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3. Die Bewußtseinsebenen   

 von Arthur Janov 

 

    Einleitung   

101-137

Dr. Holden legt eine neuroanatomische Analyse von Schmerz und Neurose vor. Er diskutiert die Parallelen zwischen der Entwicklung des Bewußtseins und der des Gehirns, und er setzt Bewußtseinsebenen in Beziehung zu spezifischen, entwicklungs­abhängigen Funktionsfähigkeiten des Gehirns. Ein Teil seiner Aussagen hat bedeutsame Implikationen für das Gebiet der psychosomatischen Leiden; ich möchte im folgenden einige seiner Aspekte stärker herausarbeiten und dabei gelegentlich etwas weitergehen, als er es möglicherweise täte. 

Dr. Holden hat eine neue Auffassung über die Besonderheit eines Leidens in seiner Beziehung zu einer spezifischen Zeit des Traumaerlebnisses dargelegt. Anders gesagt, wie welche Organsysteme später von Streß beeinträchtigt werden, hängt von prototypischen Erlebnissen ab, die sich sehr früh im Leben eines Menschen ereignen, und steht im Zusammenhang mit dem Reifungsprozeß des Gehirns. 

So ist ein Neugeborenes »angemessen funktionsfähig« im Hinblick auf die Atmung, die Herztätigkeit und andere lebenswichtige Prozesse. Diese werden durch den innersten Bereich des Gehirns in der anatomischen Mittellinie integriert. Traumata, die sich in diesem Lebensabschnitt ereignen (von in utero bis etwa Ende des ersten Lebensjahres) stellen das dar, was ich als »Traumata erster Ebene« bezeichne. 

Ein Fetus, der bei der Geburt von der Nabelschnur stranguliert wird, hat ein begrenztes Repertoire möglicher Reaktionen; mit Sicherheit kann er sein Trauma nicht intellektualisieren, doch sein Körper kann reagieren. So kann sich beispielsweise sein Herzschlag enorm beschleunigen, und eine Beschleunigung des Herzschlags könnte zur prototypischen Reaktion auf alle späteren lebensbedrohenden Situationen werden. 

Ein solcher Mensch kann auf jeden späteren Streß mit Herzklopfen reagieren. Jahrzehnte derartigen Reagierens führen mit großer Wahrscheinlichkeit in späteren Jahren zu einem Herzinfarkt. Ich bin der festen Überzeugung, daß einzig und allein ein Wiedererleben des prototypischen Traumas erster Ebene die Möglichkeit eines solchen Herzinfarkts beseitigen wird, weil das Initialtrauma dem System eingeprägt wurde (in seiner ursprünglichen Form zeitlich eingefroren) und durch jede Lebensbedrohung, wie zum Beispiel Ablehnung oder Mißbilligung seitens der Eltern, reaktiviert wird.


Dr. Holdens Konzept der drei zentralen Röhren, die das Gehirn-Körper-System des Menschen darstellen, ist eine schematische Veranschaulichung des Körpers. Dr. Holden vertritt die Ansicht, daß die mittlere Röhre (oder die zweite Ebene) Reaktionen der Körperwand vermittelt, unter anderem auch Gesichtsausdruck und Stimme. Sie liefert den äußeren Ausdruck innerer Gefühls­zustände. Die innere Röhre integriert die Viszera und das Körperinnere, sie vermittelt beispielsweise gastrische Sekretionen. Dr. Holdens Theorie zufolge betrifft ein Trauma zweiter Ebene Aktivitäten, die durch das mittlere Gehirn vermittelt werden. So wäre ein Sprachtrauma (zum Beispiel sehr früh zum Sprechen gezwungen werden), das zu Stottern führt, ein Trauma zweiter Ebene. Nervöse Muskelzuckungen im Gesicht wären ebenfalls symptomatisch für Traumata zweiter Ebene. 

Ein Neugeborenes kann unter Streß unmöglich stottern, weil dementsprechende Bahnen, die ein Ausdrucks­vermögen der Körperwand vermitteln, noch nicht vorhanden sind. Bahnen der zweiten Ebene werden zwischen drei Monaten und zwei Jahren angemessen funktionsfähig. Traumata dritter Ebene (das sind meine Schlußfolgerungen und nicht notwendigerweise die Dr. Holdens) wären eine Sache der späteren Entwicklung des Gesamtsystems; sie wären extrapersonell, sozial orientiert und würden Dinge wie Schulphobien beinhalten. Es liegt auf der Hand, daß sich ein Neugeborenes nicht »gedemütigt« fühlen und Situationen nicht vermeiden kann, wie es ein Achtjähriger könnte, der von seinem Lehrer lächerlich gemacht wurde.

Vielleicht hilft es, die Symptome der verschiedenen Ebenen zu verstehen, wenn man sich vorstellt, in welche Richtung die überschüssige Energie (die als Spannung erlebter, nicht verknüpfter Schmerz ist) gelenkt wird. Handelt es sich um Symptome wie chronisches Lippenschnalzen, nervöses Augenzucken oder Zähneknirschen, dann wissen wir, daß die zweite Ebene betroffen ist. Wenn sich die Energie gegen die Viszera richtet (zum Beispiel bei Kolitis), dann ist die erste Ebene betroffen. Ist die Energie auf soziale und extrapersonelle Ziele gerichtet (beispielsweise bei einem Menschen, der ständig kämpft), dann handelt es sich um die dritte Ebene. Liegt ein Symptom zweiter Ebene vor, dann können wir vermuten, daß die entscheidende Überlastung und Spaltung in einem Zeitraum nach den ersten Lebensmonaten eintrat.

Für uns, die wir Primärtherapie ausüben, ist es wichtig, daß wir ein besonderes körperliches Symptom, das wir bei einem Patienten feststellen, auf das Alter beziehen können, in dem sich das traumatische Erlebnis (oder die Erlebnisse) ereignete. 

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Zum Beispiel, wenn wir es mit einem Patienten zu tun haben, der einen konstant mürrischen Gesichtsaus­druck zur Schau trägt, wissen wir, daß es nicht um ein Trauma erster Ebene geht, weil die Bahnungen für diese prototypische Unwillensbekundung in den ersten Lebensmonaten noch nicht angemessen funktionsfähig sind. Ferner ist es durchaus möglich, daß der Schweregrad psychischer Krankheit von Ausmaß und Gewicht der Traumata erster Ebene abhängt — ein Mensch mit überwiegend Traumata erster Ebene kann als kränker angesehen werden als ein Mensch mit vorwiegend Traumata zweiter Ebene.

So läßt sich ein ängstlicher Patient mit vielen körperlichen Beschwerden Asthma, Herzklopfen, Darmstörungen etc. als Mensch mit Traumata erster Ebene betrachten, die wiedererlebt und aufgelöst werden müssen. Menschen, die körperlich gesund sind, aber unter mehr sozialen Symptomen leiden — zum Beispiel Exhibitionismus oder Transvestizismus —, wären der zweiten Ebene zuzuordnen. Der hochgradig neurotische Mensch leidet unter Symptomen, die sich auf alle drei Ebenen zurückführen lassen. Eine solche Situation führt zu dem, was ich als »Anhäufung« bezeichne; es schichtet sich ein Schmerz über den anderen.

Depression zum Beispiel kann das Unvermögen sein, Schmerzzustände erster Ebene in begriffliche Vorstellungen zu übersetzen. Die notwendige und hinreichende Bedingung für eine ausgewachsene Depression im späteren Leben kann eine repressive Atmosphäre im Elternhaus gewesen sein, in dem keinerlei Gefühle offen ausgedrückt werden durften. Die meisten von uns leiden in einem gewissen Maß unter dieser Unfähigkeit, Schmerzzustände erster Ebene in begriffliche Vorstellungen zu übersetzen; doch das, was den einen Menschen für eine Depression anfällig macht und den anderen nicht, ist die Anhäufung späterer Ereignisse. Wenn man bei der Geburt kämpfen mußte, um aus dem Geburtskanal herauszukommen, dann wird man prototypisch eher nach außen gerichtet und für Depressionen weniger anfällig sein; eine spätere repressive Erziehung würde in einem solchen Falle zu Agieren, Ungezogensein, Schuleschwänzen und so weiter führen. 

Kommt es bei der Geburt zu einer Strangulation durch die Nabelschnur, so daß jede Bewegung den Tod bedeutet, dann ist Passivität die prototypische Reaktion, und ein solcher Mensch, der in einem repressiven Elternhaus aufwächst, wird eher für Depressionen anfällig sein. 

 

   Traumata erster Ebene  

Traumata erster Ebene sind deshalb so entscheidend und so verheerend in ihren Auswirkungen, weil es sich bei ihnen oft um Situationen handelt, in denen es um Leben oder Tod geht; in späteren Situationen ist das normalerweise nicht mehr der Fall.

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Menschen, bei denen Lebensumstände Traumata erster Ebene auslösen, haben oft ein Gefühl drohenden Verhängnisses, und dieses anfängliche Gefühl ist der Vorbote des Gefühls der Todesgefahr. In der Tat droht Verhängnis, wenn auch nicht in dem gegenwärtigen Leben dieses Menschen, sondern in der Realität, die in seinem Gehirn eingeschlossen ist. 

Wenn ein Mensch, der in seinem Gehirn ein Trauma erster Ebene, in dem es um Leben oder Tod ging, gespeichert hat, mit einem Flugzeug fliegt, kann er in Todesangst geraten, weil diese Situation ein Element möglichen Todes enthält. Dieses Element, mag es auch noch so gering sein, setzt die reale Möglichkeit zu sterben frei, die Jahre zuvor stattgefunden hat, eine Möglichkeit, die nie voll erlebt und gelöst wurde. Er hat Angst, er könne sterben, nicht etwa aus Angst davor, er könne bei einem Flugzeugunglück ums Leben kommen, sondern aus Angst vor jenem lebensbedrohenden Ereignis, das in seinem Gehirn noch sehr lebendig ist. Und diese Primärrealität ist vorherrschend. 

Die Zwangsvorstellung vom Tod kann auf eine eingeschlossene Erinnerungsspur zurückzuführen sein, der das Gefühl der Todesgefahr während des Geburtsprozesses zugrunde liegt. Tod ist für einen solchen Menschen zu einem Hauptthema geworden, weil sein ganzes System tatsächlich von jener verborgenen Erinnerung drohenden Verhängnisses in Anspruch genommen wird. Es ist möglich, daß sich ein solcher Mensch auf Tod (Selbstmord) als Lösung gegenwärtiger Qualen fixiert, weil er darin den einzigen Ausweg sieht; für das Neugeborene, das im Geburtskanal verzweifelt kämpfte, war der Tod tatsächlich der einzige Weg, die Qual zu beenden. Die Todesnähe ist eine Erinnerung des Systems, sich in Todesgefahr befunden zu haben, und diese Erinnerung liefert ständig Symbole (zum Beispiel »Ich werde bei einem Flugzeugunglück ums Leben kommen«) als bewußte Repräsentationen der obersten Ebene für vergrabene Schmerzen erster Ebene.

Die Begegnung mit dem Tod während der Geburt muß nicht der einzige Grund für den Zwangsgedanken an den Tod sein, es ist vielmehr so, daß ein Erlebnis erster Ebene im Verbund mit Verdrängungen zweiter und dritter Ebene (zum Beispiel bei Kindern, die in einem streng katholischen oder militärisch eingestellten Elternhaus aufwachsen) einen solchen Zwangsgedanken bewirken kann. Die Summe der Verdrängungen würde zu der Unfähigkeit führen, Schmerz generell auf andere Weise auszudrücken als durch Selbstmord.

Es gibt Neurotiker, die ihren Schmerz auf die eine oder andere Art ausdrücken können, zum Beispiel indem sie andere ständig anbrüllen. Bei Selbstmord kann es sich um Schmerz handeln, der eintrat, ehe Ausdrucks­möglichkeiten vorhanden waren. (Ein Baby kann seine Schmerzen zumindest herausschreien, ein Fetus im Geburtskanal hingegen kann überhaupt nichts machen.) Das zusammen mit einem Kindheitsmilieu, in dem Verdrängung gang und gäbe war, kann die Weichen für Selbstmord stellen. Nicht daß der Selbstmord­gefährdete wirklich sterben will; er will nur nicht länger im Leid leben.

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Wenn wir einen Ulkus-Patienten mit einer Übersekretion von Magensäure vor uns haben, ist die Möglichkeit naheliegend, daß ein prototypisches Trauma erster Ebene vorliegt. Wir müssen unser Augenmerk auf sehr frühe Schmerzen richten, die auftraten, als der Betreffende nur prototypisch viszeral reagieren konnte. Fraglos kann ein Mensch in jedem Alter mit einer Überproduktion von Magensäure reagieren, doch ich bin der Auffassung, daß eine solche Überproduktion mit großer Wahrscheinlichkeit typisch für ein Trauma erster Ebene ist (zum Beispiel als vier Monate alter Säugling in der Wiege liegen und unter starken Hungergefühlen leiden), so daß jeglicher spätere Streß diese Reaktion der »Eingeweide« auslöst. Bei hinlänglich vielen Jahren einer derartigen Reaktionsweise kommt es zu so starkem Verschleiß, daß sich Funktionsstörungen einstellen.

Wenn wir dieses Paradigma weit genug führen, gelangen wir zu der Ursache, warum einige Menschen unter Hormonstörungen leiden. Wir wissen, daß der Fetus etwa zwanzig Wochen nach der Empfängnis beginnt, Thyroxin [Hauptbestandteil des Schilddrüsenhormons] zu produzieren. Streß, dem die Mutter zu dieser Zeit ausgesetzt ist, wird an den Fetus weitergegeben und kann die Thyroxinproduktion beeinträchtigen. Das Kind kann dann mit einer leichten Unterfunktion der Schilddrüsen geboren werden, die sich erst später unter anhaltendem sozialen Druck bemerkbar macht. Das heißt, es läge eine prototypische Schilddrüsenanfälligkeit erster Ebene vor, so daß jeglicher spätere Streß die Schild­drüsenfunktion beeinträchtigt (möglicher­weise subklinisch), bis es schließlich so weit kommt, daß sich ernsthafte Störungen einstellen. Das soll keineswegs den Anteil erblich bedingter Anfälligkeit bestimmter Leitorgane leugnen, denn fraglos kann eine lange Geschichte von Funktions­störungen der Drüsen in einer Familie bei deren Nachkömmlingen die Wahrscheinlichkeit erheblich erhöhen, auf Streß mit gleicher Reaktion zu antworten.

Wenn wir einen Patienten mit spastischem Colon [Grimmdarm] in der Therapie haben, müssen wir die Möglichkeit von Traumata in den ersten Lebensmonaten erwägen. Die endgültige Beseitigung dieses Symptoms könnte darin liegen, den Organismus von der eingeschlossenen Erinnerung an ein Trauma zu befreien, das sich im Hinblick auf allen späteren Streß auf eine bestimmte Reaktion fixiert hat. Aus all dem könnten wir eine Prognose darüber anstellen, wie schwierig die Behandlung des Patienten wahrscheinlich sein und wie lange sie voraussichtlich dauern wird.

Die Art und Weise unserer Abwehr entspricht mithin dem Stadium der Gehirnentwicklung, in dem sich Traumata ereigneten. Die Wahrscheinlichkeit, daß Menschen, deren erste drei Lebensjahre relativ gut verliefen, psychotisch werden, ist gering, selbst wenn sie später einer neurotischen Atmosphäre ausgesetzt sind.

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Aber bei Menschen, die in den ersten Lebensmonaten schwerwiegend traumatisiert werden, kann eine spätere neurotische Atmosphäre zur Psychose führen. Wenn wir drei gute Jahren haben, in denen wir wirksame Abwehrmechanismen errichten können, wird es uns wesentlich leichter gelingen, spätere Traumata zu verkraften, ohne daran zu zerbrechen. 

Aber selbst bei relativ stabilen ersten drei Lebensjahren kann sich später eine Psychose entwickeln, wenn signifikante Traumata zweiter und dritter Ebene vorliegen, wie beispielsweise mit sechs Jahren auf ein Internat verschickt werden, den Tod beider Eltern miterleben, als Fünfjähriger die mit Verbitterung durchgesetzte Scheidung der Eltern miterleben und so weiter. Normalerweise müssen wir bei einer Psychose jedoch von der Wahrscheinlichkeit ausgehen, daß ein schwerwiegendes Trauma erster Ebene vorliegt.

Dr. Holdens Ausführungen versetzen uns jetzt in die Lage, einige der chronischen Symptome Erwachsener zu verstehen, mit denen wir in der Praxis konfrontiert werden, wie etwa dem Globus hystericus (das Gefühl, ständig einen »Kloß im Hals« zu haben). Strangulation durch die Nabelschnur bei der Geburt kann den Hals zu einem Leitorgan für spätere Symptome machen. Übermäßiger, verfrühter Druck auf die Sprachentwicklung eines Kleinkinds kann zu Stottern führen, und das nicht allein aufgrund der Tatsache, daß Eltern auf die Sprachentwicklung sozialen Druck ausüben, sondern auch weil dieser Druck Traumata erster Ebene (wie zum Beispiel Strangulation durch die Nabelschnur) reaktiviert, die hinsichtlich des Leitbereichs bedeutsam sind. Das gesamte Gewicht allen Primärdrucks erzeugt eine Überlastung, die zu einem Symptom wie Stottern führt. Wir müssen hier die Beziehung der Einzelteile zum Ganzen berücksichtigen, denn Stottern ist kein eigenständiges, isoliertes Problem, sondern ein Problem, das sich allmählich entwickelt und von einem im Wachstumsprozeß befindlichen Gehirn und Organismus ausgearbeitet wird.

Der Kortex eines Neugeborenen arbeitet und hat ein spezifisches EEG (Elektroencephalogramm). Er ist jedoch noch nicht sehr weit entwickelt, so daß ein massiver Reizzustrom durch Traumata erster Ebene sprachlich oder durch andere symbolische Formen nicht erfaßt werden kann, auch wenn der Schmerz kortikal durchaus registriert werden mag. Die gewaltige Reizzufuhr von Traumata erster Ebene erzeugt ein Chaos im Gehirn des Babys, das funktionell noch nicht in der Lage ist, die Erlebnisse in begriffliche Vorstellungen zu übersetzen. Das physische Gegenstück zu diesem mentalen Chaos sind zufällige, generalisierte, chaotische Körperreaktionen. Wenn im späteren Leben Traumata erster Ebene reaktiviert werden, lassen sich genau die Reaktionen beobachten, für die das Gehirn zu dem Zeitpunkt angemessen funktionsfähig war, als sich die Traumata ereigneten.

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So wird ein solcher Mensch unter Streß verwirrt, kommt durcheinander und verliert die Orientierung — alles Teil der chaotischen Reaktion des Säuglings. Oder er kann ständig auf Sexualität ausgerichtet sein. Ob er es realisiert oder nicht, er ist auf der Suche nach konvulsivischer Entladung angestauten inneren Druckes, den er für sexuell hält, der in Wirklichkeit jedoch angestaute Spannung erster Ebene sein kann. Er benutzt seinen Körper zur Entlastung von Körperschmerz. 

Ausschlaggebend hierbei ist, daß, sobald ein alter Schmerz wiederbelebt wird, nicht nur der alte Schmerz­zustand aktiviert, sondern daß auch genau die gleiche frühe Reaktion auf diesen Schmerzzustand reaktiviert wird. Das ist so, weil die Erlebnisse und Erfahrungen eines Menschen in zeitlich geordneter, reifungsabhängiger Weise registriert werden. Die Reaktion ist Teil der frühen Erinnerungs­schleife. Wenn uns als Erwachsenen etwas zustößt, was uns erschüttert, dann können wir in Gefühle zurückgeworfen werden, wie sie ein Baby unter dem Ansturm von unerklärlichem, nicht begrifflich veranschaulichtem Schmerz verspürte. 

Das Baby kann sich nicht sagen: »Ich werde verrückt.« Was ihm zustößt, stürzt es einfach in Verwirrung und Chaos. Nur der Erwachsene kann intellektualisieren und sagen: »Ich habe das Gefühl, gleich verliere ich den Verstand«; und das tut er tatsächlich. Er ist im Begriff, den verbalisierenden, erklärenden und kontrollierenden Verstand zu verlieren; er beugt sich einem Babyverstand, der völlig verwirrt und durcheinander ist. Aus dem Bereich der dritten Ebene des Gehirns in den Bereich erster Ebene hinabzusteigen, bedeutet den Verlust des normalen Erwachsenenverstandes. Es ist nicht nur der Schmerz ein latent immerwährendes Erlebnis, sondern auch die Reaktion auf dieses Erlebnis wird zu einer chronischen, latenten, stereotypen Neigung.

Verwirrung ist eine Reaktion erster Ebene auf blockierten Schmerz erster Ebene. Ein Mensch, der leicht verwirrt wird, der sich beim Autofahren ständig verirrt, der mit normaler alltäglicher Reizzufuhr nicht fertig wird, befindet sich in einem chronischen Reaktionszustand erster Ebene. Ähnlich können sich viele von uns nicht konzentrieren, wenn sie bestürzt sind. Unser Verstand scheint dann herumzuirren. Auch das wiederum mag seinen Grund darin haben, daß Schmerz erster Ebene unseren Verstand gewissermaßen »wegbläst«, weil wir unter etwas leiden, was wir nicht in den Brennpunkt rücken können. Statt dessen irrt unser Verstand über alles mögliche und versucht, den Grund für eine Bestürzung auszumachen, die keine Worte hat und die begrifflichem Geistesleben vorangeht. Vielleicht sind einige Formen geistig-seelischer Retardierung tatsächlich extreme Zustände von Verwirrung bei Menschen, die in ihr traumatisiertes Babygehirn eingesperrt sind. Auch einige Formen von Schizophrenie werden traditionell als »Störungen des Gedankenablaufs« aufgefaßt, die gekennzeichnet sind durch Verwirrung, Mangel an Hier-und-Jetzt-Orientierung und so weiter. 

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Paranoide Reaktionen sind Versuche, den Ursprung eines Schmerzes in den Brennpunkt zu rücken. Da Schmerz erster Ebene nicht zugänglich ist, wird der Schmerz als von außen kommend gesehen »die anderen« sind schuld. Für ein leidendes Baby gibt es keine »anderen«, keinen »Brennpunkt«. »Die anderen« entstehen später, wenn wir über Worte und begriffliche Vorstellungen verfügen. Wie verrückt ein Mensch ist, hängt in gewisser Weise davon ab, wie weit er davon entfernt ist, frühen Schmerz zu integrieren. Wenn er meint, alles sei in der Gegenwart begründet, dann ist er wahrscheinlich kranker als ein Mensch, der zumindest versteht, daß sein Problem irgendwie in der Vergangenheit liegt. Wirkliche Geisteskrankheit bedeutet, daß unzugänglicher Schmerz zur ausschließlichen Realität eines Menschen wird und das Bewußtsein hochgradig einschränkt.

Damit will ich andeuten, daß es zwei mögliche Gründe für Unbewußtheit gibt. Der erste ist, daß sich im Gehirn eines Kleinkinds Ereignisse abspielen, die es symbolisch nicht erklärbar machen kann, weil es noch nicht über das dementsprechende höhere Bewußtsein verfügt. Der zweite ist, daß sich, wenn die höheren Gehirnbahnungen angemessen funktionsfähig sind, Ereignisse abspielen, die jedoch aufgrund der Schmerzüberlastung nicht völlig assimiliert werden können. Primärpatienten, die während ihrer Therapie in der Zeit zurückreisen, gelangen früher oder später an Erlebnisse, für die physiologisch kein höherer Kortex vorhanden war, der sie hätte rational erklären können. Sie beginnen »verrückt zu werden«, weil sie jetzt einen Kortex haben, der ein ungeheures Gefühl zu erklären versucht, für das es offenbar keinen dem Verstand zugänglichen Grund gibt. Wenn sie sich in dieses Erlebnis hineinfallen lassen, verschwindet die Verrücktheit. 

Eine der Schlüsselreaktionen erster Ebene des Säuglings auf ein Trauma ist Schlaf. Patienten, die sich mit schwerem frühen Material auseinandersetzen, können in ihren Primals ständig in Schlaf verfallen, bis schließlich eine hinreichende Menge Schmerz aus dem Weg ist, so daß es voll und bewußt erlebt werden kann. Viele Neurotiker benutzen Schlaf als Abwehr, und ich glaube, das tun sie, weil sie in Abwehr­mechanismen erster Ebene steckengeblieben sind und auf alle Beschwernisse prototypisch mit Schlaf reagieren. Mithin löst jede beliebige gegenwärtige Situation im Verlauf des gesamten Lebens eines Neurotikers den Schmerz erster Ebene und dessen Initialreaktion aus. Wir alle sind in unseren frühen Schmerzen und den dazugehörigen Reaktionen steckengeblieben und verbringen unser Leben einen Schritt von der richtigen Verknüpfung entfernt, reagieren weiterhin unablässig symbolisch.

Das Neugeborene hat eine durchschnittliche Gehirnmasse von etwa 320 Gramm. Bei einem einjährigen Kind beträgt die Gehirnmasse etwa 750 Gramm. Bei einem Dreijährigen etwa 1010 Gramm und bei einem Zwanzigjährigen etwa 1250 Gramm. Bei einem Einjährigen hat das Gehirn folglich 60 Prozent seines Erwachsenengewichts erreicht und bei einem Dreijährigen 80 Prozent. Ashley Montagu* weist in seinem Buch Touchin daraufhin, daß das Gehirn eines Kleinkinds im ersten Lebensjahr schneller wächst als in allen späteren Jahren.

 

* Ashley Montagu, Touching, Harper and Row, New York, 1971, S. 54; dt.: Körperkontakt. Die Bedeutung der Haut für die Entwicklung des Menschen, Klett, Stuttgart 1974.

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Der Punkt, um den es mir hier geht, ist, daß sich das Gehirn des Kleinkinds entwickelt und daß ein Trauma in jedem beliebigen Stadium der Entwicklung potentiell eine »Einprägung« erzeugen kann. Das sich entwickelnde Bewußtsein bildet sich um diese innere Einprägung, und das Ergebnis ist ein falsches Bewußtsein — ein Bewußtsein, das die Überlastung sammelt, verteilt und umleitet und das normalerweise als Abwehrstruktur benutzt wird und weniger als etwas, das eine direkt vermittelnde Funktion zwischen biologischer Energie und Leben hat. 

Die Einprägung erster Ebene kann mithin die tatsächliche Entwicklung des Kortex genauso verzerren, wie eine Niereninfektion in früher Kindheit die spätere Entwicklung der Nieren beeinflussen kann. Die Funktion des Kortex kann dadurch gestört werden, daß er sich mit den Erinnerungen von Traumata beschäftigt und deren Reaktivierung abwehren muß, anstatt sie zu integrieren. Der so beanspruchte Kortex führt zu neurotischem Intellekt — zu einer gefilterten, selektiven Intelligenz, die eher als Abwehr gegen das eingesetzt wird, was das Gehirn bereits weiß, und weniger als etwas, das sich aus diesem Speicher an Erfahrungen heraus entwickelt. 

Der Neurotiker ist deshalb unfähig, aus seinen Schlüsselerlebnissen zu lernen, weil er nur wenig oder gar keinen Zugang zu ihnen hat. Wenn diese falsche Bewußtsein blockiert wird, tritt die frühe eingekapselte Einprägung offen und kristallklar zutage. Mit anderen Worten, die komplexe Rückkoppelungsstruktur des Erwachsenengehirns hat nicht lediglich Gefühle zum Inhalt, sie ist vielmehr ein ausgeklügeltes Derivat des Babygehirns, erstellt, um mit frühen eingeprägten Überlastungen fertig zu werden. Die verfeinerten späteren Abwehrmechanismen sind lediglich Vervollkommnungen jenes Gehirns, es werden neue Netze gefunden, in denen sich der Schmerz verfängt. Die Vermittler zweiter und dritter Ebene verdrängen Fühlen dann eher, als daß sie es ausdrücken, und haben somit eine ähnliche Funktion wie das Freudsche Überich.

Offenbar hat jede Entwicklungsebene des Gehirns ihre eigene Bewußtseinsebene, und es gibt ein Säuglings­bewußtsein, das mit dem Schmerz vergraben wird. Bewußtsein ist demnach das, was die Rückkoppelung vollständig macht und das Erleben von Schmerz hervorruft. Weil Bewußtsein Schmerz mit sich bringt, müssen Abwehrmechanismen letztlich als Abwehr gegen Bewußtsein angesehen werden. Das Erleben von Schmerz muß demzufolge bewußtseinserweiternd sein. Primärtherapie ist ein Prozeß, bei dem Einprägungen schichtweise freigelegt werden, so daß sich volles (und wahres) Bewußtsein einstellen kann.

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Neurotisches Verhalten und Denken werden durch den Kortex vermittelt. Das Babygehirn kann nur erleben; das Erleben überwältigenden Schmerzes beeinflußt das gesamte Gehirn, formt und verzerrt alle möglichen Aktivitäten, von der Sprache bis zur Körperhaltung und zur Koordination der Bewegungsabläufe. Das heißt, der Neurotiker hat eine neurotische Sprache und Körperhaltung, weil das sich entwickelnde Gehirn, das sich mit diesen Aktivitäten befaßt, durch frühe schmerzhafte Einprägungen verzerrt wurde, und so werden sie Teil der umfassenden Abwehrstruktur; das erklärt, warum sich Sprache, Haltung und Koordination verändern, wenn wir die Abwehrmechanismen in der Therapie abbauen.

Gefühle erster Ebene sind prototypisch, und deshalb sind sie diejenigen, bei denen therapeutisch gesehen die Lösung liegt, insbesondere die Lösung für jene Leiden der Mittellinie, die ihren Anfang sehr früh im Leben des Betreffenden hatten. Selbst wenn sich eine Kolitis zum Beispiel erst in späteren Jahren bemerkbar macht, kann die Anfälligkeit des Colon [Grimmdarm] bereits mit vier Monaten eingesetzt haben.

 

Eines der widerspenstigsten und verwirrendsten psychiatrischen Syndrome ist die Anorexia nervosa — die psychogen bedingte Magersucht. Eine unserer Patientinnen war aufgrund dieser Krankheit auf weniger als 70 Pfund abgemagert und befand sich in einem lebensgefährlichen Zustand. (Anorexia nervosa kann in einigen Fällen tatsächlich zum Tod führen; sie scheint sich jeder therapeutischen Methode zu widersetzen.)

Nachdem diese Patientin einige Monate in der Primärtherapie war, erlebte sie ein Trauma wieder, daß sie gezwungen wurde zu essen und daß sich ihr Körper reflexartig dagegen wehrte, essen zu müssen. Ihr Leiden wurde daraufhin gelindert, nicht jedoch behoben. Später dann hatte sie Geburtsprimais, bei denen sie Schleim erbrach. Sie erlebte wieder, daß sie bei der Geburt in einer Flüssigkeit zu ertrinken drohte; die Tendenz, als lebensrettendes Mittel zu erbrechen, war in die damit verbundene Erinnerungsspur eingeschliffen. Sie kam aus diesem Primal mit der Einsicht, daß sie als Erwachsene zwanghaft aß, damit sie erbrechen konnte, und sie erbrach sich tagtäglich viele Male. 

Essen gab ihr die »Entschuldigung«, sich zu erbrechen, und war ihr Weg, die Spannung eines nicht zugänglichen Traumas erster Ebene wieder­zuerleben. Erbrechen als Ergebnis der Unfähigkeit, Nahrung bei sich zu behalten, war ein symbolisches Verhalten, ein Ersatzverhalten, das ihr Leben lang weiterbestanden hätte, wären diese entscheidenden Verknüpfungen nicht hergestellt worden. Sie hatte als Erwachsene in fast jeder schwierigen Situation das Bedürfnis, sich zu erbrechen, ohne je zu wissen warum. Das Trauma erster Ebene hatte generalisierte Reaktionen erzeugt, und das ist der Kern jeder Neurose — eine generalisierte Reaktion auf Urschmerz. 

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Einer unserer Patienten bekam stets sofort einen Hustenanfall, sobald er in eine schwierige Situation geriet. Dabei spielte sich folgendes ab: Reize dritter Ebene lösten unten in der Primärkette Reaktionen erster Ebene aus. Erst als dieser Patient wiedererlebte, daß er sich sehr früh in seinem Leben an einer Flasche mit einer zu großen Öffnung heftig verschluckt hatte, wurde diese Hustenreaktion beseitigt. Bis dahin lösten leichte unbewußte Schwierigkeiten bei ihm immer Hustenkrämpfe aus; das heißt, sie reaktivierten nicht zugängliche Reaktionen erster Ebene, die nicht verknüpft werden konnten. 

Heraushusten war ein prototypisches lebensrettendes Abwehrverhalten dagegen, sich an der Milch so zu verschlucken, daß er daran ersticken und sterben würde. Es wurde völlig unbewußt perpetuiert. Zum Beispiel riefen barsche Anweisungen von seinem Boß einen Hustenanfall hervor, weil sie ein Gefühl auslösten, er werde »ersticken«. Dieses Gefühl stand in Verbindung mit dem prototypischen Ereignis, daß er sich als Säugling verschluckt hatte und zu ersticken drohte. Erst das Primal ermöglichte die Verknüpfung, weil der Patient in der Therapie in der Lage war, entlang der Primärkette hinabzusteigen und die Basis für sein Symptom zu fühlen — und das hätte auch der brillanteste Therapeut nie für ihn tun können. Deshalb ist der einzig mögliche Experte in einer Psychotherapie nur der Patient selbst.

Wenn ich von einem Weg spreche, der an der Peripherie der Abwehrstruktur beginnt, bediene ich mich einer mehr als metaphorischen Sprache. Grob gesagt, entwickelt sich das Gehirn während des Reifungsprozesses konzentrisch, so daß jene Gehirnareale, die sich mit dem Überleben befassen, sich als erste entwickeln und am wenigsten differenziert sind. Das bedeutet gleichzeitig, daß in diesen Arealen registrierter Schmerz am wenigsten Zugang zu Bewußtsein hat. Bei Neurose löst ein Trauma dritter Ebene oft im innersten gelegene Abwehrmechanismen aus, so daß selbst bei einer geringfügigen späteren Ablehnung das System agiert, als gehe es um Leben oder Tod, und all seine Reserven in Richtung Flucht oder Kampf mobilisiert. Erst wenn wir die Peripherie der Abwehr durchdringen, besteht die Möglichkeit, zu den inneren Bereichen des Speichers vorzudringen.

 

Vielschichtige Interaktionen

Bei dem Reifungsprozeß des Gehirns wird jedes neue Trauma repräsentiert und dann holographisch auf immer höheren Ebenen des Neuralrohrs im Gehirn re-repräsentiert. So entwickelt sich eine Primärkette, bei der spätere Traumata verwandte Schmerzen erster Ebene reaktivieren. Das bedeutet, daß in jedem Stadium des zerebralen Reifungsprozesses eine Einprägung des Traumas stattfindet, und mit fortschreitender Entwicklung des Gehirns verbindet sich jede Einprägung mit anderen verwandten traumatischen Einprägungen; die frühen Einprägungen werden also mit späteren verknüpft. Diese Fusion und Repräsentation geht ständig weiter und wird mit fortschreitendem Reifungsprozeß immer komplizierter und komplexer. 

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Zur Veranschaulichung ein Beispiel: Bei der Geburt eines Kindes kommt es zu einem traumatischen Zwischenfall, der die Atmung beeinträchtigt, so daß als prototypische Reaktion der ersten Ebene ein unregelmäßiges Atmungsverhalten entsteht. Später dann wird dieses Kind zu früh zum Sprechen gezwungen. Das Atmungsverhalten wird auf höheren Ebenen des Gehirns repräsentiert und beeinträchtigt das Sprechen — denn Atmung ist das Vehikel für die Lautbildung. Das Endresultat dieser verschiedenen Traumata kann dann Stammeln oder Stottern sein.

Noch später gesellen sich zu den sprachlichen Ausdrucksformen die entsprechenden Hand- und Armbewegungen und geben der Art, wie dieser Mensch seine Gefühle äußert, ein umfassendes charakteristisches Gepräge. Die Erklärung dafür liegt in dem holographischen Muster der Gehirnentwicklung. Jedes neue Trauma fügt der Gesamteinprägung ein weiteres Stück hinzu; wenn dieser Mertsch in der Primärtherapie entlang der Primärkette zurückgeht, erhellt jedes Wiedererleben der Traumata einen besonderen Aspekt seines umfassenden Verhaltensmusters. Eines Tages hat er Primals auf der ersten Ebene — er fühlt das Geburtstrauma so, wie es sich auf die Atmung auswirkte —, und dann und nur dann kann das gesamte Sprechverhalten, das er von Geburt an entwickelte, tiefgreifend verändert werden. Das zeigt, wie die eigentliche Bedeutung des Begriffes »Persönlichkeitsveränderung« verstanden werden sollte: als basale und organismische Veränderung, die alle Funktionsaspekte eines Menschen ergreift und nicht nur ein oberflächliches Verhalten.

Und das umreißt bereits das eigentliche Problem jener Methoden, die gemeinhin in den verschiedenen Kliniken bei sprachlichen und sexuellen Störungen praktiziert werden. Sie befassen sich nur mit den äußeren, in jüngerer Zeit erworbenen Manifestationen einer langen und tief verankerten Primärkette. Sie versuchen ein Problem zu lösen, das tiefe Wurzeln hat, die mit Sprache oder Sexualität unmittelbar nur wenig zu tun haben; sie versuchen die Probleme von außen nach innen zu lösen, anstatt von innen nach außen.

Frigidität zum Beispiel kann ihren Ursprung darin haben, daß sich der Körper gegenüber unerträglichem Schmerz erster Ebene, der mit Sexualität nichts zu tun hatte, abgeblockt hat. Mit dem Einsetzen von Sprachverständnis beginnt ein solcher Mensch sexuelle Hemmungen in begriffliche Vorstellungen zu übersetzen. Mit fortschreitendem Reifungsprozeß wird die allgemeine repressive Atmosphäre in Elternhaus, Schule und Kirche gleichermaßen eingeprägt, bis die Kette schließlich vollständig ist und sich ein sexuelles Problem entwickelt. 

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Zu glauben, eine Vorlesung oder Demonstration einer besonderen verhaltenstherapeutischen Technik könne diese ganze persönliche Geschichte ungeschehen machen und das Problem lösen, hieße extrem oberflächlich sein. Die Primärkette muß in Betracht gezogen werden, weil das Gehirn in seiner ganzen Komplexität berücksichtigt werden muß. Denn an jedem Aspekt unseres Verhaltens ist auf die eine oder andere Art das gesamte Gehirn beteiligt, und bei jeder Verhaltensreaktion müssen alle drei Ebenen berücksichtigt werden, weil die drei Bewußtseinsebenen in ständiger Interaktion stehen.

Teil sexueller Funktionstüchtigkeit ist ein Sinn für Zeit, Rhythmus und Koordination der Bewegungs­abläufe. Diese Funktionen sind der ersten Ebene zuzuordnen und können durch Traumata beeinträchtigt werden, die sexueller Funktionsfähigkeit vorausgehen. Das mag verdeutlichen, wie jeder Aspekt unseres Gehirns an unserem Verhalten unmittelbar beteiligt sein kann. Es gibt keinen Weg, einem Menschen einen Sinn für Rhythmus zu vermitteln, dessen natürlicher Rhythmus in den ersten Tagen oder Wochen seines Lebens gestört wurde. 

Ich glaube, wir haben die Häufigkeit von Frigidität bei Frauen erheblich unterschätzt, einfach weil viele Frauen keinen Zugang zur ersten Ebene und infolgedessen keine Vorstellung von wirklicher Sexualität haben. Selbst wenn sie zu Orgasmen gelangen, handelt es sich doch mit großer Wahrscheinlichkeit nur um lokale Orgasmen, die nicht den gesamten Körper mit einbeziehen. Die letztliche Lösung von Problemen wie Frigidität liegt im Zugang zum Bewußtsein erster Ebene. Frigidität ist deshalb ein so hartnäckiges Problem und nur mit sehr großem Zeitaufwand reversibel, weil es Zeit braucht, um zur ersten Ebene vorzudringen; erst dann werden die körperlichen Abwehrmechanismen aufgebrochen.

 

Hat die entscheidende Abspaltung von einem Primärfeeling einmal stattgefunden, dann erweckt ein späteres ähnliches Trauma nicht etwa ein völlig neues Gefühl, es bestärkt vielmehr das ursprüngliche. Ein Neugeborenes zum Beispiel kann sich allein gelassen und zu Tode geängstigt fühlen, wenn es unmittelbar nach der Geburt von seiner Mutter getrennt und in einen Plastikbehälter gesteckt wird. Wiederholt sich dieses Trauma oft genug, kann das eine panische Angst erster Ebene vor dem Alleingelassenwerden erzeugen. Wird dieses Kind später dann zum Beispiel am ersten Tag im Kindergarten von seiner Mutter allein gelassen, so kann das die gleiche Panik hervorrufen und die Todesangst verstärken. 

Läuft diesem Menschen später dann die Freundin davon, kann das Ängste und Schrecken auslösen, die sich mit den Traumata erster und zweiter Ebene verbinden und eine schwere, übertriebene Reaktion hervorrufen. Die Kette ist vollständig. Die durch das gleiche Feeling miteinander verbundenen Begebenheiten werden zusammen in den tiefer gelegenen Gehirnzentren gespeichert und sind dem Bewußtsein in umgekehrter Reihenfolge ihrer Ablagerung zugänglich. Wie schwer oder leicht Zugang zu erlangen ist, hängt offenbar auch von dem »Spannungsgehalt« des Traumas ab.

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Einerlei wann schwerwiegender Schmerz abgelagert wird, er wird nicht zum Bewußtsein aufsteigen, ehe der Organismus nicht andere, geringere Schmerzen erlebt und gelöst hat. In der Primärtherapie bauen wir keine Schmerztoleranz auf; wir reduzieren vielmehr systematisch das vorhandene Ausmaß an Schmerz, damit das Bewußtsein mehr tolerieren kann. Wenn ein Primärpatient Traumata zu erleben beginnt und allmählich von Erinnerungen und Begebenheiten dritter Ebene zu solchen erster Ebene herabsteigt, stellt er fest, daß das Erleben jedesmal tiefer und umfassender wird, obwohl er immer das gleiche Feeling hat. Die Einsicht wird tiefgreifender. Er steigt wirklich in seinen zentralen Kern hinab und wird voll und ganz er selbst.

Davon ausgehend können wir Dinge wie die Freudsche »Trennungsangst« verstehen. Wir sehen, daß jede Überreaktion in einer gegenwärtigen Situation auf eine Primäranlage zurückzuführen ist. Die »Trennungsangst« ist eine überempfindliche Reaktion, bei der frühe unbewußte Erinnerungen durch ein gegenwärtiges Ereignis ausgelöst werden und in das Bewußtsein aufzusteigen beginnen. Die Angst ist auf die Furcht zurückzuführen, daß man diesen aufsteigenden katastrophalen Schmerz möglicherweise fühlen könne. Einem Mann, der extrem darauf reagiert, daß ihm seine Freundin davongelaufen ist, helfen auch die wohlmeinendsten Tröstungen nichts, weil er sich in Wirklichkeit mit abgespaltener Panik erster Ebene auseinandersetzt. In der Primärtherapie benutzen wir dieses Material dritter Ebene als Schlüssel zu Erinnerungen zweiter und erster Ebene.

Was prototypische Reaktionen betrifft, so steht fest, daß sie weder symbolisch gelernt noch durch »Umlernen« behoben werden. Eine tachykardische Reaktion [»Herzjagen«] auf ein Geburtstrauma ist ein artspezifisches Verhalten, es ist angeboren und reflexhaft. Herzjagen als Reaktion auf späteren Streß kann mithin nicht behoben werden, ehe man nicht entlang der Kette in die prototypische Situation zurückgestiegen ist, in der es seinen Anfang nahm. Das hat Konsequenzen für die Lösung eines Problems wie Herzbeschwerden (und vieler anderer psychosomatischer Krankheiten). Ein Mensch, der mit fünfzig Jahren einen Herzinfarkt erleidet, muß mit einiger Wahrscheinlichkeit mit einem weiteren rechnen, und das nicht nur, weil sein Herz jetzt geschwächt und anfälliger ist, sondern auch weil es aufgrund seiner persönlichen Geschichte ein Leitorgan für Streß ist. So gesehen, ist das Herz Teil einer charakteristischen Hierarchie von Reaktionen geworden, einer Verkettung von Urtraumata eingewoben, die neurologisch miteinander in Wechselbeziehung stehen.

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Es gibt keinen Weg, die neuronale Reaktionskette zu durchbrechen. Der Prozeß der Primärtherapie basiert auf der Annahme, daß bei gleichen Voraussetzungen jene Traumata, die den geringsten Schmerz beinhalten, als erste Zugang zum Bewußtsein haben; jede einzelne Ebene muß zuerst einmal behandelt und gelöst worden sein, ehe man zur nächsten Erlebnisebene hinabsteigen kann. Jeder künstliche Versuch, die Kette zu durchbrechen, wie zum Beispiel durch LSD, kann zu verheerenden Ergebnissen führen, auf die ich im folgenden noch näher eingehen werde.

Andererseits ist es durchaus möglich, in der Primärtherapie gleich zu Beginn in Traumata erster Ebene zu geraten. Das ist auf zwei entscheidende Faktoren zurückzuführen: erstens auf das Ausmaß katastrophalen frühen Schmerzes und zweitens auf die Stabilität später erworbener Abwehrmechanismen. Diese beiden Faktoren stehen in einer Wechselbeziehung. Wenn man von vornherein kontinuierlich extremem Streß ausgesetzt ist, besteht gar keine Chance, hinreichend funktionsfähige Abwehrmechanismen zu errichten, und das führt zu anhaltenden, offenen Angstzuständen.

Patienten, die gleich zu Beginn der Primärtherapie in Traumata erster Ebene stürzen, sind meistens hochgradig gestörte Menschen, zum Beispiel Drogenabhängige. Das erklärt sich dadurch, daß der Schmerz immer nur ein kurzes Stück von ihnen entfernt und somit etwas war, womit sie sich in jedem Augenblick ihrer Existenz, im Wachen wie im Schlaf, auseinandersetzen mußten. Der »Zwangsneurotiker« hingegen hat starke Abwehrmechanismen und kann von seinem Material erster Ebene buchstäblich Jahre weit entfernt sein.

Der primärtherapeutische Prozeß bewegt sich normalerweise von der Peripherie des Abwehrsystems zum Zentrum — soweit es das Gehirn betrifft, ist das fast wörtlich zu nehmen. Wollte man diesen Prozeß schematisieren, so würde sich etwa folgendes Bild ergeben: 33333333 22332223 2222222 122211122 1111112 1111111. 

Das Leitmotiv dieses Schemas ist, daß der Spannungsgehalt zusammen mit dem Zeitpunkt des Auftretens eines Urschmerzes dessen Zugänglichkeit zum Bewußtsein bestimmt. Wie schwerwiegend Neurosen und neurotische Zwänge jeweils sind, hängt davon ab, wie weit man die Kette in der Therapie hinabsteigen muß. Wenn man ein Großteil des Schmerzes zweiter Ebene löst, ist es durchaus möglich, daß man dann nicht mehr unter somatischen Symptomen leidet, doch das heißt noch keineswegs, daß die Neurose bereits geheilt ist. Man hat vielmehr weiterhin Primals, vielleicht noch jahrelang, und zwar so lange, bis der größte Teil der Traumata erster Ebene wiedererlebt wurde. Wir gehen in der Regel davon aus, daß nach Auflösung der schwerwiegendsten Schmerzen zweiter Ebene die Symptome der Körperwand beseitigt sind; Symptome erster Ebene, wie Asthma und Kolitis, werden dann jedoch noch weiterhin bestehenbleiben.

Die Tatsache, daß ein Patient gleich zu Beginn seiner Therapie zu Primals erster Ebene vordringt, bedeutet nicht notwendiger­weise, daß er schneller gesund werden wird. Wenn es sich dabei um ungewöhnlich schwere Traumata handelt, kann er lange Zeit auf dieser Ebene stehenbleiben.

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Das trifft insbesondere zu, wenn keine hinreichende Fähigkeit vorhanden ist, das Ausmaß aufsteigenden Schmerzes zu integrieren. In einem solchen Fall hat der Patient zwar viele Primals, nur findet er zwischendurch kaum Erleichterung; das kann sich über viele Monate erstrecken, bis die durch die Therapie eröffnete Primärflut abflaut. Solange der Patient Primals über Erlebnisse erster Ebene hat, können seine Abwehrmechanismen zweiter und dritter Ebene noch voll in Funktion sein; ein solcher (männlicher) Patient könnte beispielsweise noch immer das Bedürfnis haben, sich Frauenkleider anzuziehen oder nach wie vor viel Zeit mit Beten verbringen. 

Das Problem bei Halluzinogenen wie LSD liegt darin, daß sie Zugang zu subkortikal gespeichertem Schmerz schaffen und kortikale Kontrolle vermindern; die Folge ist, daß ein Mensch, der LSD nimmt, von ungeordneten Schmerzen überflutet wird und eine nur unzulängliche kortikale Fähigkeit hat, das, was aufsteigt, zu integrieren. Anstatt die Traumata erster Ebene, die durch die Droge nach oben gewirbelt wurden, zu fühlen, wird dieser Mensch den Schmerz symbolisieren. Anstatt zu fühlen, daß er bei der Geburt von grellem Neonlicht geblendet worden war, wird er farbige Lichter oder das Leuchten einer fliegenden Untertasse halluzinieren. LSD ist einfach deshalb ein Halluzinogen, weil es Symbolisierung und Schmerzüberflutung, nicht aber wirkliches Urerleben erzeugt. Nicht daß die Droge Halluzinationen erzeugt, sie ruft lediglich Schmerz wach, der dann halluziniert wird. Halluzinationen sind nur eine von vielen Möglichkeiten, Primärüberflutung auszudrücken.

Wenn Schmerzen bei einem Primal in der richtigen Reihenfolge gefühlt werden, werden sie unmißverständ­lich voll und ganz integriert. Das Bewußtsein akzeptiert sie, und die Tatsache, daß es zu Schmerz und nicht zu Symbolisierung kommt, heißt de facto, daß Integration stattfindet. Es bedarf anschließend keiner besonderen Integrationsübungen. Gelegentlich wird der Einwand gemacht, schwere Schmerzen zu fühlen habe einen Effekt, der das genaue Gegenteil von Integration, nämlich Desintegration bewirke, und anschließend müsse man dann wieder »ins Lot« gebracht werden. Das ist jedoch keineswegs der Fall. 

Desintegrierend ist vielmehr das Blockieren frühen Schmerzes, es trennt einen Bereich des Gehirns von einem anderen, einen Teil des Körpers von einem anderen und Bereiche des Denkens und Fühlens untereinander. Integration wird durch das die Blockierungen durchbrechende Primal erlangt; bei unseren wissenschaftlichen Untersuchungen können wir sehen, daß die Aktivitäten der rechten und linken Hemisphäre diese Integration widerspiegeln. Das Primal integriert den Körper mit dem Geist, so daß man anschließend eine natürliche Kontrolle über alle Funktionen des Körpers gewinnt. 

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Es ist möglich, daß ein Mensch unter einem Trauma erster Ebene leidet — zum Beispiel als Säugling unter starkem Hunger gelitten hat — und später dennoch angemessen funktionsfähige Abwehrmechanismen entwickelt. Wenn Eltern einem Kind die Möglichkeit lassen, mit ihnen auszukommen — indem es sich beispielsweise als »kluges« Kind oder als »Draufgänger« bewährt —, wird es dem Kind ermöglicht, seinen frühen Schmerz zu verdecken. Dieser Mensch könnte später dennoch ein Magengeschwür entwickeln, nur würde er wahrscheinlich nicht unter chronischer offener Angst leiden. Interessanterweise beinhaltet die Behandlung seines Magengeschwürs genau das, was er als Säugling entbehrte — nämlich viel, viel Milch.

Es gibt offenbar eine Überschneidung der Schmerzebenen. Bei den meisten von uns, die wir auf allen Ebenen traumatisiert sind, ist das der Fall. Wir unterscheiden uns nur darin, wie umfangreich und wie intensiv die Traumata zum Zeitpunkt ihres Entstehens waren. Es gibt einige Kinder, die in den ersten Lebensjahren, solange sie niedlich und hilflos sind, zumindest ein gewisses Maß an Liebe erhalten. Sobald sie aber negative Seiten entwickeln — wenn sie versuchen, ihr eigenes Leben zu führen —, beginnen die Schwierigkeiten. Sie sind Repräsentanten der zweiten Ebene, sie zeigen kaum Symptome der Mittellinie wie Kolitis, Asthma, Hämorrhoiden oder Magengeschwüre, dafür aber Persönlichkeitsstörungen und somatische Beschwerden in der Körperwand wie Spannungskopfschmerzen, verkrampfte Gesichts- oder Rückenmuskulatur.

Wenn man sich vor Augen hält, daß früher Schmerz während des Reifungsprozesses des Gehirns auf verschiedenen Ebenen repräsentiert wird, dann dürfte verständlich sein, warum ich Primärtherapie als »umgekehrte Neurose« bezeichne. Denn während sich der Schmerz von innen nach außen ablagerte, verläuft die Heilung in umgekehrter Richtung, nämlich von der Peripherie nach innen. Mit jedem Hinabsteigen zu einer tieferen Ebene wird der Mensch ein stärker fühlendes Wesen. Jene, die nur Zugang zur zweiten Ebene haben, sind demnach weniger fühlende Menschen als jene, die prototypische Traumata erster Ebene wiedererlebt und integriert haben.

Eine der Methoden, diese Hypothesen zu erhärten, besteht darin, daß wir Patienten in der Primärtherapie über sehr lange Zeit hinweg beobachten. Wenn sich ein Patient Szenen erster Ebene nähert, leidet er vorübergehend unter absonderlichen Empfindungen und Vorstellungen. Ein solcher Patient fühlt sich oft dem Wahnsinn nahe. Seine Reaktionen sind primitiver und zufälliger als sonst und führen gelegentlich zu vorübergehenden Halluzinationen. Die Befürchtung, verrückt zu werden, legt sich, wie schon gesagt, sobald das Feeling gefühlt wird. Wenn bei Menschen, die nicht in primärtherapeutischer Behandlung sind, Traumata erster Ebene reaktiviert werden, kann das tatsächlich zu Wahnsinn führen; der infolgedessen eintretende seelische Zusammenbruch ist die durch erschütternden, nicht integrierbaren Schmerz verursachte Fragmentierung.

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Allein das Wissen, daß es möglich und erstrebenswert ist, jenen schwarzen, namenlosen Schrecken oder Terror wiederzuerleben, der sich in den ersten Lebensmonaten ereignete, hilft Primärpatienten sich zu stabilisieren, denn sie wissen, daß sie es mehr oder weniger ungestraft riskieren können, ihn zu fühlen. Ja, Feeling ist das eigentliche Gegenmittel gegen möglichen Wahnsinn. Das schwarze leere Loch ist aus sich selbst heraus ein verknüpftes Gefühl und bedarf keiner erklärenden Worte. Die Tatsache, daß ein Patient wahrnimmt, daß er sich in seiner Vergangenheit befindet und einen Augenblick ohne Worte und begriffliche Vorstellungen wiedererlebt, ist für ein vollständiges Primal Verknüpfung genug. Er hat seinen Schmerz »anerkannt«.

Bei einem Menschen, der aus einem dieser aufsteigenden präverbalen Schmerzen erster Ebene Sinn zu machen sucht, kommt es zu Paranoia zu absonderlicher Gedankenbildung, weil etwas rationalisiert werden soll, was keine verbale Basis hat. Die Gedankenbildung muß verzerrt und unwirklich sein, weil sie dazu dient, das Unerklärliche zu erklären. Das ist der Grund, warum man, wenn man sich seinem Schmerz erster Ebene erstmalig nähert, zunächst glaubt, man werde verrückt. Denn beim ersten Mal gibt es tatsächlich keinen Weg, in einem Erlebnis einen »Sinn« zu sehen — keine Formel, kein Bezugssystem, das es verständlich machen könnte. Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal daran erinnert, daß Feeling und Worte über Feeling verschiedenen Ebenen und verschiedenen Strukturen zuzuordnen sind. 

Halluzinationen können im Vergleich zu paranoiden Wahnvorstellungen als schwerere Störungen angesehen werden, weil sie primitivere, nicht verbale Reaktionen sind. Ich bin der Auffassung, je beschützter (je tiefer) der Schmerz, um so größer die Wahrscheinlichkeit, daß er generalisiertes neurotisches Verhalten erzeugt, insbesondere prototypisches, ungelerntes Verhalten.

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Traumata erster Ebene haben nicht nur lebenslange Auswirkungen, sie haben darüber hinaus auch weitreichende Folgen auf die Bereiche, die zu jenem Zeitpunkt bereits funktionsfähig waren. Je weiter das Gehirn sich bereits entwickelt hat und zwischen den einzelnen Funktionen differenziert, ehe es aufgrund von Neurose fraktioniert wird, um so stärker sind spätere Traumata dann eingegrenzt und in ihren Auswirkungen beschränkt. 

Ein anderes Gefühl, das sich bei einem Patienten, der sich Schmerz aus erster Ebene nähert, einstellen kann, ist das Gefühl, er sei im Begriff, einen Anfall zu erleiden. Primals erster Ebene zu erleben hat in der Tat aufgrund des extremen Schmerzes, der innerhalb des Systems aufbricht, oft etwas Konvulsivisches. Der Körper kann diesen Ansturm nicht reibungslos absorbieren, weil er relativ wenig abgewehrt ist, und deshalb windet und krümmt er sich in Krämpfen. Ich bin der Auffassung, daß psychogene Epilepsie auftritt, wenn es zu einer so starken Schmerzüberlastung kommt, daß das System nicht mehr über hinreichende Reserven verfügt, um damit auf übliche Art fertig zu werden. Ein Anfall kann dann für das Gehirn wirklich die einzige Möglichkeit der Spannungsabfuhr sein. Ein solcher Anfall ist eine massive, unwillkürliche Entladung nervaler Spannung.

Elektroschock-Therapien erzeugen unter Umständen bei Patienten das, was sie von sich aus nicht schaffen, nämlich massive Spannungsabfuhr. Psychogene Anfälle sind im großen und ganzen ein Ergebnis vielschichtiger Interaktionen. Patienten, bei denen es in der Primärtherapie plötzlich zu Anfällen kommt, stecken in der Regel in präverbalen Erlebnissen, die sich ereigneten, lange bevor ein ausgereifter Kortex vorhanden war, der die Last des Schmerzes hätte auf sich nehmen können. Folglich beginnt das Körpersystem das physische Trauma zu entladen. 

Ich glaube, daß ein Großteil zwanghafter, neurotischer Sexualität ein unbewußter Versuch ist, eine Spannungsabfuhr erster Ebene herzustellen. Für den Neurotiker ist das einer der wenigen Wege, sich eine massive, konvulsivische Spannungsentladung zu verschaffen. Primärpatienten, die in ihrer Therapie schon relativ weit sind, stellen häufig fest, daß sie durch konvulsivische Orgasmen unmittelbar in Geburtsprimais gestürzt werden. Kurz gesagt, für den Neurotiker kann ein Orgasmus eine Entladung ungelösten konvulsivischen Schmerzes sein, und der Grund für starke Konvulsionen beim Orgasmus ist demnach auf einen Druck erster Ebene und nicht auf normales Sexualverhalten zurückzuführen.

Zwanghafte Sexualität ist mithin ein vorbeugendes Mittel gegen mögliche Anfälle oder gegen Psychose. Wenn das menschliche System rigide und von internalisierten moralischen Geboten, die eine freie Sexualität unmöglich machen, durchsetzt wird, dann wandert die Spannungsabfuhr erster Ebene vom sexuellen Apparat in den Kopf (Anfälle).

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Hospitalisierten psychisch Kranken, die auf sexuelle Betätigung verzichten müssen, wird gleichzeitig die Möglichkeit zur Spannungsabfuhr entzogen. Es wäre wesentlich besser, ihnen beizubringen, wie wichtig Sexualität und Masturbation ist, und ihnen zu helfen, sich mit ihren Körpern »gehenzulassen«. Es erscheint fast trivial: anstatt sich in der Nervenheilanstalt allmorgendlich zur Elektroschockbehandlung anzustellen, sollten sich die Patienten für ihren allmorgendlichen Sex anstellen — eine Auffassung, die absonderlich klingen mag, aber ungemein ernst ist. Das Problem liegt natürlich darin, daß freie Sexualität für psychisch Kranke oft mehr und nicht weniger Angst zur Folge hat. 

 

Träume

Ich bin der Ansicht, daß viele unserer regelmäßig (oft ein ganzes Leben lang) wiederkehrenden Alpträume deshalb auftreten, weil der Schlaf unser bewußtes Abwehrsystem so weit schwächt, daß Schmerz erster Ebene freigesetzt werden kann. Alpträume zeigen auch an, wieviel Druck wir tagsüber zurückhalten und wie hart unsere Systeme tagtäglich arbeiten müssen, nur um den Schmerz im Schach halten zu können. In der Primärtherapie führen wir den Patienten letztlich in diesen Alptraum hinein, und es ist demnach kein Wunder, daß Furcht und Schrecken dazugehören. Diese Phase in der Primärtherapie ist eine gefährliche Zeit, denn wenn der Patient wirklich zu fühlen beginnt, wird er allmählich immer mehr seine grauenhaften Schmerzen erster Ebene fühlen. Das ist der Zeitpunkt, an dem er am liebsten davonlaufen würde, aber er weiß, daß er für den Rest seines Lebens krank bliebe, wenn er das täte.

Es ist möglich, daß unser Traumleben auf allen drei Ebenen operiert. Wenn im Verlauf eines Tages genügend alte Schmerzen wachgerufen wurden, dann ist es sehr gut möglich, daß man Träume erster Ebene hat — und das sind Alpträume. Weniger schwere Träume könnten Material zweiter Ebene zum Inhalt haben. Es gibt zwei Faktoren, die Hinweise darüber geben können, auf welcher Ebene ein Traum operiert: zum einen das Ausmaß der Symbolisierung — wie vage oder absonderlich und wie fern der Realität — und zum anderen die Intensität des Feelings im Traum. Ist der Traum mit schweren oder nur mit leichten Angstgefühlen verbunden? Sind die Gestalten real oder schattenhaft? Sind es Menschen oder nichtmenschliche Wesen (Ungeheuer, Tiere)? So viele von uns haben deshalb häufig wiederkehrende unerklärliche Alpträume, weil sie sich darin mit unzugänglichem Material erster Ebene auseinandersetzen, das im Wachzustand nicht in das Bewußtsein vordringen kann.

Bei einem Feeling (und bei einem Symbol) während eines Alptraums geht es um Leben oder Tod. Wir kämpfen in einem Alptraum um unser Leben, weil wirklich lebensbedrohender Schmerz erster Ebene aufsteigt.

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Diese Gefühle, in denen es um Leben und Tod geht, bestätigen, wie katastrophal Schmerz erster Ebene ist. Wir »erträumen« diese Gefühle nicht willkürlich; sondern umgekehrt, diese Gefühle veranlassen uns, Geschichten zu erträumen, um sie plausibel zu machen. Dieses Feeling ist real; nur die Geschichten sind verändert worden, um den Menschen zu schützen.

Wir müssen verstehen, daß Träume ein Ergebnis vielschichtiger Interaktion sind; so kann ein relativ einfaches Tageserlebnis ein Feeling zweiter Ebene auslösen, das sich seinerseits wiederum mit ihm verwandtem Schmerz erster Ebene verbindet. Selbst wenn ein Mensch die Komponenten zweiter Ebene eines regelmäßig wiederkehrenden Alptraums gefühlt hat, ist damit zu rechnen, daß er in gemäßigter Form weiterhin auftritt, solange seine Basis erster Ebene nicht vollends beseitigt ist. 

Im allgemeinen gibt es zwei Möglichkeiten, Träume erster Ebene von Träumen zweiter Ebene zu unterscheiden, einmal aufgrund der Natur des Feelings im Traum ob es grauenerregend oder nur etwas unheimlich ist — und zum anderen aufgrund der Kompliziertheit der Symbolisierung. Träume erster Ebene sind recht eindeutig, mit einfacher und direkter Symbolisierung (beispielsweise durch einen dunklen Tunnel an das Tageslicht kriechen, oder sich in einem Raum befinden, in dem die Wände immer näher rücken). Ein Traum zweiter Ebene hat mehr Geschichte, mehr Menschen, eine detailliertere und abwechslungsreichere Handlung. Träume erster Ebene haben einen einfachen, direkten Handlungsablauf. Ein Mensch mit unzureichenden Abwehrmechanismen, der seinen Gefühlen nahe ist, kann ständig unter Alpträumen leiden, ohne daß ein besonderes auslösendes Ereignis vorliegen muß. Ein solcher Mensch ist offensichtlich ein guter Kandidat für die Primärtherapie, denn sein Abwehrsystem ist bereits unwirksam, bei ihm ginge es in der Therapie dann nur noch darum, ihm zu helfen, das zu fühlen, was bereits in ihm hochsteigt. 

Je offener der Zugang ist, den ein Mensch zu seinem Feeling hat, um so weniger symbolisch werden seine Träume sein. Wenn Abwehrdämpfer fehlen, werden im Schlaf Gefühle aufsteigen, die mit sehr realen Symbolen verbunden sind, welche diese Gefühle widerspiegeln. Bei Neurotikern, die kaum Zugang haben, dämpfen die Abwehrmechanismen dritter Ebene tiefer gelegenen Schmerz und müssen Gefühle irgendwie >interpretieren<. Es kommt dann offensichtlich zu einer verzerrten Symbolisierung, die von der Natur des Schmerzes und von der Dichte des Abwehrsystems abhängt. Der Abstand, den man von seinen Schmerzen erster Ebene hat, wird das Ausmaß der Symbolisierung bestimmen.

Primärpatienten haben erstaunlich reale, nicht-symbolische Träume. Wenn bei ihnen im Traum ein verzerrtes Symbol auftaucht, können sie sich (im Schlaf) sagen: »Das ist ein Symbol für ein Feeling.« Dann werden sie sich in das Feeling hineinfallen lassen, Verknüpfungen herstellen und es auflösen, und das alles im Schlaf.

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Der allmähliche Abbau der Symbolisierung im Traum ist ein Index für den Fortschritt in der Behandlung; mehr Bewußtsein bedeutet weniger Symbolisierung und weniger neurotisches (symbolisches) Verhalten im Wachzustand. Bewußtsein ist somit das eigentliche Gegenmittel bei Neurose (symbolisches Agieren), im Wachen wie im Schlaf. 

 

Ebenen des Bewußtseins

Wenn wir im Hinblick auf Neurosen von »Heilung« sprechen, muß der Leser verstehen, daß das Verhalten eines Menschen so lange von unbewußten Primärkräften angetrieben wird, bis die wesentlichen Traumata erster Ebene in der Primärtherapie erlebt werden. Wenn ein wesentlicher Teil des Materials zweiter und dritter Ebene gelöst ist, werden viele der anfänglichen Symptome (starke Zwänge und Agieren) beseitigt sein, doch das heißt noch keineswegs, daß nicht doch noch unbewußte Kräfte vorhanden sind, die neurotisches Verhalten erzeugen; folglich ist der Neurotiker dann noch immer nicht frei. Unbewußtheit ist das, was Freiheit verhindert und uns die freie Entscheidung nimmt. Das Unbewußte sperrt den Neurotiker in eine Zwangsjacke und treibt ihn gleichzeitig an. Es gibt nur eine Freiheit — Bewußtsein. Ein bewußtes Leben ist ein freies Leben.

Wirklich erstaunlich am menschlichen System ist, daß es eine natürliche Sequenz des zum Bewußtsein aufsteigenden Urschmerzes zu geben scheint, wobei der am ehesten zugängliche als erster verknüpft wird. Ein Patient, der in sein Feeling hinabsteigt, stößt auf ein interessantes Phänomen - jeder Schmerz scheint um so tiefer und umfassender zu sein, je weiter er hinabsteigt; es ist, als durchschritte er verschiedene Ebenen des Erlebens. Tatsächlich spielt sich dabei folgendes ab: das gleiche Feeling, das zunächst auf der dritten Ebene wiedererlebt wird, wird später mit weiterreichenden Implikationen und tieferen Einsichten auch auf der zweiten und ersten Ebene erlebt; und zwar auf umfassendere, das Gesamtkörpersystem einbeziehende Weise, da der Körper dann sehr viel offener und weniger blockiert ist. 

Es müßte inzwischen klar sein, daß, wenn chronische Spannung das Ergebnis von Urschmerz ist, der keinen Zugang zum Bewußtsein hat und ständig auf tiefere Ebenen zurückstrahlt, Zugang und Verknüpfung dann die Mittel sind, die diese Spannung dauerhaft beseitigen. Das eigentliche Heilmittel ist mithin Bewußtsein. Neurose entwickelt sich auf drei Ebenen und in drei Stadien, und sie läßt sich therapeutisch in ebenfalls drei Etappen beseitigen. Es gibt keine Möglichkeit, Probleme der ersten Ebene im Rahmen der dritten Ebene zu lösen.

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Primärpatienten können sich oft in ein und derselben Sitzung von Begebenheiten dritter Ebene zu solchen erster Ebene bewegen. Das hängt völlig davon ab, wieviel vorher bereits aufgelöst wurde, und wie abgewehrt ein Patient noch ist. Ein Patient zum Beispiel erlebte eine Szene wieder, in der er als Zweieinhalbjähriger von seinen Großeltern zum Sprechen gezwungen wurde. Von dort aus geriet er dann plötzlich in eine noch frühere Szene; er lag als zwei Monate alter Säugling hungrig und schreiend im Bettchen, als ihm plötzlich etwas in den Mund geschoben wurde (eine Flasche), worüber er ungeheuer erschrak. Diese beiden oralen Traumata betrafen verschiedene Erlebnisebenen, standen aber in enger Beziehung zueinander. Gemeinsam bildeten sie die Primäranlage für sein späteres Stottern.

Eine Patientin begann ein Primal mit der Bemerkung, daß ihr der Raum zu eng werde, daß die Wände sie erdrückten. Der Grund dafür, daß sie sich gerade an jenem Tag über den Raum beklagte, lag darin, daß sich eine bestimmte Begebenheit erster Ebene zum Bewußtsein vordrängte. Wäre sie nicht in der Therapie, wäre sie vielleicht nur angespannt gewesen, hätte sich »eingeengt« gefühlt, raus an die frische Luft gewollt, irgendwohin, wo sie »Raum zum Atmen« gehabt hätte. Auch wenn ihr Verhalten dann realistisch und angemessen erschienen wäre, so hätte es doch eine Reaktion auf eine ungelöste alte Situation wiedergegeben. In dem besagten Primal fühlte sie den Schmerz darüber, daß sie als Kind ihr Zimmer immer teilen mußte und nie genug Platz für sich hatte. Von dort aus ging sie dann in einen Schmerz erster Ebene über, der sich auf ihre Geburt bezog, auch da wieder hatte sie nicht genügend Platz — sie war ein Zwilling.

Patienten können in ihrer Therapie durchaus an einen Punkt gelangen, an dem es dann kein Zurück mehr gibt, ein Punkt, an dem zwischen allen Schmerzebenen fließender Zugang besteht. Wenn ein Patient auf jeder Sitzung die Kette hinabsteigen kann, ist damit zu rechnen, daß er sich unwiderruflich auf dem Weg zur Gesundheit befindet. 

Meine Hypothese lautet, daß es entsprechend der Entwicklungssequenz des Gehirns drei verschiedene Bewußtseinsebenen gibt. Bewußtsein dritter Ebene ist die intellektuelle, oberste Ebene, sie ist nach außen hin orientiert und mit dem Hier-und-Jetzt befaßt. Bewußtsein zweiter Ebene ist das »fühlende Bewußtsein«, es beinhaltet schmerzhafte Szenen aus der Vergangenheit und umfaßt Sprache nur insoweit, als sie Fühlen widerspiegelt, es ist das, was ich an anderer Stelle das »Limbische Bewußtsein« genannt habe. Die erste Ebene ist eine Bewußtheit des Körpers, ein präverbales Bewußtsein. Bewußtsein erster Ebene beinhaltet präverbale Erinnerungen an physische Traumata; es beinhaltet sensorische Wahrnehmung, den Sinn für Rhythmus und Zeit, für Bewegung und Koordination der Bewegungsabläufe. Bewußtsein erster Ebene ist ausschließlich nach innen gerichtet und befaßt sich mit allen Sinnen des Körpers, vor allem jedoch mit den viszeralen. 

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Ich glaube, daß es zwischen den Bewußtseinsebenen Pufferzonen gibt (wie beispielsweise den limbischen Kortex), die den wechselseitigen Zugang zwischen diesen Ebenen kontrollieren und filtern; dieser Zugang wird im wesentlichen durch das Gewicht des jeweils auf den einzelnen Ebenen befindlichen Schmerzes bestimmt. Der Puffer zwischen den Ebenen eins und zwei wäre körperliche Abwehr — zum Beispiel ein Anspannen der Muskeln —, und der Puffer zwischen den Ebenen zwei und drei hätte etwas mit Sprache, mit Wörtern und Vorstellungen zu tun. Ich bin nicht der Ansicht, daß die Ebenen einander ausschließen, sondern meine eher, daß es bei jedem Menschen jeweils eine dominierende Ebene gibt, so daß wir Menschen entsprechend der für sie charakteristischen Funktionsebene kategorisieren können. Das Ausmaß fließenden Zugangs innerhalb des Gehirns bestimmt die Ebene des Bewußtseins — volles Bewußtsein bedeutet fließende wechselseitige Verbindungen zwischen allen Ebenen.

Wir müssen darauf achtgeben, daß wir reales und falsches Bewußtsein sorgfältig voneinander unterscheiden, denn ein Neurotiker nimmt vieles anders wahr und reagiert darauf entsprechend anders als ein gesunder Mensch. Der Neurotiker kann den belanglosen Satz eines Freundes falsch interpretieren, gerät in Wut und hat alle möglichen Rachegedanken. Der gesunde Mensch würde gar nicht erst verzerrt wahrnehmen und seinen Geist nicht mit derartigen Gedanken belasten. Seine Orientierung dritter Ebene spiegelt klare innere Bahnungen wider und ist ein grundlegend andersartiges Bewußtsein als das des Neurotikers. Der Neurotiker sitzt in einem Speicher blockierter Gefühle und macht von dort aus seine Wahrnehmungen.

Bewußtsein dritter Ebene betrifft auch gegenwärtige Verletzungen. Der Neurotiker kann auf solche Verletzungen extrem reagieren, ohne sich im geringsten darüber klar zu sein, daß diese Reaktionen von der Vergangenheit überlagert sind. Die Heftigkeit seiner Reaktionen entstammt der blockierten Primärkette. Die Reaktion eines gesunden Menschen hat nicht diese Heftigkeit, sie ist der Gegenwart angemessen; der normale Mensch wird von banalen Ereignissen nicht extrem erregt. Das Bewußtsein dritter Ebene des Neurotikers ist ausschließlich nach außen gerichtet, wird von Reizen kontrolliert und hat keinerlei Reflexionsvermögen und kaum Feeling. Er ist rigide und unflexibel und muß es bleiben, weil er gegen Zugang entlang der Primärkette abgewehrt ist, und nur dieser Zugang ermöglicht letztlich eine grundlegende Veränderung.

Bewußtsein zweiter Ebene ist Gefühlsbewußtsein. Ein Beispiel dafür ist Traumbewußtsein. Wir benutzen in unseren Träumen Worte, aber normalerweise sind sie auf die eine oder andere Art auf ein Gefühl bezogen. Während Bewußtsein zweiter Ebene eine Bewußtheit oder Wahrnehmung von Feeling liefert, gibt uns Bewußtsein dritter Ebene eine Bewußtheit dieser Bewußtheit (durch den Gebrauch von Symbolen).

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Jede Bewußtseinsebene steuert für die vollständige Repräsentation eines Feelings etwas anderes bei. Die erste Ebene liefert die »Energie« des Feelings, die Kraft oder den Spannungsgehalt. Die zweite Ebene erzeugt die Qualität des Feelings und drückt es mit emotionalen Reaktionen aus. Die dritte Ebene liefert das volle Verstehen dessen, was gefühlt wird und kommuniziert dieses Feeling letztlich symbolisch. Mithin sind Energie, Qualität und Verstehen die notwendigen Elemente, die für ein vollständiges Feeling erforderlich sind. Bei dem Neurotiker drückt die dritte Ebene »Nicht-Fühlen« aus, und zwar auf abstrakte, verzerrte Art als eine unabhängige Bewußtheit, die mit dem, was im Innern real ist, nicht verknüpft ist.

Aufgrund dieser mangelnden Verknüpfung spiegelt diese Bewußtheit Unbewußtheit wider, und so gesehen ist die Bewußtheit seiner selbst eine Form von Unbewußtheit. Ein normaler Mensch ist fähig, das zu denken, was er fühlt, und das zu fühlen, was er denkt. Wenn ein Postprimärpatient über etwas Trauriges redet, weint er automatisch, weil bei ihm zwischen einer Wahrnehmung und den damit einhergehenden Gefühlen eine unmittelbare Verbindung besteht. Und eben dieser Zugang zu den eigenen Gefühlen ist das Gegenmittel gegen Neurose und Psychose.

 

Wenn Bewußtsein dritter Ebene vermindert oder ausgeschaltet ist, zum Beispiel durch Drogen, spricht man von Psychose. Das heißt, es ist kein objektives Urteilsvermögen durch die höheren Bereiche des Gehirns vorhanden, das den Betreffenden erkennen läßt, ob er ein Feeling hat oder ob das, was er wahrnimmt, dem Erinnerungsspeicher der Vergangenheit entstammt. Deshalb nenne ich Psychose den »Wachtraum«. Die Funktion der dritten Ebene ist es, den Menschen in der Gegenwart zu orientieren, ihn zu befähigen, die Vergangenheit anzuerkennen, sie zu sichten und mit dem, was in der Gegenwart vor sich geht, zu integrieren. Ich habe an anderer Stelle einen Zustand erörtert, bei dem bestimmte Gehirnläsionen dazu führen, daß der Betreffende »Scheiße« oder andere gefühlsbeladene Worte sagen kann, ohne daß er erklären könnte, warum er sie sagt. In diesem Sinne liegt eine Abwesenheit von Bewußtsein dritter Ebene vor. Bewußtsein zweiter Ebene ist emotionales Bewußtsein. Menschen, die auf zweiter Ebene Zugang zu ihren Gefühlen haben, können über die emotionalen Charakteristika ihres Verhaltens reflektieren und können ihre Vergangenheit auf die eine oder andere Weise benutzen, um ihr gegenwärtiges Leben zu lenken.

Bewußtsein erster Ebene zeigt sich zum Beispiel, wenn man tanzt, wenn man sich zur Musik bewegt. Dann hat man eine »Bewußtheit« von dem Beat, dem Rhythmus, aber kein Bedürfnis, irgend etwas zu erklären; es ist etwas rein Körperliches. Sexualität ist ein weiteres Beispiel für Bewußtsein erster Ebene. Bewußtsein erster Ebene befaßt sich mit der Energie unseres Körpers und kann als »Körperbewußtsein« bezeichnet werden.

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Es ist das, was einen unverfälschten, ursprünglichen Zustand ermöglicht, den ich »Ekstase« nenne, ein Zustand, bei dem man die volle Energie des Körpers erleben kann. Ekstase ist nur möglich, wenn zwischen allen Ebenen uneingeschränkter Zugang besteht, so daß der Mensch seinen Körper im Hinblick auf das, was um ihn herum geschieht, voll und ganz erleben kann, ob beim Sex oder beim Tanzen.

Neurotiker, die Drogen wie zum Beispiel Haschisch nehmen, können unter Umständen Bewußtsein dritter und zweiter Ebene fortsprengen und einen gewissen ekstatischen Zustand erleben. Die Droge führt sie in die unterhalb der Ebene schmerz­verknüpften Bewußtseins befindliche Energie der ersten Ebene, die darauf ausgerichtet ist, einen ekstatischen Zustand zu erzeugen. Ich glaube, daß wir den Sinn für Koordination und Rhythmus, der ein Charakteristikum der ersten Ebene ist, niemals verlieren; statt dessen spielt sich vielmehr folgendes ab: der Schmerz und die uns aufgezwungene Arrhythmie unseres Lebens (zum Beispiel der Zwang, zu früh zu sprechen, zu früh zu laufen, zu frühe Reinlichkeitserziehung etc.) wird unserem Bewußtsein erster Ebene aufgepfropft und verzerrt es erheblich. Später bedarf es dann starker Maßnahmen, um den Zugang wiederzuerlangen. 

Es gibt Neurotiker, die sexuell nicht funktionieren können, ehe sie nicht bestimmte Worte hören wie beispielsweise: »Ich liebe dich.« Andere müssen sich zunächst die früheren Sexualerlebnisse des Partners erzählen lassen. Sie können den Forderungen des Körpers nicht einfach nachgeben, sondern müssen auf einer höheren Bewußtseinsebene verharren und komplizierte Umwege ersinnen, um Zugang zu sexuellen Energien zu finden. Der Weg, den man einschlägt, hängt ab von der jeweiligen Art der früh im Leben blockierten Schmerzen. Das sexuelle Erleben eines solchen Menschen hat nichts mit der Beziehung zu einem Partner zu tun; er bezieht sich symbolisch auf seinen Schmerz. 

Der Neurotiker muß sein Bewußtsein zweiter Ebene durchdringen, um Zugang zu seinem Körper zu erlangen; ist viel Schmerz zweiter Ebene vorhanden, dann wird Sex von neurotischen Phantasievorstellungen begleitet sein. Wenn er als Kind und Heranwachsender seine Mutter gehaßt hat, wird er möglicherweise sadistische Phantasievorstellungen haben. Wenn seine Mutter verführerisch war, können seine Phantasievorstellungen um einen Menschen anderer Rasse und Hautfarbe kreisen (zur Vermeidung aufsteigender inzestuöser Gefühle). 

Er wird auch im wirklichen Leben unter Umständen einen Menschen anderer Religion, Hautfarbe usw. heiraten müssen, nur um sexuellen Gefühlen gegenüber seiner Mutter nicht zu nahe zu kommen. In einem solchen Fall wählt das Bewußtsein dritter Ebene jemanden als Partner, der so weit wie möglich von »Mutter« entfernt ist. So kommt eine Wahl zustande, die auf blockiertem, unzugänglichem (und unbewußtem) Schmerz zweiter Ebene basiert. Der Partner entspricht einer symbolischen Wahl, dennoch mag die Wahl rational und gut durchdacht erscheinen; dieser Partner kann ein sehr guter Mensch sein, besonders verständnisvoll, doch das ändert nichts an der Tatsache, daß die Partnerwahl symbolisches Verhalten darstellt.

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Warum wird Sex zu einer so komplizierten Angelegenheit? Warum zeigt sich eine Neurose immer so deutlich im Sexualverhalten eines Menschen? Weil bei einem Neurotiker alles Verhalten symbolisch ist, weil das Verhalten auf blockierten Gefühlen basiert, und Sexualverbrechen ist lediglich eine von vielen Verhaltensweisen. Sex ist jedoch eine fühlende Art von Verhalten, und der Neurotiker muß, um überhaupt etwas zu fühlen, einen symbolischen Weg finden, um Gefühle auslösen zu können; und da setzt die Funktion der Phantasie ein. Wenn totales Bewußtsein vorliegt, bedarf es keiner Symbole mehr; dann wird der Mensch durch die reale Sache erregt, nicht durch Bilder, Geschichten oder Phantasievorstellungen (Symbole). Wenn ein Mensch durch das Bild eines sadistischen Aktes (oder auch durch den Akt selbst, der nicht weniger symbolisch ist) erregt wird, heißt das nur, daß er ungelöste sadistische Gefühle aus seiner Vergangenheit mit sich herumträgt. Würde er diese Vergangenheit fühlen, so würde ihn das Symbol nicht mehr erregen.

Ein sexuelles Ritual wie Sadismus kann mit Träumen und Traumbewußtsein gleichgesetzt werden. In beiden Fällen repräsentieren die Symbole ein Kondensat eines Lebens voller kritischer Erlebnisse. Diese Erlebnisse sind miteinander durch das gleiche oder ähnliche Gefühl verbunden, so daß ein Mensch, der von seinen Eltern tagtäglich grausam behandelt wurde, dazu neigen wird, das auf die eine oder andere Art zu ritualisieren. Das Symbol ist beharrlich und dauerhaft, weil es sich aus jenen Gefühlen entwickelt, die viele Tausende von Erlebnissen repräsentieren. Das ungelöste Schlüsselgefühl ist in symbolischer Form in dem Ritual oder dem Traum enthalten und bewirkt, daß Traum oder Ritual regelmäßig wieder in Erscheinung treten. Phantasie ist nicht die einzige Möglichkeit, symbolisch zu agieren. 

Wenn ein Säugling nicht angemessen ernährt wird, kann er dieses Bedürfnis blockieren und später beim Anblick von Brüsten einfach »aufgeregt« werden. Wenn er dann älter wird, wird diese »Aufregung« erotisiert, und er wird durch Brüste sexuell erregt — ohne zu wissen, daß es ein umgeleiteter früher Schmerz ist. Die sexuelle Erregung steht symbolisch für infantile Erregung (Erregung durch Bedürfnis); Phantasie ist in diesem Falle nicht weiter erforderlich. In Ermangelung einer wirklichen Brust kann ein solcher Mensch jedoch Phantasievorstellungen benutzen, um zu sexueller Erregung zu gelangen. Selbst wenn ihn die »wirkliche Sache« sexuell erregt, ist sein Verhalten dennoch symbolisch, weil er sich nicht auf eine gegenwärtige Wirklichkeit bezieht, sondern auf ein Bedürfnis von früher.

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Die meisten unserer neurotischen Gedanken treten auf der dritten Ebene auf; sie sind die mentalen Residuen, die übrigbleiben, wenn Gefühle durch die Pufferzone gefiltert wurden. Sie werden Teil des allgemeinen Abwehrsystems und verstärken die Gefühlsbarrieren. Wenn Gedanken die Gefühle nicht mehr zurückhalten können, kommt es zu impulsivem Agieren wie etwa Exhibitionismus. Viele Exhibitionisten berichten, daß sie, ehe sie sich in die Öffentlichkeit begeben, Selbstgespräche führen und sich sagen, wie gefährlich ihr Vorhaben ist, wie töricht etc., und befinden sie sich dann doch in einem »Koma-ähnlichen« Zustand die zweite Ebene hat die Führung übernommen. Sie befinden sich im Traum, wobei das Bewußtsein dritter Ebene in den Hintergrund gerät. Auch die besten Argumente dritter Ebene können die Flut nicht zurückhalten; der Betreffende ist unbewußt, weil seine dritte Ebene, sein Hier-und-Jetzt-Gehirn überrumpelt ist. Phantasie und tatsächliches Agieren unterscheiden sich also durch das Ausmaß des Schmerzdruckes aus unteren Ebenen und durch die Stärke der Abwehrmechanismen erster Ebene. Eine Phantasievorstellung kann Sache eines kurzen Augenblicks sein, dann ist man wieder zurück in der Realität, das Ritual des Agierens ist dafür jedoch viel zu anstrengend und überwältigend.

Der Apparat der dritten Ebene muß sich mit den aufwallenden Energien des Schmerzes, der den beiden tieferen Ebenen entstammt, auseinandersetzen. Je größer und umfangreicher der Schmerz tieferer Ebenen, um so aktiver wird die dritte Ebene (und führt dann zum Beispiel zu Symptomen wie Schlaflosigkeit). Wenn Schmerz tieferer Ebenen übermäßig stark wird, nicht zurückgehalten werden kann und durchzubrechen droht, dann versucht die dritte zu externen Maßnahmen zum Beispiel Tranquilizer oder Heroin zu greifen, um den Schmerz zu unterdrücken und die Pufferzone zu unterstützen. Selbstverständlich gibt es auch traumatische Ereignisse in der Gegenwart, wie etwa den Tod eines Ehepartners, die das Abwehrsystem schwächen und ein gewisses Überufern der Primärflut ermöglichen. Normalerweise jedoch sind es die tieferen Energien, die nicht mit der dritten Ebene verknüpften Schmerzen, die das Bewußtsein der äußeren Ebene permanent innervieren und eingeschliffenes zwanghaftes Agieren wie Exhibitionismus erzeugen. Mir geht es hier darum, deutlich zu machen, daß volles Feeling alle Ebenen des Bewußtseins einschließen muß, weil es für jeden von uns eine Gegenwart und eine Vergangenheit gibt, und diese Vergangen­heit ist ständig in der Gegenwart am Werk, solange sie nicht gelöst ist.

Die Gefahr einer Droge wie LSD liegt darin, daß sie die Pufferzonen zwischen allen Bewußtseinsebenen aufbricht und Primär­energien freisetzt, die aufgrund ihrer Schmerzüberlastung nicht kontrolliert werden können. Das Bewußtsein dritter Ebene muß sich dann anstrengen, um zu erklären, was passiert, und das führt zu absonderlicher Ideenbildung. 

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In der Primärtherapie geht es mehr darum, das, was auf jeder Ebene vorhanden ist, zu erleben, und nicht so sehr darum, es zu »verstehen« (letzteres hieße, die dritte Ebene würde die erste verstehen). Je mehr Schmerz erlebt wird, um so dünner wird die Pufferzone und um so fühlender wird der Mensch.

Inzwischen dürfte klar sein, daß das Schlüsselwort Erleben heißt, denn jede Art intellektuellen Verstehens der zweiten und ersten Ebene durch die dritte bedeutet, daß jene tieferen Bewußtseinsebenen umgangen werden, und das führte eher zu einer Verstärkung als zu einer Schwächung der Pufferzonen.

Intellektuelles Verstehen, das nicht aus einem fühlenden Erleben erwächst, verstärkt das Abwehrsystem, weil Bewußtsein ein organischer, psychophysischer Prozeß ist und nicht ein nur geistiges Phänomen. Erleben ist eine Sache des Gesamtsystems. Das neurotische Bewußtsein wird unorganisch und verliert den Kontakt zu diesem System, es hat Gedanken, die mit dem, was im Innern vor sich geht, in keiner Beziehung stehen.

Jede Ebene des Erlebens ist an eine entsprechende Bewußtseinsebene gebunden; wenn ein Mensch viele Male in Gefühle erster Ebene hinabgestiegen ist, können wir deshalb sagen, daß er beginnt, »seinen Körper zurückzugewinnen«. Bewußtsein zweiter Ebene allein könnte das niemals erreichen, auch wenn das Erleben zweiter Ebene nach und nach verstärkten Zugang zu Schmerz erster Ebene ermöglicht und somit den Weg bahnt für die Wiedererlangung des Körpers. Das heißt nichts anderes, als daß jeder Schmerz sein eigenes Bewußtsein hat. Man muß mit dem Säuglingsgehirn erster Ebene erleben, um Bewußtsein zu erweitern; der Versuch, nicht mit begrifflichen Vorstellungen verbundene frühe Schmerzen in begriffliche Vorstellungen zu übersetzen, dient nur dazu, sie weniger zugänglich zu machen, und engt das Bewußtsein eher ein, statt es zu erweitern.

Steigt man die ganze Primärkette hinab, wird das Gehirn frei, das zu tun, was es nie tat sich aus seinem Erlebnisspeicher heraus zu entwickeln und diese Erlebnisse zur Veränderung des eigenen Lebens zu benutzen. Dieses Hinabsteigen in Gefühle erster Ebene verändert Körperhaltung und -bewegung, wie es keine Aktivitäten dritter Ebene (zum Beispiel Unterrichtsstunden) vermögen. Das ist ein organismisches Konzept von Bewußtsein und Veränderung, es erklärt, warum Primäreinsichten, die sich aus Feeling heraus entwickeln, so tiefgreifend und zutreffend sind. Sie sind unmittelbare Verknüpfungen zwischen der dritten Ebene und den tiefer gelegenen Ebenen und ersetzen die alten Fehlverknüpfungen. Eine »tiefe« Einsicht ist buchstäblich eine Einsicht »tief im Gehirn«.

Die Beobachtung von Primärpatienten liefert oft drastische Anhaltspunkte für die klare Abgrenzung der Bewußtseinsebenen. Es kommt gelegentlich vor, daß ein Patient einen Schmerz erster Ebene, zum Beispiel einen Geburtsschmerz, wiedererlebt, ohne daß er dabei weint.

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Wenn er dann nach einiger Zeit in eine spätere Erinnerung gleitet, die in eine Zeit fällt, in der seine Tränen­drüsen bereits arbeiteten, werden seine Augen von Tränen überschwemmt; doch sobald er dann wieder in die erste Ebene zurückgleitet, sind die Tränen wieder versiegt. 

Ein anderes Beispiel für die klare Abgrenzung zwischen den Ebenen zeigt sich bei Patienten, die keine gebürtigen Amerikaner sind. Sie beginnen ihre Primals mit irgendeiner gegenwartsbezogenen Situation5 und sprechen dabei amerikanisch. Wenn sie dann zu frühen Kindheitserinnerungen übergehen, verfallen sie automatisch in die Sprache ihrer Kindheit. Der Gedächtniskode für diese frühen Erlebnisse ist eindeutig mit Sprache verbunden; es ist, als existierten die muttersprachlichen Erlebnisse auf einer Schicht des Bewußtseins unterhalb der dritten Ebene. Dabei kann es passieren, daß der Betreffende nach einem solchen Primal seine Muttersprache längst nicht mehr so gut beherrscht wie während des Primals. Umgekehrt scheint er während des Primals wenig Zugang zum Amerikanischen zu haben und spricht ausschließlich in seiner Muttersprache.

 

Wie organisch Bewußtsein ist, läßt sich besonders gut während und unmittelbar nach einer primär­therap­eut­ischen Sitzung beobachten. Während der Sitzung, wenn der Patient zur ersten Ebene hinabgestiegen ist, kann ihn die geringste Berührung dazu bringen, sich aus Schmerz über mangelnden Körperkontakt im Säuglingsalter zu einer Kugel zusammenzurollen; die gleiche Berührung würde später, nach der Sitzung, wenn der Patient auf der dritten, der Hier-und-Jetzt-Ebene des Bewußtseins operiert, keinerlei Folgen haben. Das veranschaulicht, wie Bewußtsein dritter Ebene als Pufferzone gegen Reize arbeiten kann, indem es ihre Bedeutung entweder blockiert oder verzerrt und den Zugang zu jenen Bewußtseinsebenen versperrt, die ihnen Bedeutung verleihen könnten. Es zeigt ebenfalls, wie eindeutig die Abgrenzung zwischen den Bewußtseinsebenen sein kann. 

Es zeigt, wie Bewußtsein tieferer Ebenen das physische System innerviert (im oben erwähnten Fall war der Schmerz durch mangelnden frühen Körperkontakt und mangelnde Zärtlichkeit entstanden) und physische Ereignisse herbeiführt, wie beispielsweise physische Symptome, die völlig jenseits des Verständnisses oder der Kontrolle höheren Bewußtseins sind. Ein von seinen innersten Gefühlen restlos abgeschirmter Mensch, der auf der dritten Ebene operiert, braucht kein Bedürfnis nach Körperkontakt zu verspüren, er kann sich statt dessen einfach zurückziehen, sobald ihm jemand körperlich nahe kommt. Sein System verschließt sich reflexartig gegen den frühen Schmerz, denn erlaubte er einem anderen Menschen, ihm körperlich nahe zu kommen, dann könnte sofort der Schmerz über mangelnden frühen Körperkontakt in ihm aufsteigen.

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Hypnose ist ein Beispiel für den Verlust von Bewußtsein dritter Ebene. Ein hypnotisierter Mensch kann zu einer frühen Altersstufe zurückgebracht werden, so daß er sich offenbar voll und ganz dort befindet, er beschreibt sein Klassenzimmer, Freunde, Lehrer mit minuziöser Genauigkeit — etwas, wozu er nicht in der Lage zu sein scheint, wenn er aus diesem Zustand wieder zurückgeholt wird. Sie können einen hypnotisierten Menschen ansprechen, und er scheint Sie wahrzunehmen, und doch ist er in diesem Augenblick im Grunde unbewußt; das heißt, er befindet sich auf einer anderen Bewußtseinsebene. Er ist mehr nach innen gewandt und hat vorübergehend sein äußeres Gehabe verloren. Hilgard hat ausführliche Untersuchungen über Hypnose und Schmerzwahrnehmung durchgeführt.* 

Seine Befunde bestätigen die Annahme verschiedener Bewußtseinsebenen. Er hypnotisierte Probanden und fügte ihnen Schmerz zu, beispielsweise indem er ihre Hände in zirkulierendes Eiswasser steckte. In der Regel berichteten sie von keinerlei Unbehagen, wenn er ihnen aber Papier und Bleistift gab und sie zu automatischem Schreiben aufforderte (der abgespaltene Teil des Selbst berichtet über den anderen Teil), zeigte sich, daß aller Schmerz irgendwo gefühlt wurde.

Hilgard hat ähnliche Versuche unternommen, bei denen er mit »automatischem Sprechen« operierte: »Wenn man dem Probanden die Anweisung erteilt, sobald der Hypnotiseur ihm die Hand auf die Schulter legt, solle er sagen, was im sekundären Bewußtsein vor sich geht, ohne daß er weiß, daß er spricht, zeigen sich ähnliche Ergebnisse wie beim automatischen Schreiben.« Automatisches Sprechen ist ein drastischer Beweis für die Bewußtseinsspaltung zwischen Wissen und Feeling. Es gibt viele Menschen, die den ganzen Tag lang reden können, ohne daß sie wüßten, welche unbewußten Impulse sie dazu veranlassen; sie können mit jedem einzelnen Wort sagen, daß sie unter Schmerz stehen, und es dennoch nicht wirklich »wissen«.

Automatisches Sprechen veranschaulicht in meinen Augen den Unterschied zwischen Bewußtsein zweiter und dritter Ebene; der Proband beschreibt den durch das Eiswasser verursachten Schmerz genau, auch wo er ihn fühlt, und doch nimmt sein peripheres Bewußtsein von all dem nichts wahr. Da muß stechender Schmerz vorhanden sein, wie der Proband mit eigenen Augen wahrnehmen kann, und doch wird im Bewußtsein (dritte Ebene) nichts registriert. Viele von uns gehen mit großem Schmerz durch das Leben, der unmittelbar unter der Oberfläche sitzt, ohne daß sie sich dessen je bewußt sind. Und das ist das eigentliche Wesen der Neurose.

Was daraus folgt, ist nicht vornehmlich, daß wir bewußter werden sollten, sondern daß unbewußte Schmerzen sich im stillen ihren Tribut von unseren Systemen nehmen, und das führt letztlich zu Krankheiten und frühzeitigem Tod, und alles ohne unser Wissen. Hilgard machte bei seinen Probanden die Feststellung, daß »das Wasser eisig kalt war, aber nicht schmerzte«.

 

*  Ernest R. Hilgard, »Pain Reduction in Hypnosis«, Psychological Review, Bd. 80, Nr. 5, September 1973, S. 396-110.

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Und weiter: »Herzschlag und Blutdruck beschleunigten sich im kalten Wasser genauso wie bei nicht hypnotisierten Probanden im Wachzustand«. Entscheidend ist weniger die Tatsache, daß wir als Zwei- oder Dreijährige Schmerz erlitten haben; entscheidend ist vielmehr, daß der Schmerz bleibt, er verzerrt unsere Systeme und überstimuliert sie. Der Schmerz bleibt, gerade weil er weggeschlossen wurde, damit er keine höheren Verknüpfungen herstellen soll, die ihn letztlich jedoch auflösen würden. Die allgemeine Bewußtseinsebene eines Menschen wird dadurch bestimmt, wieviel Schmerz er auf jeder Ebene integriert hat. Selbst wenn er Schmerzen erster Ebene erlebt, kann auf der zweiten Ebene noch immer ein ähnlicher Speicher vergrabener Schmerzen weiterbestehen.

Zu sagen, das Erleben von Traumata erster Ebene — zum Beispiel Geburtstraumata — sei unnötig oder gar »Firlefanz«, hieße buchstäblich, das Kind mit dem Bade ausschütten. Die Notwendigkeit bestreiten, solche frühen Schmerzzustände wieder­zuerleben, heißt, die Möglichkeit einer Heilung auszuschalten, und es gibt nicht wenige, die das praktizieren, was ich als »Schein-Primärtherapie« bezeichne, die genau das gemacht haben — sie können nicht von Heilung sprechen, weil sie den Patienten um eben jene Erlebnisse gebracht haben, die letztlich hätten lösen und heilen können. Wenn man so vorgeht, muß sich der Schwerpunkt vernehmlich auf die dritte Ebene, auf Hier-und-Jetzt-Aktivitäten verlagern. Anstatt daß die Patienten kontinuierlich in sich selbst hinabsteigen, werden ihre Abwehrmechanismen (und die Neurosen) verstärkt, und so sind sie für immer dazu verurteilt, in der Vergangenheit zu leben, wenngleich sie sich in der Annahme wiegen, sie lebten in der Gegenwart.

Man sollte wissen, daß Bewußtsein in erster Linie eine Sache des Selbst ist und nicht eine Sache politischer und ökonomischer Systeme oder psychologischer Theorien etc. Die letzteren schaffen Bewußtseinssphären; sie belegen die Areale falschen Bewußtseins mit Beschlag und können völlig unabhängig von dem realen Bewußtsein eines Menschen existieren. So kann man durchaus die eigene Welt mit aller Schärfe wahrnehmen und dennoch jener Kräfte völlig unbewußt sein, die das eigene tägliche Verhalten in dieser Welt verursachen. Man kann deshalb auf intellektuelle Art »gescheit« sein und dennoch ein dummes Leben führen. Von wirklicher Intelligenz kann man nur sprechen, wenn derartiges Wahrnehmungsvermögen und Selbst-Bewußtsein zusammenfallen. Man »erweitert« Bewußtsein nicht, man »vertieft« es.

Die Dialektik erweiterten Bewußtseins liegt darin, daß es um so einfacher (nicht simpler) wird, je verästelter es wird. Das hat einen einfacheren Lebensstil zur Folge — weniger Bedürfnisse, Wünsche, Ambitionen und neurotische Gedanken.

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Hier ein konkretes Beispiel: Eine Patientin wurde von ihrem Freund aufgefordert, sie solle aus ihrer gemein­samen Wohnung ausziehen. Sie fühlte den Schmerz, den das verursachte, und glitt dann in Gefühle, in denen sie von ihren Eltern von zu Hause fortgeschickt und auf ein Internat gesteckt wurde; und schließlich stieg sie in ein Primal hinab, in dem sie aus dem Geburtskanal ausgestoßen wurde, ohne daß sich jemand um sie kümmerte — ein nicht gewolltes, nicht umsorgtes Kind. Sie fühlte jetzt plötzlich, daß ihr ganzes Leben mehr oder weniger dadurch bestimmt war, daß sie vor dem Gefühl, allein und nicht gewollt zu sein, davonlief, und daß ihre Gedanken immer nur darum gekreist waren, wen sie gerade besuchen oder treffen könnte.

Ihr Bewußtsein weitete sich, als sie erkannte, wie sie ihr Leben eingerichtet hatte, nur um diese Gefühle, allein und nicht gewollt zu sein, nicht fühlen zu müssen. Sie erkannte, daß sich ihr Verstand mit nichts anderem beschäftigt hatte. Das Fühlen dieses Feelings vereinfachte ihr Leben und ihr Denken. Solange sie nur Zugang zu Gefühlen zweiter Ebene gehabt hätte, wäre sie bei dem Gedanken an das Alleinsein zwar weniger in Panik geraten, aber eine gewisse Angst wäre verblieben. Das Ausmaß der verbleibenden Angst wäre genau das Ausmaß jener Angst, die durch das Trauma erster Ebene verursacht worden war. Hätte sie keinen Schmerz erster Ebene gehabt, dann hätte bereits das Fühlen des Traumas zweiter Ebene die völlige Lösung des Problems bedeutet.

Wenn ein bestimmter Schmerz verdrängt wird, ließe sich bildhaft sagen, daß er »abgetötet« ist, weil er nicht gefühlt oder erlebt werden kann; entscheidend an unbewußtem Verhalten ist, daß Neurotiker diese abgetöteten Bereiche, die sie nicht fühlen können, agieren. Zum Beispiel kann eine lieblose, strenge Behandlung in den ersten Lebensmonaten einen Säugling veranlassen, sich abzublocken, um den Angriff zu überleben. Später können ihm unverbindliche, lieblose Züge anhaften — Züge, die sich unbewußt entwickeln und mit Sicherheit nicht frei gewählt sind.

Ein Pfeifenraucher kann sein ganzes Erwachsenenleben an einer Pfeife nuckeln, ohne je seine frühe orale Deprivation zu fühlen. Die Pfeife ist ein Symbol. Die Intensität, mit der er diesem Symbol »verhaftet« ist, ist ein unmittelbares Ergebnis der Schmerzintensität, die durch die Deprivation verursacht wurde. Man könnte sagen, die Primärtherapie ist ein Prozeß, bei dem der Neurotiker von seinen Symbolen gelöst wird, indem der Schmerz, der dieses Verhaftetsein erzwungen hat, aufgelöst wird.

 

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Zusammenfassung und Schlußbetrachtung

Ein Schrei ist etwas Ursprüngliches und Kreatürliches; es ist eine der ersten Verhaltensmöglichkeiten eines Neugeborenen. Ein Säugling kann schreien, lange bevor er seine Bedürfnisse zu verbalisieren vermag, und dieser Schrei ist seine Art, frühe Schmerzen zu artikulieren. Es ist kein Wunder, daß Patienten, die präverbale Ereignisse wiedererleben, »Urschreie« ausstoßen. Während der Patient sein Trauma wiedererlebt, stimmt seine Reaktion voll und ganz mit dem damaligen Entwicklungsstand des Gehirns und den zur Verfügung stehenden Reaktionsmöglichkeiten überein. Würde der Patient in der Therapie versuchen, die Probleme, die er als Einjähriger hatte, zu verbalisieren, würde er das Trauma nicht wiedererleben (und folglich auch nicht auflösen können).

Der Schrei ist mithin für bestimmte Entwicklungsstadien — im Leben wie in der Therapie — ein spezifisches und notwendiges therapeutisches Ereignis. Allein der Versuch, ein präverbales Trauma zu diskutieren (wie es bei so vielen Therapien geschieht), bedeutet schon, daß man aus dem Feeling herausgeholt und in etwas Antitherapeutisches versetzt und somit von der Möglichkeit einer letztlichen Lösung entfernt wird. So gesehen, wird es verständlich, daß in bestimmten Phasen der Primärtherapie der Schrei das einzig Heilende ist; er ist die Verknüpfung zu dem frühen Schmerzzustand und die einzig angemessene Ausdrucksweise, die der Funktionsfähigkeit des Gehirns zur Entstehungszeit des Traumas entspricht. Primärpatienten, die in der Therapie wochenlang einfach wie Säuglinge weinen und wimmern, haben manchmal das Gefühl, sie würden überhaupt nicht weiterkommen, weil sie keinerlei intellektuelle Verknüpfungen herstellen; das Babygeschrei scheint kein Ende nehmen zu wollen. Aber gerade weil das Trauma so weit zurückliegt und so anhaltend war, ist Schreien ein notwendiges Erlebnis.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt dieses Kapitels befaßt sich mit negativer und positiver »Verstärkung« um einen Terminus aus der Verhaltenspsychologie für die Konditionierung von Reaktionen zu gebrauchen. Es scheint bestimmte Areale des Gehirns zu geben, die lustvolle Gefühle verarbeiten, und andere, die Schmerz verarbeiten (und negative Verstärkung vermitteln). Die lustvollen Gefühlen zuzuordnenden Areale im Gehirn sind weitaus umfangreicher, was unter anderem darauf schließen ließe, daß wir eher durch positive Methoden lernen als durch Situationen, die mit Streß und Angst verbunden sind. Dr. H. J. Campbell hat über diesen Aspekt ein Buch geschrieben.* Er berichtet darin von schwedischen Untersuchungen mit menschlichen Probanden, bei denen man in bestimmten Arealen des Limbischen Systems Elektroden angebracht hatte.

 

* H. J. Campbell, The Pleasure Areas, Eyre Methuen Publishers, London 1973. 

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Es ging darum, eine Linderung von psychischen Leiden und psychischer Abnormität zu erzielen, indem im Gehirn mehr Lustgefühle erzeugt wurden. Reizung bestimmter limbischer Areale erzeugte Lustgefühle und das Verlangen nach mehr, während die Reizung anderer limbischer Areale Schmerz erzeugte.

 

Das wichtigste Resultat dieser Untersuchungen war, wie ungemein nah beieinander Schmerz- und Lustareale im Gehirn lokalisiert sind. Des weiteren wurden verschiedene Arten lustvoller Gefühle erlebt, je nachdem welche Areale gereizt wurden. Von der Reizung einer Stelle wurde berichtet, sie löse eine Erinnerung aus; die Stimulierung einer anderen löste sexuelle Gedanken aus und das Gefühl, unmittelbar vor einem Orgasmus zu stehen. Wieder eine andere rief ein Gefühl von »Trunkenheit« und die Eliminierung unangenehmer Gedanken hervor. 

Diese Gefühle wurden subkortikal erzeugt; das heißt, Inhalt und Eigenart des Bewußtseins wurden durch subkortikale Faktoren auf der Stelle verändert etwas, das auch früher schon betont wurde. Die genannten Untersuchungen knüpfen an Experimente W. Penfields an, die er an gehirnoperierten Epileptikern durchführte. Er wies nach, daß die Reizung bestimmter Felder im Schläfenlappen Erinnerungen auslöst. Einige Epileptiker berichten unmittelbar vor einem Anfall von diesem gleichen Gefühl einer sich ankündigenden Erinnerung, was möglicherweise darauf schließen läßt, daß einige Anfälle ausgelöst werden, wenn subkortikale Primärschaltkreise aktiviert werden.

All das läßt auf die Abhängigkeit des Bewußtseins von unterschwelliger Gehirnaktivität schließen. Noch aufschlußreicher ist die Tatsache, daß die unterschwellige Aktivität nicht nur temporär ist, sondern auch permanent sein kann. Campbell schreibt: »Es besteht ebenfalls die Möglichkeit, daß das Limbische System Rückkoppelungsschleifen enthalten könnte, in denen die Aktivierung anhält, auch nachdem die Reizzufuhr eingestellt wird, und zwar aufgrund von Nervenimpulsen, die in geschlossenen Nervenfaserschleifen kreisen« (S. 32). Das ist mehr oder weniger identisch mit einer These, die ich in meinem Buch Anatomie der Neurose dargelegt habe.

Das bedeutet mit Sicherheit, daß Traumata erster, zweiter oder dritter Ebene als Rückkoppelungsschleifen zurückbleiben und späteres Bewußtsein prägen. Nach jahrelangen Forschungsarbeiten ist Campbell zu der Überzeugung gelangt, daß alle Bereiche des Gehirns dem Limbischen System untergeordnet sind, weil dieses System letztlich für das Überleben verantwortlich sei. Und das ist indirekt auch die Auffassung, die Dr. Holden vertritt.

Ich bin der Ansicht, daß es zu psychischer Krankheit kommt, wenn die limbischen Ausgangsinformationen von anderen entscheidenden Arealen abgeblockt werden; dadurch entsteht unangepaßtes Verhalten, das unter Umständen dem Überleben entgegenwirkt. Volles Bewußtsein beinhaltet weiterhin die richtige Integration aller drei »Röhren« des Gehirns.

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Einige von uns sind offenbar »außenlastig«, bei ihnen liegt der Schwerpunkt auf der geistig-sozialen Komponente; andere werden durch subkortikale Kräfte beherrscht, und das führt zu impulsiven Verhalten. Bewußtsein im primärtheoretischen Sinn ist ein Geschehen wechselseitiger Verknüpfungen. 

Dr. Holden weist darauf hin, daß Gedächtnis nicht immer verbal sein muß eine Ansicht, die wir seit Jahren immer wieder betonen. »Gedächtnis« ist nicht in jedem Fall an »Erinnern« gebunden. Es gibt viele Arten von Gedächtnis; der Körper zum Beispiel registriert Ereignisse auf eine Art, die als ebenso wichtig erachtet werden kann wie die verbale Erinnerung an ein Ereignis. Wie ich bereits an anderer Stelle schrieb (Journal of Primal Therapy, Bd.1, Nr.1), ist ein psychosomatisches Symptom nichts anderes als die umgewandelte Körpererinnerung eines frühen Traumas.

Ein letzter Punkt zum Thema Gedächtnis und Erinnerung betrifft die unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich der Erinnerung von Geburtstraumata. Wir haben oft genug gesehen, wie Geburtserinnerungen in Primals wiedererlebt wurden, um von deren Existenz überzeugt zu sein. Aber vielleicht wird nicht von allen bedacht, daß das Gehirn aus Zellen besteht und daß die einzelnen Zellen eine rudimentäre Form von Gedächtnis besitzen. In einem Artikel zum Thema Langlebigkeit von dem früheren Wissenschaftsredakteur des Life Magazine wird auf folgenden Aspekt hingewiesen: »Wenn sich ein embryonaler Zellstrang zwanzigmal teilt und dann für Monate oder Jahre eingefroren wird, <erinnert> er genau, wo er stehen­geblieben war. Nach dem Auftauen teilt er sich weitere dreißigmal, nicht mehr und nicht weniger.«*

Bei normalen Zellen ist die Häufigkeit der Zellteilungen genau festgelegt, bei der oben erwähnten war es fünfzigmal. Die Frage ist: »Woher wußten die Zellen nach dem Auftauen, wann sie mit der Zellteilung aufzuhören hatten?« »Erinnern« sie sich? Nein, aber eine Erinnerung war dennoch vorhanden. Die Zelle »wußte«, wann sie aufzuhören hatte und »registrierte«, wie viele Zellteilungen vorher bereits stattgefunden hatten. Es war eine organismische Erinnerung — die gleiche Art von Erinnerung, die bei einem Geburtstrauma einsetzt. Wichtig daran ist zu erkennen, daß der Rückruf einer Erinnerung etwas anderes sein kann als eine intellektuelle Beschreibung. Ist das einmal klar, dann muß sich auch die Skepsis hinsichtlich der möglichen Einprägung traumatischer Erinnerungen vor oder während der Geburt verringern.

Wir haben die Erfahrung gemacht, daß Primärtheorie und Primärtherapie entsprechend dem jeweiligen Maß an Zugang, den ein Mensch zu seinem Schmerz hat, verstanden und akzeptiert werden. Ein Mensch, der keine Ahnung von den Tiefen menschlichen Feelings hat, dem wird die Beschreibung primärer Gefühls­zustände kaum etwas sagen.

 

* Albert Rosenfeld, »The Longevity Seekers«, in Saturday Review of Science, Bd. 1, Nr. 2, 24. Februar 1973, S. 46-49.

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Wer Alpträume aus eigener Erfahrung kennt, der weiß um die möglichen Tiefen menschlichen Feelings. Die Tatsache, daß er während dieser Gefühle schläft, ändert nichts an ihrer Existenz oder an ihrer Intensität.

Ein Mensch, der nur mit seinem Bewußtsein dritter Ebene operiert, wird nur auf Fakten und statistische Zahlen hören; ihn müßte man von der Existenz von Gefühlen auf dieser Ebene durch Argumente überzeugen, und das ist natürlich so gut wie unmöglich — alle Fakten der Welt haben letztlich nicht genügend Überzeugungskraft, wenn es um Gefühle geht.

Ziel der Primärtherapie ist es, ein System zu schaffen, das in erster Linie entwickelt und nicht kompensiert. Auf sozialer Ebene kann Evolution eine Geschichte kompensatorischer Anpassung anstelle einer kontinuierlichen Entwicklung sein. Es wäre denkbar, daß unser politisches System in Wirklichkeit eine ausgeklügelte Struktur ist, die ein ökonomisches System kompensiert, das mehr auf Profit als auf Bedürfnisbefriedigung basiert. Jede neue Maßnahme oder jedes neue soziale Programm kompensiert irgendeine Unzulänglichkeit der Bedürfnisbefriedigung.

 

Ich bin der Auffassung, daß der Primärmensch einen neuen Menschentypus darstellt, vielleicht den ersten in Jahrtausenden überlieferten menschlichen Lebens, der fühlen und die Bedeutung des Fühlens und dessen Relevanz für die menschliche Existenz erfassen kann. Es ist möglich, daß der »zivilisierte« Mensch seine Gefühle und sein Verständnis von deren Existenz und Natur verloren hat. Die sozialen Strukturen, die er errichtet hat, haben seine Gefühle eher eingekreist, als daß sie sich aus ihnen heraus entwickelt hätten. 

Zum erstenmal seit Jahrtausenden menschlicher Existenz haben wir einen Weg zurück zu unseren Gefühlen und unserer Humanität gefunden. Endlich sind wir jener Techniken habhaft geworden, die den Menschen wieder human machen und dadurch die Existenz wirklich humaner Gesellschaften ohne Krieg, Ausbeutung, psychische Krankheiten und Verbrechen ermöglichen. Wir wissen, wie diese Techniken aussehen. Die Frage ist nur: Kann eine Gesellschaft ohne Bewußtsein — eine Gesellschaft, die von Neurotikern beherrscht wird — diese Techniken anwenden?

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