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5  Der Kampf

 

Janov 1972

 

70-72

Das Leugnen der eigenen Gefühle führt den Neurotiker dazu, neurotisch auszuagieren, das heißt, er agiert ein Gefühl aus, anstatt es zu fühlen. Darum findet der Kampf nie ein Ende – das Gefühl wird nie aufgelöst. Statt dessen gibt es immer nur symbolische Lösungen.

Zum Beispiel: Ein Mädchen wird von ihrem Vater ständig geschlagen und bedroht. Sie entwickelt Angst vor Männern, insbesondere vor deren Berührung. Sie läßt sich mit schwachen, nicht bedrohlichen, passiven Männern ein, oft mit Homo­sexuellen, die sie weder berühren, noch ihr bedrohlich werden. Auf diese Weise versucht sie, die Angst vor ihrem Vater symbolisch aufzulösen. Sie ist jedoch zum Unglück verdammt, weil sie sich selbst der Zuneigung eines wirklichen Mannes beraubt – eines wirklichen Menschen, der ihr Fürsorglichkeit entgegenbringen könnte.

Sie wird ständig darum kämpfen, diese Männer dazu zu bewegen, ihr Fürsorglichkeit entgegenzubringen. Doch das können sie nicht; sie sind zu passiv, zu schwach, sie haben selbst ein zu starkes Bedürfnis nach einem liebenden Vater oder nach einer liebenden Mutter. Wenn diese Frau einen schwachen Mann geheiratet hat und sich später von ihm scheiden läßt, so wird sie unbewußt wieder einen schwachen Mann suchen, weil die ihrem Verhalten zugrunde liegende Angst vor Männern ungelöst ist. Sie wird ständig darum kämpfen, ihren schwachen Partner stark zu machen, und gleichzeitig wird sie fürchten, daß er tatsächlich stark werden könnte.

Wenn diese Frau ihre unmittelbare, auf ihren Vater bezogene Angst hätte fühlen können, dann müßte sie ihre Angst nicht gegen­über allen Männern generalisieren. Das Problem liegt darin, daß ihr Bedürfnis nach einem liebenden Vater bestehenbleibt und sie dazu antreibt, ständig danach zu suchen, während ihre Angst aus der Vergangenheit sie veranlaßt, starke Männer, die ihr Schutz und Fürsorge geben könnten, zu meiden. Sie beherrscht die Männer, mit denen sie sich einläßt, nicht etwa, um sie zu kastrieren, sondern um zu verhindern, daß sie der »böse« Papi werden, ein Mensch, der sie wieder verletzen könnte.

Einen schwachen Menschen zu finden ist die symbolische Lösung. Und sie wird immer wieder schwache Männer finden, bis die beiden Gefühle der Vergangenheit – das Bedürfnis und die Angst – aufgelöst werden.

Ein weiteres Beispiel: Ein Mann steht unter dem Zwang, sich heimlich Frauenkleider anzuziehen. Seine Mutter wollte ein Mädchen haben und versuchte, ihn in dieser Richtung zu formen, während sein Vater einen »normalen« Jungen wollte. Es gab für ihn keinen Weg, beides zu sein. Folglich gab er sich für seinen Vater normal und versuchte heimlich, das Mädchen zu werden, das seine Mutter sich wünschte, damit er ihre Liebe erhielt. Er behielt sein Ritual bei, bis er schließlich fühlen konnte, was er ausagierte. Es langt nicht, zu wissen, warum er es tat, denn das Warum hatte er bereits Jahre zuvor in einer Psychotherapie gelernt, ohne daß das zu Ergebnissen geführt hätte. Er mußte die Begebenheiten, Szenen und Erfahrungen, die ihn geformt hatten, fühlen.

Einer der Wege, wie Patienten in der Primärtherapie zu ihren Gefühlen gelangen, ist der, daß sie genau beobachten, auf welche Weise sie ausagieren, denn sie wissen, daß sie ständig besondere Urgefühle ausagieren. Ein zwanghafter Sonnenbader fand zum Beispiel heraus, daß er versuchte, von der einzigen ihm zugänglichen Stelle Wärme zu beziehen – von der Sonne. Ein anderer Patient mit dem gleichen Wärmebedürfnis versuchte, sie durch Gott zu beziehen. Ein Patient nahm immer neue Projekte in Angriff, machte ständig Neuanfänge. Er agierte das Gefühl aus: »Gib mir noch eine Chance, Papi.« 

Es gibt Tausende symbolischer Kämpfe. Clubs beitreten, um die Familie zu bekommen, die man nie hatte; Partys organisieren, um sich nicht übergangen zu fühlen; ständig unterwegs sein, um nicht herausfinden zu müssen, daß man keinen eigenen festen Platz hat; andere ständig dazu bringen, einem selbst gute Ratschläge zu erteilen, um anzudeuten: »Ich weiß nicht weiter, hilf mir«; Geschichte studieren, um die eigene Vergangenheit zu erhellen; alte Häuser oder Autos kaufen, um sich selbst wieder zum Leben zu erwecken; ständig reden, um nicht das Gefühl zu haben, man sei der Aufmerksamkeit anderer nicht wert; sich schlecht verhalten, um anderen einen Grund zur Ablehnung zu geben; krank werden, um umsorgt zu werden; sparen, um sich sicher zu fühlen; ständig in Eile sein, damit einem niemand zuvorkommt; sich dumm anstellen, um zu sagen: »Erklär mir das, Mami.«

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Setzen Sie für die Punkte Ihren eigenen Kampf ein. Das wird vermutlich schwer sein, denn das Ausagieren hindert uns normalerweise daran, wahrzunehmen, was wir tun. Es ist automatisch unbewußt, weil das Gefühl unbewußt ist. Ein Mensch, der immer lieb und nett ist, als wolle er sagen: »Sei nett zu mir, Papi«, hat normalerweise kein von seiner sogenannten Persönlichkeit getrenntes Bewußtsein. Er begann in frühester Kindheit auf diese Art auszuagieren, und seine »Persönlichkeit« ist seine zweite Natur.

Ausagieren ist immer gegen die Gefühle gerichtet – es ist ein Weg, die Gefühle zu unterdrücken. Ausagieren hat zum Ziel, hervor­zubringen, was nicht gefühlt und gesagt werden konnte. Die Lösung besteht darin, das in der Therapie zu fühlen und zu sagen.

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