularis des Hirnstamms hemmen, bekräftigt die Auffassung, daß Psychose ihren kausalen Ursprung in frühester Kindheit hat. LSD ist eine Droge, die das sensorische Fenster öffnet und zu Psychose oder zu Chromosomenschäden führen kann, wobei wir vermuten, daß letzteres vermutlich ein Vorbote von Krebs ist. Thorazin und ähnliche Mittel, die die (kollateralen Nerven der) Formatio reticularis im Hirnstamm hemmen, setzen hingegen eine Überaktivierung des Kortex herab und sind somit in ihrer Auswirkung antipsychotisch.

Thorazin wird auch in der Behandlung einiger psychosomatischer Symptome erfolgreich angewendet. Es ist ein wirksames Mittel bei der Behandlung von Amphetamin-Psychosen. Das Prinzip ist einfach: Psychose und psychosomatische Krankheiten sind das Ergebnis zu weiten Offenseins. Als Reaktion auf diese übermäßige Offenheit für sensorische Reizzufuhr, die mit lebenslang kumulierten (Ur)schmerzen einhergeht, werden Körper oder Verhalten »verrückt«. Eine Reizung des Hirnstamms wird die Verrücktheit auslösen oder verstärken, während Phenothiazine (Thorazin), Butyphenone (Haldol) oder starke Analgetika (Morphin) die Verrücktheit wirksam behandeln. Ein Mediziner*, der in Los Angeles County an einem Programm zur Behandlung Drogensüchtiger arbeitete, hat einige interessante Beobachtungen an Heroinsüchtigen gemacht, die mit Methadon behandelt wurden. Diese Beobachtungen bekräftigen die hier erörterte Beziehung zwischen Hirnstamm und Kortex bei Psychose und psychosomatischen (viszeralen) Erkrankungen.

1. Solange die Methadondosis hoch genug ist, sehen die Süchtigen wesentlich jünger aus, als es ihrem tatsächlichen Alter entspricht, und sind auffallend frei von psychosomatischen Krankheiten.

2. Sobald die Methadondosis verringert wird, scheinen die Süchtigen sehr schnell zu altern und beginnen psychosomatische Beschwerden zu entwickeln, zum Beispiel Geschwüre, Darmstörungen, Migräne oder Asthma.

3. Wichtig und interessant ist seine Beobachtung, daß mit erneuter Erhöhung der Methadondosis die psychosomatischen Beschwerden wieder verschwinden. Das ist ein pharmakologischer Beweis dafür, daß Schmerz die Basis für psychosomatische Erkrankungen ist. 

 

* Dr. Charles Starling.

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Welcher Arzt hat Geschwüre, Kolitis oder Asthma mit Morphin behandelt? Ist es versucht worden? Dieses Kapitel behauptet, daß die narkotischen Analgetika akute psychotische Episoden und aktue Attacken psychosomatischer, viszeraler Krankheiten wirksam behandeln werden.

Jedes potente Analgetikum wie Morphin und ähnliche Mittel wird Psychosen oder psychosomatische Krankheiten wirksam behandeln, weil es den Zugang des Kortex und des Körpers zu Schmerz blockiert. Morphin ermöglicht es dem Menschen zu leiden, ohne daß es ihm etwas ausmacht. Es trennt Leiden von der Empfindung zu leiden. Anders ausgedrückt, es hebt die Schmerzschwellen an. 

Vielleicht ist Sucht so gefürchtet, weil der Entzug so unangenehm ist. Ich glaube jedoch, daß das ganze Entzugssyndrom nichts anderes ist als ein abrupter, überwältigender Zugang zu Urschmerz. Ein außerhalb der Primärtherapie durchgeführter Narkotikumentzug ist problematisch und kann zu Psychose und/oder zu einer viszeralen Katastrophe, unter Umständen sogar zum Tod führen. Was wird bei Morphinentzug freigesetzt? Die Antwort lautet: Urschmerz. Bei anhaltendem, vermehrtem Zugang zu einer Überlastung durch Urschmerz werden Geist und Körper buchstäblich verrückt. Grund dafür ist, daß eine massive Freisetzung von Hirnstammaktivation kortikale Hemmung überwältigt.

Ein allmählicher Narkotikumentzug im Rahmen einer primärtherapeutischen Behandlung ermöglicht eine dritte Alternative, nämlich den Schmerz durch Primals in kleinen, wohlbemessenen Dosen zu fühlen; dadurch werden Psychosen und viszerale Katastrophen oder Anfälle vermieden. Wenn der Schmerz wiedererlebt wird, ist die biologische Grundlage für die Morphin- oder Heroinsucht beseitigt. Deshalb ist die Primärtherapie eine Heilmethode für Heroinsucht oder für andere durch narkotische Analgetika verursachte Suchtkrankheiten. 

Man vergegenwärtige sich einige reine Beispiele einer Drogenreizung des Hirnstamms. Amphetamine erzielen diesen Effekt auf unmittelbare, pharmakologische Weise. Sobald man die Dosis erhöht, wird man für Reize empfindlich, bei extremer Erhöhung in äußerst unangenehmer Weise.

Große Koffeindosen öffnen das sensorische Fenster ebenfalls, und das kann als äußerst unangenehm empfunden werden. Koffein in extrem großen Mengen verursacht Anfälle. Strychnin hemmt durch seine Wirkung die hemmenden Nerven im gesamten Nervensystem: es »turnt« das ganze Nervensystem an. Minimale Dosen Strychnin öffnen das sensorische Fenster, so daß es unangenehm wird. Stärkere Dosen lösen einen Anfall aus und noch stärkere Dosen haben den Tod zur Folge.

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Beeinträchtigungen kortikaler Funktionen führen zu unangenehmem Offensein des sensorischen Fensters und zu übersteigerter Hirnstammtätigkeit, die normalerweise durch den Kortex gehemmt wird. Diese Wirkung zeigt sich bei normalen Betäubungsmitteln, besonders wenn sie langsam injiziert werden. (Heutzutage verabreichen Anästhesisten Penothal intravenös, um diese Phase zu überbrücken, aber früher konnte man diese Phase der Erregung und der Hirnstammaktivierung beobachten, und zwar sowohl wenn man betäubt wurde wie auch beim Wieder aufwachen.)

Die Natur liefert weitere Beispiele für ein übermäßiges Offensein des sensorischen Fensters. Wann fühlen sich Erwachsene von gewöhnlicher sensorischer Reizzufuhr überlastet oder überfordert? Das haben die meisten Menschen bereits viele Male selbst erlebt: bei Müdigkeit, insbesondere bei Schlaflosigkeit.

Hinreichend lange sensorische Deprivation wird zu einem ungemein schmerzlichen Erlebnis, das normalerweise in Panik endet. Sensorische Deprivation öffnet das sensorische Fenster, zumindest teilweise, indem Reize beseitigt werden, die den Kortex normal funktionieren lassen. Das ist eine Spielart kortikaler Beeinträchtigung. Man beginnt plötzlich das eigene Herz ungeheuer laut schlagen zu hören, empfindet die Luft auf dem Trommelfell als laut und unangenehm (in einem schalldichten Raum) und hat nicht selten visuelle Halluzinationen. Einige Menschen werden bei anhaltender sensorischer Deprivation vorübergehend psychotisch. Das entspricht wahrscheinlich auf mechanistische Weise einer Amphetamin-Psychose. In beiden Fällen dominiert die Hirnstammfunktion über die kortikale Hemmfunktion. In beiden Fällen kommt es zu einer Überaktivierung und einer weiten Öffnung des sensorischen Fensters und in beiden Fällen erlebt man das subjektiv als äußerst unangenehm. In beiden Fällen entsteht für gewöhnlich eine Panikreaktion.

Migräne ist eine Störung, die besonders häufig mit einem weit geöffneten sensorischen Fenster in Verbindung gebracht wird, so daß man eine Diagnose in Frage stellt, wenn sie dieses Phänomen nicht mit einbezieht. Das Stereotyp eines Menschen mit schwerer Migräne ist jemand, der in einem verdunkelten Zimmer im Bett liegt und sich mit dem Kopfkissen die Ohren zustopft, um Klangwahrnehmungen zu dämpfen. Er empfindet ganz normales Tageslicht und die Geräusche einer normalen Unterhaltung als qualvoll. Das Licht ist »zu grell« und die Geräusche sind »zu laut«.

Die im Zusammenhang dieses Kapitels wichtigste Rolle im Hinblick auf eine übermäßige Öffnung des sensorischen Fensters spielt die früheste Kindheit.

Es gibt eine Vielzahl von Indikatoren, die uns die Gewißheit geben, daß das sensorische Fenster eines Säuglings »zu offen« ist:

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  1. Sie schrecken sehr leicht auf, oft als Reaktion auf ein plötzliches, oft relativ leises Geräusch oder auf ein plötzlich geringfügiges Hellerwerden, beispielsweise wenn der Vorhang beiseite gezogen und Tageslicht hereingelassen wird. Dieses Hochschrecken eines Säuglings ist mechanisch das gleiche wie das Aufschrecken niederer Tiere — insbesondere bei Reptilien und Vögeln —, die keine Großhirnrinde haben, oder von niederen Säugern, die nur mit einer kleinen Großhirnrinde ausgestattet sind. Auch sie sind für sensorische Reize weit offen. In unserer persönlichen Entwicklung durchleben wir die psychophysiologischen Strukturen unserer Vertebratenvorfahren.

  2. Säuglinge weinen sehr leicht und sehr schnell auf eine große Vielzahl von Reizen hin: plötzliche Geräusche, das Bedürfnis aufzustoßen, nasse Windeln, Durst, Hunger etc. Sie haben eine niedrigere Schmerzschwelle, eine niedrigere Schwelle für alles Unangenehme: sie sind für sensorische Reizzufuhr zu offen.

  3. Die Reflexe von Säuglingen, wie viszerale und taktile Saugreflexe, der Greifreflex von Händen und Füßen oder der Reflex, sich aufzurichten, treten bei Erwachsenen mit frontal kortikalen Störungen wieder auf. Aufgrund nervaler (und embryonaler) Gegebenheiten zeigt das Nervensystem des Säuglings eine Dominanz subkortikaler Aktivitäten gegenüber kortikalen Aktivitäten. Das sensorische Fenster ist weit geöffnet. Plötzliche oder unerwartete Reize werden von Säuglingen als äußerst unangenehm empfunden, und ihre Reaktion auf dieses Leiden ist Weinen.

  4. Auch die Explorationen 6 bis 18 Monate alter Kleinkinder zeigen uns, daß ihre sensorischen Fenster weit geöffnet sind. Kinder in diesem Alter nehmen auf eine Weise wahr, wie es bei Erwachsenen selten geschieht, es sei denn, sie befinden sich auf einem Meskalin- oder LSD-Trip. Ich spreche hier von der Wahrnehmung der Umwelt, nicht von Wahrnehmung allgemein. Ein Erwachsener, der ein Zimmer betritt, nimmt die Möbel, Bilder, Teppiche usw. wahr, darüber hinaus gibt es jedoch noch vieles, was er sieht, aber nicht beachtet. Das Kleinkind hingegen (oder ein Erwachsener auf einem LSD-Trip etc.) beachtet auch das kleinste Detail der Umwelt: den Schraubenknopf am Stuhl, ein Haar auf dem Teppich, eine Brotkrume auf dem Fußboden etc.

 

Dr. Simeon Locke veranschaulicht dieses Prinzip mit folgender Anekdote: Wenn eine Frau einen Ring oder einen kleinen Ohrring verliert, so werden sie oder ältere Familienmitglieder ihn mit sehr viel geringerer Wahrscheinlichkeit wiederfinden als das einjährige Kind, das auf allen vieren herumkrabbelt und das Haus bis aufs kleinste Detail genauestens inspiziert.

Kleinkinder sind mithin nervlich derart strukturiert, daß sie gewöhnlichen Reizen gegenüber zu empfindlich sind. Und weil das so ist, werden sie leicht verletzt, leicht überlastet. Für ihre Gesundheit bedürfen sie einer Umwelt, die frei ist von plötzlichen Geräuschen, plötzlichen Lichtveränderungen oder plötzlichen taktilen Reizen. 

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Warum aber sind dann die Umstände bei der Geburt in amerikanischen Krankenhäusern so zutiefst traumatisch? Es ist einfach alles zu viel und zu plötzlich, so daß das Neugeborene leidet. Der Schrei eines Neugeborenen ist nicht der lustvolle Schrei vibrierenden Lebens, er ist ein Schmerzensschrei. Der Raum ist zu kalt, zu laut, und das Licht ist zu grell. Die Augentropfen und das Nasenkatheter werden plötzlich angebracht. All diese plötzliche Reizzufuhr wird als quälend und schmerzhaft erlebt, weil die sensorischen Fenster Neugeborener extrem weit offen sind. Wenn Geburtshelfer mehr von der neurologischen Verfassung eines Säuglings wüßten, würden sie sich an die Empfehlungen des Franzosen Dr. Leboyer* halten und Kinder behutsamer auf die Welt holen, ohne all die plötzlichen überlastenden Reize, denen ein amerikanisches Kind heutzutage bei der Geburt ausgesetzt ist. Nach dieser kurzen Betrachtung des sensorischen Fensters soll als nächstes der Zugang zu Schmerz in seinen subjektiven Aspekten behandelt werden.

Was erleben Menschen, wenn sie das »Bedürfnis« nach einem Primal haben? Wie weiß der Betreffende, daß er dem »Schmerz nahe ist«? Worte sind notorisch unangemessen, um innere Gefühlszustände zu beschreiben. Im folgenden deshalb eine einfache Aufzählung der Anzeichen und Merkmale, die unsere Patienten am häufigsten wissen lassen, daß sie leiden und daß es an der Zeit für ein Primal ist. Ein Primal kann sich durch das plötzliche Bedürfnis zu weinen ankündigen oder durch eine plötzliche Furcht, Panik oder Todesangst — die meisten Neurotiker würden das als »Angstzustand« und die meisten Psychiater als »akute Angstattacke« bezeichnen. Es kann sich in einer plötzlichen oder allmählich auftretenden verstärkten Muskelanspannung ausdrücken, insbesondere an Nacken, Rücken oder im Gesicht. Es kann sich bemerkbar machen durch eine extreme Traurigkeit und durch ein Gefühl überwältigender Tragik.

Es kann sich durch eine extreme Nervosität ankündigen, die manchmal mit nervösem Zittern von Händen und Mund und oft mit einer inneren Bewußtheit von Unruhe einhergeht. Bei einigen stellt sich eine plötzliche Übelkeit oder plötzliche Appetitlosigkeit oder auch beides zusammen ein. Bei anderen bildet sich ein innerer Druck, der ein Gefühl vermittelt, man werde gleich »explodieren«. Wieder andere berichten von einer Veränderung in ihrem Denken und haben das Gefühl, sie würden gleich »den Verstand verlieren«, oder sie fühlen sich »abwesend« oder zerstreut und haben große Konzentrationsschwierigkeiten. Auch kalte Hände und Füße verbunden mit starker Schweißabsonderung an Händen und Achseln sind nicht selten Indikator für ein nahendes Primal.

*  Frederick Leboyer, Der sanfte Weg ins Leben; Geburt ohne Gewalt, München 1974.

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Gelegentlich, wenn auch selten, kündigt ein plötzliches Aufsteigen von Zorn oder Wut an, daß es Zeit für ein Primal ist. Je nach eingeschliffenen Gewohnheiten kann es sich auch durch ein plötzliches überstarkes Verlangen nach Süßigkeiten, Alkohol, Tranquilizern oder nach einer Zigarette bemerkbar machen. Und all diesen subjektiven Gefühlszuständen, die einem Menschen sagen, daß er Schmerz nahe ist, ist eine Veränderung der Empfindungen in Abdomen oder Brust gemein; eine Veränderung, die sich mit Worten schwer beschreiben läßt, die jedoch eine typische Begleiterscheinung dieser Alarmreaktion ist. Die Schreckempfindung in der Mittellinie des Körpers ist ihnen allen wohlbekannt, kann aber nur durch Vergleiche mit Furcht oder Panik annähernd umschreiben werden. Ferner erleben die meisten Menschen, die dem Schmerz nahe sind, das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, und das ist eine der charakteristischen Begleiterscheinungen von Panik.

Die objektiven Merkmale dieses Zustands der Schmerznähe lassen sich leicht dahingehend zusammen­fassen, daß man sich dann in einem Zustand der Überaktivierung des sympathischen Nervensystems befindet. Puls, Blutdruck und Körpertemperatur sind erhöht. Das nervöse Schwitzen und die Gesichtsblässe des extremen sympathischen Zustands sind ebenso offensichtliche Charakteristika wie die dabei regelmäßig auftretende Pupillenerweiterung.

Was nun in diesem Zustand vermehrten Schmerzzugangs kann dessen Intensität reduzieren und den Betreffenden aus dem Feeling herausnehmen? Bei einigen Menschen reduzieren kleine Mengen Koffein (das den Kortex stimuliert) den Schmerzzugang. Mäßige Dosen von Tranquilizern, Narkotika, Nikotin oder Alkohol reduzieren den Schmerzzugang mit Sicherheit. Auch Essen, besonders Süßigkeiten, reduziert erfahrungsgemäß den Zugang zu Schmerz. Bei vielen Menschen schaltet ein Orgasmus das Gefühl ab. Bei anderen hat Urinieren oder Stuhlentleerung die gleiche Wirkung. Einige Menschen können Schmerz vorübergehend dadurch dämpfen, daß sie viel reden, lesen oder geistig arbeiten.

Darüber hinaus seien noch einige weitere Phänomene erwähnt, die zunächst paradox erscheinen mögen, so zum Beispiel, daß man unmittelbar im Anschluß an einen Orgasmus in ein Primal fallen kann oder auch nach einer geringen Dosis von Tranquilizern, Nikotin oder Alkohol. Dahinter verbirgt sich kein Geheimnis: die paradoxe Reaktion tritt ein, wenn man bereits von vornherein überlastet war und zu großen Zugang zu Schmerz hatte. In einem solchen nervlichen Zustand bewirkt jedes Manöver, das Schmerz geringfügig dämpft, daß man mehr und nicht weniger Zugang zu Schmerz gewinnt. Da so viele Primärpatienten diese paradoxe Reaktion auf schmerzdämpfende Manöver erlebt haben, gehe ich davon aus, daß eine besondere Beziehung zwischen Schmerzzugang und der Fähigkeit, ein Primal zu haben, besteht.

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Diese Beziehung läßt sich in Form eines Diagramms (S. 188) darstellen, als eine nach beiden Seiten hin abfallende Kurve, die durch ein Optimum führt, eine besondere Zone, in der man zu Primals fähig ist. Links vom Optimum ist der Zugang zu gering (wie bei prä-primären Neurotikern), so daß man infolgedessen zu einem Primal nicht fähig ist. Rechts vom Optimum ist eine Zone extrem großen Zugangs zu Schmerz, in dieser Zone ist man überlastet und ist deshalb ebenfalls nicht zu einem Primal fähig. 

Bei Überlastung wird jedes Manöver — ob mit oder ob ohne Drogen —, das die Spannung reduziert, paradoxerweise dazu führen, daß man in kürzester Zeit ein Primal haben wird. Diese paradox erscheinende Reaktion ist folglich keineswegs paradox, sondern steht völlig im Einklang mit der Schmerzschleusung.3 Eine Schmerzschleuse im Gehirn ist eine neurophysiologische Funktion, durch die unser Zugang zu Schmerz reduziert wird. Um eine Metapher zu gebrauchen — sie gleicht einem Damm, der ansteigt, sobald der dahinter gelegene Wasserstand ansteigt, und der sich senkt, sobald sich der Wasserstand senkt. 

Bei Überlastung befindet man sich in einem Zustand extremen Leidens — wie wenige Minuten ehe man von einem Zug überrollt wird. Es ist ein typischer Zustand des absoluten Terrors, bei dem der Schmerz durchaus umgelenkt werden kann und ein bereits vorhandenes Symptom verstärkt (Asthma, Kopfschmerzen, Kolitis etc.) oder Agieren intensiviert. So kann es zu dem Paradoxon kommen, daß ein Mensch mit schweren Kopfschmerzen, der eigentlich ein Primal haben müßte, es nicht kann, weil die Kopfschmerzen zu stark sind. Wenn es sich dabei um Spannungskopfschmerzen handelt und der Betreffende sie durch etwas Alkohol oder Tranquilizer ein wenig dämpft, dann ist er anschließend zu einem Primal fähig. Das erklärt auch, warum jemand bei Überlastung einen akuten Asthma-Anfall erleidet und zu einem Primal erst fähig ist, nachdem er einen Bronchodilatator genommen hat.

Allgemein gesagt, haben prä-primäre Neurotiker wenig Zugang zu Schmerz und fühlen den Schmerz nicht uneingeschränkt, auch wenn sie leiden; sie haben keine Primals. Sie lenken Schmerz in Symptome wie Asthma oder Hypertension [gesteigerte Muskelspannung] um, oder sie agieren, beispielsweise durch Alkoholismus, Drogensucht, zwanghaftes geistiges, intellektuelles oder manuelles Arbeiten etc. 

Die meisten Primärpatienten haben einen angemessenen, periodischen, verstärkten Schmerzzugang und sind in der Lage, bei Primals den Schmerz uneingeschränkt zu fühlen. Unmittelbar vor einem Primal leiden sie und befinden sich in einer Krise des sympathischen Nervensystems. Mit Beendigung der sympathischen Krise setzt dann plötzlich die Phase der Auflösung ein, die parasympathische Phase, die einhergeht mit heftigem Weinen, vermehrter Speichelbildung, starker Schweißabsonderung, vermehrter Bronchialsekretion (und Husten), plötzlichem Abfallen von Puls, Blutdruck und EEG und einer allmählichen Senkung der Körpertemperatur.

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Der Wechsel von der sympathischen Krise zur parasympathischen Erholungsphase tritt plötzlich ein und wird — analog dem ähnlichen Wechsel bei epileptischen Anfällen — durch den Hypothalamus vermittelt. Die parasympathische Phase beginnt genau in dem Augenblick, da man in das alte Gefühl »hineinfällt«, oft verbunden mit einer lebhaften Erinnerung an die Vergangenheit. Mithin ist das (totale) »Fühlen des Gefühls« buchstäblich die eigentlich heilende Phase, die Phase, die den Menschen vom Leiden befreit.

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Primärpatienten können gelegentlich derart von Urschmerz überlastet sein, daß sie zu einem Primal nicht fähig sind. Das ist jedoch relativ selten der Fall und erklärt sich folgendermaßen: Einige Patienten empfinden den Zustand vor einem Primal als so unangenehm, daß sie zu Alkohol oder Tranquilizern greifen, um es zu verhindern. Wenn man nun tatsächlich überlastet ist, dann reichen eine halbe Zigarette, ein halbes Glas Wein, eine Kleinigkeit zu essen etc. völlig aus, um ein Primal zu ermöglichen. 

Im Hinblick auf die Schmerzschleusung gesehen, ist Schwere oder Tiefe des Schmerzes bei Überlastung zu groß. Ein Schmerzdämpfer oder eine (parasympathische) Entladung (Orgasmus, Urinieren etc.) reduziert den Zugang zu Schmerz, und dadurch wird auch die Schmerzschleusung reduziert, so daß man die optimale Zone des Schmerzzugangs erreicht, in der ein Primal möglich ist. Wenn man bei Überlastung jedoch zuviel trinkt (statt eines Glases vier), dann gerät man in die Zone links des Optimums und ist zu einem Primal nicht mehr fähig.

(Die oben beschriebenen Zusammenhänge ermöglichen es, festzustellen, ob man tatsächlich überlastet ist. Wenn ein schmerzdämpfendes Manöver einen Gefühlsverlust und die Unfähigkeit, ein Primal zu haben, zur Folge hat, dann lag vermutlich keine Überlastung vor. Wenn ein solches Manöver ein Primal jedoch fördert oder erleichtert, dann lag mit großer Wahrscheinlichkeit eine vorherige Überlastung vor.) Zum Abschluß möchte ich hier die These aufstellen, daß die Primärtherapie ein Prozeß ist, der das sensorische Fenster neurotischer Erwachsener allmählich öffnet. In der Phase unmittelbar vor einem Primal ist man zu empfindlich für laute Geräusche, für Kritik, für grelles Licht, einfach zu empfindlich für jegliche sensorische Reizzufuhr. 

Wenn das sensorische Fenster eines Neurotikers geöffnet wird, leidet er und befindet sich nahe dem Schmerz. Nach und nach, wenn man Monat für Monat in Primals unter Schmerz steht, wird es dem Menschen möglich, mit einem geöffneten sensorischen Fenster zu leben, ohne zu leiden. Das ist das Verdienst der Primärtherapie. Sie macht Menschen empfindsam und liefert die Mechanismen, die menschlichem Leiden ein Ende setzen.

Der einzige neurobiologische Zustand, der dem postprimären Zustand wirklich vergleichbar ist, ist der der frühen Kindheit. Nicht daß man nach der Primärtherapie wieder ein kleines Kind wird, das sicher nicht, aber das sensorische Fenster eines Postprimärpatienten kann so weit geöffnet sein, wie es bei Kleinkindern vor dem Schmerz der Fall ist. Für die meisten von uns bedeutet »vor dem Schmerz« vor der Geburt, und das erklärt, warum es so lange dauert, ehe man den »postprimären« Zustand erreicht. Menschen haben ein ganzes Leben lang gelitten, und es dauert lange, den größten Teil dieser Schmerzen zu fühlen.

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Literaturverzeichnis

 

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