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6  Die Hochschule  

 

Von  Professor N. Timaschew

 

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   Das Wohl des Volkes  

Eine — wenn auch sehr kühne — Staatsgewalt unternimmt Reformen, nicht um theoretische Sätze festzustellen und [sie] zu beweisen, sondern um das Wohl der Nation zu heben — wobei selbstverständlich auch schwere Fehler unterlaufen können. In einem normalen Staatswesen kann die Staatsgewalt nicht anders handeln; sie ist ein Bestandteil des gegebenen Volkskörpers; das Wohl und Wehe dieses Körpers ist für die Staatsgewalt entscheidend, und der Gedanke durch ein "experimentum in corpore vili" eine bessere Zukunft für andere Staatswesen oder auch für die Menschheit als Ganzes zu erfinden, kann in ihren Trägern nicht einmal auftauchen.

Ganz anders ist die Lage der Dinge in Sowjetrußland. Für die daselbst bestehende internationalistische Staatsgewalt bedeutet der russische Volkskörper nicht mehr und nicht weniger als jeder andere. Der geschichtliche Zufall hat es gewollt, daß gerade hier die kommunistische Revolution anfangen durfte. Dem Volkskörper steht diese Staatsgewalt aus dem Grunde fremd gegenüber, weil sie prinzipiell die Teilung der Menschheit in Nationen verneint und in sich den Kern einer internationalen Gewalt sieht. Was sie in Rußland tut, wird nicht durch Vorstellungen über Wohl und Wehe des russischen Volkes bestimmt. Das russische Volk ist für sie nur ein Sprungbrett, um in das künftige universale proletarische Weltreich nach den gleichsam a priori als unerschütt­erliches Dogma feststehenden Grundsätzen des Marxismus zu geraten.

Diese allgemeinen Eigenschaften der bolschewistischen Staatsgewalt lassen sich auf jedem Gebiete ihrer Betätigung feststellen. Als sehr günstiges Beobachtungsfeld erscheint das Gebiet des höheren Schulwesens.

   Die Hochschule im modernen Staate   

Die Hochschule hat im modernen Staate eine höchst wichtige soziale Funktion auszufüllen. Die in jeder Gesellschaft bestehende führende Schicht hält es im allgemeinen für nötig, ihrem Nachwuchs die Möglichkeit des Hochschulbesuchs zu eröffnen, und der enorme Zudrang zur Hochschule aus emporstrebenden Kreisen der Gesellschaft erklärt sich nicht so sehr durch den Wissensdurst, als durch das Verständnis der Bedeutung des Hochschuldiploms für den sozialen Aufstieg. Es wäre möglich, eine Stufenleiter der Staaten je nach dem Grade der Zugänglichkeit der Hochschule für Elemente der nichtführenden sozialen Schichten aufzubauen.

Diese Stufenleiter könnte zugleich als ein gewisses Kriterium für den "Demokratismus" der entsprechenden Staaten angesehen und gebraucht werden. Die Dünnheit der führenden Schicht in Rußland im Zusammenhange mit dem ganz außerordentlichen, amerikanischen Tempo des Aufstiegs der letzten Jahrzehnte vor dem Kriege, machte es nötig, der Hochschule eine bedeutende Anzahl von jungen Leuten zuzuführen, die nicht aus der gegebenen herrschenden Schicht stammten und deren Eltern keine Hochschulbildung besaßen. Eine massenhafte Befreiung der Studenten von der Zahlung der Lehrgelder sowie die Bereitstellung zahlreicher Stipendien gab diesen jungen Leuten die Möglichkeit, sich dem Studium zuzuwenden und nach dessen Absolvierung die Reihen der führenden Schicht zu ergänzen.

Die Hochschule ist aber noch etwas anderes. Sie ist die Stätte, wo der freie wissenschaftliche Gedanke — sei es der rein theoretische oder der angewandte — kultiviert wird. Der moderne Staat, der aus dem Gedanken der Relativität der menschlichen Erkenntnis der Wahrheit ausgeht, überläßt es den Dienern der Wissenschaft, die gegebene Erkenntnis der Wahrheit durch freien Kampf der Meinungen zu fördern und den Nachwuchs dazu anzuleiten. Um die Arbeit wirklich frei zu machen, gibt der moderne Staat den Hochschullehrern eine an die Unabhängigkeit der Richter erinnernde Selbständigkeit — (es ist fast ebenso schwer einen Ordinarius aus der Universität zu entfernen, wie einen Richter abzusetzen) — und der Hochschule eine weitgehende Autonomie.

 

   Die russische Hochschule und ihre Ablehnung   

Im Laufe des XIX. Jahrhunderts war die russische Hochschule allmählich auf die Stufe gelangt, auf der sich die Hochschule eines modernen Staates befinden muß. Seit Mitte des XIX. Jahrhunderts wurde die wissenschaftliche Forschung praktisch freigegeben, und im Anfang des XX. Jahrhunderts kam es zur Erkämpfung der lange ersehnten Autonomie. Zuwiderhandlungen von einzelnen Regierungsvertretern gegen die letztere wurden als Rechtsbrüche erfaßt, und dies nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch von so hohen Körperschaften, wie es der Staatsrat gewesen ist.(1)

Die demokratisch gerichtete, autonom organisierte und auf dem Prinzip der Freiheit der Forschung aufgebaute Hochschule konnte den Kommunisten keineswegs genehm sein. Sie haben von Anfang an empfunden, daß eine derartige Hochschule ihren Zwecken nicht dienen konnte. So haben sie recht bald mit einem Experimentieren begonnen, welches immer verhängnisvoller wurde, da es ohne irgendwelchen Plan angegriffen und geführt wurde.

1) Dies ist im berühmten Fall Grimm geschehen, der vom Minister für Volksaufklärung widerrechtlich versetzt wurde.

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Erst allmählich klärte sich für die Bolschewiken die Aufgabe. Wie der Volkskommissar für Volksaufklärung, Lunatscharsky, sich auf dem Gelehrtentage im Februar 1927 ausgedrückt hat, steht die Sowjetregierung vor den Aufgaben der Anpassung der alten Hochschullehrer an die neuen Verhältnisse und ihrer Ersetzung durch den proletarischen Nachwuchs, der Proletarisierung der Studentenschaft und der Ersetzung der "bürgerlichen Scheinwissenschaft" durch die allein richtige marxistische Lehre.(2) Demgemäß lassen sich die Experimente der Sowjetregierung auf dem Gebiete der Hochschule in drei Gruppen einteilen: 1. Experimente an der Studentenschaft; 2. Experimente an den Lehrplänen und Programmen und 3. Experimente an der Professur.

 

   Die Studentenschaft   

Wie Lunatscharsky a. a. O. gesagt hat, war die zu der Zeit der Revolution vorhandene, obwohl recht demokratische, und politisch meist radikal gesinnte Studentenschaft für die Zwecke der neuen Regierung einfach unbrauchbar. Es wurde zunächst der Versuch gemacht, die im vorrevolutionären Rußland vorhandene Form der Auslese einfach abzuschaffen und den Hochschulbesuch allen freizustellen. Das berühmte Dekret vom 8. August 1918 erlaubte es jedem Bürger der RSFSR., der das 16. Lebensjahr überschritten hat, sich in jede beliebige Hochschule eintragen zu lassen. Zeugnisse durften nicht mehr verlangt werden; allerart Eintrittsprüfungen wurden verboten.

Der Grundgedanke der Bestimmung ist klar. Mittelschulkenntnisse waren "ein Privileg" der führenden und der emporstrebenden Schichten der alten Gesellschaft. Die Arbeiterund Bauernmassen zählten in ihrem Nachwüchse eine verhältnismäßig geringe Zahl von Jünglingen und Mädchen, deren Kenntnisse den Eintrittsbedingungen der Hochschule entsprachen. Nun waren aber offiziell gerade "die Arbeiter" und "die Bauern" zur Macht gelangt. Ihr Nachwuchs wollte möglichst schnell an die "wirkliche Führung" kommen. Die natürliche Lösung — massenhafte Einführung von Arbeiterund Bauernkindern in die Mittelschule (in die Volksschule gelangte schon im vorrevolutionären Rußland die Mehrzahl) — entsprach aber den politischen Absichten der experimentierenden Staatsgewalt nicht. Ergebnisse waren auf diesem Wege nur nach langen Jahren zu erwarten, und die neuen Träger der Staatsgewalt glaubten damals gar nicht, daß ihrem Experimentieren ein langer Zeitraum zur Verfügung stehen würde.

2) Siehe "Narodnoje Prosweschenije". 1927. N. 2. S. 6-7.

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  Die Abschaffung der Vorstudien   

So wurden die verblüffenden Sätze aufgestellt: lange Vorstudien seien nur für die verwöhnten Kinder aus bürgerlichen Klassen nötig gewesen; tatkräftige Jünglinge und Mädchen aus proletarischen Kreisen brauchten zum Hochschulstudium keiner besonderen Vorbereitung; was ihnen fehlt, könnte auch während des Studiums erlernt werden. So sollte der von Natur aus bevorzugte proletarische Nachwuchs die bürgerliche Jugend auf dem Wege der freien Konkurrenz besiegen.

Dieses erste Experiment hat sich als ein vollkommener Fehlschlag erwiesen. Im Herbst 1918 ist das Dekret vom 6. August 1918 fast ohne Wirkung geblieben, einfach aus dem Grunde, weil es unmöglich war, die von ihm betroffenen Kreise von den neuen "Vergünstigungen" in Kenntnis zu setzen. Im Herbst 1919 war aber die allgemeine Lage der Dinge eine derartige, daß an das Studium überhaupt nicht zu denken war, so daß die Hörsäle der Hochschulen einfach leer blieben. Ein massenhafter Zufluß von Analphabeten und halbgebildeten Elementen, dem die Professur besorgt entgegensah und den die Regierung erwartete, war ausgeblieben. Vereinzelte Jünglinge, die das neue Recht ausnutzen wollten, haben aber recht bald einsehen müssen, daß das akademische Studium ohne Mittelschulbildung ein Ding der Unmöglichkeit ist. Immerhin hat sich das Vorhandensein gänzlich unvorbereiteter Elemente als eine Störung erwiesen. Die Regierung wurde durch Vorstellungen der Professur zu einem teilweisen Rückzug bewogen. Ohne das Dekret vom 6. August 1918 aufzuheben, hat sie eine (nichtveröffentlichte) Instruktion erlassen, die es den Hochschulen gestattete, eine Prüfung des allgemeinen Bildungsgrades der sich anmeldenden jungen Leute vorzunehmen. Von dieser Genehmigung haben die meisten Hochschulen einen entsprechenden Gebrauch gemacht. Das Niveau der Kenntnisse wurde aber lange nicht den früheren Forderungen gleichgestellt, so daß die Hochschulen sich allmählich mit mindervorbereiteten Elementen zu füllen begannen.

 

   Die Arbeiterfakultäten   

Inzwischen verzichtete die Regierung auf ihren Grundgedanken nicht. Das erste Experiment war fehlgeschlagen; Arbeiter und Bauern mußten aber unbedingt der Hochschule zugeführt werden. So kam die Regierung auf den Gedanken einer "revolutionären Schule", die in kürzester Frist erwachsene Proletarier zum Besuche der Hochschule vorbereiten sollte. So ist die Institution der Arbeiterfakultäten (Rabfak) ins Leben gerufen worden. Wie die Bezeichnung verdeutlicht, sind diese Anstalten als Bestandteile der Hochschulen gedacht gewesen; sie sind auch im Jahre 1920 an einigen, vorwiegend technischen Hochschulen, errichtet worden. Der Professur wurde ein unzweideutiger Wink gegeben, an den Arbeiterfakultäten Vorlesungen zu halten; da die Lehrtätig-

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keit daselbst extra bezahlt wurde, und die Professur schon seit langem hungerte, wurde diesem Winke hier und da gefolgt. Allmählich sind aber auch selbständige Arbeiterfakultäten entstanden.4)

Diese Fakultäten sind für Proletarier und für die ärmeren Bauern bestimmt. Die Zugehörigkeit zu der entsprechenden sozialen Gruppe wird auch als erste und wichtigste Aufnahmebedingung aufgefaßt. Eine gewisse Vorbildung kommt nur an zweiter Stelle; da die Zahl der sich Anmeldenden nur eine ungenügende ist, werden die entsprechenden Forderungen so niedrig wie möglich gehalten. Sie sind niedriger als die AbgangsforderungenderVolksschule; auch von diesen Forderungen wird aber manchmal abgesehen, da im anderen Falle keine genügende Anzahl von Kandidaten aus den privilegierten sozialen Schichten ausfindig gemacht werden könnte.4)

Der Lehrgang an einer Arbeiterfakultät dauerte ursprünglich nur drei Jahre, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß eine Anzahl von Arbeiterfakultäten einen Abendunterricht erteilte und von Arbeitern besucht wurde, die auf den Fabriken weiter tätig blieben. Erst im Herbst 1927 ist bei einem Teil der Arbeiterfakultäten eine Erhöhung des Lehrganges auf 4 Jahre erfolgt. Den Abiturienten der Arbeiterfakultäten ist aber von Anfang an der freie Zutritt zu den Hochschulen zugesichert worden. Ursprünglich fehlten selbst Abgangsprüfungen an den Arbeiterfakultäten. In dieser Beziehung ist es im Jahre 1927 zu einer Aenderung gekommen; es gibt jetzt Schlußprüfungen unter Teilnahme von Vertretern der Hochschulen. Ein Teil der Abiturienten (etwa V8) wird während der letzten Jahre nicht der Hochschule, sondern der technischen Mittelschule zugeführt.

 

   Ihr sozialer Bestand   

Die Abiturienten der Arbeiterfakultäten bilden jetzt 33,3 Prozent des Kontingents der jungen Studenten.5) Die Vorstellung aber wäre falsch, daß die übrigen zwei Drittel auf dem Wege des freien Wettbewerbes angenommen werden. Seit dem Herbst 1920 wird bei der Immatrikulierung der Studenten auf das Vorhandensein von Empfehlungen seitens der kommunistischen Partei- oder der gewerkschaftlichen Organisationen Gewicht gelegt. Seit 1923 besteht aber in der RSFSR. das System der "Klassenauslese", welches in den Einzelheiten einigen Schwankungen unterworfen ist, sich aber in den Hauptlinien durchgesetzt hat. 

3) Von 65 im Jahre 1926 vorhandenen Arbeiterfakultäten waren 24 selbständig. Siehe "Narodnoje Prosweschenije w 1925—1926 godn', Moskau, 1926, S. 125 (russ.).
4) "Narodnoje Prosweschenije", 1927, N. 11-12, S. 126.
5) "Revoluzija i kultura". 1929. N. 4. S. 18.

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Nach diesem System werden von den, nach Aufnahme der Abiturienten der Arbeiterfakultäten frei bleibenden Stellen6) 10 Prozent dem freien Wettbewerb überlassen, die übrigen 90 Prozent aber zwischen der Kommunistischen Partei, dem kommunistischen Jugendverbande und einigen Sowjetanstalten verteilt, die sie mit Kandidaten aus den privilegierten sozialen Gruppen zu besetzen haben; ausnahmsweise werden dabei Kinder der Hochschullehrer und der "unersetzbaren Spezialisten"7) den Arbeiterkindern gleichgestellt. Sämtliche Aspiranten werden einer Aufnahmeprüfung unterzogen, die teils ihre allgemeine Vorbildung, teils ihre Kenntnisse auf dem Gebiete des offiziellen "Politischen ABC", richtiger gesagt, des kommunistischen Parteidogmas, festzustellen hat.

Für den Herbst 1930 ist eine gewisse Aenderung der Aufnahmebedingungen vorgesehen. Die Abiturienten der Mittelschule werden ohne Aufnahmebedingungen angenommen. Statt dessen werden sie einer Empfehlung der Mittelschule bedürfen, die nur denjenigen Abiturienten zu erteilen sein wird, die eine "gesunde proletarische Ideologie" bezeugt haben.8)

So ist die Hochschulbildung in der U. S. S. R. allmählich zu einem Privileg bestimmter sozialer Schichten geworden; dieses Privileg wird aber derartig gehandhabt, daß es in Wirklichkeit nicht zu einem Arbeiter- und Bauernprivileg, sondern zu einem Kommunistenprivileg geworden ist. Folgende Zahlen beweisen die Richtigkeit dieser Behauptung.

Während der Aufnahmeperiode des Jahres 1927 9)

Arbeiter Bauer Angestellte Uebrige

haben sich angemeldet 15 438 12 956 33 602 5 806

wurden angenommen 6166 4 307 4 445 352 Von den Angemeldeten

wurden angenommen 40% 33% 13% 6%

Im Lehrjahre 1927/1928 war die Verteilung der Studentenschaft zwischen verschiedenen sozialen Gruppen die folgende :

Arbeiter 26,9 %

Bauer : 24,2%

Angestellte 39,6%

Uebrige 9,5%

 

6) Die Zahl der anzunehmenden Studenten wird seit 1923 in sämtliche Hochschulen vorausbestimmt.
7) Eine von der Sowjetregierung erdachte Würde.
8) "Lehrerzeitung". 1929. N. 12 (russ.).
9) "Narodnoje Prosweschenije". 1927. N. 12. S. 90.

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Von den im Herbste 1928 angenommenen waren 24,8 Prozent Mitglieder der Partei, 31.8 Prozent Mitglieder der kommunistischen Jugendbewegung und 43,3 Prozent Parteilose.10)

Zur Bewertung dieser Zahlen muß angegeben werden, daß die Kommunisten etwa 1 Prozent, und die Mitglieder der kommunistischen Jugendbewegung etwa 1^ Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Diese Ergebnisse scheinen aber der bolschewistischen Regierung ungenügend zu sein. Im Juli 1928 hat das Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei den Hochschulen 1000 Kommunisten extra zugeführt; derselbe Beschluß wurde auch im Jahre 1929 wiederholt. Die Parteileitung hoffte dadurch eine Auslese von zugleich gebildeten und zuverlässigen Leuten zur Verfügung zu bekommen. Wie aber in der Sowjetpresse berichtet wird, haben die Lokalorganisationen den Gedanken nicht ernst genommen und die ersten besten jungen Leute abkommandiert, die sich z. T. als vollkommen unvorbereitet erwiesen haben.11)

 

   Die Folgen der Klassenauslese  

Das System der Klassenauslese, das je weiter desto mehr auch in der Mittelschule eine Rolle spielt, läßt sich aber nur auf Kosten der Vorbildung der Studentenschaft durchführen. Schon im Jahre 1924 mußte die Regierung zur Einsicht gelangen, daß die neue Studentenschaft im großen und ganzen zur Aufnahme wissenschaftlicher Kenntnissse ungeeignet ist. Durch ein Dekret vom 16. Mai 1924 wurde eine "akademische Säuberung" (cistka) angeordnet, die die Hochschulen von unbrauchbaren Elementen befreien sollte. Dieses Dekret hat aber keine entscheidende Besserung zur Folge gehabt, und dies aus zwei Gründen: es waren erstens mancherorts die Verhältnisse derartig, daß bei einer strengen Durchführung der Anweisungen eigentlich sämtliche Studenten zu entfernen waren.12) Es wurde zweitens von Anfang an anbefohlen, bei der Säuberung auf die proletarische Herkunft der Studenten Rücksicht zu nehmen und an entsprechende junge Leute nicht allzu hohe Forderungen zu stellen.

Seitdem haben sich die Dinge eigentlich nicht geändert. Lieber den heutigen Bildungsgrad der jungen Studenten geben die Aussagen derjenigen Professoren Bescheid, die an den Eintrittsprüfungen teilgenommen haben. Diese Aussagen sind trostlos. Die Aspiranten, heißt es in einem Bericht, verstehen manchmal ein geometrisches Theorem zu formulieren,

10) "Revolution und Kultur", 1929, Nr. 4, S. 19. 
11) "Revolution und Kultur", 1929, Nr. 4, S. 21. — Die Nachlässigkeit der Lokalbehörden erscheint überhaupt als Ventil gegen die Strenge des Gedankens der Klassenauslese; Zeugnisse über die Zugehörigkeit zu der privilegierten Klasse werden manchmal mit größtem Leichtsinn ausgestellt — daselbst S. 17.
12) Prawda. 1924. N. 110.

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mit dem Beweise kommen sie aber in der Regel nicht vorwärts. Algebraische Formeln sind ihnen bekannt, nicht aber die Art ihrer Handhabung. Die Werke der russischen Klassiker scheinen ihnen nicht aus unmittelbarer Anschauung, sondern durch Wiedergabe in den Lehrbüchern bekannt zu sein. Ueber historische Tatsachen haben sie keine Ahnung. Selbst über die Sowjetverfassung, ein in der heutigen Mittelschule durchaus wichtiges Fach, sind die Aspiranten im Unklaren.13)

Da in den letzten Jahren die Regierung auf die Handhabung der Klassenauslese besonderes Gewicht legt, entstehen neue Bräuche, die die Lage nur verschlimmern. In einigen Hochschulen werden Jünglinge aus Arbeiter- und Bauernkreisen auch dann angenommen, wenn sie nicht sämtliche Prüfungen bestanden haben, was bei der Geringfügigkeit der Forderungen von einer vollkommenen Unwissenheit zeugt.")

Die Resultate des Experimentes der Zuführung von unvorbereiteten Elementen zum Hochschulstudium sind begreiflich; die Hochschule'wird eigentlich zur Mittelschule, weil daselbst Unterricht erteilt wird, der überall zur Mittelschulbildung gehört; oder aber es wird beim Vortragen höherer Materien ungemein viel Zeit für Erläuterungen verwendet, die jedem Abiturienten bekannt sein sollten.15) Diese Betrachtungen führen uns aber zu der nächsten Serie der Hochschulexperimente der Sowjetregierung, nämlich zu den Experimenten auf dem Gebiete der Programme.

 

  Das Programm  

In Bezug auf die Programme haben sich die Kommunisten ziemlich lange jedes Experimentierens enthalten. Bis 1920 sind die Lehrpläne der Hochschulen im großen und ganzen die alten geblieben. Veränderte Verhältnisse machten selbstverständlich die Umstellung der Programme der juristischen und nationalökonomischen Fächer nötig. Diese Umstellung ist im Wege der damals formell noch nicht beeinträchtigten Autonomie der Hochschule durchgesetzt worden.

Im Jahre 1920 kam die Sowjetregierung unter dem Einflüsse von Professor Ossadtschij, der unter dem Zarenregime die Stellung des Leiters des Post- und Telegraphenamtes bekleidete, später aber derart evolutionierte, daß er im bekannten Schachty-Prozeß (Mai-Juli 1928) als öffentlicher Ankläger gegen seine Kollegen auftreten konnte, auf den unglücklichen Gedanken, die Dauer des Studiums abzukürzen.

13) "Die Volksaufklärung", 1927, Nr. 11-12, S. 117-118. ") "Lehrerzeitung", 24. März 1929.
15) "Die Volksaufklärung", 1928, Nr. 6, S. 101, "Lehrerzeitung", 24. März 1929.

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Diese Dauer betrug im vorrevolutionären Rußland in der Regel 4 Jahre, auf den medizinischen Fakultäten und den meisten Technischen Hochschulen aber 5 Jahre. Die Sowjetregierung beschloß nun, das Studium nur 3 Jahre dauern zu lassen — um die akademischen Lehrkräfte und die Anstalten selbst besser zu verwerten. Um dies zu erreichen, mußten sämtliche Programme umgeformt werden, und zwar vom Standpunkte einer engen Spezialisierung. Die Hochschule sollte von nun an nicht mehr wissenschaftlich gebildete, sondern fachtechnisch eingepaukte junge Leute zur praktischen Tätigkeit vorbereiten. Es kam dabei so weit, daß der Gedanke, den mathematischen Unterricht aus den Technischen Hochschulen auszumerzen, ernst erwogen werden konnte.

Es muß bemerkt werden, daß dem Begriffe "dreijähriges Studium" unter den damaligen Verhältnissen eine ganz andere Bedeutung zukam, als demselben Begriffe in anderen Ländern, z. B. in Deutschland. Hierzulande bedeutet das dreijährige Studium nur, daß der Student nach dem angegebenen Zeitraum sich der Staatsprüfung unterziehen darf. In Sowjetrußland aber bedeutete "Dreijähriges Studium" die Maximaldauer eines Stipendiums, ohne welches es dem Studenten in diesen Jahren direkt unmöglich war, irgendwie auszukommen, da weder an Zuschüsse von Hause, noch an selbständigen Erwerb zu denken war.

Das Experiment hat sich nach einem Jahr als vollkommener Mißgriff erwiesen. Nur in Ausnahmefällen haben die im Herbst 1920 angenommenen Studenten bis zum Herbst 1921 den Lehrplan des ersten Studienjahres irgendwie durcharbeiten können. Die Mehrzahl hat kaum die Hälfte der vorgesehenen Prüfungen bestanden. Ohne die Reform aufzuheben, hat die Regierung zugeben müssen, daß das Studium auch länger als 3 Jahre dauern dürfe. Die unsinnige Verteilung der Fächer hat aber noch mehrere Jahre gedauert und nicht wenig zu den unbefriedigenden Zuständen beigetragen, die die oben geschilderte akademische Säuberung des Jahres 1924 verursachten. Nach einer von der "Prawda" unternommenen Rundfrage hatten die jungen Studenten gleichzeitig 15 bis 19 Lehrfächer durchzuarbeiten.16)

Inzwischen hatte die Regierung den Beschluß gefaßt, die Aufstellung der Programme den Professoren zu entziehen und in eigene Hände zu übernehmen. Es ist beim Volkskommissariat für Volksaufklärung ein "Staatlicher wissenschaftlicher Rat" gebildet worden, der fast ausschließlich durch Kommunisten besetzt wird. Diesem Rate ist die Aufgabe erteilt wor-

16) Prawda, 1924, Nr. 101.

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den, nicht nur die Lehrpläne, sondern auch ausführliche Programme aufzustellen. Der wissenschaftliche Rat hat mit den sozialen Fächern (juristischen und nationalökonomischen) angefangen und bis in die Einzelheiten gehende Programme des Unterrichts fertiggestellt, die selbstverständlich und ausschließlich dem orthodoxen Marxismus huldigen. Für die strenge Befolgung dieser Programme sorgen die kommunistischen Zellen, die von jeder Abweichung die zuständige Behörde in Kenntnis setzen.

Dies ist das Wesen der zweiten Reform der Lehrpläne, die als "Reform 1923" bezeichnet wird. Im Jahre 1926 hat eine dritte Reform sattgefunden, die zum großen Teil als Gegenreform zu derjenigen des Jahres 1920 erscheint. Die Dauer des Studiums ist wieder auf 4 bzw. 5 Jahre erhöht worden. Der Gedanke der engen Spezialisierung wurde aufgegeben. Dagegen erscheint die Reform 1926 keinesfalls als eine Gegenreform zu derjenigen des Jahres 1923.

In der neuesten Zeit scheint es zu einem neuen, vierten Experiment auf dem Gebiete der Programme zu kommen. Seit Mitte 1928 wird in der Sowjetpresse der Gedanke einer An-gliederung des Unterrichts an die wirtschaftliche Produktion gehegt. Es ist der Gedanke einer "ununterbrochenen Praxis" aufgetaucht, der eigentlich gerade das Gegenteil seiner Bezeichnung bedeutet. Mit der Durchführung dieses Gedankens ist im Winter 1928/29 begonnen worden. Jeder Student soll jetzt in der Regel zwei Wochen studieren und dann eine Woche auf einer Fabrik oder einer Anstalt verbringen, dann wieder studieren, dann wieder arbeiten usw. Ueber die Durchführung dieses Gedankens werden in der Sowjetpresse ganz merkwürdige Dinge berichtet. Es heißt, daß die sogenannten Praktikanten zum Tragen von Säcken, zum Waschen von Fußböden, zur Leistung von Nachtwächterdiensten usw. gebraucht werden, wobei sie häufig unter die Befehlsgewalt von 16- bis 17 jährigen Arbeitern gelangen.

Diese "ununterbrochene Praxis" muß das Studium im höchsten Maße stören. Eine Erhöhung der Zahl der Studienjahre wäre unter diesen Umständen eine Selbstverständlichkeit. Wie aber in der Sowjetpresse berichtet wird, denkt die Sowjetregierung wieder an eine Kürzung des Studiums.

 

Die Professur

3. Der ewige Wechsel in den Lehrplänen und den Programmen mußte die Arbeit der Professur zu einer ungemein schwierigen machen. Das Leben des Hochschullehrers unter dem Sowjetregime ist aber an und für sich ein wahres Martyrium.

Das erste, die Professur betreffende Experiment, wurde mit dem Dekret vom 5. Oktober 1918 unternommen. Dieses

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Dekret schaffte das vorrevolutionäre System der Vorbereitung zur akademischen Laufbahn ab, ohne es durch ein anderes zu ersetzen. Es schaffte außerdem die alte Stufenleiter der akademischen Rangwürden ab und teilte sämtliche Lehrer in zwei Klassen: Professoren und Dozenten, ein, wobei der Rang eines Professors jedem akademischen Lehrer verliehen wurde, der mindestens 3 Jahre selbständig Vorträge gehalten hatte.

Es wurde zugleich anbefohlen, sämtliche akademische Lehrer, die ihre Stellungen mehr als zehn Jahre innehatten, Neuwahlen zu unterziehen.

Sämtliche Bestimmungen des Dekretes vom 5. Oktober 1918 waren durch einen leitenden Gedanken diktiert: es sollten den jüngeren Kräften die Bahn geebnet werden; die Senate der Hochschulen, die statutenmäßig nur aus Professoren bestanden, sollten erneuert und verjüngt werden. Die vom Druck der "Alten" befreiten "Jungen" sollten dadurch regierungsfreundlich gemacht werden, und die der Regierung erwünschten Reformen entgegenkommend durchführen.

Zur Zeit dieses ersten Experimentes war aber die Autonomie der Hochschulen noch da. Die führenden Stellungen — diejenigen der Rektoren und der Dekane — waren überall von "wirklichen" Professoren (und nicht von sogenannten "Sowjetprofessoren") besetzt. Die Neuwahlen haben daher ausnahmslos zur Wiederwahl der betreffenden Personen geführt.

Allmählich sah die Regierung ein, daß das bei ihr beliebte System der "inneren Explosion" (die alten Korporationen werden durch ihre eigenen, auf die Seite der Regierung übertretenden Mitglieder untergraben) in akademischen Kreisen zu keinem Erfolg führen konnte. Die Professur schloß sich zusammen, gelassen und opferbereit ihre akademische Würde und Freiheit behauptend. Im Laufe der ersten 5 Revolutionsjahre zählte das Hochschullehramt in Rußland über 50, aus verschiedenen Anlässen erschossene Professoren und über 100 in Elend und Hunger gestorbene Gelehrte; die Verhaftungen waren nicht zu zählen. Nach einem kurzen Versuche, die Autonomie der Hochschule zu begrenzen, ohne sie vollkommen abzuschaffen, und nach einer beispiellosen Säuberungsaktion in Form der Verbannung einer beträchtlichen Anzahl von Hochschullehrern, die besonders mutig ihre unabhängige Weltanschauung bekundeten, wurde im Jahre 1922 (Herbst) eine neue Hochschulordnung erlassen, die die Autonomie der Hochschulen vollkommen vernichtete.

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Das Ende der Autonomie

Von nun an werden die Hochschulen durch 3—5 köpfige Direktionen geleitet, die durch das Volkskommissariat für Aufklärung ernannt werden. Es dürfen zwar die Professorenkollegien ihre Kandidaten vorschlagen, diese Vorschläge haben aber keine verbindliche Kraft.

Was die Ernennungsgewalt des Volkskommissariats bedeutet, erhellt aus folgenden Zahlen. An 71 Hochschulen der RSFSR. gibt es 30 Kommunisten als Rektoren (Vorstände der Direktionen) und 122 kommunistische Mitglieder der Direktionen gegen 133 Parteilose,17) und dies, trotzdem es unter den Professoren nur 4,6 Prozent und unter den jüngeren akademischen Arbeitern nur 8,6 Prozent Kommunisten gibt.18) In den Arbeiterfakultäten haben die Kommunisten sämtliche Direktionsstellen inne, und dies trotz der Tatsache, daß sie in der Lehrerschaft nicht mehr als 11 Prozent ausmachen.19)

Die neu errichteten Direktionen haben in den Hochschulen wahrlich diktatorische Gewalt; sie ernennen u. a. die Präsidien der Fakultäten und die akademischen Lehrer niederer Ränge — die Ernennung der Professoren gehört zu den Funktionen des obenerwähnten "staatlichen wissenschaftlichen Rates". Die Senate der Hochschulen, die in früheren Zeiten ausschließlich aus Professoren bestanden hatten, werden nunmehr aus sämtlichen Mitgliedern der Direktionen, den Dekanen der Fakultäten, je 5 Vertretern der Professoren, der Dozenten und der Studenten und zahlreichen, von verschiedenen Behörden und Anstalten ernannten Mitgliedern gebildet, und sind zu rein dekorativen Organen geworden, da ihre Beschlüsse der Bestätigung der Direktionen oder des Volkskommissariats bedürfen. Auf gleichen Grundsätzen werden auch die Senate der Fakultäten gebildet. Fakultäten als wissenschaftliche Körperschaften bestehen nicht mehr.

Auf der Grundlage der neuen Hochschulordnung ist die Professur einer langsamen Zermalmung unterworfen worden. Zahlreiche akademische Lehrer, die etwas selbständiger auftraten und trotzdem in die Liste der im Jahre 1922 Verbannten nicht aufgenommen wurden, wurden durch die Direktionen abgesetzt oder dadurch zum Abgange genötigt, daß ihnen keine Lehraufträge mehr erteilt wurden. Je weiter desto mehr wurde der Grundsatz an den Tag gelegt, daß zu der Beibehaltung der Stellung eines akademischen Lehrers eine politisch neutrale Stellung nicht genüge und eine aktive Betätigung auf dem Felde des "sozialistischen

 

") "Narodnoje Prosweschenije w 1925—1926 godn", S. 110.
18) "Narodnoje Prosweschenije", 1929, N. 2, S. 11—12.
19) "Narodnoje Prosweschenije w 1925—1926 godn", S. 125.

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Neubaues" erforderlich sei. Die Professur ist allmählich genötigt worden, in die rote "Gewerkschaft der Arbeiter der Volksaufklärung" einzutreten, wogegen sie sich jahrelang gewehrt hatte. Dadurch ist für sie ein neues Bezwingungsmittel entstanden, da die Mitglieder der "roten Gewerkschaften" einer strengen Disziplin unterliegen und zum Vollzug gewisser Handlungen verpflichtet sind.20) Nur durch die Zusammenfassung der Professur in gewerkschaftliche Organisationen ist es möglich geworden, der erstaunten Welt mitzuteilen, daß Rußlands akademische Lehrer den Tod Lenins als eine schwere Einbuße beweinen, daß sie jede kritische Aeußerung über das Sowjetland in der auswärtigen Presse ablehnen, daß sie für strenge Bestrafung der "Schachty-Verräter" eintreten usw.

Sehr bezeichnend sind auch die Neuwahlen zur Akademie der Wissenschaft, die im Januar 1929 stattgefunden haben. Unter dem Drucke der Regierung wurden in die Kandidatenlisten mehrere prominente Kommunisten aufgenommen (u. a. Bucharin und Lunatscharskys Gehilfe Pokrowsky). Bei der geheimen Wahl sind mehrere derartige Kandidaten gewählt worden, drei sind aber durchgefallen. Nun erbat das Präsidium der Akademie die Genehmigung, die Wahlen zu wiederholen (was statutenmäßig unzulässig war); bei diesen Neuwahlen sind die drei Regierungskandidaten doch zu Rußlands Akademikern geworden.

Der innere Wert solcher Handlungen und Aeußerungen ist im Lande gut genug bekannt. Sie sind immerhin nicht bedeutungslos. Indem die Regierung die Professoren zwingt, an derartigen Demonstrationen teilzunehmen, bricht sie den Rest des oppositionellen Geistes innerhalb der Professur, da bekanntermaßen eine Erniedrigung, zu welcher jemand gezwungen worden ist, eine gewisse Depression zur Folge hat, die für jede oppositionelle Betätigung höchst ungünstig ist.

 

Die Säuberung

Diese, auf dem Wege der Erniedrigung der Professur erzielten Erfolge, erscheinen der Regierung doch noch ungenügend. So beschloß sie Anfang 1929, die Professur einer gründlichen Säuberung zu unterziehen. Es wurde der schon im Jahre 1918 aufgetauchte Gedanke der Neuwahlen wieder aufgenommen. Sämtliche Hochschullehrer, die mehr als 10 Jahre akademischer Laufbahn hinter sich hatten, mußten dieser Prozedur unterzogen werden. Die Mißerfolge des Jahres 1928 wurden jedoch berücksichtigt. So wurde die Professur in Serien geteilt, und die erste Serie aus einigen Hochschulen in Moskau, Leningrad und Woronesch gebildet.

20) So sind sie z. B. dem Statute nach verpflichtet der Verbreitung der kommunistischen Revolution in der ganzen Welt zu helfen und dergl. mehr.

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Weit wichtiger ist aber die Neugestaltung der wählenden Körperschaften. Damals, im Jahre 1918, waren es die Professorenkollegien, die selbstverständlich auf den Gedanken einer "Professorensäuberung" nicht eingingen. Jetzt wurden zur Durchführung von Neuwahlen Kollegien recht unbestimmter Zusammensetzung ins Leben gerufen. Studenten, Mitglieder gewerkschaftlicher Verbände und akademische Lehrer durften an denselben teilnehmen. Ein der Neuwahl unterzogener Gelehrter hatte vor einem derartigen Kollegium mit einem Berichte aufzutreten, in welchem er seine wissenschaftliche Tätigkeit und seine Teilnahme am öffentlichen Leben zu schildern hatte. Darauf konnte jedes Mitglied an dem Gelehrten Kritik üben, und zum Schluß bestimmte das Kollegium durch öffentliche Abstimmung, ob die Beibehaltung oder die Entfernung des der Prozedur unterzogenen Gelehrten zu empfehlen sei. Die Entscheidung ist dem staatlichen wissenschaftlichen Rate oder den Hochschuldirektionen (je nach dem Range des Geprüften) reserviert geblieben.

Das Schlagwort der Neuwahlen ist von einem gewissen Wyschinsky, der seinerzeit zusammen mit Ossadtschij als öffentlicher Ankläger im Schachty-Prozefi aufgetreten ist, und dann zum Leiter des Hochschulamts innerhalb des Volkskommissariats für Volksaufklärung befördert worden war, aufgestellt worden. In einer Rede, die er in Moskau gehalten hatte, hat er den Satz aufgestellt, daß heutzutage eine politische Neutralität seitens der Professur nicht genügen könne; die Professoren müßten vielmehr an dem Neubau der sozialistischen Gesellschaft aktiv teilnehmen oder ihre Aemter niederlegen.21) Nur in zweiter Linie sollten rein akademische Gesichtspunkte in Betracht gezogen werden; in dieser Beziehung sollte die Säuberung zur Entfernung derjenigen Professoren dienen, die aus "Passivität oder gar Feindseligkeit dem neuen Regime gegenüber gar nicht oder sehr wenig für die Vorbereitung eines sozialistisch gesinnten wissenschaftlichen Nachwuchses sorgen wollen."22)

Diese Säuberung hat auch wirklich stattgefunden und zu vielen dramatischen Vorgängen geführt. Nur wenige Professoren haben den Mut gehabt, die ihnen zugemutete Erniedrigung mit einem "Nein" von sich zu weisen. Die übrigen haben sich der Prozedur unterwarfen, was ihnen nicht zu verdenken ist, da in einem kommunistischen Staate einem seines Amtes enthobenen Gelehrten nur der Hungertod übrig bleibt. Auf den "Prüfungsversammlungen" sind manchmal Studenten aufgetreten, die es versucht haben, ihre

21)  "Wetsehernjaja Moskwa", 1929, 20. Juni.
22)  "Ekonomitscheskaja Shisn", 1929, 25. Mai.

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persönlichen, durch allgemeine Unbildung oder Faulheit hervorgerufenen Mißerfolge, an den Gelehrten zu vergelten. Seltener sind akademische Lehrer aufgetreten; einige haben sich auch ganz unwürdig verhalten und ihren Kollegen vorgeworfen, der verbotenen idealistischen Weltanschauung weiter zu huldigen und den Geboten Wyschynskys nicht zu gehorchen. Ganz passiv haben sich die Arbeiter verhalten.

Ein Massenerfolg ist jedenfalls ausgeblieben, was durch die Spitzenverbände innerhalb der Gewerkschaft der Arbeiter der Volksaufklärung offen zugegeben worden ist.23) Es muß in Betracht gezogen werden, daß es sich nur um die erste Serie handelte und daß die Prozedur der Neuwahlen weiter durchgeführt wird. Ihre deprimierende Wirkung auf die Gesamtheit der Professur kann man sich kaum vorstellen.

 

  Zusammenfassung  

Wenn man das oben Gesagte zusammenfaßt, so muß man zum Schlüsse kommen, daß es der bolschewistischen Regierung gelingt, ihre Experimente rücksichtslos durchzusetzen. Die Studentenschaft ist zum größten Teil proletarisiert; die alte Professur ist entweder abgesetzt oder so eingeschüchtert und überwacht, daß regierungsfeindliche Vorträge kaum mehr möglich sind, und die Programme sind dem Standpunkte des allein heilbringenden Marxismus angepaßt.

Auch in einer anderen Hinsicht könnte die Sowjetregierung zufrieden sein: quantitativ hat die "Hochschulbildung" im Vergleiche mit der vorrevolutionären Zeit stark zugenommen. An Stelle von 97 Hochschulen mit 10 000 Studenten, die im Jahre 1915 vorhanden waren, gibt es heutzutage in der Sowjetunion 139 "Hochschulen" mit 164 000 "Studenten". Dieser zahlenmäßige Zuwachs sowie die Vollendung des Kunststückes einer "proletarischen Hochschule" ist allerdings teuer erkauft worden, nämlich mit einem unerhörten qualitativen Rückgang.

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23)  "Trud", 1929, 26. Juli. 

 

 

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