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4. Die Organisation der Diktatur

Von  Professor Nikolaj Timaschew 

 

detopia-2019:

Timaschew, Nikolaj: *1886 in Petersburg bis 1970 in New-York. Soziologe, Rechtswissenschaftler und Geistes­wissenschafts­historiker.

Seit den 30er Jahren verschiedene Professuren in der USA. Vergleiche auch bei Dr. Tsygankov in Moskau.

iljinru.tsygankov.ru/german/go/persons.html 

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Das Studium der Organisation einer Diktatur gehört zu den schwierigsten Aufgaben. Nur selten haben die Diktaturen den Mut, so offen aufzutreten, wie es die Mussolinische tut. Gewöhnlich verhüllen die Diktatoren den Aufbau ihrer Macht, und dies nicht ohne Grund: die Verhüllung erschwert einerseits die Bekämpfung der wirklichen Organisation, und schafft andererseits naive Menschen, die den Kern nach der Hülle beurteilen und sich mit der gegebenen Lage der Dinge zufrieden geben.

 wikipedia Benito_Mussolini     wikipedia  Der_Geist_des_Faschismus  

   Die Verfassung  

Die gegenwärtige Diktatur in Rußland ist eine besonders verschleierte. Daß es eine Diktatur gibt, wird zwar offen zugegeben. Als eine Diktatur der Werktätigen, der Arbeiter und der Bauern, wird der Sowjetstaat von seinen Freunden verherrlicht. Wäre der Sowjetstaat, so wie er in den Verfassungen auftritt, verwirklicht, dann wäre von einer Diktatur eigentlich kaum eine Rede. 

Denn die außerhalb des politischen Lebens stehenden "Nichtwerktätigen" bilden nach all den Spoliationen* nur einen Bruchteil der Bevölkerung, und die in der Verfassung niedergelegte Organisation ist zwar recht eigenartig, doch sicherlich als demokratisch zu bezeichnen. Es wählen bekanntermaßen die Arbeiter, nach Betriebseinheiten zusammengefaßt, und die Bauern in den Land­gemeinden ihre "Vertrauensmänner", deren Zusammentritt den lokalen Sowjet bildet.

* duden.de  Spoliation   Raub, Plünderung -- Der Verfasser meint wohl, dass durch die Enteignungen alle Leute "Werktätige" wurden, gezwungenermaßen, und somit gültige Mitglieder der Gesellschaft sind für die - nun - die Verfassung gilt, also Arbeiter sind.

Dieser Sowjet wählt einerseits sein ausführendes Organ und andererseits eine Delegation zum Sowjet höherer Stufe, der technisch "Kongreß der Sowjets" genannt wird. Dasselbe geschieht auf jeder anderen Stufe, so daß der Unionkongreß der Sowjets, dem verfassungsmäßig die höchste Gewalt im Staate zusteht, als eine, wenn auch indirekte Vertretung der werktätigen Massen auftritt, und die von ihm gewählten höchsten ausführenden Organe — der Rat der Volkskommissare und der Unionshaupt­vollzugsausschuß — nur als Vollzieher des durch den genannten Kongreß vertretenen Volkswillens erscheinen. 

Die Entscheidung gehört also der Masse der aktiven Bürger, was insbesondere dadurch offenbar wird, daß sämtliche vertretenden und vollziehenden Organe auf recht kurze Fristen gewählt werden. Der verfassungsmäßige Sowjetstaat hat aber keinen Augenblick existiert.  


Der Umsturz vom 7. November 1917, der ihm offiziell das Leben gegeben hat, ist durch die Spitze der kommunistischen Partei durchgeführt worden, die die wirkliche Staatsgewalt an sich gerissen hat. Diese Spitze hat aber verstanden, daß eine Proklamierung ihrer Diktatur auf heftigen Widerstand der Volksmassen stoßen würde. So hat sie von Anfang an die nominelle Staatsgewalt dem System der Sowjets abgetreten, das noch unter der provisorischen Regierung entstanden ist und zu deren Sturz recht viel beigetragen hat. Dies konnte die Parteispitze um so leichter machen, als das System der Sowjets sich schon damals zum guten Teil in ihren Händen befand. 

Nicht als Zentralkomitee der siegreichen kommunistischen Partei, sondern als Rat der Volkskommissare begannen also Lenin und seine nächste Gefolgschaft zu regieren. In der Provinz wurde die Gewalt nominell an die Vollzugs­ausschüsse der Sowjets und der Sowjetkongresse übertragen; es wurde aber gleichzeitig dafür gesorgt, daß sich diese Ausschüsse in den Händen der lokalen Partei­organisationen befanden.

So entstand von Anfang an eine zweifache Staatsgewalt. Hinter jedem zum System der Sowjets gehörenden Organe wurde ein entsprechendes Parteiorgan errichtet, und die Leitung der ersteren durch die letzteren gesichert. In den ersten Jahren wurde diese Tatsache totgeschwiegen. Allmählich änderten sich aber die Verhältnisse. Später wurden die wichtigeren Entscheidungen im Namen der "Partei- und Sowjetgewalt" gefällt; in letzter Zeit hat das Zentral-Komitee der Partei in wichtigen Angelegenheiten mehrmals selbständige Verordnungen erlassen. Eine die Wirklichkeit erklärende und rechtfertigende Theorie stellte sich zur rechten Zeit ein. 

Die Jahrhunderte lang unterdrückten Werktätigen, heißt es, unterliegen der Gefahr, durch Hinterlist der Kapitalisten die einmal errungene Staatsgewalt zu verlieren. Um dieser Gefahr vorzubeugen, muß die Führung dem besten, dem am meisten klassenbewußten Teile der werktätigen Klasse gehören. Als dieser beste Teil, als Vortrupp des Proletariats, wird nun die proletarische Partei, die Kommunistische Partei, gepriesen. Sie hat also die Staatsgewalt im Namen der werktätigen Masse und in ihrem Interesse auszuüben.

In dieser Theorie ist eigentlich nichts Neues enthalten. Es ist eine Variante der gewöhnlichen Rechtfertigung der Führerschaft einer organisierten Minderheit.

 

   Das Parteistatut   

Es ist schon gesagt worden, daß die Organisation der Sowjets eine demokratische ist. Dieser demokratische Schein liegt auch auf dem anderen Teil des Sowjetsystems, dem Parteisystem. Wenn man die Parteistatute liest, so kommt man notwendig zum Schlusse, daß die nach außen diktatorisch regierende Organisation nach innen "demokratisch" organisiert ist.

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Der statutenmäßige Aufbau der Partei kann folgendermaßen wiedergegeben werden: 

In jeder Sowjetbehörde, in jeder gewerkschaftlichen Organisation, auf jeder Fabrik, in jeder Schule, in jeder militärischen Einheit usw. wird aus den vorhandenen Kommunisten eine Urzelle gebildet. 

In jeder Zelle gibt es eine Generalversammlung, der die Entscheidung über prinzipielle Fragen gehört, und ein Büro, das die Beschlüsse der Generalversammlung auszuführen und laufende Fragen zu erledigen hat. Die Generalversammlung wählt u.a. Delegierte zu Parteiorganisationen der nächsten Stufe, die mit einer einzigen, die militärischen Zellen betreffenden Ausnahme, immer territorial organisiert sind, d.h. die Kommunisten eines bestimmten Gebietsstrichs (gewöhnlich einer Wolost, ungefähr eines preußischen Landkreises oder eines Stadtteils) vereinigt.

Auf dieser Stufe gibt es zwei Organe: die Konferenz, die aus sämtlichen Delegierten der Unterstufe besteht, und etwa die Funktionen einer General­versammlung auf der unteren Stufe ausübt, und das Komitee, das dem Büro entspricht. Ebenso werden die nächst höheren Organisationen gebildet, die den Bezirken und den Gebieten entsprechen. 

Dabei ist aber zweierlei zu vermerken. 

Erstens zerfällt auf diesen Stufen das vollziehende Organ in ein breiteres, auch hier Komitee genanntes Kollegium, und ein engeres, das den Namen Büro trägt. Und zweitens entsprechen Gebietsorganisationen nicht nur den Gebieten i.e.S., sondern auch den größeren, autonomen und den verbündeten Republiken. Nur tragen die entsprechenden Organisationen etwas feierlichere Namen; ihre Komitees werden Zentralkomitees genannt. Daß es sich aber nur um Gebietsorganisationen einer einzigen, der Kommunistischen Partei der USSR, handelt, und nicht etwa um verbündete Parteien (was in Bezug auf die kommunistischen Parteien Deutschlands, Frankreichs usw. der Fall ist), ist in den Statuten unzweideutig ausgedrückt.

Ähnlich ist auch der Aufbau der Zentralstufe. Auch hier gibt es einen Parteikongreß und ein Zentralkomitee. Dem einzigen Büro der Gebietsstufe entsprechen aber drei Organe: das Politische Büro, das Organisationsbüro und das Sekretariat. Von diesen Organen ist das Politische Büro durchaus das wichtigste.

So ist der Aufbau der Partei demjenigen der Sowjets durchaus parallel. Würde das System wirklich in Gang sein, so müßten die Parteimassen in ihren Zellen die bedeutendsten Entscheidungen treffen. Die höheren und die höchsten Organisationen hätten nur den Willen der Parteimassen festzustellen, zu organisieren und zu verwirklichen.

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Das Studium der Parteistatute läßt aber die wirkliche Organisation der heutigen russischen Diktatur ebensowenig entziffern, wie das Studium der Sowjet­verfassungen. Ständen wir wirklich vor einer Parteidiktatur, so würde die Staatsgewalt dem Unionkongresse der Partei und nicht dem Unionkongresse der Sowjets gehören. 

In Wirklichkeit wird aber der Staatswille weder vom Parteikongreß, noch vom Zentralkomitee, noch vom Politischen Büro gebildet, sondern von einem Organ, das den Partei­statuten unbekannt ist.

 

   Der erste Diktator   

An der Spitze des Staates steht in Wirklichkeit ein Diktator, dessen Stelle eine Zeit lang ein Dreimänner­bund einnahm. Das Politische Büro ist nur das nächstwichtige Organ, das aber in jeder Hinsicht vom Diktator (und nicht vom Zentralkomitee oder Parteikongreß) abhängt.

Diese Tatsachen lassen sich nur geschichtlich erklären. Lenins Stellung in der Partei war schon zu Zeiten des Kampfes um die Staatsgewalt eine ganz hervor­ragende. Der Umsturz erhöhte diese Stellung bis zu der eines Alleinherrschers, und dies aus dem Grunde, weil er den Umsturzbeschluß gegen die Meinungen sämtlicher Führer, Trotzky und Stalin ausgenommen, durchsetzte, und dann das große Spiel mit dem Brester Frieden gewann, dem er von Anfang an nur eine kurze Dauer beigemessen hatte.

Seine Stellung innerhalb der Partei ist nach seinem Tode von einem seiner Schüler durch folgende Worte charakterisiert worden:

"Entstanden Zweifel, so gab es einen Mann, der die Kongreßentscheidungen im Namen der Partei auslegen konnte, und man wußte, daß diese Auslegung diejenige der Gesamt­partei war." 

Tatsächlich legte er manchmal die Beschlüsse der Kongresse gegen ihren ganz klaren Sinn aus, traf also Entscheidungen wie ein absoluter Monarch. Es wurde ihm, als dem Propheten, gehorcht. Kein Mann in Sowjetrußland verfügte über eine derartige persönliche Gewalt wie Lenin. 

Seine Wiederwahl zum Zentralkomitee und zum Politischen Büro der Partei, sowie die Wahl von ihm vorgeschlagener Personen und die Nichtwahl der von ihm mißbilligten Kandidaten ist immer absolut sicher gewesen.

Zu Lenins Lebzeiten, oder genauer gesagt, bis zu seiner Erkrankung, bestand das Politische Büro aus wenigen (gewöhnlich 5) Personen aus der nächsten Umgebung des Führers. Außer Lenin saßen daselbst anfänglich Trotzky, Kamenew, Stalin und Krestinsky. Nachdem Krestinsky Mißfallen erregt hatte, wurde er durch Sinowjew ersetzt. 

Das Politische Büro war zu dieser Zeit ein enger Rat um den Staatsherrscher. Der Diktator interessierte sich am meisten für innere Politik und führte den tatsächlichen Vorsitz im Rat der Volkskommissare. Seine Kollegen halfen ihm bei der Leitung der übrigen Zweige der höchst komplizierten Staatsmaschine. 

Aber nicht als Ressortleiter saßen sie rund um Lenin, sondern als seine Vertrauensmänner. 

Die Sitzungen waren zu dieser Zeit nichts weniger als formell; es wurden keine Stenogramme aufgenommen, und formelle Sitzungen wurden häufig durch Telephongespräche ersetzt.

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Für eine monokratische Diktatur ist der Wechsel in der Person des Herrschers recht schwierig. Nur allzu oft fällt die Staatsgewalt in die Hände einer unbedeutenden Persönlichkeit, die sie dann recht bald verliert (es sei z.B. auf die Nachfolge­schaft von Oliver Cromwell oder auf diejenige Boris Godunoffs in Rußland im 17. Jahrhundert hingewiesen). 

Ein rein zufälliges Ereignis erleichterte dem Schiff der sowjetrussischen Diktatur die Fahrt. Lenin ist nicht plötzlich verschwunden; er ist zunächst ernstlich erkrankt. Es kam dann aber zu einer Besserung, während welcher er die höchste Leitung der Staatsgeschäfte wieder aufnehmen konnte, wenn auch nicht ganz so unmittelbar, wie es früher der Fall gewesen ist. 

Von seiner letzten Erkrankung bis zu seinem Tode sind wieder 10,5 Monate verflossen, während welcher im Namen Lenins regiert und die Frage seiner Nachfolgerschaft ohne Eile geklärt werden konnte.

 

   Das Politbüro   

Die Art seines Ablebens bestimmte die Art seiner Ersetzung. Zunächst stieg die Bedeutung des Politischen Büros. Aus einem engen Rat um den Herrscher wurde es zu einer Art Regentschaftsrat. Die Zahl der Mitglieder wurde von 5 auf 7 erhöht. Anstelle des tatsächlich ausgeschiedenen Lenin wurden Rykoff, Kalinin und Molotoff kooptiert.

Noch zu Lebzeiten Lenins entbrannte innerhalb des eigenartigen Regentschaftsrates ein Kampf zwischen seinen beiden bedeutendsten Mitgliedern — Trotzky und Stalin. Trotzky war durchaus der fähigste und tatkräftigste. Stalin aber hatte die höchst wichtige Stelle des Generalsekretärs der Partei inne. 

Der Kampf wurde dadurch entschieden, daß sich auf die Seite Stalins Sinowjew und Kamenew stellten, die die Petersburger und Moskauer Organisation krönten und als nächste Schüler Lenins auf den Gedanken kamen, aus Lenin eine Art Heiligenbild zu machen und in seinem Namen weiter zu regieren.

Eine Schwierigkeit war jedoch zu überwinden — das bekannte Testament Lenins vom 4. Januar 1923, in welchem er seinen Kollegen den Ratschlag gab, Stalin aus der Stellung des Generalsekretärs zu entfernen. Das Testament wurde dem Zentral­komitee im Mai 1924, vier Monate nach dem Tode Lenins, bekannt­gegeben. 

Über diese Sitzung liegt folgender Bericht eines Augenzeugen vor.

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Nachdem das Testament vorgelesen war, entstand ein längeres Schweigen. Dann ergriff Sinowjew das Wort: "Genossen", sagte er, 

"Lenins Wille ist für uns Gesetz. Wir werden alles pünktlich ausführen, was er uns vermacht hat. Wir können aber mit Freude feststellen, daß sich in einem Punkte die Befürchtungen Lenins nicht verwirklicht haben. Ihr konntet schon monatelang unsere gemeinsame Arbeit mit dem Generalsekretär beobachten, und ihr habt sicherlich festgestellt, daß das, was Lenin fürchtete, nicht geschehen ist." 

Im selben Sinne sprach Kamenew, der während Lenins Krankheit als interimistischer Präsident des Politischen Büros fungierte. Die übrigen Mitglieder schwiegen, auch Trotzky, der seine Verachtung mit allen möglichen Mitteln zum Augenschein brachte.

So kam es zur Ergreifung der Staatsgewalt durch das Triumvirat Stalin-Kamenew-Sinowjew. Während der relativ kurzen Periode, in der diese Struktur der höchsten Staatsgewalt bestand, stieg die Bedeutung des Politischen Büros. Innerhalb dieses Gremiums wurde zuerst der Kampf zwischen dem Dreimännerbund und Trotzki ausgetragen, der sich nicht fügen wollte und mit einem Staatsstreich drohte, welcher infolge seiner Verfügungsgewalt über die Armee durchaus möglich erschien. Durch einen glänzenden Schlag riß aber Stalin seinem Gegner die Waffe aus der Hand, indem er ganz unerwartet sämtliche politischen Kommissare der Armee durch ihm ergebene Leute ersetzte. Nachdem Trotzky besiegt war, entbrannte ein neuer Kampf innerhalb des Dreimännerbundes, zwischen Stalin einerseits und Sinowjew und Kamenew andererseits. Auch dieser Kampf hatte das Politische Büro zur Arena, obwohl die eigentliche Entscheidung nicht von Siegen innerhalb desselben abhing. Es war dennoch die Glanzzeit des Politischen Büros, eine Periode, während welcher ihm ungefähr die Bedeutung eines Direktoriums zukam.

 

   Der zweite Diktator    

Stalin siegte. Die Methode der Erweiterung des Politischen Büros wurde noch einmal angewendet, und die neu errichteten Stellen im Büro sowie die nach dem Ausscheiden der Gegner des neuen Diktators freigewordenen — mit Stalins Leuten besetzt. Das heute bestehende Zehn-Männer-Kollegium hat aber wiederum eine neue Stellung innerhalb der Staatsmaschinerie. Es ist nicht mehr ein Rat der dem Führer am nächsten Stehenden und auch kein Direktorium mehr. Es ist ein Gremium der Ressortchefs, in welchem das Staatsoberhaupt die Ratschläge seiner nächsten Gehilfen anhört und ihnen die nötigen Weisungen gibt. Da diese Gehilfen ausschließlich dem Staatsoberhaupt verantwortlich sind, und tatsächlich von ihm ernannt und abgesetzt werden, ist das heutige Politische Büro dem Kabinett der Vereinigten Staaten am ähnlichsten, selbstverständlich mit den Modifizierungen, die aus der diktatorischen Natur der Staatsgewalt und der grundsätzlichen Verstaatlichung des gesellschaftlichen Lebens resultieren.

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Es lohnt, diese allgemeine Charakteristik durch einige konkrete Mitteilungen zu ergänzen. 

Der heutige Diktator, der sich im Gegensatz zu Lenin nicht mit den Sowjet-, sondern mit Parteiangelegenheiten befaßt, wird in seiner Arbeit durch Molotoff und Kaganowitsch unterstützt. Die innere Verwaltung lag bis jetzt in den Händen von Rykoff, der an der Spitze des Unionsrats der Volkskommissare steht, und zum Stellvertreter Rudzutak hat. An der Spitze der Hierarchie der Volksausschüsse der Sowjets steht Kalinin. Für die auswärtige Arbeit ist Manuilsky da, der die Leitung der Kommunistischen Internationale inne hat. Schwernik steht an der Spitze der Gewerkschaften, die bekannter Weise als Hebel der Parteiherrschaft innerhalb der Arbeiterklasse betrachtet werden. Kuibyschew ist lange Zeit Vorsitzender des höchsten Volkswirtschaftsrats gewesen und leitete die wichtigsten Angelegenheiten auf dem wirtschaftlichen Gebiet. Woroschiloff endlich ist das Haupt der bewaffneten Macht.

Ein Mann, der den Titel "Generalsekretär der Kommunistischen Partei" führt, dessen Macht aber noch unbeschränkter ist, als die Macht eines absoluten Monarchen, und ein aus 9 Männern bestehender Ministerrat — das ist die wirkliche Struktur der höchsten Staatsgewalt im heutigen Rußland, das noch immer — unrichtigerweise — "Sowjetrußland" genannt wird.

 

   Die Satrapen  

Der zentralen Struktur entspricht die lokale. An der Spitze eines jeden Gebietes steht ein vom Diktator ernannter Mann, dessen wirkliche Stellung durch den bescheidenen Titel "Sekretär der Gebietsorganisation der Kommunistischen Partei" verdeckt ist. Dieselbe Lage der Dinge wiederholt sich auf der nächsten Stufe, wo ein vom Gebietssekretär unter Bestätigung des General­sekretärs ernannter Bezirkssekretär steht; und auch auf der vierten von oben, wo als Vertreter der wirklichen Staats­gewalt der Wolost-Sekretär fungiert.

Der Gebietssekretär ist etwa mit einem preußischen Oberpräsidenten zu vergleichen, der Bezirkssekretär mit einem Regierungs­präsidenten, der Wolostsekretär mit einem Landrate, selbstverständlich mit den Modifikationen, die durch den autokratisch-bürokratischen Aufbau des Staates bedingt werden, dem der Selbstverwaltungsgedanke vollkommen fremd ist.

Die Parteibüros auf der Gebiets- und Bezirksstufe entsprechen vollkommen dem Politischen Büro in Moskau. Der tatsächlich an der Spitze stehende Sekretär leitet gewöhnlich die Parteigeschäfte innerhalb des entsprechenden Gebietes und wird dabei durch dasjenige Mitglied unterstützt, welches an der Spitze der Organisationsabteilung steht.

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Von den anderen Mitgliedern des Büros fungiert gewöhnlich der eine als Vorsitzender des Vollzugs­ausschusses des Sowjetkongresses. Da ihm zugleich die Lokalabteilungen des Volkskommissariats unterstehen, ist er zugleich ein kleiner Rykoff und ein kleiner Kalinin. Ein Mitglied des Büros ist Vorsitzender des entsprechenden Gewerkschaftsrats, entspricht also Schwernik im Zentrum. Einige andere Mitglieder krönen besonders wichtige Abteilungen der Volkskommissariate, genossenschaftliche oder andere Organisationen.

Die meisten Mitglieder des Parteibüros fungieren also als Chefs der wichtigsten Lokalbehörden. Das Parteibüro ist, wie wir sehen, zugleich ein Rat der leitenden Beamten des entsprechenden Gebietsstrichs, ein Rat, der dem lokalen Herrscher zur Seite steht und von ihm in hohem Maße abhängt, da seine Mitglieder zwar von oben her, aber gewöhnlich auf Vorschlag des Sekretärs ernannt und abberufen werden. Sämtliche Staatsgeschäfte werden von den Mitgliedern dieses Rats kollegialisch oder persönlich mit Unterstützung eines bürokratisch organisierten Hilfsapparates erledigt. 

Es ist besonders zu betonen, daß auch die Leitung der Schutzpolizei (Miliz genannt) und, nach dem Tode Dsershinskis, auch der politischen Polizei (GPU) zu den Obliegenheiten des Parteibüros und noch mehr seines Chefs gehört. Erfreut sich dieser Chef der Gunst des Diktators, so ist er in Wirklichkeit ein Satrap, ein lokaler Selbstherrscher.

Die Gewalt, die dem heutigen Alleinherrscher gehört, hat er, wie wir gesehen, von Lenin ererbt, der sie durch einen Staatsstreich an sich gerissen hatte. Er hat diese Gewalt geerbt, obwohl Lenin ihn durchaus nicht zum Nachfolger wünschte, und nur, nachdem es ihm gelungen war, seine Miterben zu entfernen. Wie gelingt es ihm aber nun, die zwiefach verkappte Diktatur aufrecht zu erhalten?

Die so gestellte Frage muß in zwei Teile zerlegt werden; wie erhält sich die Diktatur Stalins innerhalb der Partei; wie erhält sich die Vormacht der Parteiorganisation innerhalb des offiziellen Staatssystems, als welches das Sowjetsystem auftritt?

 

    Die Scheindemokratie in der Partei   

Wenn wir also zunächst von dem in den Sowjets verkörperten Willen des werktätigen Volkes abstrahieren und nur die Einreihung der Diktatur in die Schein­demokratie der Partei studieren, so müssen wir folgendes sagen: Stalin sitzt auf seinem Throne so lange fest, wie das Politische Büro, also der Ministerrat, ihm treu ist, der sämtliche Fäden des Staatsapparates, die Armee und die Polizei inbegriffen, in Händen hat. Das Politische Büro wird formell vom Zentralkomitee der Partei gewählt.

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Seine Mitglieder können durch eine vereinigte Sitzung des Zentralkomitees und einer anderen hohen Parteibehörde — des Zentralkontrollausschusses — vorzeitig abgesetzt werden, was z.B. mit Trotzky geschehen ist. Es muß also das Zentralkomitee aus dem Diktator ergebenen Leuten bestehen. Das Zentral­komitee wird vom Parteikongreß gewählt. Es muß also auch auf diesem Kongreß eine sichere Mehrheit von Personen geben, die im Zentralkomitee dem Diktator genehm sind.

Wie läßt sich diese Mehrheit sichern?  

Der Kongreß besteht aus Delegierten der höchsten Partei­organisationen, zu denen heutzutage fast ausschließlich Gebietsorganisationen gehören. Die Delegationen werden also heutzutage — und hier liegt der Kernpunkt des Stalinschen Systems — von den Sekretären der betreffenden Organisationen gebildet, die selbst vom General­sekretär der Partei ernannt werden. Formell liegt die Sache zwar anders: die Gebietskonferenz besteht aus Mitgliedern, die auf den Bezirkskonferenzen gewählt werden, und hat ihren Sekretär und die Delegationen zum Unionkongreß zu wählen.

 

   Das Sicherungssystem  

 

Indeß, hier greift dasselbe Sicherungssystem ein wie auf der höchsten Stufe. Um die Gebietskonferenz ihrem Sekretär und durch seine Vermittlung dem Generalsekretär gefügig zu machen, ernennt der Gebietssekretär sämtliche Bezirkssekretäre, die die Bezirkskonferenzen veranlassen, ihre Delegationen aus zuverlässigen Personen zu bilden. Das System wird bis nach unten durchgeführt, so daß die Sekretäre der Urzellen in Wirklichkeit von den Sekretären der untersten territorialen Organisationen ernannt werden. Diese Sekretäre beherrschen ihre Zellen.

Wenn sich jemand nicht fügen will, wird er sofort des Verbrechens der "Fraktionsbildung" schuldig erklärt und durch den Kontrollausschuß der übergeordneten Organisationen ausgestoßen, und zwar unter Anwendung der Statute, die dieses Verbrechen seit März 1921 mit der angegebenen Strafe bedrohen. Die vollkommen unterjochten Urzellen "wählen" den von den übergeordneten Organisationen präsentierten Mann zum Sekretär und die nötigen Männer in ihre Delegation. Dann geht es auf eben dieselbe Weise aufwärts, und der Ring des Stalinschen Selbst­erhaltungs­mechanismus schließt sich.

Stalin, den noch Lenin zum Generalsekretär ernannt hat, hat diesen Mechanismus recht früh erfunden und ins Leben gerufen. Während sich seine Kollegen mit hohen politischen Fragen befaßten, Reden hielten, Schriften verfaßten, oder auch, wie Trotzky, unmittelbar in die Staatsgeschäfte eingriffen, begnügte sich Stalin damit, in der Hierarchie der Sekretäre eine zielbewußte Selektion durchzuführen.

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Lenin, der sich, wie gesagt, vorwiegend mit Sowjetangelegenheiten befaßte, also wirklich Politik trieb, — unterzeichnete in der Regel die Vorschläge Stalins, die die Direktiven des Meisters genau ausführten: Personen mit stark ausgeprägter Eigenart von den Sekretärstellen fernzuhalten und sie mit fügsamen Leuten minderer Kultur zu besetzen. Während der Regentschaftsperiode konnte Stalin schon eigenmächtig vorgehen. Seine Kollegen freuten sich, daß er sich in die hohe Politik nicht einmischte und sich mit minderen Fragen, wie es die Personal­angelegenheiten zu sein schienen, begnügte.

Dann kam die Zeit der großen Fehde. Und hier erwies sich die Überlegenheit der Stalinschen Methode. Flammende Reden wurden gegen Stalin gehalten, er aber schwieg — und bekam dennoch auf den Kongressen und in den Sitzungen des Zentral­komitees mindestens eine Neunzehntelmehrheit. 

Es scheint, daß Trotzky, Sinowjew und Kamenew bis zuletzt das Kunststück nicht begriffen haben. Sie hofften immer, daß sie, die persönlich zu Lenin nähergestanden hatten als Stalin, die Leninsche Partei überzeugen würden. Ein Trupp von geknechteten Karrieristen läßt sich aber nicht überzeugen. Er gehorcht dem Herrn, von welchem das Schicksal eines jeden abhängt. 

Wer den Mut fand, nicht zu gehorchen, wurde sofort abgesetzt, aus der Partei ausgestoßen, verbannt. Bei diesen Verhältnissen bedeuten die Abstimmungs­ergebnisse gar nichts. Es läßt sich gar nicht feststellen, wie die Parteimasse denkt. Was sie offen sagt, wird ihr in den Urzellen und den Parteiorganisationen von den Sekretären und in letzter Linie von Stalin vorgesagt.

So ist die Parteiorganisation eine autokratische unter demokratischer Hülle. Jede bedeutendere Entscheidung wird vom Diktator getroffen, jede minder wichtige — von einem Minister, einem Satrapen oder einem seiner Untergebenen. Die Entscheidung des Diktators wird, manchmal telegraphisch, sämtlichen Organisationen mitgeteilt. Es werden dann die Urzellen zusammenberufen, die sie mit größeren oder geringeren Fioretten annehmen. Dann werden die "Wünsche der Parteimasse" durch die Hierarchie der Sekretäre nach oben geleitet. Im Zentrum wird immer eine vollständige, wirklich rührende Einstimmigkeit innerhalb der Partei festgestellt, die aber bei weitem nicht auf einer prästabilierten Harmonie der Gemüter beruht.

Es ist nicht schwer, den Beweis der Richtigkeit der obigen Darstellung zu bringen. 1927 wurden die letzten Kämpfe gegen Trotzky durchgeführt. Sämtliche Parteiorganisationen haben sich mit Stalin einverstanden erklärt. Dann kam der bekannte Ruck nach links, in Wahrheit eine teilweise Durchführung des Programms der Opposition — wieder einstimmige Gutheißung sämtlicher Parteiorganisationen.

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Im Juli 1928 hat eine Schwenkung nach rechts stattgefunden — Lobgesänge aus allen Teilen der Union. Im Oktober 1928 hat Stalin eine Rechtsgefahr ausfindig gemacht — und mit einer ebenso rührenden Einstimmigkeit wie früher donnern sämtliche Organisationen gegen die, diesmal anonymen Führer der Rechtsopposition. Wenn Stalin immer die Mehrheit der Organisationen für sich hatte, so würde darin noch kein Beweis des antidemokratischen Aufbaus der Partei liegen, da es manchmal hervorragenden Führern gelingt, große Mehrheiten für ihre, wenn auch wechselnde Politik zu finden. Die Einstimmigkeit ist aber in solchen Fällen mehr als verdächtig.

 

Die Scheindemokratie im Staatswesen

Jetzt müssen wir zum zweiten Teil des Problems der Selbsterhaltung der Diktatur rücken, zur Frage der Organisation der Vormacht der Partei­organisation innerhalb des Sowjetsystems.

Es sei zunächst festgestellt, daß die verfassungsmäßigen Organe, die die Masse der Werktätigen zu vertreten haben, die Sowjets und die Sowjetkongresse, auch wirklich bestehen. Nur entsprechen ihre wirklichen Rollen lange nicht der verfassungsmäßigen. Sie versammeln sich recht selten, und zwar immer seltener, zu kurzen Sessionen, auf welchen allgemeine Berichte der Regierung erstattet werden, die sich gewöhnlich mit sehr allgemeinen und abstrakten Fragen befassen; nehmen die von Regierungsvertretern vorgeschlagenen Resolutionen an und wählen die entsprechenden Vollzugsorgane sowie die Delegationen zu den Organen höherer Stufen, wobei es immer von einem Winke der Regierung abhängt, ob die früheren Würdenträger wiedergewählt oder durch neue Personen ersetzt werden. Verfassungsmäßig gehört diesen Organen die Ausübung der gesamten Staatsgewalt. Tatsächlich sind sie nur dekorative Anhängsel des wirklichen Staatsapparates.

Wie ist dies möglich?  

Auch hier kann die Erklärung nur eine geschichtliche sein. Zur Zeit des Staatsstreichs beherrschten die Kommunisten das System der vorhandenen Sowjets. Es ist ihnen gelungen, eine Mehrheit in den Petersburger und Moskauer Sowjets zu erhalten, denen die Provinzsowjets, damals fast ausschließlich Arbeitersowjets, blind folgten. Das System der Sowjets kam also ans Staatsruder im Zustand einer starken Durchsetzung mit Kommunisten. 

Die vorhandenen Kommunisten, durch Lenins Autorität zuzusammengehalten, haben es verstanden, die einmal gegebene Situation zu fixieren. Die Form dieser Fixierung ist recht bald gefunden worden. Sie kann in einem recht einfachen Satze wiedergegeben werden, der etwa so lautet: "Die kommunistischen Fraktionen sämtlicher Sowjetorgane unterstehen den entsprechenden Parteiorganisationen und haben deren Weisungen auszuführen."

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Was bedeutet dieser Satz?  

Nehmen wir eine bestimmte Stufe des staatlichen Aufbaues, z.B. die Bezirksstufe. Es gibt auf dieser Stufe einen Sowjetkongreß. Die Mehrheit der Mitglieder gehört zur Kommunistischen Partei, da sie von Organisationen delegiert werden, die sich ihrerseits in den Händen von Kommunisten befinden — wir werden noch unten sehen, aus was für Gründen. Diese Mehrheit ist in einer "kommunistischen Fraktion" organisiert. Die Fraktion untersteht der Bezirksorganisation der Partei, die vom Büro und in letzter Linie vom Sekretär geleitet wird.

Kommt nun eine Frage auf dem Kongreß zur Entscheidung, so wird sie zuerst in der Parteiorganisation erörtert und entschieden — ob selbständig oder auf Grund einer von oben kommenden Direktive, ist hier nicht von Interesse. Diese Lösung wird den Mitgliedern der Fraktion mitgeteilt, und diese sind verpflichtet, für sie zu stimmen. Jede Wahl wird unter diesen Umständen zu einer verkappten Ernennung. Der Sekretär sagt z.B., er wünsche Genossen X auf den Posten des Leiters der Abteilung für Volksaufklärung zu sehen. Genosse X wird dann unfehlbar auf diesen Posten mindestens mit den Stimmen der kommunistischen Mehrheit gewählt. Es ist selbstverständlich, daß unter solchen Umständen sämtliche Regierungsberichte gutgeheißen werden, und daß sämtliche von der Regierung vorgelegten Resolutionen so gut wie einstimmig angenommen werden.

Wir haben das Funktionieren des Systems auf einer Mittelstufe gezeigt, da es hier am klarsten und einfachsten ausgeprägt ist. Dasselbe gilt aber auch auf der höchsten wie auf der "besonderen" Stufe, die den Regierungszentren der sogenannten autonomen und verbündeten Republiken entspricht.

Auf der höchsten Stufe ist die Lage der Dinge sehr einfach. Der Unionskongreß der Sowjets besteht gewöhnlich aus 90 % Kommunisten und 10 % sehr ruhigen Parteilosen. Die kommunistische Fraktion bildet also fast den ganzen Kongreß allein. Der Kongreß hat u.a. den Rat der Volkskommissare sowie den Unionshaupt­vollzugsausschuß zu wählen. Die Zusammensetzung beider Organe wird im Politischen Büro festgestellt. Es bestimmt der Diktator, nach Anhörung desjenigen Mitglieds, das den Vorsitz im Rate der Volkskommissare führt, was für Personen in demselben zu sitzen haben. Dann bestimmt er, nach Anhörung der Vorschläge des Mitglieds, das für die Vollzugsausschüsse zu sorgen hat, wie der Unionsausschuß zu bilden ist. Die so verfertigten Listen werden abgedruckt und unter den Mitgliedern der kommunistischen Fraktion des Sowjetkongresses, aber auch unter Freiwilligen aus der Parteilosenzahl, verteilt.

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Es kommt zur Abstimmung — und die Wünsche des Diktators werden infolge des Funktionierens des beschriebenen Systems erfüllt. Nichts anderes ist über die Abstimmungen der Gesetzesvorschläge, Resolutionen usw. zu sagen.

Aber auch die übrigen zentralen Organe funktionieren auf dieselbe Weise. Ebenso werden die Wahlen zum Vorstande des Hauptvollzugsausschusses im Plenum dieses Kollegiums vorgenommen. Auch der Rat der Volkskommissare, den man manchmal für die "wirkliche" russische Regierung ansieht, ist nicht selbständiger. Jede wichtigere Frage wird im voraus im Politischen Büro entschieden und dann dank der kommunistischen Disziplin vom Rat der Volkskommissare durchgeführt, der immer aus lauter Kommunisten besteht. Minder wichtige Angelegenheiten werden zwar vom Rat der Volkskommissare ohne vorherige Anweisung des Politischen Büros entschieden — ebenso wie es auf der Mittelstufe der Fall ist. Mißfällt aber eine Entscheidung an höchster Stelle, so wird sie abgeändert oder aufgehoben — etwa so wie in einer absoluten Monarchie.

 

Die "autonomen" Staatsgebilde

Was die "besondere" Stufe anbetrifft, welche die autonomen und verbündeten Republiken bilden, so muß zunächst die oben gemachte Bemerkung wiederholt werden, daß im System der innerpolitischen Diktatur diese Stufe keine Ausnahme bildet. Im Sowjetsystem steht aber die Sache anders. Die Autonomie der Republiken beider Arten gipfelt im Bestehen von autonomen Volkskommissariaten, d. h. von Behörden, die Moskauer Sowjetbehörden nicht unterstehen. Infolgedessen müßten die zu ihrem Wirkungskreis gehörenden inneren Angelegenheiten, wie Bodenbenutzung, Justiz, soziale Fürsorge, Volksgesundheit und Volks­aufklärung, auf den Gebieten dieser Republiken wirklich nur von den lokalen Organen ohne Einmischung des Zentrums zur Erledigung gelangen.

Hier greift aber der Mechanismus zur Beherrschung des Sowjetsystems durch die Parteiorgane ein. Auf den republikanischen Kongressen der Sowjets haben die kommunistischen Fraktionen die Mehrheit. Diese Fraktionen unterstehen den Gebiets­organisationen der Partei, die, wie wir wissen, den autonomen und verbündeten Republiken entsprechen. Durch den Sekretär erhält die Organisation aus Moskau die Weisung, wer zum Chef eines bestimmten "autonomen" Volkskommissariats zu ernennen ist. Es werden selbst­verständlich nur Kommunisten, und zwar gefügige, "vorgeschlagen", die, einmal "gewählt", dem Diktator ebenso stramm gehorchen, wie die Leiter der abhängigen Ressorts.

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Die Wahlpraxis

Etwas anders ist die Lage der Dinge auf der untersten Stufe, dem einzigen Punkt, wo der staatliche Mechanismus mit der Volksmasse in Berührung kommt. Die Wahlen zu den Lokalsowjets sind Wahlen in einem ganz anderen Sinne, als es die zu den verschiedenen Kongressen der Sowjets sind. Hier kann man nicht mit den bequemen kommunistischen Fraktionen operieren, da das Wahlgeschäft nicht innerhalb eines organisierten Kollegiums, sondern innerhalb einer unorganisierten Wählermasse vorgenommen wird.

Es ist unmöglich, hier die Wahlpraxis ausführlich darzustellen. Was hier interessiert, läßt sich folgendermaßen zusammenstellen.

Die Wahlpraxis ist in den Städten und auf dem flachen Lande ganz verschieden. In den Städten wird das System der Gewerk­schaften ausgenutzt, die fast sämtliche Wähler zusammenfassen, und unter straffer Parteiaufsicht stehen — der Vorsteher der gewerkschaftlichen Ressorts sitzt, wie wir gesehen haben, im Ministerrate, desgleichen in jedem Gebiete oder Bezirke ein entsprechender Vertreter im Regierungsrate. Die gewerkschaftliche Disziplin ist so straff, und die Furcht, die Stellung zu verlieren, ist so groß, daß die Wähler, die immer offen abzustimmen haben, den offiziellen Wahlvorschlag widerstandslos annehmen.

Auf dem flachen Lande ist der Grad der Beherrschung der Bevölkerung durch die Staatsgewalt viel geringer. Daher hat die Staatsgewalt ziemlich lange geschwankt, ehe sie das richtige System gefunden hat.

Nachdem die im Sommer 1918 vorgenommenen Wahlen regierungsfeindliche Männer in die Dorfsowjets gebracht hatten, wurde ein für einen Sowjetstaat gewagter Schritt unternommen: die Dorfsowjets wurden zeitweise aufgehoben und durch die berüchtigten Dorfarmenkomitees ersetzt. Die Maßregel ließ sich durchführen, da die Gewalt in den Städten und die Verfügung über Armee und Polizei in der Hand der Regierung lag, die Sowjetorganisation aber so wenig beliebt war, daß ihre Ausschaltung nur wenig Ärgernis erregte.

Nach einer anderthalbjährigen Pause wurden die Dorfsowjets wieder errichtet. Nun wurden aber Wahlmethoden angewendet, die die Wahlen zu einer fast unverhüllten Ernennung machten. Diese Methoden haben eine beispiellose Abstinenz der Wähler zur Folge gehabt, die zur Überzeugung kamen, daß die Teilnahme am Wahlgeschäfte praktisch wirkungslos sei. So sind im Jahre 1924 nur 22 Prozent der Wähler zu den Wahlen erschienen. Da dieser Satz weiter von Jahr zu Jahr sank, war ein Zusammenbruch des dekorativen Sowjetssystems zu befürchten.

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Die Sowjetbeamten auf dem Lande

So änderten sich seit 1925 die Wahlmethoden. Von einer Wahlfreiheit kann auch heute gar keine Rede sein. Die Wahlen sind auch heute offen. Sämtliche politisch unzuverlässigen Personen werden willkürlicherweise den "Nichtwerktätigen" zugerechnet und dadurch unwählbar gemacht. Vor allem aber mangelt es an sogenannten Freiheiten, ohne die der Wille der Wähler nicht zu organisieren ist. Nun wird aber den Wählern nicht mehr in verbindlicher Weise vorgeschrieben, wen sie in die Dorfsowjets zu entsenden haben, sondern offizielle Kandidaturen werden als Kandidaturen der "Gruppe der ärmsten Bauern" präsentiert.

Die politische Bedeutung der Wahlen ist indes inzwischen vollkommen verfälscht worden. Die Jahre nutzend, während welcher die Sowjets tatsächlich aus ernannten Mitgliedern bestanden, hat sie die Staatsgewalt aus einer Art kommunaler Verbände mit weitgehender Autonomie zu fiskalisch-polizeilichen Anhängseln des Regierungsapparates der Wolost gemacht. Der Vorsitzende und der Schriftführer des Dorfsowjets sind zu kleinen Beamten geworden. Sie erhalten eine mäßige, aber für Dorfverhältnisse nicht unbedeutende Vergütung, und sind in jeder Hinsicht dem Wolostvollzugs­ausschusse unterstellt, der sie u.a. aus dem Amt entfernen kann. Die Wahlen zu den Dorfsowjets stellen also nicht so sehr Urwahlen zur politischen Volksvertretung dar, als Wahlen von untersten Verwaltungsbeamten.

Die kleine Beamtenstellung des Vorsitzenden und des Schriftführers gibt dem Dorfsowjet eine bestimmte Prägung, insbesondere da Plenarversammlungen recht selten sind, und sämtliche Geschäfte eigentlich von den genannten Personen erledigt werden. Bei den Wahlen zum Wolostkongreß kommen sie fast immer durch, so daß dieser vorwiegend aus kleinen Sowjetbeamten besteht. Eine Versammlung von kleinen Beamten wählt aber immer, besonders wenn die Wahlen offen sind, Personen, die der Obrigkeit erwünscht sind. So erklärt sich die oben reservierte Tatsache des Bestehens von starken kommunistischen Mehrheiten auf den Kongressen mittlerer und höherer Stufen.

 

   Die Aussichten  

 

Zum Schluß soll nun die Frage erörtert werden, welche Aussichten die so organisierte Diktatur hat. Da muß zunächst betont werden, daß die Entwicklungs­tendenz der vergangenen Jahre keineswegs auf eine Abschwächung der Diktatur hinausläuft, was oft irrig angenommen wird. Im Gegenteil ist die Diktatur heute straffer denn je.

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Eine Evolution zu freiheitlichen Institutionen ist schon aus diesem Grunde nicht zu erwarten. Recht schwierig erscheint auch die Niederwerfung des Systems durch eine Volkserhebung, da das ganze System in erster Linie ein polizeiliches ist, und im Selbstschutz das Hauptziel seiner Existenz sieht. Dennoch unterliegt die Diktatur Gefahren, deren Verwirklichung ihr ein jähes Ende bereiten würde.

Das ganze System beruht auf der Ernennung von zuverlässigen Personen auf sämtliche Verwaltungsposten. Dieser Zuverlässig­keit, im Sinne der persönlichen Treue dem Diktator gegenüber, wird alles zum Opfer gebracht. Da angenommen wird — und nicht ohne Grund —, daß solche Personen leichter in den halbgebildeten und nicht in den gebildeten Schichten sich ausfindig machen lassen, wird der gesamte Verwaltungsapparat je weiter desto mehr mit unbedeutenden und kulturell rückständigen Personen besetzt. 

Kommt die Entwicklung zum Abschluß, so wird sich rund um den Diktator ein in einem bestimmten Sinne leerer Raum gebildet haben. Von seinen geknechteten Kreaturen umgeben, wird er nie einen vernünftigen Ratschlag hören können. Grobe Fehler können unter solchen Umständen nur allzu leicht gemacht werden — Fehler, die bekanntlich Ausgangspunkte von Entwicklungs­reihen sind, die zum Verlust der Staatsgewalt für den Herrscher führen.

Es kann aber auch etwas anderes geschehen.  

Ein Diktator wird immer seinen Satrapen mißtrauen. Er kommt immer auf den fatalen Gedanken, sie nach einer bestimmten Zeit abzusetzen und durch andere Personen zu ersetzen. Dies scheint gerade im Laufe des letzten Jahres zu geschehen. Der mächtigste von allen Satrapen, der Moskauer Herrscher Uglanow, den Stalin selbst auf diesen Posten stellte, ist zu Fall gekommen. Eine solche Tendenz führt aber erfahrungs­gemäß zum Zusammenschluss einiger mächtiger Satrapen, die, um ihrem Sturz vorzubeugen, den Diktator absetzen. Und dies können die russischen Satrapen infolge der eigenartigen Organisation der russischen Diktatur auch ohne Anwendung von Gewalt tun. Sie brauchen dazu nur entsprechende Delegationen auf den Parteikongreß zu bringen.

Die Änderung in der Person des Diktators bedeutet an sich noch keine Änderung des Systems. Aber bei dem doppelt verschleierten Aufbau der russischen Diktatur würde ein Stoß an höchster Stelle das ganze Gebäude erschüttern und es bald zu Fall bringen. 

Dieses Gebäude scheint heute kraftvoller denn je dazustehen. Wer aber in Zuversicht darauf bauen wollte, würde auf Sand bauen.

 

 

 

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 wikipedia  Sergei_Mironowitsch_Kirow  1886-1934 (48) 

 

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