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1. Warum es nur eine Heilmethode für psychische Krankheiten geben kann

 

 

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Die Primärtherapie erhebt den Anspruch, psychische (um genau zu sein, psycho-physische) Krankheiten zu heilen. Mehr noch, sie behauptet, die einzige Heilmethode zu sein. Das impliziert, daß damit alle anderen psycho­logischen Theorien widerlegt sind und als überholt zu gelten haben. Es bedeutet, daß es nur eine einzige gültige Methode zur Behandlung von Neurosen und Psychosen geben kann. In diesem Kapitel werde ich erklären, warum das so ist.

Der Terminus »Heilung«, bezogen auf das Gebiet der Psychologie, ist schwer zu definieren. In der psychologischen Fachliteratur ist er wenig gebräuchlich. Man spricht statt dessen von »Remission«, von »Abklingen der Symptome«, von »besserer sozialer Anpassung«, »verstärkter Ich-Integration« etc. Einer der Gründe für den sparsamen Gebrauch des Terminus »Heilung« liegt darin, daß er untrennbar an eine »Ursache« gebunden ist. 

Heilen impliziert, die jeweilige Ursache zu beseitigen. Andernfalls handelt es sich lediglich um symptomatische Erleichterung. Eine bakterielle Infektion zu »heilen« heißt, daß Symptome, wie zum Beispiel Fieber, Kopf- und Halsschmerzen, Ergebnis eines zugrunde liegenden bazillären Prozesses sind, ferner daß ein solcher spezifischer Bazillus existiert und daß ein bestimmtes Antibiotikum einen solchen Bazillus abzutöten vermag. Wenn ein solcher Bazillus im Körper entdeckt wird und wenn das Antibiotikum ihn erwiesenermaßen vernichten kann, erst dann kann man von Heilung sprechen. Ohne derartiges Wissen kann man bestenfalls eine Erleichterung der Symptome bewirken, und das ist nach meiner Auffassung der Standort der Psychologie heute. Sie ist die Behandlung von Symptomen, und ihre Ergebnisse werden im Hinblick auf symptomatische Besserung ausgedrückt. 

Zur Neurosensymptomatologie gehört irrationales oder unangemessenes Verhalten. Besserung von Neurosen bemißt sich folglich an Verhaltens­änderungen. Man definiert Psychologie als »Verhaltens­wissen­schaft« und sieht ihre Aufgabe gemeinhin darin, menschliches Verhalten, nicht: menschliche Gefühle, zu untersuchen.

Weil psychische Störungen sich als so komplex erwiesen haben, haben wir es aufgegeben, eine einzige Ursache oder auch einige wenige Hauptursachen zu finden. Die meisten Theoretiker gehen davon aus, daß diese Komplexität mehr oder weniger undurch­dringlich ist. So steht zum Beispiel in dem Klappentext eines unlängst unter dem Titel <Neurotic Styles>* erschienenen Buches:

»Eine originelle, klinische Untersuchung über vier Formen von Neurose ... über die Beeinflussung ihrer Entwicklung durch Triebregungen; ihre mögliche Signifikanz für Kontrolle und Regulierung von Triebspannungen und ihre Beziehung zu Abwehr­mechanismen.« 

Auf Seite vierzehn der Einleitung schreibt der Autor:

»Es ist offenkundig, daß das Problem von Ursache und Ursprung [neurotischer] Funktions­formen und -weisen kein einfaches ist; vieles weist bereits darauf hin, daß sie Ergebnis komplexer Wechselwirkungen verschiedenster Art sein müssen. Ich werde über die Ursachen neurotischen Verhaltens wenig zu sagen haben ... Eine sorgfältige Untersuchung der Verhaltensweisen selbst und ein klareres, detaillierteres Bild der Formen kognitiver Wahrnehmung, emotionalen Erlebens und der Aktivität ist meiner Überzeugung nach eine unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis der Ursachen.«

Nachdem die Suche nach den Ursachen aufgegeben wurde, hat sich die Psychologie in ihren Untersuchungen aufgesplittert, so daß der eine Psychologe die Kognition erforscht, ein anderer die Wahrnehmung untersucht und wieder ein anderer sich mit Affekten befaßt, ohne zu sehen, daß jeder Aspekt Teil eines integrierten Ganzen ist. Mehr noch, sie berücksichtigen nicht, daß gerade das Fühlen uns menschlich macht und menschliches Verhalten, ungeachtet seiner Form, integriert. 

Überwältigt von der Komplexität von Neurosen, sind wir dazu übergegangen, unsere Untersuchungen aufzugliedern und voneinander zu isolieren, mit dem Ergebnis, daß wir uns nie mit dem ganzen Menschen befassen. Diese Aufsplitterungen führen infolgedessen zu keiner Heilmethode von Neurosen, verstanden als Pathologie des ganzen Menschen, das heißt physiologisch und psychologisch.

*  David Shapiro, Neurotic Styles, Basic Books, New York 1965.

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Das obige Zitat, das stellvertretend für die Auffassung vieler auf diesem Gebiet steht, zeigt uns, daß sich der Autor in Verhaltens­beschreibungen (Kognition, Aktivität) flüchtet, in der Hoffnung, durch subtilere Beschreibung zu tieferem Verständnis zu gelangen. Das ist ein grundlegender Irrtum. Erstens sind Beschreibungen der Manifestationen oder Symptome einer Krankheit nach wie vor lediglich Beschreibungen und besagen nichts über deren Ursachen. Zweitens sind es Beschreibungen von Verhaltensweisen und nicht von inneren Zuständen, was Neurose meiner Auffassung nach gerade ist. Weil die Neurose ein innerer Zustand ist, etwas, das wir ständig mit uns herumtragen, ist sie hartnäckig, voraussehbar und zwingend. 

Man könnte die gewöhnliche Erkältung in wissenschaftlicher Terminologie oder in der Sprache des Laien beschreiben — Halsschmerzen, verstopfte Nase usw. —, ohne der Heilung dadurch in irgendeiner Weise näherzukommen. Wissenschaftlich gehaltene Beschreibungen sind der besseren Verständigung wegen nützlich, sie erleichtern das Kategorisieren, beziehen sich jedoch nicht auf die Entstehungsgeschichte der Krankheit. Mehr noch. Verhaltensbeschreibung ist ahistorisch. Sie befaßt sich mit der Darlegung von Benehmen und kann qua Definition nicht teleologisch sein.

Jede Beschreibung, Diagnose, Erklärung oder Behandlungsmethode, die ahistorisch ist und sich mit gegenwärtigen Verhaltensweisen und Symptomen befaßt, ist zum Scheitern verurteilt, da die Ursachen psychischer Krankheit in der persönlichen Geschichte jedes einzelnen liegen; im großen und ganzen zentrieren sie sich um die frühe Kindheit und die frühen Beziehungen, die aus einem gesunden, unschuldigen, reinen Kleinkind einen überspannten Neurotiker machten. 

Ohne Berücksichtigung dieser frühen Erlebnisse kann es, wie Freud so gut wußte, keine Heilung geben; und es kann keine Heilmethode geben, die nicht auf irgendeine Weise die inneren Reaktionen auf diese frühen Begebenheiten zu ändern vermag; denn, wie bereits in meinem Buch Anatomie der Neurose* dargelegt, jene frühen Schmerzen bleiben in unserem Gesamt­körper­system eingeschlossen, verborgen unterhalb der Bewußtseins­ebene, und führen unerbittlich zu späterem neurotischen Verhalten.

Beschreibungen sind doppelt irreführend, weil sie häufig die Illusion einer Klärung bieten, während sie uns doch nur tiefer in das Dickicht komplexen Verhaltens verstricken. Wenn wir nur das Verhalten betrachten, so ist das in der Tat ein überwältigendes Forschungsgebiet, weil die Möglichkeiten neurotischen Ausagierens enorm sind.

* Arthur Janov: <Anatomie der Neurose: Die wissenschaftliche Grundlage der Urschrei-Therapie>

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Wenn wir uns für einen Augenblick von den neurotischen Verstrickungen distanzieren und einmal tiefer schauen, finden wir eine solche Komplexität nicht vor. Wir finden menschliche Bedürfnisse, in uns allen ähnlich; sie sind basal, tief und einfach. Und unbefriedigte Bedürfnisse sind der Quell, dem die ganze Vielfalt geistiger und psychischer Abirrung entspringt. Wir haben das nicht erkannt, weil wir uns nahezu seit Beginn der Psycho­therapie durch die Schriften Freuds haben fehlleiten lassen; er hatte einen naturgegebenen neurotischen Prozeß in uns allen postuliert. Tatsächlich naturgegeben jedoch ist menschliches Bedürfnis. Mangelnde Bedürfnis­befriedigung oder bedingte Bedürfnis­befriedigung bereiten den Boden für psychische Störungen.

 

Wir sehen das Freudsche Erbe in dem oben zitierten Buch: Spannung ist eine Grundgegebenheit — kontrolliert oder reguliert, doch nie vollends beseitigt. Demnach ist der beste Kontrolleur der gesündeste und nicht »normal« der integrierteste Mensch. Wenn man Neurose als naturgegeben, als genetischen Status oder gar als angeboren auffaßt und dann von Heilung spricht, so legt das den Verdacht auf »Quacksalberei« nahe. »Heilung« ist in den Sozialwissenschaften ein vielgeschmähtes Wort, weil es impliziert, daß man über »die Wahrheit«, die letzte Antwort verfügt. Der sicherste Weg für einen Gesellschafts­wissenschaftler ist es mithin, sich von dem ganzen Menschen fernzuhalten und statt dessen seine Wahrnehmungen, seine Reaktionszeiten, seine Bewegungen zu studieren oder Tiere zu beobachten und deren Reaktionen mit menschlichen Reaktionen zu vergleichen.

Der Glaube, daß neurotische und psychotische Vorgänge naturgegeben seien, impliziert notwendigerweise die Vorstellung von Abwehr­mechanismen. Der Glaube an die Notwendigkeit von Abwehrverhalten behindert die Erforschung der ihnen zugrunde­liegenden Faktoren. Das Bedürfnis zum Abwehrverhalten zu postulieren heißt, Neurosen in den Rahmen des Naturgegebenen einzuordnen. Es führt zu der Schlußfolgerung: Neurose ist normal, der »beste« Neurotiker ist der normalste. Wollen wir je begreifen, was Heilung wirklich bedeutet, dann müssen wir die gesamte Basis unserer Theorien neu bedenken.

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Weil wir die Ursachen nicht hinlänglich verstanden haben oder weil wir glaubten, die Ursachen psychischer Krankheit seien so unergründlich, sahen wir uns gezwungen, Theorien zu entwickeln, die den Begriff der Heilung umgehen. Wir haben einfach nicht verstanden, daß Erfahrung die Gültigkeit einer Theorie über menschliche Neurosen beweist und daß die einzige Person, die eine Wahrheit über sich herausfinden kann, diese Person selbst ist.

Um über Neurosenheilung zu sprechen, bedarf es einer genauen Vorstellung dessen, was Neurose ist. Neurose ist einfach ein Begriff, der einen Mangel an angemessener Integration aller physiologischen Systeme bezeichnet. Es gibt keinen Teil unseres organischen Systems, der das Etikett »Neurose« trüge. Psychologen haben Menschen als »neurotisch« bezeichnet, wenn deren Verhalten ihren beruflich geprägten Vorstellungen rationalen Verhaltens nicht entsprach. So kann ein Analytiker in der Unfähigkeit zu zeitlicher Lustverschiebung ein Anzeichen für eine Neurose sehen. Bei einem primär­therapeutischen Patienten kann gerade zeitliche Lustverschiebung Anzeichen einer Neurose sein.

Neurose ist ein Seinszustand, und ihr Hauptmerkmal ist Spannung. Neurotische Spannung kommt von verdrängtem Schmerz, sei er physischen oder physiologischen Ursprungs. Jedesmal wenn ein Erlebnis ungefühlt bleibt, weil es nicht integriert werden kann, entsteht Spannung. Spannung wächst mit jeder Verdrängung an, bis eine gewisse kritische Ebene erreicht ist, auf welcher der Mensch mehr verdrängt und abwehrt als fühlt, in stärkerem Maße unreal als real, eher irrational als rational ist. Wir nennen diesen Zustand »Neurose«. Es ist möglich, unter Spannung zu stehen, ohne neurotisch zu sein; doch es ist nicht möglich, neurotisch zu sein, ohne unter Spannung zu stehen.

Ich bin der Auffassung, die Grundlage allen irrationalen Verhaltens ist Schmerz, einerlei welchen Ursprungs. Frühe chirurgische Eingriffe können genauso wie psychische Traumata spätere Neurosen hervorbringen. Ein Trauma, sofern es schwer und früh genug ist, kann zur Neurose führen.

Ein schweres Trauma oder eine Vielzahl kleinerer Traumata können diesen kritischen qualitativen Sprung von einem angespannten zu einem neurotischen Menschen bewirken. Der kritische Übergang von Spannung zu Neurose wird gemeinhin von körperlichen Symptomen und irrationalem Verhalten begleitet — zum Beispiel nicht in der Lage sein, stillzusitzen und sich zu konzentrieren. Bislang haben Psychologen diese irrationalen Verhaltensweisen »Neurose« genannt.

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Aber Neurose ist nicht einfach ein offenkundiges Verhalten. Jedes offenkundige Verhalten ist Teil eines organismischen Verhaltensmusters, das die Funktionen der Blutgefäße, Muskeln und Nervenzellen mit umfaßt. Soziales Verhalten allein zu untersuchen ist lediglich eine weitere Fragmentierung des Menschen.

Nach innen gerichtetes neurotisches Verhalten kann Asthma und Geschwüre beinhalten, nach außen gerichtetes neurotisches Verhalten Stehlen oder Tabletten- und Drogenabhängigkeit. Beide Grundarten des Verhaltens entsprechen einem gesamten psycho-physiologischen Zustand — dem Ergebnis einer besonderen Lebensgeschichte.

In der Primärtherapie sinkt der Spannungsdruck; und wir haben uns des wissenschaftlichen Instrumentariums bedient, um dieses Phänomen zu messen.* Es ist von nicht geringer Konsequenz, daß sich Primärpatienten weniger angespannt fühlen. Zudem sind diese subjektiven Berichte auch gültige Daten.

Wie steht es mit Abwehrverhalten? Ist es immer notwendig? Es spielt keine Rolle, ob wir es für notwendig halten oder nicht; es ist eine natürliche Reaktion auf Bedrohungen des Organismus. In diesem Sinne ist es ein »natürlicher« Zustand, der eintritt, wenn das Leben uns nicht erlaubt, völlig natürlich zu sein — also eine Art sekundärer »Natürlichkeit«. Abwehrmechanismen sind notwendig, wenn wir jung und verletzlich und allzu starken Angriffen nicht gewachsen sind. Wenn wir älter werden und unabhängig, sind sie nicht mehr notwendig. Wir könnten uns ihrer entledigen, wenn wir nur wüßten wie.**

Die erste allgemein übliche Reaktion auf Schmerzüberlastung ist Verdrängung. Wir alle verdrängen. Wir unterscheiden uns nur darin, wie wir, entsprechend unserer jeweiligen Lebensgeschichte, den Urschmerz ausagieren. Die unterschiedlichen Arten des Ausagierens sind die verschiedenen Formen der Neurose — Homosexualität, Sucht, Transvestitismus etc. Psychologen sind zu Experten einzelnerKategorien und der von Neurotikern gewählten symbolischen Wege geworden.

 

*  Genaueres darüber in Arthur Janov, Anatomie der Neurose. 

**  Ich wiederhole: Abwehrmechanismen sind neurophysiologische Phänomene. Das heißt, wenn sie aufgehoben sind, ändert sich die Schmerzempfindlichkeit. Primärpatienten reagieren sehr viel empfindlicher auf schmerzstillende Medikamente. Ein Primär­patient, der bei einem chirurgischen Eingriff die sogenannte »normale« Dosis eines Betäubungsmittels erhalten hatte, wäre beinah gestorben, weil man diese Tatsache nicht berücksichtigt hatte.

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Der jeweilige Grad einer Neurose hängt im Grunde von dem Maß aufgestauten Schmerzes ab. Das Schmerzniveau bestimmt die Verhaltens­generalisierung; wie stark man auf die Gegenwart reagiert oder sie wahrnimmt und wie stark die Vergangenheit die Gegenwart überlagert. Ein Beispiel für dieses Generalisierungs­muster ist Promiskuität, zwanghaftes Essen und ständige Hunger­gefühle ein weiteres.

Kein Verhalten ist für und in sich selbst neurotisch. Man kann aufgrund einer Neurose essen oder nicht. Man kann ein Verhalten nur als neurotisch bezeichnen, wenn man es im Gesamtzusammenhang betrachtet. Es spielen sich viele innere Prozesse ab, um ein solches Verhalten hervorzubringen. Essen ist nicht einfach eine zum Munde führende Hand. Blutzuckerstand, Gehirntätigkeit, Adrenalin­ausschüttung und ähnliches sind mit im Spiel. Zwanghaftes Reden ist nicht einfach ein sich bewegender Mund und eine hin- und herschnellende Zunge. Es ist ein Bedürfnis, das einen Schwall von Wortkaskaden aus dem Mund eines Neurotikers hervorquellen läßt. Und ein Bedürfnis ist ein psychophysiologischer Gesamtzustand.

Neurosen zu »heilen« bedeutet lediglich, das Spannungsniveau durch Urerlebnisse auf ein Niveau herabzusetzen, auf dem der Mensch mehr fühlt als abwehrt; auf dem ihm sein Fühlen zugänglich ist; auf dem der primäre automatische Reflex nicht Verdrängung ist. Ist dieses Stadium einmal erreicht, dann ist es eine Frage der Zeit, bis genügend alte Schmerzen gelöst sind und neurotische Spannung aufhört, ein Problem zu sein.

Schmerz tritt in vielerlei Gestalt auf, doch die inneren Prozesse, die Schmerzen erzeugen, sind die gleichen. Die automatische Antwort ist Verdrängung; das Ergebnis ist Spannung. Wenn ein Kind weiß, wie seine Eltern tatsächlich für es empfinden, und die ganze Demütigung dessen mitsamt allen Implikationen fühlt, dann wird es nicht verdrängen, nicht unter Spannung stehen. Statt dessen wird es unendlich leiden. Weder die Schmerzen noch das Abwehrverhalten können durch eine warmherzige Umgebung getilgt werden (Gutes beseitigt nicht Schlechtes), noch durch Entschuldigungen, noch durch irgendwelche »äußeren« Faktoren wie eine therapeutische Begegnung.

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Um eine Heilung zu erzielen — das heißt, um von unbewußtem, die Neurose erzeugendem Schmerz frei zu sein —, muß man tiefe Gefühlserlebnisse durchmachen, die ein Abwehrverhalten letztlich überflüssig machen. Die Ursachen sind frühe Schmerzen, das Ergebnis ist neurotisches Abwehrverhalten, und die Heilung besteht darin, diese Schmerzen aus unserem Körpersystem zu eliminieren. Es gibt keinen Weg, ganz man selbst zu sein, solange nicht der letzte Rest des blockierten oder abgewehrten Selbst befreit ist. Es kann keinen plötzlichen »Durchbruch« zum eigenen Selbst geben. Abwehrmechanismen werden genauso Schritt für Schritt abgebaut, wie sie ursprünglich aufgebaut wurden. Keine warme Umarmung, kein lächelnder Therapeut, keine Änderung äußerer Lebensweisen werden das Abwehrverhalten ändern. Folglich kann nichts als Heilung gelten, was sich mit dem Hier und Jetzt, dem gegenwärtigen Verhalten oder mit Symptomen befaßt. Jede Neurose kann zeitweilig umgelenkt werden, aber es gilt, eine Geschichte innerhalb unseres Körpers in Angriff zu nehmen.

Der grundlegende Unterschied zwischen der klassischen Freudschen Methode und der Primärtherapie liegt darin, daß die Freudianer glauben, das Unbewußte oder das Es sei im Prinzip destruktiv und nicht anpassungsfähig und es bedürfe der Abwehr, um es zu bändigen und um uns äußeren Realitäten anzupassen. Wir hingegen gehen davon aus, daß das Unbewußte real und gesund ist und daß gerade Abwehr gegen diese Realität uns unreal und fehlangepaßt macht. Das Primär-Unbewußte ist voller Wünsche und Bedürfnisse — dazu gehören das Verlangen nach Zärtlichkeit ebenso wie Wut und Furcht. Diese Gefühle freizusetzen, das macht uns gesund. Freudianer glauben, das Unbewußte zu befreien, das heißt, »die Kontrolle zu verlieren«, sei grundsätzlich desintegrierend. Das Freudsche Unbewußte ist negativ, das Primär-Unbewußte ist positiv. Das sind diametral entgegengesetzte Auffassungen. Das Freudsche adaptive Selbst ist für uns unreal und neurotisch. Es ist das Destruktive — das, was die innere Realität zerstört.

All das heißt selbstverständlich nicht, daß nicht einige Dinge vorübergehend doch helfen. Therapeutische Methoden, bei denen Muskelkomplexe massiert werden, helfen fraglos, in diesen Muskelbereichen Spannung zu lösen. Der Patient fühlt sich anschließend tatsächlich besser. Aber Hilfe und Heilung sind zwei grundverschiedene Dinge. Man massiert ein Bedürfnis nicht weg.

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Bei einem Kind, das unter Spannung steht und bei dem sich die Muskulatur verkrampft hat, weil es sein ganzes Leben lang ein verzweifeltes Bedürfnis nach einem Vater hatte, der es nie in den Arm genommen, nie beachtet hat, wird dieses Bedürfnis nicht durch eine Lockerung der Muskulatur verschwinden. Doch wenn eine Massage der angespannten Muskeln die körperlichen Abwehrkräfte so weit löst, daß der Betreffende sein Bedürfnis fühlt, dann ist Massage mehr als eine Hilfe. Mit anderen Worten, Massage allein ist ahistorisch. Sie befaßt sich nicht mit der gespeicherten Geschichte. Massage, die dazu führt, diese Geschichte aufzubrechen, die zu Urerlebnissen führt, ist eine ganz andere Sache.

Meditation ist ein gutes Beispiel für eine ahistorische Art und Weise, sich mit der Neurose in ihrer offensicht­lichsten Form — nämlich Spannung — zu befassen. Der Meditierende kann seinen Körper nicht gänzlich und kontinuierlich erleben, weil ihn historische Barrieren daran hindern. All die frühen Schmerzen, die er nicht fühlend erlebt hat, blockieren sämtliche späteren Gefühle. Folglich kann er nur ein fühlender Mensch werden, wenn diese Blockaden beseitigt werden und wenn er fühlt, was er ursprünglich nicht gänzlich gefühlt hat. Zudem ist Meditation nicht realitätsorientiert. Urerlebnisse haben ihren Brennpunkt unmittelbar in der Realität. Das veränderte Bewußtsein bei Urerlebnissen ist reales Bewußtsein, kein sozial (das heißt neurotisch) erworbenes Bewußtsein. Bei Meditation ist der Brennpunkt ein Mantra, eine Blume, eine Vase; das bedeutet, daß sich der Mensch von dem, was real ist — nämlich er selbst —, hinwegkonzentriert. Mit dem Ergebnis, daß er die Spaltung zwischen dem Realen und dem Unrealen vertieft und die Spannung in seinem Körper erhöht.

Warum nun gibt es nur eine Heilmethode? Warum können nicht viele Theorien etwas beisteuern und gleicher­maßen eine gewisse Gültigkeit besitzen? Weil jede Theorie, die Urschmerzen als Grundwahrheit im Patienten ignoriert, die Ursachen der Neurose ignoriert. Gültigkeit bedeutet Wahrheit. Man kann sie nicht ignorieren und eine gültige Theorie entwickeln. Was gilt, ist einzig und allein die Wahrheit für den Patienten, für ihn und keinen anderen. Die Primärtheorie besitzt Gültigkeit, weil sie nicht zu begründen versucht, wodurch eine spezielle Neurose jeweils hervorgerufen wird. Nur ein Mensch, der ein Urerlebnis hat, kann das sagen. Die Primärtheorie besagt lediglich, daß die einzige Gültigkeit im Erlebnis selbst liegt. Die einzige psychologische Wahrheit ist erlebte Wahrheit. Alles andere ist eine Frage der Interpretation und damit der Verfälschung und Fehlinterpretation.

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Die von einem Therapeuten unternommene Interpretation der Gefühle und Gedanken eines Patienten ist Gedankenbildung über Gedankenbildung. Solange der Therapeut selbst ein blockiertes Bewußtsein hat, muß seine Interpretation in gewisser Weise von seinen eigenen Schmerzen abgeleitet sein, muß sein Verständnis von seinem Patienten subjektiv bleiben.

Wenn wir davon ausgehen, daß ein erwachsener Neurotiker ein Trauma, das ihm als Fünfjährigem zugestoßen ist, ausagieren kann, ist es dann nicht sinnvoll zu sagen, daß ihm, wenn er dieses Trauma einmal gefühlt hat, alles darauf beruhende Ausagieren klar wird? Warum brauchte er einen anderen, der ihm das klarmacht?

Was ist das Wesen konventioneller, auf Einsicht bauender Therapien? Ist es nicht ein Verbindungsprozeß zwischen heutigem Verhalten und heutigen Symptomen mit der Vergangenheit des Patienten? Der Grund, warum ein Mensch einen Fremden aufsuchen muß, um über sich etwas herauszufinden, liegt darin, daß seine Vergangenheit normalerweise vergraben und vergessen ist. Gegenwärtige Symptome können das Ergebnis von Jahrzehnte zurückliegenden Begebenheiten sein. Der konventionelle Therapeut erforscht für gewöhnlich jene vergangenen Ereignisse und versucht, davon ausgehend, zusammen mit dem Patienten Gründe für gegenwärtiges Verhalten zu extrapolieren. Ist es nicht sinnvoller, der Patient erlebt jene Vergangenheit erneut und vollzieht seine eigenen Extrapolationen? Ist dabei die Wahrscheinlichkeit für Fehlerquellen nicht geringer? Ich glaube, ja.

Ein Neurotiker muß sich lediglich mit sich selbst konfrontieren. Tiefe persönliche Erfahrung, bewußt verknüpft, kann nicht verfälscht werden. Gedanken über Erfahrungen und Erlebnisse eines anderen durchaus. Wenn ein Mensch nicht fühlt, wie etwa in der Hypnose, kann man ihm alles erzählen, und er mag es glauben. Ja, er mag sich sogar wie der »Filmstar« verhalten, bis ihm der Hypnotiseur (oder, auf subtilere Weise, die Eltern) sagt, er solle ein anderer sein oder etwas anderes denken. 

Die Psychotherapie befindet sich in vieler Hinsicht in einer ähnlichen Situation; sie befaßt sich mit dem Menschen in post-hypnotischem Zustand, dessen Verhalten post-hypnotischer Suggestion unterliegt, und versucht herauszufinden, welche Suggestionen dem Verhalten zugrunde liegen. Wenn man dem Menschen erlaubte, sich der hypnotischen Suggestion vollkommen bewußt zu sein, gäbe es nichts herauszufinden. Er würde den Grund seines scheinbar irrationalen Verhaltens kennen. Und das ist nichts anderes als die Position der Urerlebnisse. Wenn der Patient erst einmal Unbewußtes fühlt, gibt es nichts mehr herauszufinden oder zu folgern.

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Es ist wichtig zu verstehen, daß eine Theorie über menschliches Verhalten lediglich die Vorstellung eines Menschen ist, und die Tatsache, daß man sie Theorie nennt, macht sie um nichts richtiger als die Vermutung eines Barmannes über irgend jemandes Verhalten. Es gibt zwei Faktoren, die die Primärtherapie zu einer echten Wissenschaft machen. Der erste ist ihre Wiederhol­barkeit — der entscheidende Prüfstein jedes wissenschaftlichen Konzepts. Primärtherapeutische Methoden sind in der Hand jedes fähigen Primärtherapeuten, der Urerlebnisse hervorrufen kann, wiederholbar und führen zu dauerhafter Heilung. In der Hand eines Neurotikers allerdings helfen diese Methoden nichts, da können sie für den Patienten sogar gefährlich werden.

Der zweite Faktor ist die Vorhersagbarkeit. Was zählt, sind exakte Vorhersagen — Vorhersagen über Verhalten und Heilung. Solange man nichts vorhersagen kann, ist eine Vermutung so gut wie die andere, und jede Behandlungsmethode ist so gut oder so schlecht wie die andere, ob es sich nun um den guten Rat eines wohlmeinenden Nachbarn oder um den Rat eines sogenannten Experten handelt. Vorhersagbarkeit ist der Eckpfeiler jeder Wissenschaft, und nur in Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten der Neurosenbildung können wir Vorhersagen treffen. Wir Menschen sehen in uns vielleicht lieber kompliziertere, weniger vorhersagbare Wesen als physikalische Phänomene wie etwa Elektrizität. 

Aber wir sind, unter anderem, etwas Elektrisches und Chemisches und wir sind physikalischen Gesetzen unterworfen. Wenn ich sage: »Sobald ich diese beiden Drähte miteinander verbinde, wird die Glühbirne aufleuchten«, und das bei jedem Versuch tatsächlich geschieht, dann läßt sich sagen, daß eine wichtige Sache entdeckt wurde. Das sollte nicht weniger gelten, wenn erklärt wird, daß das Fühlen innerer Schmerzen Spannung und deren Symptome beseitigt, und dies wieder und wieder in vorhersagbarer Reihenfolge eintrifft. Wenn es Neurosen- und Psychosenbildung steuernde spezifische Gesetzmäßigkeiten gibt, dann kann es keinen Spielraum geben, keine falsche Bescheidenheit oder falschen demokratischen Ideale, die einer Vielzahl von Methoden Raum ließen. Es kann nur eine einzige Methode geben.

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Man mag meine Intoleranz gegenüber anderen kritisieren und bemängeln. Doch nicht ich bin intolerant; die Primär-Hypothese ist es. Wahrheit ist gegenüber Unwahrheiten äußerst intolerant. Gültige wissenschaftliche Hypothesen verdrängen die ungültigen. Von zwei Hypothesen wird diejenige die stärkere sein, die verständlicher, weniger symbolisch ist und die Grundstruktur des untersuchten Phänomens offenlegt. Diese Hypothese muß überprüfbar sein. Und sie muß Teil einer Theorie sein, die weitere überprüfbare Hypothesen hervorbringt. Das ist ein wesentlicher Punkt. Eine gute Theorie ist einfach. Sie sollte einen breiten Fächer von Tatsachen mit einer minimalen Anzahl von Hypothesen erklären. Die Theorie ist einfach, das untersuchte Phänomen komplex. Irgendwie haben wir das verkehrt und sind dahin gelangt, eine komplexe Theorie für eine äußerst gewichtige zu halten.

Psychotherapie war bislang in Schulen, in Schismen gespalten, die eher religiösen als wissenschaftlichen Phänomenen gleichen. Zu Schismen kommt es in der Religion, weil die Dinge nicht überprüfbar sind. Religion befaßt sich mit Geschehnissen außerhalb der bekannten oder verifizierbaren Realität. Die Tatsache, daß es in der Psychologie verschiedene Schulen — und zwar zu Dutzenden — gibt, ist de facto ein Zeichen dafür, daß auf unserem Gebiet Mystizismus und religiöser Eifer die Wissenschaft abgelöst haben. In unserem Gebiet bilden sich so leicht Schismen, weil sich das Denken weder unmittelbar auf die innere Realität unserer Patienten ausrichtet, noch davon ausgeht. 

Auch wenn wir alle darin übereinstimmen mögen, daß wir uns mit eben dieser Realität beschäftigen, so haben wir sie doch irgendwie aus den Augen verloren und haben uns statt dessen auf unsere Interpretation der Realität des Patienten verlassen. Wir entscheiden, was für ihn real ist, was er vielleicht fühlt, warum er sich so verhält, wie er es tut. Durch diese eigenartige Verkehrung glaubt der Patient schließlich diesen Unsinn selbst und paßt seine Realität der des Therapeuten an. Er glaubt an sein Es, sein kollektives Unbewußtes, seine existenzielle Leere, sein Bedürfnis nach Verantwortung und so weiter. Er glaubt, was ihm gesagt wird, und nicht, was er fühlt. Und der Therapeut glaubt letztlich, was er dem Patienten sagt. 

Um meine Auffassung zu verdeutlichen, einige Beispiele: Gegenwärtig sind drei Homosexuelle in primär­therapeutischer Behandlung. Jeder von ihnen hat einen der entscheidenden Faktoren seiner Homosexualität gefühlt. Der erste hatte nach viermonatiger Behandlung Sexualverkehr mit einer Frau.

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Unmittelbar nach der Ejakulation geriet er in ein tiefes Urerlebnis über den Schmerz, nie eine Mutter gehabt zu haben. Er hatte fast sein Leben lang Frauen gemieden, um den großen Schmerz zu umgehen, eine Frau — seine Mutter — zu wollen. Der zweite Homosexuelle hatte Urerlebnisse über seine Bemühungen, seinen Vater dazu zu bringen, nicht seinem besser aussehenden und begabteren jüngeren Bruder, sondern ihm Beachtung zu schenken. Zu seiner Homosexualität gehörte der Versuch, Männer anzuziehen, mit anderen Männern um die Liebe eines Mannes zu wetteifern.

Der dritte Homosexuelle hatte Urerlebnisse über die Zornesausbrüche seines Vaters und darüber, wie er schon früh im Leben eine väterliche Eifersucht gespürt hatte, wenn er mit seiner Mutter Zärtlichkeiten austauschte. Er lernte früh, seine Mutter (und später Frauen allgemein) zu meiden, um seinen Vater zu beschwichtigen. Fraglos müssen alle drei noch viele weitere Primals erleben, bis die gesamte Dynamik ihrer Homosexualität offenliegt. Aber wir lernen aus diesen Beispielen, daß es nicht den von Spezialisten zu erforschenden »Homosexuellen« gibt, ebensowenig wie es den von Spezialisten zu erforschenden »Heterosexuellen« gibt. 

Menschen werden aufgrund persönlicher Eigentümlichkeiten homosexuell, anderes sexuelles Fehlverhalten entsteht auf gleiche Weise. Der Grund für Homosexualität wird nur von dem betreffenden Menschen selbst entdeckt. Ähnlich unsinnig ist es, die Mechanismen eines zwanghaften Essers grundsätzlich zu diskutieren. Fettleibige Primärpatienten hatten Urerlebnisse darüber, daß sie in der Wiege verhungerten, andere wiederum fühlten, daß die einzige Befriedigung, die sie in ihrer frühen Kindheit erlangten, von einer Mutter kam, die köstliche Mahlzeiten bereitete. Keine Theorie kann irgend jemanden von irgend etwas heilen, sofern sie nicht diese persönliche Geschichte berücksichtigt.

Wie kann ein Therapeut bei der Vielfalt menschlicher Erlebnisse und Erfahrungen je wissen, was im jeweiligen Einzelfalle zu Heroinsucht oder Homosexualität geführt hat? Die Frage ist falsch. Ein Therapeut kann das nicht. Wie können wir die Wertigkeit eines besonderen frühen Erlebnisses hinsichtlich seiner Wirkung auf ein späteres neurotisches Symptom bemessen? Wir können es nicht. Aber ein Patient, der dieses Erlebnis fühlt, wird anhand der Intensität seines Fühlens wissen, welche Bedeutung es hatte. Einen frühen Schmerz zu fühlen und unmittelbar von Kopfschmerzen befreit zu werden, ist ein beredter Beweis für die Beziehung zwischen frühen Erlebnissen und Neurose.

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Eine Behandlung der Symptome — Übergewicht, Stottern, Alkoholismus, Lernstörungen — muß letztlich scheitern. Symptome können konditioniert oder »weggestraft« werden. Aber Schmerz, die kodierte, physiologische, persönliche Geschichte, kann nie aus unserem Gesamtkörpersystem heraus­konditioniert werden, ebensowenig wie irgendein anderer Teil unserer Physiologie wegkonditioniert werden kann. Psychogenes Stottern wird behoben oder geheilt, wenn der Mensch in die Lage versetzt wird, all die Worte, die er verborgen hielt, herauszuschreien. Sprechtherapie hilft. Sie hilft, mehr Spannung zu erzeugen, indem sie ein entscheidendes Ventil wegnimmt. Ein Mensch spricht normalerweise Babysprache, weil ein letzter Rest von ihm sich an eine nie erlebte Kindheit klammert. Eine Sprechtherapie kann ihm seine Kindheit nicht zurückgeben; sie bewirkt lediglich, daß er sich in seinem Sprachgebaren nur um so erwachsener gibt.

Hat ein Mensch Urschmerzen erneut erlebt und ihre Bedeutung für sich selbst interpretiert, so bedarf er nie wieder einer Therapie; noch wird er sich sein Verhalten je von einem anderen Menschen interpretieren lassen müssen. Wenn er ein Primal erlebt, ohne sprechen zu können, weil er eine Szene wiedererlebt, die in eine Zeit fiel, als er noch nicht sprechen konnte, besteht kein Bedürfnis, darüber zu theoretisieren, ob frühe, ungelöste Erlebnisse und Erfahrungen in unserem Gesamtkörpersystem verbleiben. 

Die Implikationen des oben Gesagten sind zahlreich: Erstens, Psychotherapie ist keine Lernsituation, in der man lernt, Dinge auf neue Art zu bewältigen. Alles, was der Patient je lernt, ist bereits in ihm, liegt im Hinterhalt. Er muß es nur Stück um Stück erleben. Jede Therapie, die eine Beziehung zu einem Therapeuten (die Freudsche »Übertragung« zum Beispiel) beinhaltet, ist falsch. Dem Patienten ist nicht damit geholfen, wenn er lernt, mit einem anderen besser umzugehen, auch nicht, wenn es sich um die Vaterfigur des Therapeuten handelt. In der Primärtherapie begegnet der Patient nicht seinem Therapeuten, sondern seiner in ihm selbst blockierten Vergangenheit. Neurose ist keine Frage zwischenmenschlicher Beziehungen; sie ist ein innerer Zustand. Wir tragen unsere Neurose mit uns herum, und sie existiert selbst, wenn wir uns allein in einem abgeschlossenen Zimmer befinden. 

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Ein Patient kann nicht auf den Rat eines Therapeuten hin lernen, aggressiver, freundlicher oder bescheidener zu sein. Zu viele frühe Barrieren stehen im Weg, als daß ein guter Rat irgend etwas bewirken könnte. Ein Patient mag in einer Gruppentherapie lernen, aggressiver zu agieren, doch das ist lediglich ein Agieren, und neues Agieren kann ein Therapeut immer lehren. Aber das ist kein natürliches Verhalten. Eine bestimmte Art des Agierens zu lernen heißt, daß es nicht natürlich ist. Es ist viel besser, dem zu vertrauen, was natürlich im Menschen ist. Er wird, sofern er gesund ist, aggressiv sein, wenn das erforderlich ist.

Zweitens, jede Begegnung in einer Gruppentherapie steht nur symbolisch für eine frühere Situation. Aggressives Verhalten in einer Gruppentherapie löst die frühen Blockaden nur symbolisch, und symbolische Lösungen sind, wie wir wissen, keine wirklichen. Ein Neurotiker fürchtet sich vor den anderen Gruppenmitgliedern oder vor dem Analytiker aufgrund früher Erlebnisse. Ein normaler Erwachsener hat keinen Grund, sich vor einem anderen Erwachsenen zu fürchten, solange dieser andere nicht tatsächlich gefährlich ist oder ihm droht. In Begegnungsgruppen kann man weniger ängstlich agieren, doch die Angst wird immer da sein und sich außerhalb der konventionellen therapeutischen Situation in den verschiedensten Formen äußern. Die beste Abwehr für jeden Menschen ist daher, abwehrfrei zu sein. Mit den eigenen Gefühlen ausgerüstet, hat man eine Position der Stärke inne — eine Position des Selbst. Wie können wir gesunden, wenn wir uns in eine Therapie begeben, die die Notwendig­keit von Abwehrverhalten postuliert? Natürlich zu sein heißt, in etwas sehr Solidem verwurzelt zu sein.

Theoretiker müssen von Theorien ausgehen, die Abwehrverhalten als Grundgegebenheit einbeziehen, weil sie selbst abwehren. Sie (wie wir alle) wehren so früh ab, daß Abwehrverhalten ebenso natürlich erscheint wie die Tatsache, zwei Arme zu haben. Wer Gefühle blockiert, braucht Abwehrmechanismen, und ein Psychologe muß sie in ein theoretisches System einbauen. In einem »altmodischen« Elternhaus heranzuwachsen, in dem Kinder Schachfiguren sind, dem autoritären Vater gegenüber macht- und wehrlos, wird zu einer Theoriebildung über »Machtbedürfnis« führen. Normalerweise werden Theorien entwickelt, um herauszufinden, was dem Abwehrverhalten zugrunde liegt. Wenn wir über die Vorstellung der Abwehrmechanismen hinaus gelangen, können wir uns dieser Theorien entledigen. Sich selbst gegenüber offen zu sein, ermöglicht es, alles Wichtige über das eigene Verhalten zu wissen.

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Keine Theorie über menschliches Verhalten kann einem weiter helfen. Wenn jeder Mensch sich selbst gegenüber offen wäre, gäbe es diese ganzen psychologischen Theorien mit Sicherheit nicht.

Dadurch, daß wir Erlebnissen und Erfahrungen unsere Gedankenbildung (Theorie) aufpfropfen, verirren wir uns. Wir lernen, der Theorie und nicht unserer eigenen Erfahrung zu vertrauen. Neurotiker, von der eigenen Erfahrung abgeschnitten, sind dafür besonders anfällig, und dabei bedürfen gerade sie der eigenen Erfahrung am dringlichsten. Sie reden von »Kastrationsängsten«, »Penisneid«, »Ich-Stärke«, »Identitätskrise«, »schlechtem Karma«, entsprechend der jeweiligen Richtung ihres Therapeuten, und sollten doch über nichts anderes sprechen als über das, was sie fühlen.

In wechselseitigem Feedback lernt der Patient den Jargon des Therapeuten zu beherrschen, und der Therapeut seinerseits sieht seine Theorie durch die Berichte seines Patienten bestätigt. Seine Auffassung erhält »Validität«. Und doch macht es keinen Sinn, von Natur aus neidisch auf einen Penis zu sein. Es macht keinen Sinn, einen genetischen Kode zu besitzen, der vorschreibt, daß sich ein Junge in einem bestimmten Alter seiner Mutter zuwendet und seinen Vater haßt. Es macht keinen Sinn, von analen und oralen Entwicklungsphasen auszugehen. Wir entwickeln uns als organische ganze Wesen. Erst wenn wir persönlicher Erfahrung theoretische Konzepte aufpfropfen, werden Leben und Menschen mystisch und unerklärlich, so wie Kinder, deren Gefühlen elterliche »Vorstellungen« aufgepfropft wurden, sich selbst zum Geheimnis werden.

Selbst eine scheinbar sinnvolle Theorie kann nicht wirklich Sinn ergeben, solange sie nicht persönlicher Erfahrung entspringt. Ich denke dabei an Otto Ranks Theorie über das Geburtstrauma. Rank glaubte, jede Geburt sei traumatisch, und neurotische Angst sei eine Wiederholung der die Geburt begleitenden prototypischen Angst. Seine Gedanken mußten im Bereich des Theoretischen bleiben, weil er keine Möglichkeit hatte, die Auswirkungen des Geburtsablaufs auf späteres Verhalten zu beobachten. Noch konnte er, allein aufgrund von Beobachtungen, wirklich wissen, daß das Neugeborene tatsächlich ein Trauma erlebte. Wir haben Dutzende von Geburtsprimals mit Videorekordern aufgenommen - Hände und Beine in fötaler Haltung, nach innen gerollte Augen, Stöhnen und Ächzen, doch keine Worte —, und diese Aufnahmen lassen bei dem Beobachter keine Zweifel darüber zu, was da vor sich geht.

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Wichtiger noch, der ein Geburtsprimal erlebende Patient hat keinerlei Zweifel über das, was er da durchmacht. Was diese Videoaufnahmen zeigen, ist ein unbewußter und ungewollter neurologischer Ablauf, der sich über ein oder zwei Stunden erstreckt — den Geburtskanal passieren, alle paar Sekunden krampfen, Strangulation durch die Nabelschnur, Verletzungen bei dem Durchtritt und so weiter. Als ich ein solches Ereignis zum erstenmal beobachtete, erlaubte mir meine damalige Theorie nicht zu verstehen, was da wirklich vor sich ging. Selbst nachdem mir der Patient erzählte, was sich seiner Meinung nach abgespielt hatte, war ich skeptisch. Erst nach zwei Dutzend weiterer Geburtsprimals war ich überzeugt — überzeugt von der Wahrheit der Erfahrung des Patienten, anstatt von meiner Theorie.

Wir wissen aufgrund unserer Beobachtungen, daß nicht jede Geburt traumatisch ist; traumatisch ist nur die Geburt die traumatisch ist. Ein solches Trauma prägt sich dem Nervensystem ein und ruft äußerst starke, lebenslange Spannungen hervor. Patienten mit jahrelanger Einzelanalyse sind verblüfft, wenn sie ein solches Erlebnis durchmachen. Obwohl sie sich in ihren Therapien oft jahrelang selbst beobachtet haben, sind sie überrascht, einen derartigen Kraftspeicher in sich zu entdecken — nur wenige Minuten von der Erfahrung entfernt, doch ohne je von dessen Existenz gewußt zu haben und ohne daß sie aufgrund irgendwelcher Indizien hätten folgern können, daß sie ein derart dramatisches Ereignis in sich bergen.

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Was ist der gegenwärtige Stand der Psychotherapie? Psychotherapie heute ist in vielem der Börse vergleichbar. Sie kann kunstvolle Grundprinzipien austüfteln, um bereits vollzogene Veränderungen zu erklären, aber sie kann diese Veränderungen nicht systematisch erzeugen. Beide, Psychotherapie und Börse, handeln mit Symptomen, mit Indizes. Wenn die Bankreserven niedrig und der Investitionsindex der Hersteller hoch ist, entscheiden wir post hoc, daß dies der Grund für eine Baisse ist. In gleicher Weise entscheiden wir, wenn sich ein Mensch einem psychologischen Test unterzieht und angibt, er könne nachts nicht schlafen, er müsse ständig in Aktion sein und habe oft Alpträume, daß er Ängste hat. Wir nehmen, was er im Test angibt, setzen es zusammen, geben dem Ganzen einen Namen und glauben, damit eine gewichtige wissenschaftliche Aussage zu machen. 

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Oder schlimmer noch, wenn ein Mensch seinem Therapeuten sagt, daß er seit zwei Jahren keine Drogen mehr nimmt, dann sprechen wir von einem thera­peutischen Erfolg. Der Patient mag ein gesellschaftlicher Erfolg sein, das heißt, er mag den gesellschaftlichen Vorstellungen guten Verhaltens entsprechen, aber er kann keineswegs als wiederhergestellt oder als Erfolg betrachtet werden. Wenn sein Spannungsniveau hoch ist, ist er weiterhin süchtig, auch wenn er nie wieder zu Drogen greift. Die Wahrheit liegt in der biologischen Verfassung, nicht nur in dem, was ein Neurotiker sagt, oder darin, wie er sich anpaßt. Unsere Biologie ist unsere Wahrheit; sie enthält unsere wahre Geschichte. Keine verstandesmäßige Lüge kann sie ändern, ebensowenig wie »korrektes« Verhalten sie zu ändern vermag. Wenn Psychotherapie diese Biologie nicht ändern kann, versagt sie. Neurotische Eltern versuchen für gewöhnlich, das Verhalten ihrer Kinder entsprechend etablierten Vorstellungen zu ändern und erzeugen dadurch Neurosen. Ein »guter« Therapeut, der Primärschmerzen umgeht, übernimmt im Grunde diese Funktion der Eltern, indem er versucht, das Verhalten seines Patienten zu ändern — unter Beibehaltung der Neurose.

 

Wie können wir sicher sein, daß wir über eine »Heilmethode« verfügen? Wie mißt man Heilung? Da Heilung beinhaltet, daß ein Mensch er selbst wird, könnte man die Frage folgendermaßen stellen: »Wie kann man beweisen, daß man man selbst ist?« Niemand sollte das beweisen müssen; Primärpatienten schon gar nicht, denn sie beschäftigen sich nicht mit begrifflichen Vorstellungen wie Heilung, sie sind lediglich damit beschäftigt, das Leben, das sie führen zu fühlen. Wenn ein Mensch sagt, er fühle sich gut, sein Verstand sei klar, und er habe »neue« Wertvorstellungen und »richtige« Ziele, so würden wir das, von einer verstandesmäßigen oder psychologischen Methode ausgehend, als signifikanten Beweis therapeutischer Effizienz bewerten. Genau das ist es ja, was Analysanden mit »abgeschlossener« Analyse über ihre Psychoanalyse berichten. Was aber, wenn wir gleichzeitig gründliche Messungen seiner physiologischen Funktion vornehmen und herausfinden, daß sein Spannungsniveau gestiegen anstatt gesunken ist? Was würden wir dann sagen? 

Eine Schlußfolgerung könnte sein, daß dieser Mensch sich nur überredet hat, daß es ihm besser gehe — daß er Verstandeshaltungen eingenommen hat, mit Hilfe derer er sich wohler fühlt, obwohl sein Körper ihm widerspricht. Ein Herzinfarkt mit siebenundfünfzig Jahren ist dann ein beredtes Zeugnis dafür, daß er es nie wirklich geschafft hat.

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Verstandesmäßige Aussagen über Besserung dürfen folglich nur als ein Faktor unter vielen bewertet werden, wenn es um »Heilung« geht. Was uns beschäftigt, sind psychobiologische Wahrheiten, mit der Betonung auf dem Biologischen. Wir wollen die Integration des physiologischen Systems dokumentieren. Deshalb beschäftigen wir uns gegenwärtig mit wissenschaftlicher Forschung und führen unter anderem Messungen von Körperinnentemperaturen, Hirnstromkurven und Blutdruck durch. Wir erzielen einen Rückgang der Körper­innentemperatur von ein bis drei Grad Fahrenheit, was allein schon ein äußerst bedeutsamer Befund ist, der bei keiner anderen Behandlungsmethode verzeichnet wird. 

Ja, ein solches Phänomen ist in den Analen der Medizin unbekannt — ausgenommen in Fällen schwerer körperlicher Krankheit. Ich bin der Überzeugung, daß die Körper­innen­temperatur in unmittelbarer Beziehung zur Spannung steht und daß sie abfällt, wenn die Spannung sinkt. Einen ausführlicheren Bericht über unsere Forschungs­ergebnisse werden wir nach Abschluß des Projektes veröffentlichen. Es läuft selbstverständlich darauf hinaus, daß sich Menschen oft einen falschen Zustand der Zufriedenheit vormachen — Christian Science mag als ein Beispiel dafür gelten. Mithin kann das, was Menschen über sich selbst und ihr Angepaßtsein sagen, nicht immer für die volle Wahrheit genommen werden.

Mit Ausnahme der Psychiatrie gibt man sich auf keinem anderen Gebiet der Medizin dem Wahn hin, das Verständnis einer Krankheit behebe die Krankheit selbst. Aus unersichtlichen Gründen gehen auf Einsicht basierende Therapien von der Auffassung aus, daß es von Nutzen sei, die eigenen Probleme zu verstehen, und daß es dem Patienten um so besser gehe, je größer sein Verständnis ist. Meiner Meinung nach ist das nichts anderes, als wenn ein Arzt seinem Patienten erklärt, was sich bei einer Erkältung in den Nebenhöhlen abspielt, und dann erwartet, daß die Erkältung verschwindet. Eine Neurose ist genauso physisch wie eine Erkältung. Wer das bezweifelt, der frage einen Neurotiker, wie sehr er unter körperlichen Schmerzen leidet, wenn er unter Spannung steht. Großer Beliebtheit erfreuen sich heutzutage die Konditionierungs-therapien. Diese Therapien konzentrieren sich auf die Beseitigung von Symptomen, oft indem leichte Elektroschocks verabreicht werden, sobald der Patient das Verlangen zeigt, sich zum Beispiel Drogen zu spritzen oder zum Alkohol zu greifen.

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Ich glaube, daß sich Konditionierungsmethoden so großer Beliebtheit erfreuen, weil sie zum etablierten Denken gehören, das davon ausgeht, Verdrängung sei die beste Problemlösung. Patienten Schocks zu verabreichen, damit sie sich nicht länger unsozial verhalten, treibt die Gefühle nur tiefer und macht den Patienten auf lange Sicht gesehen kränker. Der Süchtige greift zwar nicht mehr zu Drogen, stirbt aber in relativ jungen Jahren an einem Herzschlag. Der Konditionierungs­therapeut kann jedoch einen Erfolg verbuchen, weil das Verhalten des Patienten »gut« war, das heißt, er hat über einen langen Zeitraum keine Drogen mehr genommen. Was ist währenddessen mit seinem Körper geschehen? Glauben wir ernsthaft, wir könnten das Bedürfnis nach einem freundlichen Vater oder nach einer warmherzigen Mutter durch Elektroschocks vertreiben? Können wir Jahre unseres frühen Lebens, die wir in Heimen verbracht haben, durch Elektroschocks ungeschehen machen?

Der Konditionierungstherapeut (oft auch Behaviorist oder Verhaltenstherapeut genannt) beobachtet das Verhalten und zieht aus seinen Beobachtungen Schlüsse. Zehn Jahre ohne den Griff zur Droge, zwei Jahre ohne homosexuelle Kontakte, das sind statistische Wahrheiten. Keine inneren Triebkräfte zu besitzen, die derartige Verhaltensweisen erzeugen, ist eine biologische Wahrheit. Das Fehlen innerer Spannung ist der Schlüsselindex, ungeachtet des tatsächlichen Verhaltens des Betreffenden. Es gibt viele Männer und Frauen, die gern homosexuelle Kontakte hätten, sich aber aufgrund ihrer moralischen Struktur nicht getrauen. Obwohl ihr Verhalten untadelig ist, können ihre Körper von ungelöster Spannung zerrüttet sein. Verhaltenstherapie ist eine oberflächliche Methode. Sie nimmt die Dinge so, wie sie sich geben, sie hinterfragt nicht das »Warum« des Verhaltens. Sie befaßt sich nicht mit den komplexen Zusammenhängen, die jeder Verhaltensäußerung eines Neurotikers zugrunde liegen. Süchtige, die von ihrer Sucht befreit wurden, ohne ihre innere Spannung aufgelöst zu haben, sind kränker, nicht weniger krank. Sie verdrängen in dem gleichen Maße wie zuvor, allerdings ohne über die Spannungsabfuhr zu verfügen, die etwas Erleichterung schaffen würde.

Wir müssen verstehen, daß Statistiken und Wissenschaft nicht synonym sind. Allzu oft verlassen wir uns auf Statistiken, um zu beweisen, was wir nicht fühlen können. Wir verstehen nicht, daß Gefühle Gültigkeit haben — daß Gefühle nicht etwas sind, was man als irrational und unvernünftig beiseite schiebt; wenn sich für einen fühlenden Menschen etwas richtig anfühlt, ist es wahrscheinlich auch richtig, vor allem wenn es um menschliche Belange geht. Statistiken messen Quantitäten, nicht Qualitäten; und Gefühle sind Seinsqualitäten.

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Fraglos können sich Neurotiker und Normale absolut gleich verhalten, gemessen an ihrer Leistung; in ihrem Beruf gleichermaßen erfolgreich sein. Nur steht der eine unter Spannung und der andere nicht. Bei gleicher Arbeit kann der eine wesentlich mehr Energien verbrauchen als der andere. Das Verhalten muß nicht Aufschluß darüber geben, ob die Leistungen neurotisch motiviert sind oder nicht. Ein Mensch kann durchaus gut angepaßt und produktiv erscheinen. Er kann sozial funktionieren, während sein Körper durch neurotische Spannung zerrüttet ist. Der normale Mensch zahlt keinen Preis dafür, daß er funktioniert.

Wenn es nur eine Frage biologischer Zustände ist, dann sind die Heilung ausmachenden Faktoren nicht kulturgebunden. Ein Eskimo, der ein guter Jäger und Anführer seines Stammes ist, ist krank, wenn sein Körper es sagt — wenn sein Körper unter einem psychosomatischen Leiden steht. Auch wenn er keine Vorstellung von psychosomatischen Krankheiten hat, schreit sein Körper unter seinen Schmerzen. Heilung muß mithin immer eine allgemeine, nicht kulturbedingte Heilung des Menschen sein.

Noch einmal, warum gibt es nur eine einzige Heilmethode? Weil Neurose die Unfähigkeit ist, Schmerz zu fühlen (und zu integrieren), und ihre Heilung bedeutet, spezifische Schmerzen zu fühlen, und nichts anderes. Wir können uns über die Techniken streiten, mit Hilfe derer Menschen zu ihren Schmerzen vordringen, nicht aber über die Schmerzen selbst — sie sind das ausschließliche Eigentum des Patienten. 

In konventionellen Therapien erwarten Patienten oft, daß sie sich »besser« fühlen, auch wenn sie nur eine verschwommene Vorstellung davon haben, was »besser« ist. Therapeuten und Theoretiker, die sich in dem Fallstrick verfangen, Patienten dazu zu verhelfen, daß es ihnen »besser« geht, müssen letztlich notgedrungen eine Norm aufstellen (wie zum Beispiel Glück, Produktivität, soziale Anpassung), während derer sie ihre Patienten messen. Wenn sie verstünden, daß es kein »besser«, sondern nur ein Realwerden gibt, was nichts anderes als man selbst werden heißt, dann würden sie automatisch zu einer anderen Form der Therapie gelangen, die den Patienten zu sich selbst führt. Nichts ist besser als das eigene »Selbst«.

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Patienten konventioneller Therapien hoffen zu oft auf Besserung und verharren in diesem Kampf mit dem Therapeuten, weil sie nicht wissen, worauf sie eigentlich aus sind. Sie fühlen sich nie richtig wohl, weil sie ständig unter Spannung stehen, sosehr sie sich auch anpassen, folglich bleiben sie in der Behandlung, setzen sich neue Ziele des Wohlbefindens — einen neuen Partner finden, eine neue Arbeitsstelle und so weiter. Menschen, die ihre eigene Realität hinter sich gelassen haben, können sich nicht voll und ganz selbst vertrauen. Sie überlassen sich den Vorstellungen und Theorien anderer, so wie sie sich den Gedanken und Wertvorstellungen ihrer Eltern überlassen haben. Sie haben vergessen, daß die Wahrheit über sie einzig und allein bei ihnen selbst liegt. Sie können sogar mißtrauisch werden, wenn sie aufgefordert werden, dem eigenen Urteil zu trauen. Sie trauen lieber anderen (weil sie das Selbst, dem sie wirklich trauen könnten, vergraben haben), und bedauerlicherweise besteht kein Mangel an Experten, die bereit sind, dieses Vertrauen auf sich zu nehmen und weisen Rat feilzubieten.

 

Die Primärtherapie geht davon aus, daß kein Mensch einem anderen dessen eigene Wahrheit vermitteln kann. Niemand kann das Verhalten oder die Träume eines anderen deuten. Es kann keine »Deutung« menschlichen Verhaltens geben. Wahrheit ist die Realität des Erlebens. Wenn eine Mutter ihr kleines Kind abrupt verläßt und dadurch Ängste hervorgerufen hat, so ist das die Wahrheit. Und wenn dieses Verlassenwerden als Erleichterung erlebt wurde, so ist das die Wahrheit. Kein Fachmann kann diesem Gefühl widersprechen. Ausschlaggebend ist natürlich, überhaupt zu fühlen. Wenn ein Mensch nicht fühlt, dann ist es schlimm um ihn bestellt, dann kann ihm jede Interpretation richtig erscheinen. Irrtümer bei Primärpatienten sind so gut wie ausgeschlossen, eben weil sie fühlen. Ihnen liegt nichts an der Deutung eines Therapeuten, und wenn sie dennoch eine erhielten, wüßten sie auf der Stelle, ob sie stimmt oder nicht. In der Primärtherapie ist es der Patient, der den Therapeuten zur Ordnung ruft — eine erhebliche Umstellung gegenüber der üblichen therapeutischen Situation.

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Wie sieht ein geheilter Patient aus? Ist er zufrieden und glücklich? Sofern er etwas hat, worüber er zufrieden und glücklich sein kann, ja. Primärtherapie löscht die Vergangenheit nicht aus. Wenn man später über sein früheres Leben nachdenkt, stellt sich notgedrungen Traurigkeit ein, weil das die Wirklichkeit war — das Leben war traurig. Aber es wird kein Schmerz vorhanden sein, denn Schmerz ist blockierte Traurigkeit. Ist der Schmerz einmal gefühlt worden, dann gibt es kein neurotisches Ausagieren mehr.

Ebensowenig vermag die Primärtherapie die Gegenwart auszulöschen. Da wir in einer grausamen und unrealen Welt leben, muß diese Welt für Primärpatienten notgedrungen sehr schwierig sein. Daran ist nichts zu ändern, wir können lediglich helfen, eine bessere Welt zu schaffen.

Weil es der Primärtherapie darum geht, ein krankes persönliches System umzustürzen, ist sie ihrem Konzept und ihrer Methode nach revolutionär. Ich glaube, einer der Gründe, warum es nicht schon früher eine revolutionäre Theorie gab, liegt in den Personen, die das Theoretisieren übernehmen. Psychologen rekrutieren sich höchst selten aus den arbeitenden und unterdrückten Schichten der Bevölkerung (in den Vereinigten Staaten gibt es erst seit kurzem mehr als eine Handvoll farbiger Psychologen). Meistens gehören sie der Mittelschicht an, den sogenannten »liberal-intellektuellen« Kreisen der Gesellschaft; und meiner Meinung nach ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß sie »liberale« Reformtheorien und -therapien entwickeln. 

Es wäre unlogisch, von Mittelschichts-Reformern revolutionäre Theorien zu erwarten. Noch unlogischer wäre die Erwartung, eine solche Theorie würde von Mittelschichts-Reformern mit offenen Armen begrüßt werden. Sie geben sich mit Reformen zufrieden, weil sie mit dem bestehenden System ihren Frieden geschlossen haben. Es ist bequemer, in Begriffen wie Dialog, Kommunikation und Konfrontation zu denken; es ist bequemer, der freundliche Therapeut zu sein, als einen Patienten (ein System) auf den Kopf zu stellen. Was wir jetzt brauchen, ist, die Kommunikation und den Dialog mit der Neurose zu beenden und das einzig Sinnvolle zu schaffen — nämlich den inneren Dialog.

Ein Mensch, der in einem Erziehungssystem aufwächst, in dem Lernen auf Drill und Pauken basiert, anstatt auf persönlicher Erfahrung, mag durchaus zu der Auffassung gelangen, einen anderen Menschen durch Einpauken neuer Gewohnheiten bessern zu können. Ein Erziehungssystem, das sich via Dialog und Kommunikation vermittelt, formt seine Schüler so, daß sie sich kaum von diesen Methoden abwenden werden.

Ein Erziehungswesen, das Lernblockaden nicht im Zusammenhang mit frühen familiären und umwelt­bedingten Einflüssen behandelt, ist verfehlt. Freud war der Wahrheit über den Ursprung von Neurosen so nahe, weil er kein Freudianer war. Er beobachtete und lernte. Er erforschte die frühe Kindheit. Er pfropfte seinen Beobachtungen und Erfahrungen keine angelernten Theorien auf. Und deshalb konnte er sich als Theoretiker weiterentwickeln und ständig Wandlungen vollziehen. Darum blieb er nicht beim frühen Freud stehen.

Ein letzter Grund, warum wir den Erfahrungen und Erlebnissen der Patienten nicht vertraut haben, ist in unserem beruflichen Interesse als »Experten« zu finden. Die Primärtherapie ist die erste Massen-Psycho­therapie, in der letztlich ein Partner dem anderen wird helfen können, in der Eltern ihren Kindern werden helfen können. Damit wird sich eine elitäre Expertengruppe mit ihrem Spezialwissen und ihrem Fachjargon als überflüssig erweisen. Es kommt äußerst selten vor, daß eine Elite den Vorschlag zu ihrer eigenen Beseitigung macht, und unser Fachbereich bildet da keine Ausnahme. Der Dr. med. und der Dr. phil. sind Symbole des Erfolgs, der Leistung und des Fachwissens. Diese Symbole werden nicht so leicht aufgegeben werden. Doch Ziel der Medizin sollte es sein, den Arzt überflüssig zu machen. 

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