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5  Die Schule      von  Boris Nikolsky

 

 

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Die Ausländer, die sich nach einem Besuch in Rußland ein Urteil über die Sowjetschule bilden, vergessen gewöhnlich die Vergangen­heit derselben zu berücksichtigen. Sie halten die heutige russische Schule für einen integrierenden Teil des gegen­wärtigen Systems und betrachten alle ihre positiven Eigenschaften ohne weiteres als schöpferische Leistung der Sowjets. Die schlechten Seiten aber werden kurzerhand durch Schwierigkeiten, die sich den jetzigen Behörden entgegenstellen, erklärt, oder auf den "verfluchten Zarismus" zurückgeführt. 

So entstandene Bilder entbehren nicht nur der richtigen Perspektive, sondern sie lassen es geradezu an wirklicher Lebenswahrheit fehlen. Es ist ja ohne weiteres klar, daß nur eine Gegenüberstellung der aus der Sowjetzeit stammenden Richtlinien und Tatsachen mit den entsprechenden Faktoren der vorhergegangenen Epoche einen Überblick über Verdienst und Fortschritt, oder aber Schuld und Rückschritt der Sowjetregierung im Bereich des Bildungswesens ergeben kann.

 

   Die geschichtliche Basis des russischen Schulwesens   

Die deutsche Volksschule wurde aus der Reformation, nach der Befreiung von der mittelalterlichen, scholastischen Gedankenwelt geboren. Die russische Volksschule verdankt ihre Entstehung den Reformen der 60er Jahre und besonders der 1861 erfolgten Aufhebung der Leibeigenschaft. Erst seit dieser Zeit — also nur ein halbes Jahrhundert vor dem Weltkriege — konnte das russische Volk frei seinem wachsenden Wissensdurst folgen. Neben der von Peter dem Großen ins Leben gerufenen staatlichen Schule zur Ausbildung der erforderlichen Fachleute entstanden damals die in erster Linie für die Pflege einer guten Allgemein­bildung bestimmten Stadt- und Gemeindeschulen.

Hier ist der Ursprung von zwei auf dem Gebiete der Volksbildung entstandenen Richtungen zu suchen: erstens, der aus dem Prinzip der Petrinischen Ranglisten entstandenen dienstlichen Richtung, welche die Qualifikation (das Diplom) an die Stelle der Standes­privilegien setzte, und zweitens die humanitäre Richtung, deren Vorkämpfer und Vertreter in den Ideologen der freien russischen Schule (1860-1917) zu suchen sind (Uschinsky, Pirogoff, Graf Tolstoi, Lessgaft u.a.). Diese erblickten die Haupt­aufgabe der Schule in der "Erziehung zum Menschen" (Pirogoff). Ein gewisser innerer Antagonismus zwischen diesen beiden Richtungen begann bereits seit 1861 allmählich den Charakter eines politischen Kampfes anzunehmen.

Die Regierung sah in der naturalistisch-humanitären Richtung mit wachsender Besorgnis den revolutionären Geist und den russischen Nihilismus der 60 er Jahre entstehen. Aus dieser Besorgnis erklärt sich eine Reihe einschränkender Maßnahmen, welche den Regierungsbehörden in Bezug auf die freie Entwicklung der Volksbildung den Vorwurf eines reaktionären Obskurantismus von der Gegenpartei zuzog. Dieser Vorwurf galt auch der als Gegengewicht gegen die naturalistisch-humanitäre und revolutionär-nihilistische Strömung gedachten Bevorzugung des Klassizismus und der kirchlichen Gemeindeschulen. 

In dieser religiösen und konservativen Tendenz glaubte man später das "verfluchte Erbe des Zarismus" sehen zu müssen. Es wäre gewiß ein Unrecht gegen die historische Wahrheit, wollte man die Passivposten in der Bilanz der russischen Volksbildung der vorrevolutionären Epoche vergessen. Es wäre aber andererseits auch eine grobe Entstellung der Wirklichkeit, wenn man sich nur ihrer erinnerte, ohne der bedeutenden Kulturschätze eingedenk zu sein, welche das russische Staatswesen und die freie bürgerliche Initiative seit der Aufhebung der Leibeigenschaft und dank dieser großen Reform anhäufen konnten. Es seien hier nur folgende Aktivposten der obenerwähnten Bilanz hervorgehoben.

 

   Das System   

1. Das gesunde, auf die Grundschule der verschiedenen Typen basierte System der allgemeinen Volksbildung, das 1912 von der Reichsduma bestätigt wurde, und bis 1922 planmäßig alle Kinder des Staates von 8-12 Jahren umfassen sollte. Zur praktischen Durchführung dieses Programms war ein jährlicher Kredit von 10 Millionen Rubel für den Bau neuer Schulen vorgesehen. Durch die im Jahre 1912 erfolgte Einführung der Anfangsgrundschule höherer Ordnung wurde eine Verbindung zwischen der untersten Stufe der Volksschule mit der Mittelschule (Gymnasium und Realschule) hergestellt, und dadurch die Möglichkeit eines automatischen Uebergangs aus dieser Grundschule in eine bestimmte Klasse der Mittelschule geschaffen. 

Die Absolvierung der letzteren aber gestattete den Eintritt in die Hochschule — Universität oder technische Spezialschule — ohne Examen. Gleichzeitig wurde eine Menge höherer und niederer, ihrer Qualität nach hochstehender professioneller Schulen geschaffen. Die Bildung war nicht an die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Klassen oder Ständen gebunden und formell jedermann zugänglich. Durch die Bemühungen der öffentlichen Organisationen und Körperschaften wurde die ihrem Geiste nach "demokratische" Schule dem Volke immer näher gebracht. Die Generationen ab 19 14 hätten somit keine Analphabeten mehr zu verzeichnen gehabt.

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  Die Qualität   

2. Ihrer Qualität nach stand die russische Schule im Zeichen eines stetigen Aufstieges. In bezug auf die Qualität und auf das Niveau seines akademischen Unterrichts stand Rußland vor dem Kriege hinter keinem der ersten Kulturländer zurück. Die Mittelschule litt vielleicht noch etwas unter dem Einfluß eines etwas übertriebenen Klassizismus, aber die private Initiative brachte neues Leben hinein. Die Privatschulen (darunter auch die deutschen "reformierten" Schulen) waren oft die besten. Eine schwache Stelle im russischen Bildungswesen war die Volksschule, aber auch in Bezug auf sie hat das letzte Jahrzehnt vor dem Weltkriege wichtige Reformen aufzuweisen. Die private und öffentliche Initiative (besonders seitens der Organe der örtlichen Selbstverwaltung

— die Städte und die "Semstwo") erzielten auch hier sehr gute Resultate. Die Reform von 1912 krönte das Werk.

In Rußland, dessen öffentliches Erziehungswesen Männer wie Uschinsky, Pirogoff und Tolstoi zu seinen Begründern und besten Vertretern zählen durfte, verfolgte man aufmerksam die Entwicklung des Erziehungswesens anderer Länder und war eifrig bestrebt, die neuen, erprobten und richtigen Methoden einer aktiven Arbeitsschule im praktischen Leben zu verwirklichen. Von dieser Tatsache legt die Arbeit der vor dem Kriege stattgehabten großen pädagogischen Konferenzen ein beredtes Zeugnis ab. So hat z. B. die vom 22. Dezember 1913 bis 4. Januar 1914 stattgehabte allrussische Tagung für Volksbildungsfragen folgende Richtlinien aufgestellt:

"Zum Zweck der prinzipiellen Durchführung einer allseitigen und harmonischen Entwicklung der Persönlichkeit hält die Tagung einen Umbau des Systems der inneren Organisation der Schule für geboten und zwar bei weitgehendster Anwendung des praktischen Arbeitsprinzips in Bezug auf Lehren und Erziehen. Das Prinzip einer praktischen Arbeitserziehung muß nach Ansicht der Tagung einen notwendigen Bestandteil im System der allgemeinen Erziehung zur Persönlichkeit ausmachen. Die Tagung lehnt mit Entschiedenheit alle Versuche ab, der Schule einen professionellen oder eng-utilitären Charakter zu verleihen."1)

"Die Aufgaben der Erziehung in der Volksschule sind: die Erziehung einer sittlichen Persönlichkeit und eines starken Willens bei den Lernenden.

— Die Tagung empfiehlt besonders auf die Ausbildung des Sinnes für das Allgemeinwohl und für Menschenwürde zu achten."2)

1) Resolution 30.    2) Resolution 47.

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Der Lehrerstamm 

3. Der ausgezeichnete Lehrerstamm, der erst jetzt nach Verdienst gewürdigt wird. Der Volksschullehrer ist sozusagen das Produkt der Befreiungszeit der 60 er Jahre, der Zeit, als der Volksschule aus Ueberzeugung und Begeisterung die besten Kräfte der akademisch gebildeten Jugend zuströmten. Besonders zeichneten sich dabei die russischen Frauen aus. So entstand jener besondere, ausgezeichnete und ausgeprägte Typus des russischen Volksschullehrers, der von der hohen Mission des Lehrertums überzeugt, uneigennützig sich für ein geringes Gehalt mit tiefer Begeisterung in den Dienst der Sache stellte und bemüht blieb, sein eigenes Wissen beständig zu erweitern und zu ergänzen.

Die materielle Basis 

4. Die materielle Basis, die eine ständige Besserung erfuhr. In dieser Beziehung muß der Reichs-duma ein großes Verdienst zugesprochen werden, da dank ihr der staatliche Ausgabenetat für das Schulwesen in ständigem Wachsen begriffen war. In 5 Jahren — 1898 —1903 — stiegen die Ausgaben für die Volksschule von 29,1 bis 39,4 Millionen Rubel, also um 39 Prozent. Von 1908—1912 — also nach Einführung der russischen Konstitution — stieg der gleiche Etat von 53 auf 114 Millionen Rubel, also um 116 Prozent. In 20 Jahren (1894—1914) stieg der Etat des Ministeriums für Volksaufklärung um mehr als 600 Prozent.

Das letzte Jahrzehnt vor dem Kriege zeichnete sich sowohl in pädagogischer, als auch in administrativer Hinsicht durch intensive schöpferische Arbeit aus. Der Erfolg dieser Arbeit bestand in verstärktem Zustrom der Kinder des Volkes zur Schule, in einer schnellen Besserung ihrer materiellen Lage und in einem gewaltigen Energieaufschwung bei allen im Schulressort Tätigen, die den Augenblick für die Reform der russischen Schule in qualitativer und quantitativer Hinsicht für gekommen hielten.

Zur Verwirklichung dieser Reformen brauchte man die angesammelten reichen Aktiva, über die die russische Schule vor dem Kriege verfügte, nur zu erhalten und auszunutzen. —

Die Volksbildung im Sowjetstaate 

"In den bürgerlichen Staaten", führt eine leitende kommunistische Zeitschrift aus, "entsteht das System der Volksbildung elementar, nach denselben Gesetzen des Marktes wie die ganze Volkswirtschaft. Im Gegensatz dazu entsteht dieses System bei uns nach einem festen Programm. Das von der Sowjetregierung 1917/1918 proklamierte Volksbildungsprogramm, das seitdem beständig ausgebaut und verbessert wurde, überragte theoretisch und praktisch schon deswegen alles in dieser Richtung im Auslande geschaffene, weil es eben im Gegensatz zu diesem ein, wenn auch noch unvollkommenes, so doch immer ein Programm war."3)

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  Die Einheitsschule   

Die Sozialistische Sowjetrepublik "hat sich die Aufgabe gestellt, den Arbeitern und den ärmsten Bauern eine volle, allseitige und kostenlose Bildung angedeihen zu lassen". — So lautet Punkt 17 einer von der 5. Tagung der Sowjets im Jahre 1918 angenommenen Entschließung. Die praktische Verwirklichung dieser Aufgabe sollte durch das Dekret über die "einheitliche Arbeitsschule", das man sofort mit dem JNimbus eines historischen Ereignisses umgab, erreicht werden.

Dieses Dekret verwandelte alle bis dahin bestehenden Typen niederer und mittlerer Schulen in eine "einheitliche Arbeitsschule" mit einem fünfjährigen und einem vierjährigen Zyklus. Alle Kinder von 8—17 Jahren wurden verpflichtet, diese Schulen zu absolvieren. Von ihrem 6. Lebensjahre an (als schulpflichtiges Alter galt 6—17 Jahre) sollten die Kinder sogenannte "Kinderhäuser" besuchen. Gleichzeitig mit dieser Steigerung des schulpflichtigen Kinderkontingents wurde die Norm der auf einen Lehrer entfallenden Schulkinder auf 25, also auf ungefähr die Hälfte, herabgesetzt. Der Unterricht wurde als "polytechnisch" bezeichnet, und mußte von nun an einen allseitig gebildeten, einen "integralen" Menschen schaffen. Alle Kinder sollten nach Beendigung so einer Schule alles Wissenswerte erlernt haben.

Es finden sich jedoch merkwürdigerweise in diesem ersten Sowjetprogramm keinerlei Spuren von irgendwelchen Bemühungen, einen neuen, höheren Anforderungen genügenden Lehrerstamm zu schaffen, oder neue Schulgebäude zu errichten. Man begnügte sich damit, der Schule nachweislich unausführbare Aufgaben zu stellen. Das "historische Dekret" war daher verurteilt, nicht mehr als ein bisher unerreicht gebliebenes Denkmal anarchistisch-kommunistischer Utopie zu bleiben. 

War also dieses Dekret seiner praktischen Bedeutung nach äußerst problematisch, so gab es andererseits den zerstörenden Kräften jener Zeit die Möglichkeit, sich uneingeschränkt auszuwirken. Es vernichtete alle frühere Ordnung, die Schuldisziplin, den Religionsunterricht, und bot weitgehendste Möglichkeiten in der Zerstörung all dessen, was nicht in den Rahmen der neuen, in revolutionäre Schülerklubs verwandelten Schulen hineinpaßte. Der einzige reale Erfolg dieses Dekrets war die Schließung ausgezeichneter Lehranstalten, wie z.B. der professionellen Schulen, welche sich nicht in den Rahmen der "einheitlichen polytechnischen Arbeitsschule" hineinzwingen ließen.

3)  Narodnoje Prosweschtenije, 1928, Bd. 6, S. 88. Sperrdruck vom Verfasser.

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Außerdem büßten die Mittelschulen stark an Wert ein (besonders die Gymnasien), da der Lehrtätigkeit durch die neue Ordnung der gesunde Boden entzogen war. Eine unbegrenzte und wahllose Zulassung von jedermann hatte an den Hochschulen bald ein ständiges Sinken des früher hochstehenden Niveaus bis zum Tiefstande der Straße zur Folge.

In ihrem Endresultat hatte die erste, sich bis zur Einführung der NÖP ("neue ökonomische Politik" 1921) erstreckende Periode der Sowjetleitung der russischen Schule einen ebenso verheerenden Einfluß auf dieselbe, wie die gleichen Jahre auf das gesamte Wirtschaftsleben des Landes. Es ist daher nicht wunderbar, daß die durch die Einführung der NÖP gekennzeichnete Ernüchterung sich auch auf dem Gebiete des Bildungswesens fühlbar machte. Die Idee der "polytechnischen Bildung" wurde zwar nicht abgeschafft; sie blieb bestehen;4) man suchte sie aber anders zu verstehen und durchzuführen. In der Hauptsache kamen nun die Richtlinien der Kommunistischen Partei stärker zur Geltung. Man machte sich die Proletarisierung der Schule, die Schaffung eines Stammes qualifizierter Kommunisten zur Aufgabe.

 

    Die Schulung zum Kommunismus    

"Wir brauchen nicht Schulen schlechthin, sondern Schulen des Kommunismus", behauptete vor einem Jahre ein führender Kommunist in der offiziellen Zeitschrift der Moskauer Sektion des Volksbildungswesens.5) In diesen wenigen Worten ist das Wesen des ganzen Systems der Sowjetbildung, wie es sich seit Einführung der NÖP gestaltete, zum Ausdruck gebracht. Der erste Schritt in der neuen Richtung war die 1920 begonnene Wiederherstellung der niederen und höheren professionellen, technischen Schulen, die durch die ersten Experimente sehr gelitten hatten. Sodann erfolgte im Jahre 1921 ein jäher Umschwung in Bezug auf die Hochschulen. Alle Hochschulen wurden ausnahmslos als professionelle Schulen bezeichnet und behandelt und vor die Aufgabe gestellt, die dem kommunistischen Staate nötigen Spezialisten zu liefern. Die Universitätsbildung wurde als dem Marxismus nicht entsprechend in den Hintergrund geschoben, und die neuen "wissenschaftlichen Forschungsinstitute" wurden meistenteils den politischen Zielen der Diktatur des Proletariats angepaßt.

4)  Siehe z. B. den Beschluß des Zentral-Ausschusses der Kommunistischen Partei vom 25. Juli 1930, Prawda, 1950, VII. 28. 5) Westnik Prosweschenija, April 1929, S. 9.

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Die neue Gliederung des Schulwesens 

Dann folgte am 18. Dezember 1923 ein neues Dekret über die "einheitliche Arbeitsschule", welches, mit dem vorhergegangenen verglichen, nur noch die alten Bezeichnungen aufrecht erhielt. Der Umfang des schulpflichtigen. Alters wurde herabgesetzt (8—17 Jahre). Die "Kinderhäuser" wurden von der Schule getrennt. Die sogenannte "Einheitsschule" wurde in zwei "Gruppen" geteilt. Dabei wurden in der Schule der zweiten Gruppe 2 Zyklen eingeführt. Die Schulbildung hörte nun mit dem Beginn der zweiten Gruppe auf, obligatorisch zu sein, und mußte in den Städten, wie früher, wieder gegen Zahlung von Schulgeld erteilt werden. Das Leben selbst hat die auf dem Papier bestehende "Einheit" der Sowjetschule sehr bald zerschlagen und durch die Einführung der drei Typen: "VierJahresschulen", "SiebenJahresschulen" und "Neunjahresschulen", war faktisch das frühere System der Grundschule, der höheren Grundschule und der Mittelschule, wiederhergestellt. Doch hatte sich das zahlenmäßige Verhältnis zwischen diesen Schultypen — zum Nachteil der Mittelschule— bedeutend verschoben.

In der "Arbeiterzeitung" vom 29. März 1929 lesen wir: "Alljährlich finden in unseren Schulen der ersten Stufe 3% Millionen Kinder im Alter von 7 und 8 Jahren Aufnahme. Von diesen erreichen nicht einmal zehntausend die höhere Schule. Ungefähr eine halbe Million absolviert die unterste Stufe der Schule (die Grundschule). Weniger als hunderttausend Kinder beenden alljährlich die Schule der zweiten Stufe."

Nach diesen Angaben aus dem letzten Berichtsjahre erscheint die Pyramide der Sowjetschule je höher, desto unzugänglicher, ja weniger zugänglich — sozusagen spitzer — als in bürgerlichen Ländern: nur 14 Prozent der in die Grundschule eintretenden Kinder absolvieren dieselbe, und nur 2,5 Prozent beenden die Mittelschule. Bis zur Schwelle der Hochschule aber gelangt nur 34 Prozent. Demzufolge darf man kaum von einer Verwirklichung des vorhin erwähnten Programms von 1917/1918 reden, nach welchem "die Sozialistische Sowjetrepublik sich die Aufgabe gestellt hatte, den Arbeitern und den ärmsten Bauern eine volle, allseitige und kostenlose Bildung angedeihen zu lassen".

 

Das Schulmonopol des Staates

Diese ungenügenden Leistungen auf dem Gebiete der mittleren Schulbildung können durch ein Nichtlernenwollen der Bevölkerung nicht erklärt werden. Im Gegenteil: die Mittelschulen kranken an einer geradezu schrecklichen, den Unterricht erschwerenden Ueberfüllung. Ja, es werden Fälle beobachtet, daß Eltern, um ihre Kinder der höheren Schule zuzuführen, bemüht sind, auf eigene Kosten gruppenweise Vorbereitungskurse zu organisieren. Nach den Sowjetgesetzen ist aber jegliche Organisation von privaten Kursen ein Staatsverbrechen, da in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken alle Arten von Unterricht Staatsmonopol sind. —

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Alle Mängel des Schulwesens nur durch die Mittellosigkeit der Sowjetregierung zu erklären, wäre auch unberechtigt. Sind doch stets genügend Mittel für den Unterhalt eines riesenhaften und sehr teueren Polizeiapparats vorhanden, und werden für politische Propaganda im Auslande von der Komintern bedeutend größere Summen verausgabt, als zur tatsächlichen Verwirklichung des Schulprogramms nötig wären. Die Ursachen sind sicher anderswo zu suchen. Beachtung verdient in dieser Hinsicht das Dekret vom 25. August 1925 über die Einführung des allgemeinen Schulzwanges in der "Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik". Dieses Dekret setzte ein Verhältnis der Mittelschulen zu den Grundschulen von 1 : 20 fest. Eine solche Normierung, welche man zwar eine "Stabilisierung der Mittelschule" nannte, bedeutete in Wirklichkeit ihre relativeUnterdrückung, weil zu der Zeit, als dieses Dekret erlassen wurde, das Land besser mit Mittelschulen als mit Grundschulen versorgt war, und die Nachfrage nach Mittelschulbildung doch eine immer wachsende blieb. Infolge des Dekrets fand ein großer Teil der Schüler keinen Platz mehr in den Mittelschulen. Da diese Schulart aber das Bindeglied zwischen Grund- und Hochschule bildet, wurde natürlich auch der Zutritt zu letzteren bedeutend erschwert.

Nur wenige Auserwählte erreichen seither die Hochschule. Die Zulassung zu derselben erfolgt nicht etwa nach Maßgabe von Fleiß und Tüchtigkeit, sondern hängt lediglich von der politischen Einstellung ab. Dem politischen Protektionswesen und der Vetternwirtschaft war Tür und Tor geöffnet.

 

Die proletarische Auslese 

Nicht mit Unrecht schreibt der Verfasser eines Artikels "Was für Ingenieure müssen unsere Hochschulen ausbilden?"8) nachstehende Zeilen: "Eine ausschließliche Auswahl talentierter und begabter junger Leute kommt — mindestens für eine Reihe von Jahren — nicht mehr in Betracht, denn dieses Prinzip würde einer Schließung der Hochschulen für das Proletariat und die Bauernschaft gleichkommen." Charakteristisch ist die bekannte Tatsache der "Säuberung" der Hochschulen, eine Maßnahme, mit deren Hilfe man ungefähr 20 000 Studenten, oft kurz vor Abschluß ihres mehrjährigen Lehrgangs, nur wegen nicht genügend proletarischer Herkunft aus den Hochschulen verbannte. Aber auch hier läßt sich das Leben nicht von der Sowjetmacht knebeln.

 

6) "Moskwa", 1928, S. 11.

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Die Kommunisten mögen noch so sehr die in ihrem Sinne "zuverlässigsten" Elemente bevorzugen, sie können aus ihnen nicht auch die Begabtesten und Tüchtigsten machen, und im Endresultat führt der numerus clausus in kommunistischen Behörden nur zu einer unproduktiven Verausgabung von Volksmitteln, zur Ausbildung von Schülern und Studenten, die oft lange vor dem Ziel das Rennen aufgeben. Wir entnehmen einem auf der Tagung für Volksbildung erstatteten Bericht des Moskauer Delegierten folgende Ausführungen:

"Von 31 Mann, welche die ,Arbeiterfakultät' beendet und die ,mathematische Fakultät' begonnen haben, hat letztere nur ein einziger absolviert. In der medizinischen Fakultät ist das Verhältnis 148 zu 80, und nur ein wenig günstiger steht es in der allgemeinen Abteilung."7)

Die volle Bedeutung dieser Ziffern wird klar, wenn man in Betracht zieht, daß die "A rbeiterfakultäten" Originalschöpfungen der Sowjets darstellen und von diesen zur ausschließlichen Vorbereitung proletarischer Kinder für die Hochschule bestimmt sind. Ferner muß man beachten, daß die "Allgemeinen Abteilungen", mit ihren relativ besseren Resultaten, in wissenschaftlicher Hinsicht wertlos sind, da sie praktisch nichts als marxistische Lehrkurse und kommunistische Propaganda bieten.

Das bisher Ausgeführte berechtigt bereits zu nachstehender Schlußfolgerung in Bezug auf das bolschewistische Schulsystem. Vor der Revolution war die materielle Lage der Lernenden das einzige Hindernis für die Erlangung einer höheren Bildung. Damals aber wurde von Seiten des Staates und besonders der öffentlichen Organisationen sehr viel unternommen, um hierin Abhilfe >zu schaffen und eine wirkliche Demokratisierung der Schule' dadurch zu erreichen, daß sie jedem begabten und talentierten Menschen zugänglich gemacht wurde. Die Sowjetregierung aber richtete aufs neue eine strenge Klassenbevorrechtung auf, wenn auch zu Gunsten des Proletariats. Sie tat alles, um auch dem Begabtesten — Hindernisse in den Weg zu stellen, falls ihre Vorfahren nicht Proletarier waren. Das wäre nun die kommunistische "Einheitsschule", von der behauptet wird, ihr liege ein Programm zugrunde, welches alles in dieser Richtung im Auslande Geschaffene weit überrage.

 

7)  Narodnoje Prosweschenije, 1928, Bd. 5. 

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Der Geist des Experimentierens

Nicht ein einziges Gebiet des staatlichen Lebens erfordert soviel System und Folgerichtigkeit wie die Volksbildung. Nirgends können phantastische Pläne und gewagte Experimente so teuer zu stehen kommen wie auf diesem Gebiet; denn sie können eine ganze Generation heranwachsender Jugend verderben. Und was ist alles mit der russischen Schule im Laufe der letzten 13 Jahre angestellt worden! — Die Richtung des Schulunterrichts wurde während dieser Zeit drei Mal in radikaler Weise geändert. In der ersten Periode — vor Einführung der "NÖP" — sollte die Schule nichts geringeres als eine integrale "polytechnische Kultur" schaffen, die jedem Schafhirten, jedem Schuster, jedem Heizer eine Erweiterung seines engen Horizonts vermittelte und ihn so ohne weiteres zum Regenten des Staates qualifizierte. 

Wie dieser kühne Plan Wirklichkeit werden sollte — daran zu denken, hatte man damals keine Zeit. Die Grunddirektive, die den Schulen gegeben wurde, bestand daher ihrem Wesen nach darin, daß man ihnen in jeder Beziehung freie Hand ließ. Das Dekret betr. die Einführung der "einheitlichen Arbeitsschule" war an sich durchaus nicht das Produkt kommunistischer schöpferischer Leistung, sondern einfach ein Plagiat der radikalsten Punkte aus verschiedenen bourgeoisen pädagogischen Programmen. Die Grundidee der neuen aktiven Arbeitsschule war also durchaus nicht originell, und ihr Programm blieb ganz unklar. Instruktionen zu seiner praktischen Durchführung gab es überhaupt nicht. Ein allgemeines Chaos und eine vollkommene Anarchie beherrschten bald die Schule. Der Niedergang jeglicher Disziplin und eine offenkundige Begünstigung gröbster Zügellosigkeit zerstörten bald völlig die Autorität der Lehrerschaft.

 

Die Komplex-Methode

Der seit Einführung der "NÖP" eingetretene Umschwung stellte die Schule dann vor eine andere Aufgabe. Es wurde eine neue, die sogenannte "Komplex-Methode" des Unterrichts eingeführt und von der Sowjetpresse als ureigenste, kommunistische Originalschöpfung begrüßt. In Wirklichkeit hatte der Staatliche Unterrichtsrat — in Abkürzung "Gus" genannt — das bekannte "bourgeoise" Prinzip der auf einem induktiven Anschauungsunterricht beruhenden Methode zum Ausgangspunkt genommen, und den ganzen Unterricht in der Grund- und Mittelschule in drei Komplexe geteilt. Diese drei "Säulen" der Sowjetschule: 1. Natur, 2. Arbeit und 3. Gesellschaft wurden nun die Achsen, um die sich fortan alles drehte, wovon in den Schulen überhaupt die Rede war.

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Die Auswahl der als vorbildlich empfohlenen Unterrichtsthemen hat ein verstecktes, von den Erfindern der "Komplex-Methode" ersonnenes Ziel. "Die Oktoberrevolution", "Lenin als Führer des Proletariats", "Die Sowjetrepublik und der Kapitalismus" — waren die verbreitetsten und beliebtesten Komplexe. Es ist ohne weiteres klar, daß einem 12- bis 13-jährigen Dorfburschen mit seinem primitiven Verstand derlei Weisheit zu hoch sein mußte, und daß alles, was der Lehrer auf diesem Gebiet von ihm verlangte, einfach auswendig gebüffelt wurde. Auf diese Weise wurde die Arbeit zu einem abstrakten Unterrichtsobjekt, anstatt eine konkrete Methode zur praktischen Ausbildung der Aktivität und der Initiative in der Seele des Kindes zu sein.— Sind wir uns vorhin schon darüber klar geworden, daß den Sowjetunterrichtsanstalten keineswegs die Bezeichnung von "Einheitsschulen" zukommt, so können wir nach dem eben Ausgeführten auch mit Sicherheit behaupten, daß sie ihrem Wesen nach noch viel weniger "Arbeitsschulen" genannt zu werden verdienen. Nach Behauptungen der Urheber der "Reform" von 1923 sollten diese Schulen "bewußte Kämpfer für das Ideal des Kommunismus" erziehen. Die von der Presse unermüdlich propagierten "Komplexe" aber hatten die Aufgabe, die Schuljugend zu lehren — alle Ereignisse der sie umgebenden Welt durch die rote Brille bolschewistischer Unduldsamkeit und marxistischen Klassenkampfes zu sehen.

 

Der reelle Unterricht

Die "Komplex"-Schwärmerei der leitenden Organe und ihre gleichzeitige Vernachlässigung der selbstverständlichen Beschäftigungen im Anfangsunterricht, wie Lesen, Schreiben und Rechnen, die so "nebenher" betrieben werden sollten, führte dazu, daß das Hauptziel des Schulunterrichts — die Heranbildung künftiger Parteimitglieder und Spezialisten — überhaupt nicht erreicht werden konnte. Den von oben mit "Direktiven" ohne jede praktischen Instruktionen überschwemmten Schullehrern blieb nichts übrig, als den Unterricht, so gut sie konnten, auf eigenes Risiko nach alter, "bürgerlicher" Art zu führen. Nur dank der bewunderungswürdigen Hingabe des Lehrerpersonals an ihre Aufgabe konnte die russische Schule in der "Vor-NÖP-Periode" die sie überflutende Anarchie überwinden und auch noch das "Komplex"-Experiment von 1923 überstehen. Immerhin wiesen die Resultate der Schulerziehung einen derart bedrohlichen Niedergang der sonst selbstverständlichsten und elementarsten Durchschnittskenntnisse auf, daß selbst die Sowjetregierung sich bereits im Jahre 1926 zu einer radikalen Kursänderung genötigt sah.

Diesmal unterließ man es sogar, die Propagandatrommel zu rühren. Man zog es vor, den in Wirklichkeit unbestreitbaren Rückzug durch eine formelle Aufrechterhaltung der tatsächlich vom Leben selbst verurteilten Methoden zu decken. Dafür wurden aber als "Hilfslehrzweige" der Unterricht in Geographie, in den Naturwissenschaften, in der

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Mathematik und sogar in gewissen, vorsichtig gewählten Teilen der Geschichte wieder eingeführt. Gleichzeitig erfolgte zwecks Hebung des Schulunterrichts die Einführung von Aufnahmeprüfungen in den Hochschulen. Der Unterricht in den Lehranstalten ging nun langsam (mit Ausnahme einiger "Muster-Schulen") von den radikalen Sowjetmethoden auf die bereits von der Vorkriegspädagogik ausrangierten Lehrmethoden zurück.

 

Die Folgen und ihre Schätzung

Ausländische Beobachter begeistern sich zuweilen für die "Kühnheit bolschewistischer pädagogischer Experimente". Während der letzten Jahre sind in Rußland auch tatsächlich sehr interessante pädagogische Versuche gemacht worden, aber keineswegs seitens der kommunistischen Schulbehörden, sondern zum Teil von Pädagogen der alten Schule, zum Teil auch von Schülern oder geistigen Erben dieser alten Pädagogen. Infolge der anarchischen Freiheit der Schulen während der ersten Jahre des Bolschewismus und seines durch eine gewisse Eitelkeit zu erklärenden Bestrebens, einige Kulturoasen als Reklameschulen, als sogenannte "Artikel für Ausländer", bestehen zu lassen, können positive russische Kräfte ungeachtet und trotz des kommunistischen Regimes noch immer fruchtbare Arbeit leisten. 

Die lobenden Kritiken und die Aufmerksamkeit der Ausländer sind hier durchaus verständlich. Immerhin ist es merkwürdig, daß der alte, zu Propagandazwecken immer wieder Verwendung findende bolschewistische Trick, hinter einigen hübschen Reklamestücken eine Masse Jammer und Elend zu verbergen, von den meisten übersehen oder nicht durchschaut wird. — Interessant ist auch noch ein anderer, nicht weniger gewandter bolschewistischer Kunstgriff: die Sowjetregierung duldet in ihren Presseorganen eine ziemlich offenherzige Kritik ihrer Schulen. Erstens weiß sie, daß die Ausländer, die Rußland besuchen und ihre Eindrücke beschreiben, diese Kritiken nie lesen. Außerdem kann diese List — dank der Zuverlässigkeit der GPU. — nicht schaden, sondern erweckt den Eindruck, als existiere noch eine wirkliche Freiheit des Wortes. Wir entnehmen der bolschewistischen pädagogischen Literatur nachstehende ungeschminkte Charakteristiken der Zustände an den russischen Schulen.

"In unseren Schulen steht es unglaublich schlecht mit dem Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen, wie auch mit den elementarsten Kenntnissen in Naturgeschichte, Geographie, Physik und in anderen Fächern. Daran kranken sowohl die Grundschulen als auch die höheren Schultypen."8) " Es gibt noch ein anderes, sehr kritisches Symptom: die Anzahl der Analphabeten unter den Rekruten der Roten Armee wächst von Jahr zu Jahr."9) "Der Analphabetismus hat sich also stabilisiert."10)

 

8) Siehe die offizielle Zeitschrift ..Narodnoje Prosweschtenije", 1926, N. 1, S. 67.

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"Die Produktion unserer Schule zeichnet sich nicht durch hohe Qualität aus. Besonders schlecht ist es um alles konkrete Wissen und Können bestellt."11)

"Die Gefahr eines Niederganges der Hochschulen ist ein akutes Problem geworden. Das ist schon aus der Tatsache ersichtlich, daß in allen Hochschulen Kurse eingerichtet werden, die ihrem Umfang und Charakter nach in die Mittelschule hineingehören."12)

"Genosse Mikojan (Volkskommissar für Handel) hat gesagt — und ich muß mich ihm vollkommen anschließen —, daß man qualifizierte Kräfte für Arbeit und Technik aus dem Auslande verschreiben muß", führte Lunatscharsky selbst aus, nachdem er 12 Jahre lang das kommunistische Experiment auf dem Gebiete der Schule geleitet hatte.13)

Unsere "Schulen befinden sich in einem offenbar unbefriedigenden Zustande", berichtete in den Sitzungen des XVI. kommunistischen Kongresses Bubnof, der neue Volkskommissar für Volksaufklärung. Mangel an Schulbauten, an Lehrbüchern, an Lehrern . . . Und wieder handelt es sich, wie vor 13 Jahren um die Bekämpfung des elementaren Analphabetentums, wobei aber festgestellt wird, daß im Laufe der letzten 2—3 Jahre drei Millionen Kinder die Schule gar nicht besucht haben (diese Kinder werden als "Pererostki" = "Herausgewachsene" bezeichnet).14) Siebzehn bis achtzehn Millionen Kinder müssen im laufenden Jahre in die Schulen aufgenommen werden: das gehört zum großen Plane der "Bekämpfung des Analphabetentums" im Lande.15) Dazu müssen sofort 50000 neue Schullehrer gefunden und angestellt werden.18) Unrealisierbares soll durchgesetzt werden. Das Versäumte muß nachgeholt werden. "Was bedeutet aber, daß wir im Jahre 1930 in unseren Parteibeschlüssen dasselbe wiederholen müssen, was wir schon vor 10 Jahren gesagt haben? Das bedeutet, daß wir in diesen 10 Jahren auf dem Gebiete der Volksbildung wenig geleistet haben." . . .")

 

9) Ebendaselbst, 1928, N. 5, S. 106. 
10) Frau Krupskaja, Prawda, 10. April 1929.
11) Narodnoje Prosweschenije, 1928, N. 6, S. 119.
12) Narodnoje Prosweschtenije, 1928, Nr. 6, S. 101.
13) Ebendaselbst, 1928, Nr. 1, S. 11. Ausführungen anläßlich der XV. Tagung für Volksbildung; vgl. auch den Bericht des Professors O. Schmidt in der Prawda, 1930, 5. Mai.
14) Prawda, 1930, 3. Juli. Bubnofs große Rede. 1B) Vgl. Prawda, 1930, 3. Juli.
15) Ebendaselbst.
16) Aus Bubnofs Rede, Prawda, 1930, 3. Juli.

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Es bedarf wirklich keiner weiteren Schilderungen, um sich die Lage der russischen Schule zu vergegenwärtigen.

Es könnte dennoch die Frage aufgeworfen werden, warum wir von diesen Tatsachen fast gar nichts in den von Ausländern über die russischen Schulen verfaßten Schriften finden?. Warum wir in diesen Schilderungen nicht die als Charakteristikum für die heutige Sowjetschule so bedeutsame Wiedergabe von Antworten antreffen, die von Zöglingen dieser Anstalten auf die allerelementarsten, nur selbstverständliche Kenntnisse voraussetzenden Examenfragen gegeben werden. Es seien hier nur einige Proben angeführt: Zwischen welchen Mächten wurde der Brester Frieden geschlossen? — Antwort: Zwischen England und Frankreich. — Wozu dient das Thermometer? — Antwort: Zur Messung von Entfernungen. — Mit was für Einheiten wird die Kraft eines elektrischen Stromes gemessen? — Mit Kalorien, usw.18) — In welchem bourgeoisen Lande finden sich wohl Jünglinge, die an der Schwelle der Hochschule stehend, mit solchen "Kenntnissen" ausgerüstet sind? Und leider muß festgestellt werden, daß diese von dem offiziellen Lehrerorgan angeführten Angaben durchaus nicht als Anekdoten, sondern als typische Beispiele für die Resultate der heutigen sowjetrussischen Schulbildung zu werten sind. Die Bestimmung des Thermometers war z. B. 75 Prozent der Absolventen einer Mittelschule unbekannt.

Noch schlimmer steht es mit der erzieherischen und mit der moralischen Seite der Sowjetschule. Hier wäre es genügend des schlimmen Einflusses der kommunistischen Schülerzellen zu gedenken. Dem einheitlichen politischen System der Kommunisten zufolge bekommt auch jede Schule, besonders die Mittel- und die Hochschulen — eine oder mehrere kommunistische Zellen (in Abkürzung "Komzellen" genannt). Diese Schülerzellen sind ausdrücklich dazu berufen, die ganze Schule, die Lehrer, den Unterricht und die Schüler zu beaufsichtigen und die Grundsätze des Kommunismus im Leben durchzuführen. Ihre Hauptaufgabe besteht aber darin, die Autorität der nicht-kommunistisch gesinnten Lehrer zu untergraben, sie zu verfolgen und zu denunzieren. Daraus entsteht selbstverständlich ein Wirrwar und eine Demoralisierung. Die Zellen werden zur ewigen Quelle von Leiden und Erniedrigungen für die Lehrer; ihre Mitglieder gewöhnen sich aber von Kindheit an zu einem anmaßenden und frechen Auftreten, zur Bespitzelung und Denunzierung, zum verantwortungslosen Anspruch und zur zersetzenden Arbeit. Dadurch wird die ganze Atmosphäre der Schule häßlich und trübe. Die bösen Leidenschaften werden entfesselt und spielen sich ungehindert aus.

 

18) "Lehrerzeitung", 1928, Nr. 223.

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Erziehung und Moral

 

In einer kommunistischen Zeitschrift finden wir folgende Schilderungen:

"Was beobachten wir in den städtischen Schulen? — Erotik, Egoismus, vollständiges Fehlen von Idealen. . . Unsere Schüler zeichnen sich durch Grausamkeit den Schwächeren gegenüber aus. . . . Unsere Schulen geben keine solide moralische Grundlage. Unsere ins Leben tretende Jugend ist nicht genügend gefestigt, um sich gegen verderbliche Einflüsse zu behaupten. Daher alle die traurigen Erscheinungen in unserem heranwachsendem Geschlecht: Trunksucht, Selbstmorde, Liederlichkeit des Lebenswandels usw. Eine Frau zu verteidigen, gilt als Symptom bourgeoiser Tendenzen"19) und dergl. mehr.

Diese spziellen Angaben decken sich leider vollkommen mit den von der Sowjettagespresse selbst berichteten Tatsachen, die in ihrer Gesamtheit ein erschütterndes Bild von der Tragödie der heutigen russischen Jugend ergeben.

Ziehen wir nun die Bilanz unserer Ausführungen. Für die Kulturwelt gilt der Grundsatz: die Schule hat die Aufgabe, den Horizont zu erweitern und die Instinkte der ins Leben tretenden Jugend zu veredeln. Die Sowjetregierung aber, die auf dem Standpunkte steht, "sie brauche nicht Schulen schlechthin, sondern Schulen des Kommunismus", sorgt nicht für eine Erweiterung des Horizonts der Schüler, sondern für die Erziehung von Fanatikern des Klassenkampfes. Dadurch wird nicht nur die Vermittlung wirklich wertvoller Kenntnisse versäumt, sondern auch Herz und Hirn des heranwachsenden Geschlechtes vergiftet. Die jungen Leute werden zu rücksichtslosen und hemmungslosen Menschen erzogen. Die Devise der vorrevolutionären Schule lautete: Erziehung zum Menschen (Pirogoff), die Praxis der heutigen Schule ist: Erziehung zum Rowdy (russisch: "chuligan").

 

Der Schullehrer

Glücklicherweise sind bisher die Anstrengungen der Kommunisten, die russische Schule zu einer Brutstätte des Menschenhasses zu machen, an einem Hindernis gescheitert: am russischen Schullehrer. Die Lehrerschaft blieb eben russisch, und wurde nicht kommunistisch-international. Eine kommunistische "Ablösung" war bei ihr bislang kaum möglich. — Wenn auch 50 Prozent der Berufslehrerschaft nach 12 Jahren erneuert sein sollten, so zählt sie doch heute in ihren Reihen nicht mehr als 9 Prozent Mitglieder der Kommunistischen Partei. Der jetzige soziale Bestand des sowjetrussischen Lehrertums wird in einer führenden kommunisti-

 

19) Westnik Obrasovanija, 1928-1929.

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sehen Zeitung folgendermaßen geschildert: "Die Lehrer entstammen bis zu 35 Prozent dem geistlichen Stande und bis zu 45 Prozent dem wohlhabenden Bauerntum."20)

Die Verdienste des russischen Schullehrers sind besonders hoch zu werten, weil die Bedingungen unter denen er genötigt ist zu arbeiten, ganz außerordentlich schwere sind. Man stelle sich nur die Gewissenskonflikte dieser Pädagogen vor, die gezwungen werden, die ihnen anvertrauten Kinder nach Prinzipien zu erziehen, die ihren eigenen Ueberzeugungen widersprechen. Der Sowjetlehrer wird gezwungen, den Kindern Gottlosigkeit beizubringen. Lenins Witwe, Frau Krups-kaja, hat dies maßgebend so formuliert: "Ja", sagte sie einmal in den Sitzungen des XIII. kommunistischen Kongresses, "wir fordern von den Lehrern antireligiöse Propaganda und eine marxistische Einstellung des Unterrichts."21) Jaroslawsky, der Leiter der atheistischen Propaganda, kommentiert diesen Standpunkt folgendermaßen: "Auf diesem Gebiete darf der Lehrer bei uns keine beliebige eigene Meinung haben"; "Der Dorfschullehrer muß wissen und erklären können, daß nicht Gott den Menschen, sondern der Mensch seinen Gott geschaffen hat".22) So wird der Lehrer geistig und politisch geknechtet und als Werkzeug der kommunistischen Propaganda mißbraucht.

Die schon infolge des gekennzeichneten Gewissenszwanges schwere Lage der Lehrer wird noch dadurch verschlimmert, daß die kommunistischen Behörden durch die Art ihres Umganges mit ihnen die Autorität der Lehrerschaftuntergraben und die Schüler dadurch vollständig demoralisieren. Lenin erklärte es für richtig, den Schullehrer durch erhöhtes Gehalt und durch Entgegenkommen in die Kommunistische Partei hineinzulocken. In Wirklichkeit 'ist aber der Schullehrer, wie auch alle übrigen Schichten des Volkes, zum Opfer eines harten Terrors geworden. "Wir können hunderte von Fällen angeben", schreibt eine führende Kommunistin, "in denen Lenins Richtlinien dem Schullehrer gegenüber zertreten wurden: Haufenweise werden die Lehrer entlassen, wobei ihnen das Recht, sich auf pädagogischem Gebiete fernerhin zu betätigen, genommen und nicht einmal der Versuch gemacht wird, ihnen die Gründe dieser Entlassung anzugeben (Moskauer Kreis); die Lehrer werden gehetzt, wie z. B. im Beschetzker Kreise, wo eine Lehrerin Selbstmord beging; es gibt Fälle, wo die Lehrer von blödsinnigen Kommunisten

 

28)  Iswestija, 4. April 1929.
21)  Jaroslawsky, Na antireligiosnom fronte, Sowjetausgabe, S. 115 und 119.
22)  Stenogr. Bericht des XIII. Kommun. Kongresses, S. 480.

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einer radikalen Enteignung unterzogen werden . . .23) Dazu kommt noch eine unter den kommunistischen Bürokraten weit verbreitete Unsitte, die ihnen unterstellten Frauen zur Notzucht zu zwingen. Die Lehrerinnen haben darunter ebenfalls furchtbar zu leiden. Eine kommunistische Lehrerzeitung hat darüber unlängst einen zusammenfassenden Aufsatz gebracht, und diese Erscheinung als eine "bei uns nicht selten vorkommende Jagd auf lebende Menschen" bezeichnet.2')

Die materielle Lage des Lehrerstandes ist kümmerlieh. Laut der kompetenten Angabe des Bildungs-Kommissars Lunartscharsky bekam ein Schullehrer des inneren Rußland (RSFSR.) Ende 1926 "nur zwei Drittel des Durchschnittslohnes eines Arbeiters und überhaupt nur ein wenig mehr als die Hälfte seines doch eigentlich kläglichen Gehaltes während der kaiserlichen Zeit".25) Nach Feststellungen einer speziellen Untersuchung, die im selben Jahre von der Arbeiter- und Bauern-Inspektion durchgeführt wurde, erreichte das Gehalt der Lehrer nur 4? Prozent des Vorkriegseinkommens. Im Laufe der Jahre 1927 bis 1929 ist das Gehalt der Lehrer durchschnittlich um 34,7 Prozent gestiegen; es erreichte in den städtischen Schulen kaum 80 Sowjetrubel monatlich und in den Dorfschulen kaum 50 Sowjetrubel. Die Zeitschrift der kommunistischen Gewerkschaften bemerkt dazu, daß ein einfacher Verkäufer im Kurzwarenladen mehr Gehalt bezieht, als der Lehrer einer städtischen Elementarschule.26) Um sich die materielle Not des Lehrerstandes zu vergegenwärtigen, muß man aber noch beachten, daß die Kaufkraft eines Tscherwonetz-Rubels im September 1929 nur 45,9 Prozent des Vorkriegsrubels betrug und im Privathandel nicht mehr als 23—35 Kopeken ausmachte.") Dabei werden die Gehälter auch noch ganz unregelmäßig ausgezahlt und durch verschiedene obligatorische Abzüge noch bedeutend geschmälert. Was aber die letzte Steigerung der Lehrergehälter (ab 1. Oktober 1930) anbetrifft, so hat sie nur die Bedeutung einer Inflations-Steigerung und ändert nichts an der Sache. Der Zuschlag ist so gering, daß der Nominallohn eines Dorfschullehrers hinter dem Gehalte eines Tagelöhners in der Metallindustrie oder eines Trans-

 

23)  Aufsatz der Frau Lübimowa in der Prawda, ,1930, 6. Juli. Russisch: "golowotjapskije slutsckai raskulatschiwanija".
24)  Siehe in den Aufsätzen dieses Sammelwerkes genauere Angaben: "Die Ehe und die Lage der Frau" und "Kommunismus als Beamtenherrschaft".
25)  Iswestija, 1926, Nr. 224.
26) Woprossy Truda, 1930, Nr. 5.
27) Ekonomitscheskoje Obosrenije, 1929, Nr. 8. Berechnet vom Sowjet-Institut für Konjunkturforschung.

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portarbeiters nach wie vor bleibt. Der entsprechende Reallohn wird aber bei unaufhaltsam steigenden Preisen des Privatmarktes und bei versagender Versorgung des Staats-Handelsapparates, auf einem katastrophalen Niveau bleiben Der Lehrerstand des Sowjetstaates wird weiter mit seinem Elend heldenhaft zu kämpfen haben.

Die Folge ist eine ständig wachsende Flucht aus dem Lehrerstande. Die Gesuche um Entlassung werden immer häufiger; auf. dem Arbeitsmarkte besteht eine große Disproportion zwischen hoher Nachfrage und geringem Angebot; die neu errichteten "Lehrerkurse" können nur ein Drittel ihrer Kontingente ausfüllen28) usw. Der Lehrer zieht es vor, mit physischer Arbeit sein Brot zu erwerben und seine Familie zu ernähren. . . .

Wie es mit dem Schulbudget steht, kann daraus ersehen werden, daß der hohe Voranschlag des Fünfjahresplans selbst von den Kommunisten nicht optimistisch beurteilt wird. Auch wenn dieser übertriebene und aussichtslose Voranschlag 1928—1932 durchgeführt werden sollte, so würde nur folgendes "erreicht" sein: 

"Am Ende der fünfjährigen Periode wird die Höhe der Ausgaben für Unterricht und Instandsetzung der Schulen auf dem Gebiete der Elementarschule nur 81 Prozent des Vorkriegsniveaus erreichen; die Auslagen aber für die mittlere Bildungsschule, pro Kopf gerechnet, — nur 50 Prozent des Vorkriegsniveaus. Diese Zahlen bedeuten, daß unsere Bildungsschule, die bei uns als polytechnische bezeichnet wird ..... nicht die Möglichkeit haben wird, den Schülern diejenigen Fertigkeiten beizubringen, ...... die für sie notwendig sind, um baldigst technisch geschulte Arbeiter zu werden."30)

Ein härteres Urteil über das ganze System der kommunistischen Volksbildung könnte der schlimmste Feind nicht fällen. Die Tatsachen sprechen für sich.

 

 

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28) Vgl. Bubnofs Rede. Prawda, 1930, VII. 3; und den Aufsatz der Frau Lübimowa, Prawda, 1930, VII. 6. 30) Iswestija, 1929, 10. Mai.

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