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Neurophysiologie des Bewußtseins: Schmerzschleusung   

Michael Holden 

 

 

138-164

Neurose ist eine mögliche Alternative des menschlichen Gehirns. Sie entwickelt sich in einem Gehirn, das mit hinreichenden Anlagen für eine neurotische Entwicklung ausgestattet ist, entsprechend früher schmerzhafter Erlebnisse. Daraus folgt, daß die Amplitude der Intensität von Schmerzerlebnissen dem Grad der aus ihnen resultierenden psychischen Krankheit entspricht, und ferner, daß ein Mensch, der (von Geburt an) in einer mehr oder weniger schmerzfreien Umwelt aufwächst, keine Neurose, keine psychosomatischen oder anderen emotionalen Krankheiten entwickeln würde.

Die Kernthese der Primärtheorie lautet, daß Neurose — eine Gefühlsstörung — sich aufgrund schmerz­hafter Kindheits­erlebnisse entwickelt; sie sind die kausale Ursache für die Spaltung der drei Bewußtseins­ebenen untereinander. Dieser Prozeß vollzieht sich je nach der Intensität und dem Zeitpunkt (dem Entwicklungsstadium) der schmerzhaften Erlebnisse mehr oder weniger stark. Diese Theorie impliziert das Vorhandensein von Gehirnmechanismen, die eine Blockierungs- oder Schleusenfunktion ausüben können, die ihrerseits eine Begrenzung der Lernfähigkeit zur Folge hat. Wir werden auf die neurophysiologischen Daten, die die These der Existenz eines dreigeteilten Bewußtseins untermauern, und auf die Systeme, die die Schleusung zwischen ihnen ausführen, noch ausführlich eingehen. Jede der drei Körper-Gehirn-Zonen ist dem Gesamtbewußtsein des Menschen mit einem eigenen Beitrag verbunden.

Das infolge der Blockierungen aufgesplitterte Bewußtsein liegt charakteristischen Verhaltensweisen (Reaktionen) zugrunde, die bei Neurose in Erscheinung treten. Wenn diese neurotischen Verhaltensweisen Reaktionen in den Viszera oder in der Körperwand betreffen, dann wird der äußere Ausdruck der Neurose auf diesen Ebenen neurobiologischer Organisation jene Störungen erzeugen, die gemeinhin als psychosomatische Krankheiten bezeichnet werden.

Dieses Kapitel befaßt sich zunächst mit der Entwicklung und Physiologie der Schmerzwahrnehmung von Neugeborenen und Säuglingen sowie mit dem dualen System der Schmerzrepräsentation im menschlichen Gehirn. Der dritte Teil schließlich befaßt sich mit einigen verifizierbaren Daten und einigen Hypothesen über Schmerzschleusung auf zerebraler (hemisphärischer) Ebene.

Die vielversprechendsten Merkmale der Primärtheorie als eines Weges zum Verständnis psychischer Krankheiten liegen ihrem Ursprung nach stärker in der Beobachtung als in Spekulationen und des weiteren in der Vielfalt überprüfbarer Hypothesen für künftige Untersuchungen, die sie hervorbringt. 

Eine Methode, eine beliebige Psychotherapie zu beurteilen, besteht darin, zu fragen, ob sie mit bereits vorhandenen Erkenntnissen über die Entwicklung und Physiologie des menschlichen Gehirns im Einklang steht. Die Prämisse einer solchen Methode ist die, daß Psyche und Verhalten Produkte von Gehirnfunktionen in streng biologischem Sinne sind. Eine andere Methode geht davon aus, daß Psyche und Verhalten isoliert und unabhängig von neurobiologischen Erkenntnissen analysiert werden können, wenn es darum geht, Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens zu definieren.

Meine Prämisse lautet, strenggenommen gibt es keine »Verhaltensgesetze« per se, sondern nur neurophysio­logische Prinzipien mit äußeren Manifestationen, die gelegentlich fälschlicherweise für Naturgesetze gehalten werden. Verhalten wird durch Gehirntätigkeit via Körper selbst vermittelt (als dem Aktionssystem, das das Verhalten ausführt). Verhaltensbeobachtungen lassen erkennen, daß Verhalten nicht zufällig ist, sondern strukturiert und geordnet, oft in vorhersagbarer Weise. 

Viele Verhaltensforscher haben die Verhaltensmuster untersucht, haben jedoch übersehen, daß sie lediglich ein Derivat oder ein Produkt der Gehirntätigkeit beobachten, das durch den Körper vermittelt wird, und haben diesen Derivaten des Verhaltens fälschlicherweise Gesetzmäßigkeiten zugeschrieben, als seien diese selbst Gegenstand biologischer Naturgesetze. Einer solchen Methode sind dadurch Grenzen gesetzt, daß ihre Vertreter sich nicht mit dem Gehirn, sondern mit Produkten von dessen Aktivität befassen. Der folgende Abschnitt stützt die Hypothese, daß die Primärtheorie mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen über Gehirnentwicklung und Gehirnfunktionen im Einklang steht. Aus diesem Grund hat die Primärtheorie eine größere Validität als andere psychologische Theorien, die den »Geist« als ein Phänomen betrachten, das allein durch Verhaltensbeobachtungen verstanden werden kann.

 

   Neuro-embryologischer Reifungsprozeß und Primärtheorie 

Dr. Janov vertritt die Ansicht, daß Neurose ein Prozeß ist, der im frühen Kindesalter oder sogar während oder vor der Geburt seinen Anfang nehmen kann. Eine solche Aussage muß, sofern sie wahr sein soll, mit der Entwicklungssequenz des menschlichen Gehirns übereinstimmen. 

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Dr. Janov ist ferner der Auffassung, daß körperlicher oder seelischer Schmerz bei der Entstehung einer Neurose obligatorisch der auslösende Faktor ist und daß ein Kind während des Geburtsprozesses möglicherweise auftretende Gefährdungen und Schmerzen zu registrieren vermag. Man muß demnach die Frage stellen, ob das Gehirn eines Fetus zur Zeit der Geburt hinreichend entwickelt ist, um in diesem relativ frühen Entwicklungsstadium Schmerz integrieren und registrieren zu können. 

Dr. Yakovlev ist sehr ausführlich auf die Entwicklung des Gehirns eingegangen.1 Die weiße fetthaltige Umhüllung der Nerven­fasern wird als Myelin [Markscheide] bezeichnet, und bei dem Prozeß, durch den diese Myelinhülle entsteht, spricht man von Myelinisation oder Markbildung. Die Geschwindigkeit, mit der Nerven Impulse weiterleiten können, ist eine Funktion der Stärke dieser Myelinhülle. Markhaltige Nervenfasern leiten Impulse schneller als marklose. Mithin ist die Sequenz oder das Muster der Markbildung ein verläßlicher Index für das Entwicklungs- oder Reifungsstadium des Gehirns. Das Gehirn ist in drei konzentrischen Schichten aufgebaut. Es besteht zunächst aus einer inneren Matrix-Zone, die nie vollends myelinisiert, dann aus einer mittleren Mantel-Zone, die als nächstes myelinisiert, und schließlich aus einer äußeren Marginal-Zone, die als letzte myelinisiert. 

»Die fortschreitende Markbildung des Neuralrohrs (des Nervensystems) ist das am leichtesten zu beobachtende Kriterium für die Entwicklung ..... Die Markbildung im Zentralnervensystem ist während der Schwangerschaftszeit nahezu ausschließlich auf die Fasersysteme der (nuklearen) Mantel-Zone in der Wand des Neuralrohrs beschränkt ... Sie verläuft von innen nach außen, auf die Marginal-Zone zu, aber die Fasersysteme, die sich in dieser äußeren oder kortikalen Zone entwickeln, beginnen erst gegen Ende der Schwangerschaftszeit, unmittelbar bevor das Kind mit dem extrauterinen Leben konfrontiert wird, Mark zu bilden.«1 (Klammern von M. H.) 

Dr. Yakovlev und andere haben sich mit einem Entwicklungsprinzip befaßt, demzufolge Gehirn und Körper des Menschen sich von innen nach außen entwickeln4, ein Prinzip, das für die Primärtheorie von großer Bedeutung ist. Formal gesagt, wird die Fähigkeit des Neugeborenen zur »anabolen Viszeration« (Aktivitäten der Viszera, bei denen die Energiespeicher des Körpers intensiviert werden) durch das innere Neuropilem des Gehirns vermittelt, und das umfaßt einen Satz von Verhaltens­möglichkeiten, die zum Zeitpunkt der Geburt voll entwickelt und somit funktionsfähig sind. (»Neuropilem« ist der formale Terminus für das engmaschige Filzwerk der Nervenfasern im Gehirn. Jedes Neuropilem [inneres, mittleres und äußeres] hat die Tendenz, als integrierende Einheit zu funktionieren.) Wäre das nicht so (wäre das innere Gehirn bei der Geburt noch nicht angemessen funktionsfähig), dann könnten Neugeborene nicht überleben. 

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Anoxie [Sauerstoffmangel in den Geweben] bei der Geburt, angeborene Funktionsstörungen und Geburts­traumata sind nur einige der zahlreichen Faktoren, die bei der Geburt dem Überleben entgegenwirken können. (Wir befassen uns hier nur mit denen, die überleben.) Zum Ende der Schwangerschaft ist das innere Gehirn also so weit entwickelt, daß es viszerale Reaktionen vermittelt, und das Zentralnervensystem ist zu diesem Zeitpunkt in der Mantel-Zone myelinisiert. 

Enthält die Mantelzone ein Fasersystem, das Schmerz zu registrieren vermag? Man kann diese Frage bejahen, und zwar aufgrund von Erkenntnissen, die Anfang der fünfziger Jahre von French und seinen Mitarbeitern6,7,8 anhand neurophysiologischer Untersuchungen gewonnen wurden; in ihren diesbezüglichen Publikationen weisen sie das Vorhandensein zweier Schmerzsysteme im Gehirn nach: ein klassisches, lateral gelegenes und ein mediales (mittleres) im retikulären Kern des Neuralrohres. Des weiteren wiesen sie nach, daß das mittlere, retikuläre System für den Zustand der Betäubung eine neurophysiologische Basis bildet. Dieses System spricht auf Anästhetika am stärksten an.

Hilgard10 zitiert Untersuchungen jüngster Zeit, bei denen durch elektrische Reizung von Zellen, die die Mitte des Mittelhirns (oberer Hirnstamm) umgeben, für die Dauer der Reizung (bei Katzen) Schmerzreaktionen beseitigt wurden. Ferner: »Es konnte nachgewiesen werden, daß diese Zellen sehr stark auf Morphin ansprachen und vermutlich die biochemischen Rezeptoren für dieses Analgetikum sind.«10 Das bestätigt die Existenz einer von der Peripherie zur Mitte des Mittelhirns verlaufenden Schmerzschleusung und legt nahe, daß diese Region Teil des Schleusensystems zwischen Bewußtseins­komponenten erster und zweiter Ebene ist.

In Anbetracht dessen könnte man sagen, daß bereits das Gehirn eines Neugeborenen hinreichend entwickelt ist, um Schmerz entlang dem Verlauf eines medialen retikulären Schmerzsystems weiterleiten und registrieren zu können. Diese Registrierungen werden in ein Vorderhirn weitergeleitet, das in großen Bereichen des subkortikalen Gehirns (embryologisch innerhalb der Mantel-Zone) Markbildung aufweist. Das Muster anschließender (postnataler) Markbildung im Kortex — in den Arbeiten von Flechsig nachgewiesen (zitiert und diskutiert von Yakovlev1, S. 17-32) — ist für eine Untermauerung der Primärtheorie von erheblicher Bedeutung.

Ganz allgemein gesagt trifft es zu, daß die Markbildung im Gehirn von innen nach außen verläuft, aber darüber hinaus gibt es auch im zerebralen Kortex ein postnatales Muster oder eine Sequenz der Markbildung.

»Ausgehend von diesen epoche­machenden Arbeiten über die zeitliche Sequenz nachweisbarer Markbildung in der weißen Substanz der Gehirnhemisphären und im Kortex teilte Flechsig den Kortex in vierzig bis fünfzig myelo-genetische Felder (Teile des Kortex, in denen sich Myelin bildet) auf, die er fortlaufend numerierte, entsprechend der Reihenfolge, in der sie myelinisierten«1 (Klammern von E.M.H.).

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Flechsig unterteilte sie in »ursprüngliche«, »mittlere« und »abschließende« myelogenetische Felder. Die jeweiligen Zahlen zeigen die zeitliche Abfolge an, in der die einzelnen Regionen Mark bilden.

Die erste kortikale Region, die Mark bildet, liegt im Gyrus präcentralis. Als zweite Region myelinisiert der Riechlappen (Zone des inneren Gehirns; Fasern, die den Schläfenlappen mit den orbito-frontalen Regionen verbinden). Äußerst interessant ist, daß als nächstes dann die primären sensorischen Projektionsfelder des Kortex Mark bilden. Sie tragen in der fortlaufenden Numerierung die Zahlen drei bis zehn. Nach sechs Monaten postnatalen Lebens1 läßt sich eine beachtliche Markbildung in jenen kortikalen Arealen nachweisen, die sensorische Daten von Berührungen und Körperempfindungen (3,6), von Sehen (8) und Hören (10) empfangen. Interessant ist ebenfalls die mediale Markbildung im inneren »Ring« des Kortex des Riechlappens (2, 5, 9). Als nächstes myelinisiert dann der limbische Kortex (mittlere Hirnzone), und im Anschluß an diese primären und medialen Zonen greift die Markbildung dann auf die sekundären Assoziationsfelder über.

Folglich gibt es für das menschliche Gehirn bereits vom Augenblick der Geburt bis zum sechsten Monat morphologische Anhaltspunkte für eine ausgereifte Rezeptionsfähigkeit primärer sensorischer Modalitäten. Die Bedeutung sensorischer Reizzufuhr wird später, nach weiterer Reifung und der Markbildung in den sekundären kortikalen Arealen gelernt. Wenn wir nun die »Angemessenheit« von Reizen betrachten, denen ein Neugeborenes oder ein Säugling ausgesetzt ist, sei an die Feststellung Sir Charles Sherringtons erinnert, daß Schmerz im Sinne einer nerval erzeugten Reaktion auf sensorische Reizzufuhr der weitaus angemessenste Reiz sei. Der normale Menschenverstand und die Erfahrungen, die man im Alltagsleben macht, sagen uns, daß Schmerz der angemessenste Reiz ist, um Reaktionen für Handlungen auszulösen; aber diese Beziehung ist auch wiederholt in neurophysiologischen Untersuchungen an Menschen und Wirbeltieren nachgewiesen worden. Es besteht daher keinerlei Veranlassung zu bezweifeln, daß das Nervensystem eines Neugeborenen oder Säuglings über die Verhaltensalternative verfügt, Schmerz zu empfangen, weiterzuleiten und zu registrieren.

Die Schwierigkeiten, schweren körperlichen Schmerz durch neurochirurgische Eingriffe zu lindern, und das Weiterbestehen starker Schmerzen selbst bei umfangreichen Gehirnläsionen (Gehirnbereiche mit beschädigten Nerven) zeigen deutlich, daß Schmerzwahrnehmung eine der wichtigsten Funktionen des Vertebratengehirns ist; von ihr kann das Überleben des Individuums und der Spezies abhängen. Reaktionen auf Schmerz haben für alle Kreaturen allerhöchste Priorität, ob auf rein reflexhafter oder auf symbolisch willensmäßiger Ebene. Eine der Hauptfunktionen des Gehirns ist es, die Reize aus dem Innern des Körpers und aus der Körperwand mit den Reizen aus dem extrapersonellen Raum zu integrieren.

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Die Aufmerksamkeit für Schmerzreize innerhalb und außerhalb des Körpers sowie der Körperwand liefert einen wesentlichen Beitrag zum Gesamtbewußtsein. Diese physiologischen und evolutionären Fakten führen zu der Hypothese, daß sich das Bewußtsein des Menschen primär mit Reaktivität auf Schmerz befaßt. Dadurch wird nicht die Bedeutung unserer symbolischen und intellektuellen Fähigkeiten in Abrede gestellt, aber wir haben für Schmerzreize niedrigere Schwellenwerte als für alle anders gearteten Reize, und das unterstreicht für unsere Betrachtung die Vorrangigkeit der Reaktivität auf Schmerz als der Hauptkomponente des menschlichen Bewußtseins.

 

Entwicklung der physiologischen Reaktivität  

auf Schmerz bei Säuglingen  

Peipers Arbeit12 befaßt sich mit der Entwicklung der Reaktivität auf Schmerzreize bei Neugeborenen und Säuglingen; sie liefert unmittelbar beobachtbare Daten, die im Rahmen dieser Betrachtung von Belang sind. Mehrere Autoren haben Reaktionen auf temporäre oder konstante Schmerzreize (hervorgerufen durch Nadeln oder Wäscheklammern) bei Säuglingen studiert. 

Die minimale Reaktion auf einen lokalen Schmerzreiz bei Neugeborenen und Säuglingen ist »motorische Unruhe, die normalerweise in dem gereizten Körperteil beginnt, die sich aber auch auf den ganzen Körper erstrecken kann. Diese motorische Unruhe läßt erst nach, wenn die gereizte Hautregion von dem schmerzhaften Gegenstand entfernt wird.«12 Konstante noxische Reizung wurde erreicht, indem man die Haut mit Wäscheklammern einzwickte. »Genauso wie bei den vorher beschriebenen Reizen besteht die einfachste Reaktion des Säuglings in ausgeprägteren Bewegungen des gereizten Bereichs.«

Es gibt mehrere wichtige Prinzipien, die durch derartige Untersuchungen über Schmerzreaktionen bei Säuglingen veranschaulicht werden:

  1. Schmerzreize führen bereits bei Säuglingen zu einer motorischen Reaktion, die in der schmerzhaft gereizten Körperregion am stärksten auftritt.

  2. Die Reaktionen sind bereits bei Neugeborenen dem Reiz angemessen: wenn eine Wäscheklammer am Gesicht angebracht wird, dann wird sie oft von der Hand berührt (und auch entfernt).

  3. Die Schmerzreize, die (wenn auch unbeholfene) motorische Reaktionen auslösen, waren, allgemein betrachtet, nur geringfügig noxisch (verglichen mit extremem Hunger, lebensgefährlichem Verschlucken etc.). Und doch waren selbst so geringfügig noxische Schmerzreize (die kleinere Regionen der Hautoberfläche betrafen) adäquat und lösten angemessene motorische Reaktionen aus.

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Im Hinblick auf die Entwicklung der angemessenen Reaktionsfähigkeit auf Schmerzreize untersuchte Czerny13 die Beziehung zwischen chronologischem Alter und Empfindlichkeit gegenüber elektrischen Strömen bei Kindern im Alter von einem Tag bis sechs Jahren. Er fand heraus, daß die zeitliche Abfolge des Reifungsprozesses mit einer zunehmenden Reaktivität auf elektrischen Strom verbunden ist; oder andersherum gesehen, daß sich die Reaktionsschwelle auf elektrischen Strom mit zunehmender Entwicklung senkt. 

Ein sechsjähriges Kind kann einen Reiz mit einem Achtel der bei einem einen Tag alten Kind erforderlichen Amplitude erkennen und vermeiden. Diese Steigerung sollte im Hinblick darauf gesehen werden, daß es sich um Versuche handelte, die die Haut betrafen, die äußerste Trennwand zwischen einem Kind und der Außenwelt, und nicht um die Viszera. Viszerale Reaktivität ist bereits bei der Geburt recht weit entwickelt; Gesamtkörperreaktionen auf viszerale Beschwerden treten bereits bei Frühgeburten auf (zum Beispiel bei Hunger, bei dem Bedürfnis aufzustoßen, bei Durst oder bei allen möglichen anderen viszeralen Beschwerden).

Alter (chronologisch) und Empfindlichkeit gegenüber primär induzierten Stromstößen

Alter des Kindes    
   Niedrigste Stromstärke, die erkennbare Reaktionen auslöst 
     in Milliampere

1 Tag...................................... 400
6 Tage .................................... 300
11 Tage................................... 300
17 Tage................................... 300
23 Tage................................... 250
3 Monate ................................ 250
9 Monate ................................ 250
2 Jahre ................................... 200
3 Jahre ................................... 150
4 3/4 Jahre .............................. 150
5 Jahre ...................................... 50
6 Jahre ...................................... 50

 

Wie bereits an anderer Stelle betont, spricht der Entwicklungsstand viszeraler Reaktivität (hinsichtlich der Mittellinie) und anaboler Viszeration zur Zeit der Geburt nachdrücklich dafür, daß das Reaktionsvermögen auf Schmerz im wesentlichen auf dieses System beschränkt ist. Das beinhaltet, daß Schmerz bei der Geburt oder in früher Kindheit sich später durch Symptome in der Viszera, also in der Mittellinie des Körpers manifestiert und durch den Hypothalamus und die Medianzone (das innere Neuropilem5) des Gehirns integriert wird. 

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Diese viszeralen Symptome oder Symptome erster Ebene bilden den Hauptteil psychosomatischer Krankheiten. Beispiele dafür sind neurotisches Naselaufen, Globus hystericus, Asthma, Zwölffinger­darmgeschwüre, einige Formen von Herzarrhythmie, Dickdarmgeschwüre, sexuelle Frigidität oder psychische Impotenz. Diese Symptome erster Ebene unterscheiden sich der Art nach von Spannungskopfschmerzen, Rückenschmerzen und neurotischen Schmerzen des unteren Rückens (zweite Ebene), die durch das (später ausreifende) mittlere Neuropilem integriert werden; und sie unterscheiden sich ebenfalls von Wahnvorstellungen, Paranoia und Phobien (dritte Ebene), die noch später durch den Kortex oder das äußere Neuropilem integriert werden.5 

»Wolowick untersuchte in ähnlicher Weise den Einfluß von Nahrungsaufnahme auf das Empfindungs­vermögen bei Säuglingen; er maß die Schwelle für (galvanischen) elektrischen Strom vor und während des Fütterns. Er stellte fest, daß Säuglinge während der Brust- oder Flaschenfütterung eine signifikant höhere Wahrnehmungsschwelle hatten, so daß eine beträchtlich stärkere Stromstärke erforderlich war, um eine Reaktion auf den elektrischen Reiz auszulösen.« (14; zit. in 12) 

Die Beobachtung, daß Füttern auf Säuglinge hinsichtlich des Verhaltens eine beruhigende Wirkung hat, ist mehr oder weniger eine Binsenweisheit. Weniger allgemein bekannt ist jedoch, daß die Schmerzschwelle während der Nahrungsaufnahme ansteigt. Die Schmerzmenge, die ein Säugling integriert, steht in Beziehung zur Bedürfnisbefriedigung viszeraler homöostatischer Bedürfnisse und der Bedürfnisse nach sozialer Interaktion. (Provence und Lipton15 und viele andere Autoren haben die verzögerte und gestörte Entwicklung von Körper und Geist bei Kindern dargestellt, deren viszerale Bedürfnisse weitgehend befriedigt wurden, deren Bedürfnisse für soziale Interaktion jedoch unbefriedigt blieben.) 

Eine erhöhte Reaktivität auf Schmerz angesichts unzureichender Bedürfnisbefriedigung im Säuglingsalter, die zu körperlichen und seelischen Krankheiten führt, untermauert die primärtheoretische These, daß Schmerz die kausale raison d'etre späterer psychischer Krankheit ist. Dr. Peiper schreibt in seiner Schlußbetrachtung: 

»Der Schmerzsinn ist bei dem Neugeborenen sehr gut entwickelt. Die Reaktionen haben das Ziel, den gereizten Hautbereich von dem Reiz zu entfernen. Das Neugeborene ist für taktile Reize und Druckreize sehr empfindlich. Eine Reihe von Reaktionen, die für den Säugling charakteristisch sind, wie beispielsweise Saugbewegungen und der tonische palmare und plantare Greifreflex, werden auf diese Art ausgelöst.«12

Die Reaktivität auf Schmerz ist eine früh und in starkem Maße repräsentierte Komponente der Funktion des menschlichen Gehirns. Die bereits erwähnten Untersuchungen von Flechsig zur Markbildung weisen darauf hin, daß bei normalen Kindern zur Zeit der Geburt die Hemisphären bei den Reaktionen auf Schmerz beteiligt sind. 

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Doch ist die Reaktivität auf Schmerz selbst im unteren Bereich des Neuralrohrs so ausgeprägt vorhanden, daß auch bei Neugeborenen ohne zerebrale Hemisphären (bei Kindern mit Anenzephalie*) so gut wie alle Reaktionen beobachtet werden konnten, die man bei normalen Neugeborenen auslösen konnte. (Mehrere Beispiele zit. in 12, S. 93) 

Auch das unterstreicht wieder das durchaus vorhandene Reaktionsvermögen auf Schmerz bei Neugeborenen und Säuglingen. Diese Reaktionen sind größtenteils auf die Viszera beschränkt, und Verletzungen auf diesem Gebiet führen später zu Symptomen zweiter Ebene. Menschen mit einer schmerzhaften Geburt oder schmerzreicher frühester Kindheit werden später als Erwachsene auf Streß mit viszeralen Funktionsstörungen reagieren. Diese Funktionsstörungen spiegeln obligatorisches Lernen fehlangepaßter viszeromotorischer Reaktivität im Hinblick auf eine schmerzhafte frühe Kindheit wider.

Wenn ein Mensch unter Streß ein Zwölffingerdarmgeschwür entwickelt, so entspricht das nicht all seinen Bedürfnissen, aber sein viszerales Bewußtsein (erste Ebene) ist durch Schleusung von seinem vollen Bewußtsein so wirksam abgeschirmt, daß sich das Geschwür trotz Milch und Beruhigungsmittel entwickeln kann. Diese Unzugänglichkeit ist allgemein bekannt und spricht für die Effektivität der Schleusen­mechanismen, die das Bewußtsein erster Ebene von dem zweiter und dritter Ebene trennen. Nur von einer Therapie, die die Schleusung (tiefer gelegene, nach unten gerichtete Schleusen) zu verändern vermag, ist zu erwarten, daß sie viszerale Symptome eines neurotischen Bewußtseins erster Ebene wirklich beheben kann. 

Daß die Primärtherapie Zugang zu Symptomen erster Ebene findet, ist inzwischen hinreichend belegt3 und zeigt sich physiologisch am deutlichsten durch eine nach der Primärtherapie zu verzeichnende anhaltende Senkung der Pulsfrequenz und des Blutdrucks auf Werte, wie sie sonst für Kinder charakteristisch sind, sowie durch ebenfalls während und nach der Primärtherapie auftretende Veränderungen des EEG (niedrigere Amplitude und EEG-Intensität). Die anfängliche Untersuchung über Veränderungen vitaler Körperfunktionen und des EEG wurden anhand 24 weiterer Patienten wiederholt und bestätigt. Wir schlagen vor, diese physiologischen Veränderungen als Kriterien für den nichtneurotischen Zustand zu betrachten, da Verhaltensbeobachtungen allein als Index für Besserung oder Heilung methodologisch notorisch unzuverlässig sind. 

1965 veröffentlichten Melzack und Wall die Theorie der Schleusenkontrolle für Schmerz (zit. in16), die bestätigt, daß die Schmerzschwelle nicht konstant, sondern variabel ist. Je nach Art des Reizes nimmt man den Schmerz mehr oder weniger wahr. Dieses Modell wurde anfangs entwickelt in bezug auf kleine und größere Nerven, die in das Rückenmark einmünden. Später dann hat Dr. Melzack darauf hingewiesen, daß im Mittelhirn ein Schleusensystem besteht, dessen Aktivitäten die Wahrnehmung von Reizzufuhr aus dem Rückenmark herabsetzt (16).

 

* Angeborenes Fehlen des Gehirns. Anm. d. Übers.

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Mit großer Wahrscheinlichkeit gibt es darüber hinaus mindestens noch ein weiteres Schleusensystem in den Gehirnhemisphären (Ausführlicheres darüber im folgenden Kap.). Der an dieser Stelle hervorzuhebende Aspekt ist der, daß die bei der Primärtherapie beobachteten Phänomene eine Bestätigung der Theorie der Schleusenkontrolle für Schmerz liefern. Konkreter, wenn bei Patienten in der Primärtherapie im Zusammenhang mit Primals, die ein physisches Geburts- oder Kindheitstrauma betreffen, Druckstellen und Blutergüsse aus jener Zeit wieder auftreten, dann sind fraglos Schleusensysteme am Werk. 

 

Ähnlich, wenn ein Primärpatient in einem Primal eine Mandeloperation wiedererlebt und dabei einen entzündeten, blutenden Pharynx hat, dann hat irgendeine Form von Schleusung diese Reaktion in potentieller oder latenter Form vormals zurückgehalten. Andersherum gesehen stellt sich die Frage: Wo waren derartige Verletzungen, bevor sie wiedererlebt wurden? Und wie sind sie in den Zellen gespeichert? Primärtherapeutische Phänomene wie diese sprechen überzeugend für ein Bewußtsein auf der Ebene der einzelnen Zellen und für starke Schleusensysteme, die bei einer Neurose verhindern, daß wir dieses Bewußtsein wahrnehmen. 

*

Primärtherapie ist keine Psychotherapie, sondern eine psychophysische Therapie, die Zugang selbst zu zellularen Aufzeichnungen früherer Schmerzen hat. Während eines Urerlebnisses sind die Schleusen für Schmerz erheblich gesenkt, so daß man Zugang zu alten Erinnerungen aus der frühen und frühesten Kindheit oder aus Zeiten vor der Geburt hat. Ein zusätzlicher Aspekt der Schmerzschleusung ist, daß es für biologische Systeme ein einmaliges Beispiel eines positiven Feedback-Systems darstellt. 

Während biochemische Prozesse, Enzymbildung, Stoffwechsel, Hormonspiegel etc. nach dem Prinzip eines negativen Feedback-Systems arbeiten, nimmt die Schmerzschleusung mit der Intensität des Schmerzes zu, und sie nimmt ab, wenn die Schmerzintensität sich verringert. Das ist, um eine Analogie zu benutzen, als stiege ein Deich automatisch an, sobald der dahinter liegende Wasserstand ansteigt. Ein extrem schmerzhafter Reiz führt zum Verlust des Bewußtseins, und das ist die äußerste Maßnahme — abgesehen vom Tod selbst —, die durch Schleusung ergriffen werden kann. 

Bei Neurose treten Schleusen in Kraft, um zu verhindern, daß wir frühen Schmerz wahrnehmen. Während eines Primals werden die Schleusen vorübergehend außer Kraft gesetzt, so daß man einen früheren Schmerz uneingeschränkt wahrnimmt und empfindet. Desgleichen setzt der abrupte Entzug eines »schmerztötenden« Analgetikums bei Neurotikern die Schleusen außer Kraft. In der Rückkoppelungsphase (Entzug) wird man buchstäblich von Urschmerz überwältigt. Das kann eine Psychose mit extrem hohem Blutdruck und Puls zur Folge haben. Bei Entzug eines Narkotikums im Rahmen der Primärtherapie kann man in einen sehr frühen Schmerz, in ein Trauma erster Ebene »stürzen«.

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In beiden Fällen kommt es zu einer vorübergehenden Verminderung der Schleusung alter Schmerzen. Ähnlich verhält es sich, wenn man von dem Bedürfnis zu weinen überwältigt wird, wenn zum Beispiel ein Familienmitglied stirbt oder wenn man einen sehr »emotionsgeladenen« Film sieht; dieser momentane Zugang zu Schmerz tritt immer dann auf, wenn eine vorübergehende Verminderung der Schmerzschleusung vorliegt. Man könnte Neurose dementsprechend fast folgendermaßen definieren: Man ist neurotisch, wenn man vor den schweren Schmerzen der frühesten und frühen Kindheit durch Schleusen wirksam abgeschirmt ist. Die Primärtherapie ist einfach deshalb eine wirksame Heilmethode, weil sie die Schmerzschleusung bei Neurotikern verringert.

Der Zugang zu Bewußtsein erster Ebene ist einer der wichtigsten Beiträge der Primärtherapie zur Psychiatrie. Dieser Zugang besagt, daß nicht mehr einfach ein Symptom gegen ein anderes ausgetauscht wird, wie es bei so vielen anderen Therapien geschieht. Wenn ein früher Kindheitsschmerz in der viszeralen Motilität registriert und durch den Hypothalamus integriert wird, dann liegt der Ursprung der Krankheit dort und nicht im Bewußtsein zweiter oder dritter Ebene (zu denen konventionelle Therapien einschließlich der Verhaltenstherapien Zugang haben). Es ist nichts damit gewonnen, wenn man Symbole (auf dritter Ebene) einfach austauscht, sofern die metabolischen und physiologischen Parameter der Neurose auf der ersten Ebene integriert sind.

Reaktivität auf alle Reize ist auf multiplen Ebenen im Nervensystem repräsentiert und re-repräsentiert, und es ist allgemein bekannt, daß die sensorische Reaktivität eines Säuglings gegenüber der eines Erwachsenen vergleichsweise primitiv ist. Die oben angeführten Untersuchungen zeigen jedoch, daß ein Neugeborenes (mit ausgereifter viszeraler Reaktivität ausgestattet) ein hinlänglich ausgereiftes Nervensystem hat, um auf sensorische Reize reagieren zu können, wobei Schmerzreize am adäquatesten sind. Ein unlängst erschienener Artikel25 liefert weitere Anhaltspunkte für hochentwickelte Reaktionen auf Umweltreize bei Neugeborenen. Er bringt Daten, die eine bemerkenswerte Synchronisation zwischen der Erwachsenensprache und den Bewegungen eines Säuglings, der diese Sprache hört, nachweisen. 

Diese Synchronisation wurde bei mehreren Sprachen, nicht aber bei arrhythmischen, sinnlosen Silben beobachtet. Und das scheint nicht nur für kindliches Sprechenlernen, sondern auch für das Lernen, sich wie ein Mensch zu bewegen, von Bedeutung zu sein. Arrhythmische oder zu schnelle, abrupte Reizzufuhr bei Säuglingen kann im späteren Leben unter Umständen Funktionsstörungen im Bewegungsablauf zur Folge haben (Verkrampfungen, Unbeholfenheit).

 

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Das duale Schmerzsystem im dreigeteilten Bewußtsein

Vorangestellt sei eine kurze Betrachtung der Neurologie des Schmerzes, die dann als Grundlage für eine spätere Diskussion der Entstehung von Neurosen dienen soll.

Sowohl klinische als auch neurophysiologische Beobachtungen der letzten fünfzig Jahre haben gezeigt, daß Schmerzwahrnehmung im Nervensystem von Säugetieren doppelt repräsentiert ist. Die Pionierarbeit von Henry Head (zit. in16), der seinen eigenen Nervus radialis durchtrennte und die Eigenschaften sensorischer Reize untersuchte, während der Nerv regenerierte, und die ihn dazu führte, die Existenz zweier Systeme von Nervenfasern zu postulieren, die zwei verschiedene Arten von Schmerzerlebnissen vermitteln, nämlich protopathische und epikritische Schmerzempfindung, hat noch heute Gültigkeit. Beispiele aus der klinischen Neurologie werden weiter unten angeführt.

Spätere neurophysiologische Untersuchungen haben Heads Postulat bestätigt, ohne daß es nennenswerter Korrekturen bedurfte. Das duale Schmerzsystem ist in einer unlängst erschienenen Arbeit (16, Kap. V) eingehend diskutiert worden. Schmerzwahrnehmung und -integration sind wissenschaftlich noch nicht vollends erfaßte Prozesse, es gibt jedoch bereits eine Vielzahl einzelner Erkenntnisse für diese Sinnesmodalität. Spezifische Schmerzrezeptoren wurden bislang noch nicht überzeugend nachgewiesen.

Die Auffassung, daß Schmerzwahrnehmung an »festen Nervenenden« beginne, mag durchaus zutreffend sein, interessant ist nur, daß diese »freien Nervenenden« selbst nie nachgewiesen werden konnten (16, S. 21). Der für Schmerzwahrnehmung hinreichende Reiz scheint Zerstörung oder mechanische Beschädigung von Körpergewebe zu sein. Gewebszerstörung ist offenbar durch einige Reize wie Hypoglykämie [stark herabgesetzter Zuckergehalt des Blutes] oder Ischämie [mangelhafte Blutversorgung mit erhöhtem Sauerstoffmangel] reversibel, führt aber bei anhaltender Dauer zum Tod der Zellen. Schmerz wird von Fasern mit großem Durchmesser (A-delta) und kleinerem Durchmesser (C) geleitet. Diese Fasern befördern unterschiedliche Schmerzqualitäten, aber, wie später noch gezeigt werden wird, die Schmerzwahrnehmung selbst ist ein Ergebnis der Interaktion dieser beiden Qualitäten innerhalb des Zentralnervensystems. Beide, die A-delta- und die C-Fasern sind nicht oder kaum nennenswert myelinisiert; daraus folgt, daß Schmerzwahrnehmung eine sehr alte und allgemeine Funktion im Nervensystem der Vertebraten ist, und unserer Meinung nach ist sie dessen wichtigste Funktion. 

Sie stehen im Kontrast zu den sehr viel markhaltigeren noch größeren Fasern, die die phylogenetisch neueren Funktionen der Haltungskoordination und des Vibrationssinnes vermitteln. Collins und andere (zit. in 16) haben »durch Reizung bloßgelegter peripherer Hautnerven bei Menschen nachweisen können, daß die Reizung dicker Fasern keinen Schmerz erzeugt; die Reizung von delta-Fasern erzeugte einen scharfen, stechenden, aber noch erträglichen Schmerz, während die Reizung von C-Fasern unerträglichen Schmerz erzeugte«. 

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Die Verteilung der Fasern, die unerträglichen Schmerz leiten, ist für die Primärtheorie von Bedeutung und wird später noch ausführlich erörtert. Anterolateral am Rückenmark sind die Nervenbahnen gelegen, die Schmerzinformationen leiten, d.h. im lateralen spinothalamischen Trakt. 

»Eine Durchtrennung dieser Bahnen führt immer zum Verlust der Schmerz- und Temperaturwahrnehmung auf der kontralateralen (gegenüberliegenden) Seite, zumindest vorübergehend. Des weiteren wurde durch unmittelbare elektrische Reizung der anterolateralen Bahnen im Menschen nachgewiesen, daß ungefähr 54 % der Fasern Schmerzinformationen befördern, der Rest teilt sich auf in Wahrnehmung von Wärme (37 %) und von Kälte (9 %)« (White u. a., zit. in 16). 

Eine wichtige Arbeit von Mark, Ervin und Yakovlev erbrachte den Nachweis, daß stereotaktische Zerstörung der ventrobasalen Kerne des Thalamus (posterior, inferior und lateralis) die Wahrnehmung von Nadelstichen auf der gegenüberliegenden Körperseite tatsächlich eliminierte, nicht aber Schmerz (kanzerösen Ursprungs) linderte. Im Gegensatz dazu ging die stereotaktische Zerstörung des mehr medialen intralaminaren Kerns und des Nucleus centrum medianum mit einer beachtlichen, zwei Monate anhaltenden Schmerzlinderung einher, ohne daß die Wahrnehmung von Nadelstichen verlorenging. So wurde eine Sinnesmodalität geschaffen, die einerseits eine genaue Lokalisierung von Nadelstichen auf der gegenüberliegenden Körperseite ermöglichte und andererseits einen Zustand des Gehirns, der Schmerzempfindung (von Kehlkopfkrebs) ausschloß. Selbst auf der Ebene des Thalamus wird zwischen protopathischen (leidend) und epikritischen (unterscheidend, nicht leidend) Sinnesmodalitäten unterschieden. 

Es zeigt sich also, daß unerträglich quälender Schmerzsinn medial im Nervensystem befördert wird. Die gleiche Arbeit brachte einen weiteren Beitrag zum Verständnis unerträglicher Schmerzempfindung anhand der Fallbeschreibung eines Patienten mit Zungenkrebs, der sich einer operativen Zerstörung des dorsomedialen (Mittellinie) Thalamuskerns unterzog. »Dieser Mann hatte Zungenkrebs mit starken Schmerzen in der rechten Kiefer-, Zungen-, Mund- und Nackenseite. Die Hauptläsion wurde im dorsalen medialen Thalamuskern angebracht und erstreckte sich bis in den anterioventralen Kern des Thalamus hinein. Diese Läsion führte zu keinerlei sensorischem Verlust oder Verminderung der Schmerzen des Patienten. Diesem Mann machten seine Schmerzen jedoch nichts aus, er litt nicht unter ihnen. Im Gegensatz zu anderen Krebspatienten mit Thalamusläsionen, die eine Schmerzlinderung, nicht aber eine Linderung des Leidensdruckes verzeichneten, war der Leidensdruck dieses Mannes ohne erkennbare Schmerzlinderung beseitigt«17 (Hervorhebung von mir).

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Die Tatsache, daß der Patient Schmerz empfand, ohne daß er darunter litt, ist analog dem Vorgang der Schmerzschleusung; in diesem Falle analog der Schmerzschleusung zwischen der Bewußtseinskomponente zweiter Ebene der Körperfühlsphäre und der Bewußtseinskomponente dritter Ebene des vollen Verstehens. Primärtheoretisch gesehen, stand dieser Mann unter einem Reiz, der normalerweise Leiden hervorruft, doch hat er nach der dorsomedialen Thalamusläsion nicht gelitten. Er war unfähig zu fühlen. Physiologisch kann eine ähnliche Schleusung auf nicht operative Weise durch Hypnose erzielt werden (vgl.10). Daraus läßt sich folgern, daß das Schleusensystem zwischen der zweiten und dritten Ebene des Bewußtseins, zwischen dem Wissen um den Schmerz und dem darunter Leiden, den dorsomedialen Kern des Thalamus mit einbezieht. Diese Schleuse kann unter Hypnose geöffnet werden (vgl. dazu 10) und durch Zerstörung des dorsomedialen Kerns maximal geschlossen werden.

Im Prinzip kann man mithin auf der höchsten Ebene körperlichen Leidens, das durch subkortikale Teile des Nervensystems integriert wird, bewußt und dennoch wahrnehmungsunfähig sein. Primärtheoretisch hieße das, daß man unter Schmerz stehen kann, ohne ihn wahrzunehmen, solange die Schleusenfunktion (Abwehrmechanismen) zwischen Bewußtseinskomponenten zweiter und dritter Ebene intakt ist. 

 

Die Diskussion über die Arbeit17, die der American Neurological Association vorgelegt wurde und weiter unten auszugsweise zitiert wird, beinhaltete mehrere Aspekte, die im Rahmen dieses Kapitels unmittelbar von Belang sind. Dr. Mark berichtete: »Eine Reizung des medialen ventralen Thalamus mit der großen Elektrode (bei wachsamen, wachen Patienten) erzeugte eine sehr andere Reaktion als eine Reizung des lateralen Bereichs des Thalamus (assoziiert mit Reizung der sensorischen Kerne des Thalamus). Die laterale Reizung erzeugt eine Empfindung, wie sie von Nadelstichen oder durch einen elektrischen Schock ausgelöst wird. Die mediale Reizung des Nucleus ventralis posterio des Thalamus — oder in einem Falle der Formatio reticularis des Mittelhirns — erzeugte eine Empfindung, die als >absolut grauenhaft beschrieben wurde, die jedoch nicht durch irgendwelche spezifischen Gefühlsmodalitäten genauer beschrieben werden konnte« (wie Hitze, Kälte, Vibrieren, Berührung etc.) (Klammern von mir). 

Es zeichnet sich das Prinzip ab, daß Gefühle ohne spezifische Typisierung oder ohne spezifischen Inhalt im Nervensystem medial repräsentiert sind; während wir »Worte über Gefühle« noch bis etwa zur Mitte unseres Lebens lernen, werden die Gefühle selbst vom Augenblick der Geburt an integriert. Phylogenetisch, im Hinblick auf die Evolution, und ontogenetisch, im Hinblick auf persönliche Entwicklung, erleben wir Gefühle, Jahre bevor wir ein Symbolsystem entwickeln, um sie zu beschreiben. Psychotherapien, die sich nur mit Worten über Gefühle befassen, beschäftigen sich mit einer symbolischen, abgeleiteten, kürzlich erworbenen Komponente zerebraler Funktion, und nicht mit den spontanen, ursprünglichen Zuständen des Gehirns, die man Gefühle nennt.

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Gefühlskrankheit wird offensichtlich großteils durch Verdrängung von Gefühlszuständen charakterisiert, Zustände, die selbst in Abwesenheit von Worten existieren können, die sie zu beschreiben suchen. Eine Therapie für Gefühlskrankheiten muß sich, sofern sie effektiv sein will, mit den in Unordnung geratenen Gefühlen selbst beschäftigen, und nicht mit deren symbolischen Repräsentationen. Primärtherapie befaßt sich ausschließlich mit gestörten Gefühlen. Das duale Schmerzsystem wird kortikal repräsentiert, ist gleichzeitig aber auch in den Nerven des Thalamus und der darunter gelegenen zu finden. Epikritischer Schmerz wird zum parietalen Kortex projiziert. 

Läsionen in dieser Region, wie sie häufig bei Patienten vorkommen, die einen Schlaganfall erlitten haben, erzeugen gegenüber vereinzelten Nadelstichreizen auf der gegenüberliegenden Körperseite eine völlige Taubheit. Solche Patienten können noch leiden und leiden auch tatsächlich, sie empfinden auf der betroffenen Körperseite unerträglichen Schmerz. Das zeigt erneut, daß Schmerzdiskriminierung getrennt von der Empfindung des Leidens repräsentiert wird. Das mediale System der Schmerzsensibilität — repräsentiert in den Kernen des Thalamus der Mittellinie — wird nach vom, zum orbitofrontalen Kortex projiziert, großteils über den dorsomedia-len Kern des Thalamus. Läsionen in diesem medialen System bewirken eine Veränderung in der Reaktion auf Leiden — beispielsweise ein Schlaganfall mit Zerstörung des dorsomedialen Kerns, Gliatumoren des Corpus callosum anterior oder Operationsläsionen bei frontaler Leukotomie oder Lobotomie. 

Dr. Yakovlev schreibt17: »Dr. Mark, Dr. Ervin und ich sind der Auffassung, daß lateral angebrachte Läsionen im Thalamus dazu neigen, die allgemeine Komponente eines streßgeladenen Erlebnisses — den <epikritischen Schmerz> —, die durch räumlich festgelegte Kanäle allgemeiner sensorischer Reizzufuhr geleitet wird, zu reduzieren oder ganz aufzuheben. Die mehr medial angebrachten Läsionen scheinen diese epikritische Komponente zu reduzieren, nicht jedoch die protopathische Komponente des Leidens (die persönliche, private Komponente); und die unmittelbar medialen Läsionen, sofern rostral (anterior) im Thalamus angebracht, scheinen Wirkungen zu erzielen, die denen einer frontalen Leukotomie oder denen einer Thalamotomie ähnlich sind« (kein Leiden, der Schmerz wird als solcher nicht empfunden) (Klammern von mir). 

 

Leiden, ein auf Schmerz bezogener spontaner Gefühlszustand, ist topographisch in der Projektion des Thalamus anterior zum orbitofrontalen Kortex gelegen. Der gesamte frontale Gehirnlappen, Stirnlappen bis zur Fissura Rolando, befaßt sich mit der endgültigen Integration motorischer Reaktionen auf Reize aus dem Körper oder aus dem extrapersonellen Raum.4,18 Die Vorderhornzellen des Rückenmarks sind die »üblichen, endgültigen Bahnen«13 des Körpers — des Aktionssystems —, aber diese Zellen reagieren auf die Selektionen des frontalen (motorischen) Kortex. 

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Für jeden besonderen Reiz haben wir eine potentielle Wahlmöglichkeit, nahezu jede motorische Reaktion zu vollführen, doch de facto tun wir das nicht; wir treffen eine Auswahl extrem selektierter besonderer Reaktionen aus einer Vielzahl möglicher Reaktionen. Im Hinblick auf Neurose wundert man sich oft, warum Neurotiker oft (selektierte) unangemessene Reaktionen vollführen, die häufig zu ihrem eigenen Nachteil wirken: Einige Menschen reagieren auf frustrierende Umstände mit erhöhtem Blutdruck, einige mit vermehrter gastrischer Säuresekretion, einige werden deprimiert, einige entwickeln Asthma etc., etc. Warum werden fehlangepaßte Ersatzreaktionen vollführt? Wie kommt es, daß man auf die eine Art fühlen kann und doch reagiert, als fühle man etwas völlig anderes? Es scheint so gut wie sicher, daß physischer und psychischer Schmerz und das in Verbindung damit erlebte Leiden die kausale Basis für die bei Neuro-tikern zu beobachtenden fehlangepaßten Reaktionen sind, und das entspricht dem wichtigsten Postulat der Primärtheorie2'3 und beruht auf Beobachtungen, die an Primärpatienten im Verlauf der Therapie angestellt wurden.

 

 

Schmerzschleusung

Dr. Janov hat in mehreren Publikationen2,3,20 auf die operationale Ähnlichkeit zwischen Neurose und Hypnose hingewiesen. Vor kurzem veröffentlichte Dr. E.R. Hilgard eine ungemein interessante Arbeit über das Doppelbewußtsein, das zu beobachten ist, wenn tief hypnotisierte Menschen schmerzhaften Reizen ausgesetzt werden.10

Er berichtet, daß der durch zirkulierendes Eiswasser an Hand und Arm verursachte Schmerz durch automatisches Schreiben mit der anderen Hand als schmerzhaft geschildert wurde, obwohl zu diesem Zeitpunkt keine äußeren Anzeichen für merkliches Unbehagen, noch anschließend posthypnotische Erinnerungen daran vorlagen. Er schildert eine gründlich beobachtete klinische Situation, in der ein Mensch auf die eine Art fühlt und gleichzeitig handelt, als fühle er etwas ganz anderes: »Im normalen, nicht hypnotisierten Zustand empfand sie das zirkulierende Eiswasser als äußerst schmerzhaft und unangenehm. Im durch Hypnose erzeugten Zustand der Analgesie [Aufhebung der Schmerzempfindung] berichtete sie, daß sie keinen Schmerz fühlte und ihre Hand in dem Eiswasser überhaupt nicht wahrnahm; sie war durch und durch ruhig. Und während sie verbal beteuerte, daß sie unter hypnotischer Analgesie keinen Schmerz fühlte, berichtete der von ihr losgelöste Teil ihres Selbst durch automatisches Schreiben, daß sie den Schmerz genau wie im normalen, nicht hypnotisierten Zustand fühlte.«

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Diese Patienten nahmen auch ihre viszeralen Reaktionen auf das Eiswasser, während sie unter Hypnose standen, nicht wahr. 

In der klinischen neurologischen Praxis begegnen einem gelegentlich Patienten mit unerträglichen Schmerzen. Die »Kleinnerv«-Neuropathien bei Diabetes, Lepra und Kollagenose, der Schmerz bei Kausalgie oder der spontane Schmerz des »Thalamus-Syndroms« bei der Dejerine-Krankheit sind Beispiele für klinische Störungen, die mit unerträglichen Schmerzen einhergehen. Bei solchen Schmerzsyndromen genügt der leichteste taktile Reiz an der betroffenen Hautregion, um den erlebten Schmerz spürbar zu intensivieren. Jede Berührung wird als äußerst unangenehm empfunden.

Bei Patienten mit protopathischen Schmerzen kommt es zu individuellen Unterschieden, die von quälendem Schmerz über Agonie bis zu stoischer Gelassenheit und Dumpfheit variieren. Ähnlich gibt es auch im normalen Leben Beispiele für starke Schmerzreize mit einer großen Variationsbreite des Schmerzerlebens und des dazugehörigen äußeren Ausdrucks. Der Skifahrer, der nach einem Sturz mit einem gebrochenen Bein auf seinen Skiern nach Hause fährt und den Bruch erst bemerkt, als er wieder in seiner Hütte ist; der in der Schlacht verletzte Soldat, der weiterkämpft, als sei ihm nichts Ernstes passiert; der Patient, dem ein Zahn gezogen wird, während er über Kopfhörer laute Geräusche hört, und der den Schmerz nicht registriert; die »erträglichen« Wehenschmerzen einer Gebärenden, die ihren Atem kontrolliert (LaMaze-Methode) — das alles sind Beispiele für Schmerzschleusung im Rahmen normaler Alltagserlebnisse.

1965 veröffentlichten Melzack und Wall die Theorie der Schleusenkontrolle für Schmerz, eine Theorie, die angesichts der daraufhin erfolgten Untersuchungen, die das Schleusenprinzip benutzt haben, um schwere Schmerzsyndrome zu lindern, validiert zu sein scheint. Die Schleusen-Kontroll-Theorie ist kürzlich von Melzack (16, S. 153-165) überarbeitet worden. In diesem Kontext von Belang scheint mir die Vorstellung zu sein, daß die Reizschleusung sowohl zentral als auch auf der Ebene des Rückenmarks (der substantia gelatinosa) stattfindet.

Die bereits zitierten Untersuchungen von Wolowick14 und Hilgard10 liefern überzeugende Beispiele für eine Schmerzschleusung im Telencephalon [Endhirn]. Ein weiteres Beispiel für die Schleusenfunktion sind einige Fälle von Schläfenlappen-Epilepsie, die eine Fähigkeit zeigen, während des Anfalls komplexe Verhaltensweisen »hoher Ebene« auszuführen, an die sie nach dem Anfall keinerlei Erinnerung mehr haben. Autowaschen, ein Rezept schreiben, Autofahren, Kochen sind einige der Verhaltensweisen, die diesem Autor von Familienangehörigen der Epileptiker berichtet wurden, welche die Patienten während eines Schläfenlappen-Anfalls beobachtet haben. Schlafwandeln und im Schlaf sprechen sind ebenfalls Ausdruck von Schleusenfunktionen; auch hier können sich die Betroffenen hinterher an nichts mehr erinnern.

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Die Relevanz der Schleusenfunktion für Neurotiker liegt in dem gemeinsamen Nenner einer selektiven Bewußtheit und einer nicht voll bewußten Fähigkeit, verbale und motorische Reaktionen auszuführen. Relativ komplizierte Reaktionen »hoher Ebene«, an die später jegliche Erinnerung fehlt, demonstrieren vermutlich eine Schleusenoperation zwischen den Bewußtseinskomponenten zweiter und dritter Ebene. Der Impuls zu reagieren und die tatsächlich (vom Körper als dem Aktionssystem) ausgeführte Reaktion werden geschleust und somit von dem Wissen um die ihnen zugrunde liegende Motivation abgeschirmt. Bei diesem Beispiel tritt Schleusung während einer epileptischen Entladung ein und vermutlich auch in kausaler Beziehung dazu. 

Psychomotorische Epilepsie der erwähnten Art, die mit »automatischen« Reaktionen einhergeht, tritt bei fokalen Entladungen auf. Ist die Entladung breiter gestreut, führt sie zu einem großen motorischen Anfall, bei dem »automatische« Reaktionen hoher Ebene nicht mehr zu beobachten oder vielleicht nicht mehr möglich sind. Offenbar sind einige Muster fokaler epileptischer Entladung, die klinisch psychomotorische Epilepsie erzeugen, in der Lage, das Schleusensystem zwischen den Bewußtseinskomponenten zweiter und dritter Ebene zu beeinflussen (indem sie die Schleuse schließen). Das hat Verhaltensweisen zur Folge, denen allen gemein ist, daß jegliche Erinnerung daran fehlt.

Die Lokalisierung derartiger Phänomene wird in den 1954 von Penfield und Jasper vorgelegten Arbeiten27 überzeugend dargelegt: »Attacken von Automatismus und anschließender Amnesie sind meistens das Ergebnis tiefer Sylviusscher Entladung (oberhalb und tief im Schläfenlappen) in beiden Hemisphären. Die Entladung, die Schläfenlappen-Automatismus erzeugt, liegt normalerweise — vielleicht sogar immer — in der grauen Substanz der periamygdaloiden Region und des Sulcus circularis insulae (vorn an der inneren Seite des Schläfenlappens). Dieses Areal wird eingegrenzt durch 1. die Insula, 2. die auditive Heschl-Querwindung, 3. die äußere Oberfläche des Schläfenlappens und 4. den Uncus« (Klammern von mir).

Diese Autoren machen ferner eine Bemerkung, die hinsichtlich der Vorstellung eines Schleusensystems bei Automatismus mit Amnesie von Bedeutung ist: »Entladung hier beeinträchtigt Gedächtnisaufzeichnungen und erzeugt eine Beeinträchtigung bewußter Prozesse, die für Automatismus charakteristisch ist. Die Erklärung könnte darin liegen, daß diese Region des Kortex mit einem weiter entfernten Mechanismus in funktioneller Beziehung steht, dessen Unversehrtheit für Verständnis und Gedächtnisaufzeichnung wesentlich ist.«27*

 

* Dr. Penfield merkt in einer Fußnote an: »Man könnte die Hypothese aufstellen, daß diese periamygdaloide Region grauer Hirnsubstanz ein wesentliches Verbindungsglied zwischen den Ganglienmustern des Gedächtnisses im Schläfenhirn und dem Teil des Mittelhirnsystems ist, das sich mit der Aufzeichnung gegenwärtigen Erlebens befaßt.«

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Versteht ein hart arbeitender Manager, der im Laufe der Zeit ein Zwölffingerdarmgeschwür entwickelt, wirklich voll und ganz, warum er so hart arbeitet? Verstehen Menschen voll und ganz ihre Asthma- oder Migräneanfälle oder ihr Stottern? Die Antwort lautet offenbar: nein (sonst würden die Symptome gar nicht erst auftreten). Diese Phänomene spiegeln eine Vielzahl verschiedener Schleusenoperationen auf zerebraler Ebene wider.

 

Gegenwärtig sind die genauen Mechanismen, die bei zerebralen Schleusenoperationen beteiligt sind, noch unbekannt, wenngleich einige Einzelerkenntnisse bereits vorliegen. Wenn wir Schleusung auf der niedrigst demonstrierbaren Ebene im Neuralrohr betrachten, scheint sie in der dorsolateralen grauen Substanz (Substantia gelatinosa des Rückenmarks und des Hirnstammes) angesiedelt zu sein. Hier scheint das Aktivitätsverhältnis kleiner und großer Fasern eine Interaktion einzugehen, die die Schmerzschwelle senkt oder hebt, so wie es ursprünglich von Melzack und Wall beschrieben wurde.20 

Das Schleusensystem erster Ebene wäre dann ein Strang von Zellen und Synapsen (Verbindungen zwischen den Nerven), der die Schmerzschwelle zwischen dem Nervensystem und der äußeren Umwelt senken oder heben kann. Über die nächsthöhere Schleusenebene, den Einfluß des zentralen Bereichs in der Formatio reticularis auf die untere Schleuse, schreibt Dr. Melzack16

»Verlängerte abnormale Aktivität könnte auch auf zentraleren Ebenen auftreten, das hätte einen anhaltend senkenden Einfluß auf die spinale Schleuse. So scheint die zentrale (tegmentale) Region der Formatio reticularis einen tonisch absteigend hemmenden Einfluß auszuüben: Reizung dieser Region vermindert die Größe kutaner Rezeptionsfelder von Zellen im spinoservicalen Trakt (Taub, zit. in16). Läsionen in dieser Region, die Hemmung beseitigen würden, erzeugen Hyperästhesie [Überempfindlichkeit] und Hyperalgesie [gesteigerte Schmerzempfindlichkeit] bei Katzen. Es ist mithin denkbar, daß abnormale retikuläre Aktivität das Niveau absteigender Hemmung reduzieren (oder deren Muster verändern) könnte und dadurch die Schleuse öffnet und die Basis für Hyperalgesie und Hyperästhesie (gesteigerte Schmerzempfindichkeit für Berührung und Nadelstiche) liefert« (Klammern von mir)

 

Die Untersuchungen von French, Verzeano und Magoun7 legen nahe, daß die mediale Formatio reticularis tatsächlich der Sitz einer zweiten Schleuse ist. Sie wiesen nach, daß sich in der Formatio reticularis, im Pons und im Mittelhirn nahe der Mittellinie Zellen befinden, die das ungewöhnliche neurophysiologische Prinzip der »Okklusion« aufweisen. Sie wiesen in ihrer Arbeit die Existenz zweier sensorischer Systeme nach und führten die verschiedenen Eigenschaften beider Systeme an. 

Sie boten dem durchgetrennten Ende eines Nervus ischiadicus (bei Affen) Schockreize (5 Volt, 2 msec) dar und den Ohren ihrer Versuchstiere auditive Reize (1 msec) und machten von zahlreichen kortikalen Arealen (einschließlich des primären akustischen sensorischen Projektionsfelds) sowie von relevanten subkortikalen Arealen Ableitungen. 

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»Dieses Experiment bestätigt früher gemachte, es zeigt, daß durch periphere Reizung ausgelöste aufsteigende Impulse sowohl in den klassischen sensorischen Bahnen als auch entlang der zentraleren Region des Hirnstammes zum Kortex geleitet werden. Wenn zwei Reize in schneller Folge verschiedenen Quellen dargeboten wurden, wurden weitere Anzeichen für die mangelnde Trennung von Modalitäten (Berührung und Hören) im medialen Hirnstamm offensichtlich. Wenn die Elektroden so angebracht wurden, daß sie die Potentiale beider Reize aufzeichnen sollten, stellte sich heraus, daß eine auditive Reaktion völlig eliminiert wurde, wenn sie einem Potential des Nervus ischiadicus in einem Abstand von dreizehn msec folgte, und sie war merklich gedämpft, wenn dieser Abstand eine halbe Sekunde betrug.«7  

 

Dieses Phänomen, daß ein Reiz einen anderen blockiert, ist das genaue Gegenteil von Bahnung, es entspricht vielmehr einer sehr langen Refraktärzeit in einem Netzwerk von Zellen; es ist ein anschauliches Beispiel für Schleusung auf der Ebene des Hirnstammes. Dr. R. Hernandez-Peon hat in einer glänzenden und ausführlichen Arbeit über die Neurophysiologie der Aufmerksamkeit Daten und Informationen zusammengetragen, die die Vorstellung einer sensorischen Schleusenfunktion, die im rostralen Pons und im Mittelhirn angesiedelt ist, nachdrücklich unterstützen.

Er geht nicht nur auf eine Schleusung sensorischer Information im Neuralrohr unterhalb dieser Region ein, sondern auch auf einen Beitrag der Schleusung zu allen zerebralen sensorischen Analysen, einschließlich Gedächtnis, Emotionen und Motivation. Es zeichnet sich das allgemeine Prinzip ab, daß die Formatio reticularis des Mittelhirns in ihrer reziproken Beziehung zum Neokortex und Limbischen System der strategischen Funktion dient, Aufmerksamkeit auf besondere sensorische Eingangsinformationen zu lenken und zu konzentrieren und irrelevanter sensorischer Reizzufuhr die Aufmerksamkeit zu entziehen. 

Die Konzentrierung der Aufmerksamkeit wird nicht nur durch Verhaltenskriterien dokumentiert, sondern auch durch elektrophysiologische Daten, die die selektive Verstärkung oder Hemmung nervaler Aktivität als Basis für gelenkte Aufmerksamkeit belegen. Ebenfalls erörtert werden einige der biochemischen Neurotransmittersubstanzen, die der allgemeinen Wachsamkeit dienen, im Gegensatz zu jenen, die konzentrierter Aufmerksamkeit dienen. (21, S. 173 f.) Das ältere Konzept, das in der Formatio reticularis des Hirnstammes lediglich ein Alarmsystem mit erregenden und hypnogenen (Schlaf herbeiführenden) Komponenten sieht, ist in dieser Arbeit dadurch überholt worden, daß ihre Rolle bei den Mechanismen selektiver Aufmerksamkeit nachgewiesen wurde. Unmittelbar von Belang im Rahmen unserer Betrachtung ist die Diskussion21 über Ablenkung (insbesondere von Schmerzreizen) (21, S. 159-167). Diese Daten sprechen überzeugend für die Existenz eines Schleusensystems zweiter Ebene.

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Darüber hinaus belegt Hernandez-Peon, daß eine Schleusenfunktion des Mittelhirns bei REM-Schlaf elektrophysiologisch nachgewiesen werden kann (21, S. 160-163); das unterstützt Dr. Janovs These, der zufolge REM-Schlaf ein Phänomen des Bewußtseins zweiter Ebene ist.22

Diese Arbeit liefert weitere Beweise für ein System, das im Mittelhirn eine Schleusenfunktion ausüben kann. Diese zweite Schleuse scheint einen selektiven Einfluß auf Informationen zu haben, die durch Reizzufuhr über das Rückenmark zum Bewußtsein gelangen. Es schleust nicht zwischen peripheren Nerven und dem Zentralnervensystem direkt, sondern zwischen Rückenmark, Medulla und Pons unterhalb und dem Nervensystem oberhalb des Mittelhirns. Wenn einige sensorische Reize nicht die Stammganglinien, das anterior limbische System des Neokortex erreichen, könnte man daraus folgern, daß das Schleusensystem des Mittelhirns Bewußtsein erster Ebene (viszerales Bewußtsein) von eher rostral integriertem Bewußtsein zweiter und dritter Ebene trennt.

Bevor wir den mußmaßlichen Sitz der dritten, noch weiter oben im Neuralrohr gelegenen Schleuse erörtern, wollen wir uns kurz mit dem Phänomen Morphin auseinandersetzen, das die Existenz der dritten Schleuse lebhaft veranschaulicht und das darüber hinaus nahelegt, daß die durch elektrophysiologische Techniken gefundenen Schleusen eine biochemische Basis haben, jede vielleicht mit einem eigenen Neurotransmitter.

»Das unvermittelte Einsetzen qualvoller Brustschmerzen« ist in der klinischen Medizin kein selten zu beobachtendes Phänomen. Innerhalb von Sekunden ringt der zuvor ruhige Mensch verzweifelt nach Luft, schweißgebadet und gepeinigt, von Schmerzen gequält, die so grauenhaft sind, daß sie durch keine Worte angemessen wiedergegeben werden können. Wenn man dann fünfzehn Milligramm Morphin intravenös verabreicht, sind diese Höllenqualen binnen nicht einmal einer Minute verflogen. Nach wenigen Minuten entspannen sich Gesicht und Körper des Patienten, der Atem geht wieder tief und regelmäßig, die Augen sind geschlossen — die Verwandlung ist vollkommen. Man fragt: »Haben Sie Schmerzen?« und er antwortet: »Ja, aber sie machen mir nichts aus, ich leide nicht unter ihnen .....« 

Das Wissen um den Schmerz (cognito) (dritte Ebene) bleibt, aber das Leiden (dolor) (erste und zweite Ebene) ist vorbei. Patienten, die durch Morphin von unerträglichen Qualen, wie sie zum Beispiel bei einer Herzattacke auftreten, befreit werden, werden in einen Gehirnzustand versetzt, dessen typische Merkmale dem schmerzbefreiten Zustand ähneln, der durch dorsomediale Thalatomie oder durch frontale Lobotomie erzeugt wird. Bei diesen Patienten ist die dritte Schleuse erheblich angestiegen, und das ermöglicht es ihnen, um den Schmerz zu wissen, ohne jedoch darunter zu leiden.

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Die einzelnen Details sind noch nicht erforscht, aber offenbar gibt es einen zwischen Thalamus und zerebralem Kortex eingeschalteten Schleusenmechanismus. Einige Eigenschaften des Limbischen Systems lassen vermuten, daß die dritte Schleuse hier liegt. Folgende Aussage von Dr. Melzack16 bezieht sich auf die Existenz einer dritten Schleuse, sie ist vermutlich für neurotisches Verhalten von Belang: »Welcher Mechanismus auch immer zugrunde liegen mag, es liegen jetzt überzeugende Anhaltspunkte für experimentell induzierte supraspinale neurale Phänomene vor, die unbegrenzt bestehenbleiben können. Elektrische Reizung der Amygdala oder anderer limbischer Strukturen mit niedrigen Stromstößen (die zunächst keine neuralen Auswirkungen oder pathologischen Verhaltensweisen zur Folge haben), die mehrere Tage nacheinander verabreicht werden, können nachträgliche Entladungen, Verhaltenskonvulsionen und eine monatelange Senkung der für diese Wirkungen erforderlichen Reizschwelle erzeugen.«

Die gründlich recherchierte Arbeit von T. C. Ruch23 über die wechselseitige Beziehung zwischen kortikalen Assoziationsfeldern und dem Limbischen System (einschließlich Hypothalamus) legt nachdrücklich nahe, daß der Sitz der dritten Schleuse im Limbischen System noch genauer spezifiziert werden kann. Hippocampus, Temporalplatte und Amygdala empfangen ebenso wie der Hypothalamus Fasern vom orbitalen Kortex. Der orbitale Kortex projiziert auch zum inneren Mittelhirn, zu der zuvor erwähnten (zweiten) Schleuse.21 Anatomisch sind diese Fasern in der Lage, die Funktionen der empfangenden Neuronen zu beeinflussen und eine Schleusenfunktion auszuüben. Physiologisch führt eine Zerstörung orbitofrontalen Gewebes zu Hyperaktivität (daher der Verlust einer entscheidenden Hemmfunktion), zu einer erheblichen Beeinträchtigung verzögerter Reaktionsleistung bei standardisierten diesbezüglichen Tests und, das ist von besonderer Wichtigkeit, zu einem Verlust bei einem Konditionierungsparadigma, bei dem auf ein Licht hin ein Schock erfolgt. (O. A. Smith, jr., zit. in 24, S. 470) (vgl. ebenfalls 24, S. 508, ref. 55).*

 

Offenbar ist die orbitofrontal-hypothalamische Projektion ein »Schleusensystem«, das zwischen dem Bewußtsein dritter Ebene einerseits und den Bewußtseinskomponenten erster und zweiter Ebene andererseits potentiell Schleusenfunktionen ausüben kann. 

 

* Dieser Verlust erlernter antizipatorischer viszeraler Reaktion auf Schmerz erfordert ebenfalls eine kleine Lasion im Hypothalamus sowie eine orbitofrontale Läsion. Das ist Teil der orbitofrontal-hypothalamischen Projektion, nicht jedoch unbedingt Voraussetzung für viszerale Reaktion an sich, insofern als daß der tatsächliche Schock noch immer einen beschleunigten Herzschlag und vermehrte Blutzirkulation auslöst, genau wie vorher (ohne Läsionen) nach dem Licht allein.

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Ein anderer Aspekt im Hinblick auf Schmerzschleusung in Dr. Smiths Arbeit ist der, daß vor einer orbitofrontal-hypothalamischen Projektionsläsion das Licht allein (vor dem Schock) zum Einstellen des Hebeldrückens für Nahrung führt. Nach den Läsionen jedoch wird das Hebeldrücken fortgesetzt, auch nachdem das Licht dargeboten wurde. (Das erinnert an Verhaltensweisen von Menschen nach einem [operativen] orbitalen Eingriff, an die selektive Abstumpfung von Reaktionen auf schmerzhafte Situationen, auf die vorher mit Spannung, Angst und einer Veränderung viszeraler Reaktionen reagiert wurde.) »Die wahrscheinlichste Interpretation ist die, daß die frontalen Areale in diesem Fall eine gelernte Verbindung bilden zwischen einem Lichtreiz und den niedriger gelegenen, vaskuläre Reaktionen kontrollierenden Zentren, und das ist eine Funktion, an der der Hypothalamus beteiligt ist« (24, S. 417). 

Hinsichtlich der Anwendung dieser Prinzipien auf seelische Erkrankungen beim Menschen heißt es: »1935 führte Moniz, ein portugiesischer Neurologe, eine Operation ein — die frontale Lobotomie —, bei der er die Verbindung zwischen dem orbitofrontalen Bereich und den tiefer gelegenen Bereichen des Gehirns größtenteils durchtrennte, ohne ihn jedoch von dem Rest der Großhirnrinde zu isolieren. Diese Operation hat bei Störungen, die durch emotionale Spannung gekennzeichnet sind, wie beispielsweise Angstneurosen, Involutionsdepressionen und manisch-depressiven Psychosen sehr günstige Auswirkungen« (24, S. 417).

Diese Information, im Kontext der Primärtheorie betrachtet, läßt erkennen, daß die orbitofrontal-hypo­thalamische Projektion eine Schleusenoperation auf Schmerz ausübt, und zwar derart, daß die erlernten Assoziationen dritter Ebene in engster Verbindung mit der zweiten Ebene (Körpermuskulatur, Spannung, Angst) und der ersten Ebene (beschleunigter Puls, Veränderungen des Blutdrucks, hormonelle Begleiterscheinungen) stehen. Läsionen dieser selektiven Schleuse im orbitofrontalen Bereich trennen bei einem Menschen die dritte Ebene (erlernte kortikale Assoziationen) von der Körperwand und vom Bewußtsein zweiter Ebene. 

Das Bewußtsein dritter Ebene wird des weiteren vom Bewußtsein erster Ebene getrennt, und zwar durch Reaktionen, die durch den Hypothalamus und Neuronen der Medianzone des Vorderhirns vermittelt werden. Es wird die Hypothese aufgestellt, daß die orbitofrontal-hypothalamische Projektion ein System ist, das die Funktion hat, den Zugang zwischen den Komponenten der dritten und zweiten Ebene sowie der des totalen Bewußtseins zu schleusen. Der mamilo-thalamische Trakt und die Projektion vom dorsomedialen Kern des Thalamus zum orbitofrontalen Kortex sind vermutlich Komponenten dieses (dritten) Schleusenmechanismus.

 

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Diskussion

 

Jene Untersuchungen, die Schleusenoperationen auf Schmerzreize und das Phänomen einer Impuls-Okklusion in der Formatio reticularis des Hirnstammes nachweisen, liefern Informationen, die die postulierte Existenz eines dreigeteilten Bewußtseins betreffen. Schmerzreize sind für den Organismus und sein Nervensystem von maximaler Relevanz. 

Starke Schmerzreize — seelischer wie körperlicher Art — können potentiell (und vermutlich tun sie es de facto) Muster nervaler Interaktion schaffen, die Bewußtheit der gesamten extrapersonellen und viszeralen Umwelt partiell ausschalten. Sehr allgemein gesagt, hebt ein schmerzhaftes Erlebnis die Schwelle für einen anderen (nicht schmerzhaften) Reiz und zwingt bestimmte Gehirnmechanismen, sich mit dem Schmerz auseinanderzusetzen. 

 

Und genau das ist einer der Hauptaspekte von Dr. Janovs Theorie, daß nämlich eben diese Auseinandersetzung mit Schmerzen, insbesondere mit frühen Kindheitsschmerzen, das ist, was im Erwachsenen die Wahrnehmungen und Reaktionen neurotischer Menschen bestimmt. Neurose ist eindeutig eine Störung, die das Bewußtsein eines Menschen beschränkt. Wenn Wahrnehmungen und Reaktionen unausweichlich in Beziehung zu frühem Schmerz stehen, folgt daraus eine Beeinträchtigung des Bewußtseins und eine Beschränkung der Reaktionsmöglichkeiten. Diese Beeinträchtigung findet vermutlich auf allen Ebenen des Neuralrohrs statt. 

Man kann auf der funktionellen Ebene der Viszera bewußt sein, das ist dann ein Bewußtsein des Fühlens. Man kann auf der funktionellen Ebene der Körperwand, des äußeren Ausdrucks und inneren ZuStands (Emotion) bewußt sein4; und letztlich kann man im Hinblick auf Vorstellungen, zwischenmenschliche Beziehungen und die sensorische Umwelt jenseits der Körperwand (dritte Ebene) bewußt sein. Es gibt kein biologisches »Unbewußtes«, nur verschiedene Ebenen des Bewußtseins, die, wenn blockiert (geschleust), »unbewußt« werden. Die Auffassung, daß das menschliche Gehirn im wesentlichen dreigeteilt ist4,5), dient als logischer Bezugsrahmen, innerhalb dessen sich ein größeres Verständnis von physischen Schmerzmechanismen und der Rolle, die Schmerz bei der Entstehung seelischer Krankheiten spielt, aufbauen läßt. Die Anwendung des Schleusenprinzips, das eine selektive Vermehrung oder Minderung von Schmerzwahrnehmung einbezieht, ist ungemein nützlich für ein künftiges Verständnis seelischer Krankheiten. 

Was Dr. Melzack über Schleusen und körperlichen Schmerz geschrieben hat16, scheint mir auch für seelischen Schmerz von unmittelbarer Relevanz zu sein und soll abschließend hier wiedergegeben werden:

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»Beobachtungen, daß 1. unangemessene Reize Schmerz auslösen können, daß 2. operative Läsionen diese Schmerzen normalerweise nicht dauerhaft beseitigen können, daß 3. neue Schmerzen und Auslösezonen sich unvorhersagbar auf ursprünglich nicht betroffene, vollkommen gesunde Bereiche des Körpers ausweiten können (man denke an den Austausch eines Symptoms gegen ein anderes, wie es bei konventionellen Psychotherapien oft der Fall ist --E.M.H.) und daß 4. Schmerz von unbegrenzter Dauer sein kann, können durch die alte Spezifitätstheorie des Schmerzes nicht erklärt werden. 

Der Schlüssel zum Verständnis dieser Schmerzzustände liegt vielmehr in der Erkenntnis, daß noxische Reizung lang anhaltende Veränderungen in der Aktivität des Zentralnervensystems erzeugen kann (z.B. als Neurose -E.M.H.). Es ist über fünfundzwanzig Jahre her, daß W. K. Livingston einen gedächtnisähnlichen Mechanismus als deren Basis vorschlug, und Nathan, Sunderland und andere (s. 6) haben diese Auffassung in jüngster Zeit unterstützt. Und doch hat dieses Konzept keine Anerkennung gefunden, zum Teil sicherlich, weil man nur sehr wenig über langfristige neurale Veränderungen wußte. 

Die Theorie der Schleusenkontrolle für Schmerz erlaubt die Behauptung, daß die Schleuse über lange Zeitabschnitte beeinflußt werden kann (in beide Richtungen, nach unten wie nach oben --E.M.H.). Die Eigenschaften dieser Beeinflussung werden verständlich vor dem Hintergrund jüngster physiologischer Erkenntnisse über Mechanismen, die langfristigen Aktivitäten im Zentralnervensystem zugrunde liegen. Die umfangreichen Spekulationen über diese Mechanismen verdeutlichen das Maß unserer Unkenntnis über Schmerzphänomene, die, gerade weil sie das größte Leiden des Menschen darstellen, unserer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen.« 

 

Zusammenfassung

Die Neurologie der Schmerzwahrnehmung ist dergestalt strukturiert, daß Schmerzmechanismen in der Neurosen­genese nahezu mit Gewißheit eine kausale Funktion haben. Diese Mechanismen teilen das umfassende Gesamtbewußtsein in drei physiologische Komponenten auf, die den Zugang untereinander schleusen und Bewußtsein durch die Erzeugung von Neurose reduzieren.

Dieses Kapitel dient dazu, die Primärtheorie zu unterstützen, insofern als sie Schmerz als notwendige Ursache einer Neurose erachtet und davon ausgeht, daß Schmerz wiedererlebt werden muß, sofern die Neurose behoben werden soll.

I.  Das Gehirn eines neugeborenen Menschen ist hinreichend entwickelt, um Schmerzreize zu registrieren.

II.  Das Schmerzsystem im Gehirn von Säugetieren ist dualistisch, es hat eine laterale Komponente, die das Wissen um den Schmerz vermittelt, und eine mediale Komponente, die das Erleiden des Schmerzes vermittelt.

III.  Untersuchungen über hypnotische Analgesie und über das Bewußtsein einiger Patienten mit Schläfenlappenepilepsie liefern Anhaltspunkte, daß sowohl im Großhirn als auch in der Formatio reticularis des Hirnstammes und im Rückenmark eine Schleusung der Gehirntätigkeit stattfindet.

IV.  Es wird postuliert, daß neurophysiologische Schleusenfunktionen in der dorso-lateralen grauen Substanz von Rückenmark und Hirnstamm, im medialen rostralen Mittelhirn und im orbitofrontalen Kortex die Schaltstellen zwischen der Umwelt und dem Bewußtsein erster Ebene und zwischen Bewußtsein erster und zweiter Ebene darstellen. Auf der höchsten Ebene, zwischen dem Bewußtsein dritter Ebene und dem der ersten und zweiten Ebene liegt das orbitofrontal-hypothalamische Projektions-Schleusensystem.

 

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