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(1) Die natürlichste Sache der Welt

 


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Ich wollte keine Kinder. Auch nicht in einer entfernten Zukunft, nachdem ich alles andere gemacht und erlebt hätte. Ich wollte ein ganzes Leben für mich. Zum Schreiben, Reisen, Lieben, um die Welt ziehen und für niemanden verantwortlich sein. Vor allem wollte ich nicht enden wie meine Mutter, die ihr Leben ihren fünf Kindern gegeben und dafür eigene Träume geopfert hat. Als junge Frau war das für mich die Schreckensvorstellung schlechthin. Kinder bedeuteten den Verlust von Freiheit, und es gab nichts Wichtigeres als das.

Meine Freundinnen fingen andererseits früh an mit dem Kinderkriegen. Ich ging auf eine private, streng christliche Schule, an der wir keinen Unterricht in Sachen Verhütung hatten. Die Konsequenzen waren hart: Nadine flog von der Schule, Anne musste nur ein paar Monate nach dem Abschluss und der frisch erlangten Selbständigkeit wieder bei ihrer Mutter einziehen. Babys hießen Geldprobleme, Sozialamt und auf jeden Fall eingeschränkte Freiheit. Die Schwangerschaftsankündigungen in meinem Umfeld waren jahrelang Katastrophenmeldungen. »Ich bin schwanger« war ein Satz, den man unter Tränen aussprach.

Mit 21 heiratete ich überstürzt einen sieben Jahre älteren Mann, dem ich klar und deutlich zu verstehen gab, dass er von mir keine Kinder bekommen würde. Ich sollte recht behalten, aber dass das mit dem tiefsten Schmerz in meinem Leben einhergehen würde, wäre für mich damals unvorstellbar gewesen. Hätte ich einen Blick in meine Zukunft werfen können – auf den 26.04.2005, als eine Endokrinologin in ihrem hellen Büro die Worte aussprach: »Sie sind in den Wechseljahren«, und auf meine fassungslose Frage: »Und was ist mit Kinderkriegen?« nur den Kopf schüttelte und ich daraufhin blind mit der U-Bahn nach (14/15) Hause fuhr und den Rest des Nachmittags auf dem Sofa und am Telefon (mein Mann war gerade im Ausland) zusammenbrach, später bei einer guten Freundin klingelte und ihr mit Rotz und Wasser in die Arme fiel und ihren Kindern einen Schrecken einjagte – ich hätte mich nicht wiedererkannt.

Denn damals, mit Anfang zwanzig, war meine Ablehnung eigenen Kindern gegenüber unhinterfragbar. Jacob heiratete mich trotzdem, obwohl er seit seinem neunten Lebensjahr einen Kinderwunsch hatte. Das erfuhr ich aber erst, als wir mehr als fünfzehn Jahre zusammen waren und Adoptionsbewerberbögen ausfüllten. Zwar hatten wir uns in der Zwischenzeit natürlich darüber unterhalten, dass er schon immer Kinder wollte, aber die langjährige Intensität seines Wunsches hat er mir erst schildern können, nachdem wir von meiner Unfruchtbarkeit erfahren haben. Er hatte immer nur angedeutet, er wäre »offen« für Kinder. Er verstand zu gut: Mit dieser Frau kannst du nur zusammen sein, wenn du deinen Kinderwunsch aufgibst. Und das tat er, im Stillen mit sich allein. »Irgendwann habe ich mich damit abgefunden, der lustige Onkel für die Kinder anderer zu sein«, sagt er mir, als ich ihn für dieses Buch befrage. »Und das war sehr traurig.«

Die Gelegenheit, den lustigen Onkel zu spielen, hatte er immer öfter, denn die Kinderdichte um uns nahm stetig zu. Es kamen die ersten Wunschkinder – »ich bin schwanger« war immer seltener eine Nachricht des Entsetzens, wurde immer öfter von einer sich vor Glück überschlagenden Stimme ausgesprochen. Ich freute mich mit. Diese kleinen warmen Dinger, denen man beim Gedeihen zuschauen konnte wie im Zeitraffer, die strahlten, wenn man durch die Tür kam. Ich genoss es, als Lieblingsbabysitterin mit einem Händchen in der Hand die Straße hinunter zu laufen. Doch ich war immer froh, die Kinder hinterher wieder abgeben zu können, mich aus den lärmenden, chaotischen Wohnungen zu entfernen, in denen meine Freundinnen wie angekettet waren.

15/16

Die Entscheidung gegen Kinder hatte immer auch etwas mit meinem Feminismus zu tun. In einem Elternhaus aufgewachsen, in dem eine hierarchische Ordnung zwischen Mann und Frau nicht nur, wie in so vielen, gelebt, sondern auch theologisch begründet und bewusst propagiert wurde, hatte sich schon früh ein Widerstand in mir geregt, für den ich aber erst als Philosophiestudentin Begriffe, Theorie und Vorbilder fand.

Ich stieg über den amerikanischen »Anti-Sex-Feminismus« in die Debatte ein und wurde von einer feministischen Haltung angezogen, die männliche, heterosexuelle Sexualität fast schon mit Gewalt gegen Frauen gleichsetzte, weiblich kodierte Körperlichkeit für die gesellschaftliche Missachtung von Frauen mitverantwortlich machte und das Muttersein abwertete. 

Ich erhielt eine Zielscheibe für meine Wut: das Patriarchat, meinen Vater, den Mann an sich, aber auch die eigene Weiblichkeit. Ich warf die Schminke weg, rasierte mir den Kopf, zog mich androgyn an und suchte mir durch eine Ablehnung all dessen, was mir »weiblich«, »feminin« oder »schwach« vorkam, die Befreiung und die Anerkennung der, ja, Männerwelt. Ernst genommen und respektiert werden wollte ich aufgrund meiner Intelligenz und Kreativität und wies jegliche Aufmerksamkeit aufgrund meines Aussehens von mir. Denn eine Identifizierung mit der gesellschaftlich definierten Weiblichkeit bedeutete Geringschätzung und eine starke Einschränkung der Möglichkeiten an Selbstentfaltung. Die logische Reaktion war also: Ablehnung auf ganzer Linie.

Später eignete ich mir andere Feminismen an, suchte mir Vorbilder unter Frauen, die sich nicht trotz ihres Status als Frau durchsetzten und Dinge bewegten, sondern aufgrund dessen. Die eindeutigen Kategorien verschwammen, während die Analyse gleichzeitig schärfer und radikaler wurde. Mir wurde die gesellschaftliche Konstruiertheit des Körpers bewusst, die politische Dimension der Bewertung und Erfahrung von geschlechtlicher Differenz, und dass Frauen am weitesten kommen, wenn sie sich miteinander solidarisieren und ihre soziale Stellung als Ausgangspunkt nehmen, nicht nur die eigene Position zu stärken, sondern überall gesellschaftliche Missstände zu beanstanden.

Ich wurde selbstbewusster, identifizierte mich zunehmend mit Frauen, anstatt mich immer nur bei den Männern behaupten zu wollen, die ich wiederum aus der Patriarchat-Schublade entließ. Die Entscheidung gegen Kinder blieb. (16/17) Vorerst.

Der Wunsch schlich sich unterirdisch in mich ein. Die erste Sprache, die er fand, um mit mir zu kommunizieren, waren Träume. Schöne Träume, in denen ich ein Töchterchen gebäre und es vor Glück kaum fassen kann, aber auch solche, in denen das Baby bedrohlich wirkt, auf der Heizung steht und mir einen Vortrag hält. Ich war noch nicht lange 29, als sie anfingen, aber erst kurz vor meinem 30. Geburtstag gestand ich mir in meinen wachen Stunden ein, dass ich »Kinderfantasien« hatte. Bald darauf war ich unrettbar verliebt. 

Ich konnte an nichts anderes denken als an dieses Kind, das noch gar nicht auf der Welt war, nicht einmal gezeugt war es, aber es begleitete mich in allem, was ich tat. Ein Spuk, wie ich ihn nur vom Verliebtsein in einen Mann kannte. Ich sah mich plötzlich nur noch durch die Augen dieses fantasierten Kindes, mich als Mutter, als wichtigste Bezugsperson, als Weltbereiterin. Eine gute, feministische Mutter würde ich sein, nur die schönen Dinge würde ich von meinen Eltern übernehmen: das Vorlesen, die Reisen, die ungebrochene Geborgenheit. 

Alles wollte ich richtig machen für dieses Kind. Ich wollte von meinem Reichtum – den innigen Beziehungen mit meinem Mann, meiner Familie, mit Freundinnen und Freunden, der Dichte meiner Erfahrungen und Interessen, meiner Zeit – rückhaltlos schenken an dieses Wesen, das ich schon so liebte, dass mir das Herz stockte. Die uneingeschränkte Freiheit, die mir bis vor kurzem noch das Allerheiligste war, erschien mir plötzlich fahl und leer, und dass ich sie für den Preis der Kinderlosigkeit eingetauscht hatte, wie ein äußerst schlechtes Geschäft.

 

 

 

(2)  Wie ein Kinderwunsch entsteht

 

Wie war es möglich, dass ich mir plötzlich so intensiv wünschte, was ich die letzten 15 Jahre entschieden von mir gehalten hatte? Eine hormonelle Störung vielleicht? Ich muss wohl krank sein, dachte ich zuerst. Besessen von einer fremden Macht, der ich äußerst argwöhnisch gegenüberstand, trotz der Kinderlustgefühle, die in mir wüteten. Oder kam der Wunsch von außen, war es ein gesellschaftlicher Druck, der diese Sehnsüchte in mir weckte? Damals stellte ich mir diese Frage nicht, weil sie einfach nicht auf mich zutraf. 

Unter den Menschen, die ich bewunderte, waren zwar Eltern, aber ich bewunderte sie nicht aufgrund dieser Position. Mein Lebensentwurf, meine beruflichen Ziele, die Existenz, die ich mir zusammen mit Jacob aufgebaut hatte – all dies kam sehr gut ohne Kinder aus. Für mich definierte sich die Frauenrolle schon seit meiner Kindheit nicht mehr über das Muttersein, und das hatte sich auch durch den Kinderwunsch nicht geändert. Ich hatte keineswegs das Gefühl: Um eine richtige Frau zu sein, muss ich ein Kind haben. Es fühlte sich weder wie ein Druck von außen an noch wie etwas, das über unbewusst in mich hineingeschleuste Werte entstanden ist.

Bea, Keyboarderin in einer Elektronoise-Band und gelegentliche Hartz-IV-Empfängerin, erzählt eine ähnliche Geschichte:

Schon in jungen Jahren hat sie sich gegen Kinder entschieden, aus politischen Gründen, aber auch aufgrund abschreckender Schicksale in der eigenen Familie. Mit 36 meldete sich dann gegen ihren eigenen Widerstand ein eindringlicher Kinderwunsch. Die inzwischen 43-Jährige, die am Tag unseres Gesprächs ein ausgefallenes Kleid mit zackigen grünen Linien trägt, beschreibt ihre Erfahrung so: »Das ist schon ein Urinstinkt, der da durchschlägt. Mein Umfeld ist ja nicht so, dass ich oder mein Freund – und die Ideologie erst recht nicht – in die Richtung Druck ausgeübt hätten. Die haben sogar alle dagegen gesprochen.«

Ich beobachte in den Gesprächen, die ich mit feministisch reflektierten Frauen mit Kinderwunsch führe, zwei Stränge: Bei Frauen wie Bea und mir fand eine frühe Ablehnung gegenüber dem Zwang des Mutterwerdens statt, begleitet von einer entsprechenden Situierung in einem Umfeld, in dem diese Ablehnung als legitime Entscheidung gewürdigt wurde oder sogar die Standardposition darstellte. Unser unerwartet einsetzender Kinderwunsch erschien uns vor diesem Hintergrund als ein körperlicher, urtiefer Drang, der sich aufgrund seiner Wucht und Unnachgiebigkeit gegen die eigene politische und intellektuelle (19) Haltung durchzusetzen vermochte. 

Bei den Frauen, die sich mit einer mehr oder weniger großen Intensität schon immer Kinder gewünscht haben oder zumindest dachten, dass diese irgendwann mal dazugehören würden, setzt die Reflexion und Hinterfragung des eigenen Wunsches eher bei den gesellschaftlichen Normen an.

Judith, eine 47-jährige wissenschaftliche Bibliothekarin, ursprünglich aus Oberbayern, die sich seit zehn Jahren um ein Kind bemüht und die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, führt ihren ursprünglichen, schon in jungen Jahren verspürten Wunsch auf familiäre Prägungen zurück. »So bin ich einfach aufgewachsen. Dass es eine Selbstverständlichkeit ist, dass Mädchen irgendwann mal Mütter werden, und das wollte ich auch.«

Erst später eignete sie sich den Wunsch unter eigenen Vorzeichen an. Auf die Frage, ob ihr Kinderwunsch ein körperlicher gewesen sei, antwortet die eingangs erwähnte Frieda, eine renommierte Architektin aus Hamburg: »Schreck ich vor zurück. Da sehe ich immer die Romantisierung der natürlichen Weiblichkeit um die Ecke winken.« Bei dem Gespräch stillt die 49-Jährige das Baby, das sie – nach einer Höllentour von fünf Jahren – einer Eizellspende im Ausland verdankt.

Die Antworten der Expertinnen auf die Frage, ob der Kinderwunsch gesellschaftlich oder natürlich ist, hängen auch davon ab, wo sie »die Ideologie« verorten. In seinem Buch Wie weit gehen wir für ein Kind?, das eine kritische Auseinandersetzung mit der Reproduktionsmedizin liefert, schreibt Martin Spiewak:

»Die Ansicht, der Wunsch nach Kindern sei Frauen nur von der Umwelt aufgedrängt, [ist] ein Produkt neuerer gesellschaftlicher Lebensumstände, in denen gewollte Kinderlosigkeit eine Wahlmöglichkeit ist.« 

Die amerikanische Psychologin Daphne de Marneffe stellt sogar in ihrem – im Vergleich zu Deutschland – kinderreichen Heimatland fest, dass »der gesellschaftliche Kontext« eher eine Zurückhaltung gegenüber dem Kinderbekommen bestärkt, zumal bei Frauen, die berufliche Ziele verfolgen.

Die französische Philosophin und Feministin Élisabeth Badinter, die einige Werke über die Mutterrolle in unserer Gesellschaft geschrieben hat, behauptete dagegen kürzlich in einem Interview: (19/20)

»Der gesellschaftliche Diskurs betont eindeutig, dass man Kinder haben sollte, sodass jeder normale Mensch ›Lust hat‹, welche zu bekommen. Aus diesem Grund wird diese Lust auf eigene Kinder auch nicht immer hinterfragt.« 

In der Einführung zu ihrer Studie über Stress bei Patientinnen der Reproduktionsmedizin pflichtet ihr die Soziologin Corinna Onnen-Isemann bei: »Der Kinderwunsch ist normativ vorgegeben, die ungewollt kinderlosen Paare passen sich dieser Norm an und versuchen, Mittel und Wege zu finden, ein Kind zu bekommen. […] Kinderlosigkeit an sich – gemessen an der Norm – [ist] ein ›regelwidriger Zustand‹.« Letztlich scheint es evident, dass die Fähigkeit sich fortzupflanzen ein wesentliches Merkmal allen Lebens ist und dass Menschen als bewusste Kulturwesen immer einen gesellschaftlich geformten Bezug zu dieser Grundfähigkeit haben.

Dieser Bezug ist insofern vom eigenen Kulturkreis und historischen Zeitpunkt zutiefst geprägt – Menschen wie Bea und mich und die vielen anderen, die gegen ihre Überzeugungen von einem eindringlichen Kinderwunsch »erwischt« worden sind, selbstverständlich nicht ausgenommen. Der Kinderwunsch einer Frau, die aufgrund ihres gesellschaftlichen Kontextes kaum andere Entfaltungsmöglichkeiten als das Muttersein hat, die, wenn sie kinderlos bleibt, möglicherweise geächtet wird oder der eines Mannes, der als Kinderloser an so zialer Anerkennung einbüßt und dessen Männlichkeit angezweifelt wird – diese Form des Kinderwunsches wird aus ganz anderen Quellen gespeist als der Kinderwunsch eines Menschen, dessen Entscheidung gegen Kinder im eigenen Umfeld und in der Gesellschaft auf Akzeptanz bis Zustimmung stößt, und der ohne Kinder, in der eigenen Wahrnehmung, auf vielen Ebenen mehr Entfaltungsmöglichkeiten hat als mit ihnen. Ich und viele anderen Frauen und Männer in dieser Gesellschaft, wir gehören zu dieser zweiten Kategorie, was mich wiederum vermuten lässt, dass ein Fortpflanzungsdrang vielleicht stärker in uns wirkt als wir es oft wahrhaben wollen.

Mich und die Protagonistinnen dieses Buches jedenfalls unterscheidet von Élisabeth Badinter, die ihre drei Kinder mit Anfang 20 bekam, dass wir gleichsam gezwungen werden, unsere »Lust auf Kinder« zu hinterfragen – oder zumindest durch des- (21) sen Verwehrung oder Aufschub dazu angehalten werden. Über die Jahre entwickelte sich aus dem vorherrschenden Gefühl, gegen »meinen Willen« von »meinem Körper« überrumpelt worden zu sein, die Einsicht, dass es Elemente gibt, die sich meinem Bewusstsein entziehen, mich aber ausmachen und meine Wünsche prägen. 

Als sich abzeichnete, dass der Wunsch nach einem Kind nicht auf eine vorübergehende hormonelle Einwirkung zurückzuführen war, musste ich einsehen, dass er auch zu mir gehörte, genauso wie mein Feminismus und meine Freiheitsliebe.

Und wenn ich, aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen, die Quelle dieses Wunsches eher in einem »Urtrieb« situieren möchte als in einem gesellschaftlichen Zwang, dann bedeutet das nicht, dass ich damit eine »natürliche Weiblichkeit« romantisiere.

Zum einen gibt es den vehementen Kinderwunsch sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Zum anderen ist der Körper nie nur Biologie, sondern immer auch Erinnerung, Geschichte, Kultur. In meinem Kinderwunsch spricht auch der Wunsch meiner Eltern, Großeltern und Ururururgroßeltern, nicht sterben zu wollen.

Sprechen die Eindrücke, die ich bewusst und unbewusst mein Leben lang von Eltern-Kind-Beziehungen, von Schwangerschaft, Muttersein, Fürsorglichkeit und Reproduktion mitbekommen habe, in Form von Bildern, Erzählungen, eigener Erfahrung. Es sprechen Wertvorstellungen, Sehnsüchte, elementarer Fortpflanzungsdrang. Aus diesen unzähligen Fäden wob sich mein Wunsch zusammen, und es war eine demütigende aber auch heilsame und stärkende Entdeckung, dass ich nicht über all dem stehe. Dass ich mehr bin als meine politischen und intellektuellen Positionen. Das Annehmen meines Kinderwunsches hat mich zu mir selbst geführt, ein Selbst, das von »natürlichen« wie auch »gesellschaftlichen« Einwirkungen bestimmt wird. Es hat auch meinen Feminismus erweitert, komplexer gemacht.

Bea, die in der Nacht auf ihren 40. Geburtstag nach fünf Fehlgeburten endlich ihre Tochter zur Welt gebracht hat, beschreibt eine ähnliche Entwicklung:

»Ich habe jetzt so viel mehr Achtung vor der Natur, die ich vorher abgewertet habe. Der eigene Wille, die bewusste Entscheidungskraft, ist geringer als ich zuvor dachte. Ich fühle mich jetzt eher in der Nähe eines ›Hexenfeminismus‹. Ich habe jetzt sehr viel mehr Respekt gegenüber der Müttergeneration vor uns und vor der ganzen Reproduktionsarbeit.«

 

 

(3)  Jemand ist gestorben

 

 

Ein gutes halbes Jahr nachdem ich mich in mein noch nicht gezeugtes oder gar geplantes Kind verliebt habe, gebe ich meinen Widerstand auf und erzähle es endlich meinem Mann. Wir sind in Italien im Urlaub, laufen durch die Straßen von Turin. »Ich muss dir was sagen.« - »Du bist schwanger.« - »Nein, aber ich will es werden.« - Er sieht sich nach einem Café um und bestellt prompt einen Wodka. Starrt mich entgeistert an, fragt, was ich mit seiner Frau gemacht habe.

Jacob kann nicht von einem Tag auf den anderen seinen längst abgehakten Wunsch neu beleben. Mittlerweile ist er tatsächlich der lustige Onkel geworden, der viel Freiheit hat, im Beruf flexibel und risikofreudig ist. Mit 37 fühlt er sich jetzt auch alt. Er hat sich eingerichtet in diesem Leben, und die Vorstellung, jetzt ein verantwortungsbewusster Familienvater zu werden, erschreckt ihn. Mit der Zeit erwacht dann doch die Freude und die alte Lust in ihm – wobei, wie er mir viel später erzählen wird, die Hoffnung auf ein Kind nie wieder den unbeschwerten Platz einnimmt, den sie früher einmal hatte. Je älter er wird, desto weniger selbstverständlich erscheint es ihm, eine Familie zu gründen, und mit der Lebensphase zu beginnen, die die meisten seiner Freunde schon längst bewältigt haben. Das war 2003. Ich wollte noch meine Doktorarbeit abschließen, bevor es losgehen sollte. Das sollte 2006 passieren. Ich würde 33 sein, er 40. Und dann kam, 2005, die Diagnose meiner verfrühten Wechseljahre, und alles implodierte. 

Oft dauert es ein bisschen, bis eine Schreckensnachricht ankommt. In meinem Fall war diese Schreckensnachricht so groß und folgenschwer, dass mich auch schon der Bruchteil des Schmerzes in diesem ersten Augenblick überwältigte. 

22/23

Obwohl ich damals nicht ahnte, auf welche Reise mich diese Nachricht schicken würde, war sofort klar, dass sie einen gewaltigen Einschnitt bedeutete und alles von nun an anders sein würde. Eine neue Zeitrechnung begann an jenem Tag, eine andere Zeitwahrnehmung auch. Einerseits verstrich die Zeit rasend schnell – unsere Geburtstage flogen nur so dahin, die unserer Eltern und Nichten und der Kinder in unserem Freundeskreis auch. Und wir wussten immer noch nicht, ob wir überhaupt jemals ein Kind bekommen würden. Andererseits blieb die Zeit stehen oder sprang ruckartig nach vorn, nur um plötzlich wieder eine Kehrtwende zu machen: Zwei, drei, vier Jahre nach der Diagnose war der Verlust, der Schmerz, die Wut an manchen Tagen so lähmend und unerträglich, als hätte ich noch überhaupt keine Trauerarbeit geleistet und die ganze Zeit nur auf der Stelle getreten.

Der irische Schriftsteller C. S. Lewis schreibt über die Trauer nach dem Tod seiner Frau: »Wie oft – soll es gar so bleiben? –, wie oft wird mich die ungeheure Leere als etwas ganz Neues entsetzen und mich sagen lassen: ›Bisher habe ich den Verlust gar nicht richtig gespürt.‹? Dasselbe Bein wird stets von neuem amputiert. Der erste Einschnitt des Messers im Fleisch stets von neuem erfahren.«

Moment mal. Ist es nicht etwas vermessen, meine Unfruchtbarkeit mit dem Tod einer Lebenspartnerin zu vergleichen? Eine gute Freundin reagierte mit Unverständnis, als ich mich einmal mit einer Krebspatientin verglich, für die die Medizin nichts tun kann und die von wohlmeinenden Menschen nur schale
Worte des Trostes serviert bekommt. Aber du stirbst doch nicht, sagte sie. 

Du hast keine Ahnung, dachte ich. Nein, ich sterbe nicht. Aber jemand ist gestorben. »Am liebsten hätte ich die Menschen erschlagen, die mir damals gesagt
haben: Ihr könnt doch adoptieren«, schreibt mir ein paar Wochen nach meiner Diagnose Milena, eine Bekannte, die mit Mitte 30 auch in die Wechseljahre kam (und die mittlerweile zwei Adoptivsöhne hat). »Das ist, als würde man einer trauernden Witwe sagen, sie könne doch jemanden anderen heiraten.«

(23/24)

Verschiedene Umfragen zeigen, dass die Erfahrung von der eigenen Unfruchtbarkeit oder die der Partnerin für viele tatsächlich mit dem Verlust der Lebensgefährtin oder dem Tod eines Kindes vergleichbar ist. Andere Forscherinnen ziehen Parallelen zwischen der Bewältigung einer ungewollten Kinderlosigkeit und einem Leben mit einer chronischen Krankheit. Ein Freund, dessen Partnerin unfruchtbar ist und dem das Thema zu sensibel für ein Interview erschien, sprach von seiner ungewollten Kinderlosigkeit als einer Amputation – oder einer »Phantom-Amputation, wo etwas weh tut, was noch gar nicht dagewesen ist«.

Für Menschen, die sich keine Kinder wünschen oder die ihre Kinder ohne Hindernisse bekommen haben, muten solche Analogien oft befremdlich an. Aber auch diese Menschen, wir alle, sind mit der selbstverständlichen Vorstellung aufgewachsen, uns eines Tages fortpflanzen zu können, wenn wir wollen, wie Martin
Spiewak in seinem Buch betont: »Fruchtbarkeit gehört zum Elementarbestand menschlicher Fähigkeiten wie Sehen, Hören oder Gehen«, schreibt er, weshalb der Verlust dieser Fähigkeit die Substanz des Selbstbildes verletzen, den Glauben an den Wert des eigenen Lebens sogar ins Wanken bringen kann.
Als das eingangs erwähnte Paar Thomas und Andrea nach vielen Jahren des laxen Verhütens und nach zwei Jahren des gezielten Versuchens sich endlich untersuchen lässt, sind sie trotzdem vollkommen unvorbereitet auf die Diagnose. Der damals 32-jährige Schriftsteller erzählt vom Schock, als ihm ein
Androloge unverblümt mitteilt, er hätte »überhaupt keine Spermien.«

Über Jahre hinweg beschäftigte ihn diese definitive Diagnose. »Was mich zur Verzweiflung getrieben hat, war das Gefühl des Unvermögens«, erzählt mir der hochgewachsene Mann in seinem kleinen, wohnlichen Büro in Frankfurt. »Das war ein Rückschlag, den ich persönlich genommen habe, obwohl ich nichts dafür kann.«

Auch wenn, wie in meinem Fall, das Selbstbild über Jahre hinweg gar nichts mit Kindern zu tun hatte, kann der Verlust des eigenen, ungezeugten Kindes ein verheerender Schlag sein. Im Hintergrund war dieses Kind ja immer da, auch wenn es jahrelang das mit jedem Mittel zu Verhütende war. Denn hinter der Vorstellung des Verhütens verbirgt sich die Annahme, dass das Kind auf Teufel komm raus zu mir will, am liebsten wäre es neun Monate nach jedem Sex da, ich schiebe es aber immer wieder weg. Sobald ich aufhöre zu schieben, wird es, beschleunigt durch den weggelassenen Gegendruck, auf mich zufliegen.

Dieses Kind ist nun tot. Eine öffentliche Trauerfeier gab es nach meinem Arzttermin nicht, auch keine Versammlung von Freundinnen und Familie, die Blumen schenkten und mir zuflüsterten, wie sehr sie an meinem Verlust Anteil nahmen. Es gab kein Grab, in dem man den Körper des geliebten Menschen hinterlässt, einen Ort, den man wieder besuchen kann. Es gab nur diese Leere, die schwierig zu vermitteln war und von vielen – im eigenen Umfeld, in der Öffentlichkeit – nicht einmal als schwerwiegender Verlust anerkannt wurde. 

In Federico García Lorcas 1934 entstandenem Theaterstück Yerma über eine ungewollt kinderlose Frau kommt dieses Verzweifeln an einer Abwesenheit bildhaft zur Sprache: »Was willst du tun?«, fragt der frustrierte Ehemann Juan, der das Jammern seiner Frau nicht mehr aushält. »Wasser will ich trinken und habe kein Glas und kein Wasser; auf den Berg will ich steigen und habe keine Füße; Unterröcke will ich besticken und finde das Garn nicht.« Yerma fehlt etwas Lebensnotwendiges, dessen Begründung sich ihrer Meinung nach genauso erübrigt, wie eine Erklärung dafür, warum man trinken oder laufen möchte. Niemand versteht sie, weder ihr Mann noch ihre Freundinnen, die allesamt Kinder haben. Umso wilder, um sich greifender wird ihre Trauer.

Oft fällt es schwer, dieses Nichtexistente, das man verloren hat oder sich trotz schwindender Erfolgschancen noch immer wünscht, zu artikulieren. Geschweige denn, die Intensität des eigenen Leidens anderen überhaupt zu vermitteln. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass der Kinderwunsch generell als dermaßen selbstverständlich betrachtet wird, dass die Ankündigung eines Kindes selten von der Gegenfrage begleitet wird, warum man denn ein Kind wolle. Es sei denn, man ist noch sehr jung oder aber fortgeschrittenen Alters, hat schon zwei, drei Kinder, ist alleinstehend, schwul oder lesbisch – diejenigen also, die jenseits gesellschaftlicher Normen ein Kind in die Welt setzen, müssen sich rechtfertigen.

Seltsamerweise gilt dies aber auch oft für die, die es nicht können und darunter leiden. Oft müssen wir begründen, darlegen, warum es uns schlecht damit geht oder warum wir uns so anstrengen, doch noch ein Kind zu bekommen. 

Ungewollte Kinderlosigkeit löst eine Form von Trauer aus, deren Berechtigung explizit oder implizit immer wieder in Frage gestellt wird. Schließlich hat man etwas verloren, das man noch gar nicht besessen hat, ohne das viele scheinbar völlig zufrieden leben – ohne das man selbst jahrelang völlig zufrieden lebte – und womit, wie man täglich beobachten kann, viele überfordert sind.

 

 

(04)  Warum wollen wir überhaupt Kinder?

 

 

Während es hierzulande vor ein paar Generationen klar benennbare ökonomische Gründe gab, Kinder zu wollen und zu bekommen – und in Entwicklungs­ländern zum Teil heute noch, wie eine Umfrage der Universität Southampton von 2011 unter äthiopischen, vietnamesischen, peruanischen und indischen Eltern jüngst belegte –, spielen solche Beweggründe heute bei uns so gut wie keine Rolle mehr. Das bedeutet, dass die Motivationen für einen Kinderwunsch, die möglicherweise schon immer unsichtbar hinter und zwischen den messbaren Gründen lauerten, jetzt an die Oberfläche treten und ein anderes Gewicht erlangen können. Wenn, wie der dänische Familientherapeut Jesper Juul betont, Kinder zu haben heute eine Wahl und keine soziale Notwendigkeit ist, stellt sich die Frage, wie wir selbst unsere Entscheidung für Kinder eigentlich begründen und warum die drohende Möglichkeit, sie nicht zu bekommen, derartig unerträglich ist.

Als ich meinen Gesprächspartnerinnen diese Frage stelle, tritt eine längere Pause ein, gefolgt von einem unsicheren Tasten nach den richtigen Worten. Franziska, eine kleine, kompakte Frau aus Hannover mit einem flammend roten Wuschelkopf, studierte Ethnologin, jobbt bei einer Eventmanagement-Firma, mal als Ausstellungsbetreuerin, mal als Hostess bei Kulturveranstaltungen. Sie hat eine Psychoanalyse hinter sich, ist scharfsinnig und reflektiert. Ihr Kinderwunsch wurde mit 26 konkret, erzählt sie, doch die Beziehung mit ihrem damaligen Freund ging auseinander. Eine Zeitlang lag der Wunsch dann wegen eines fehlenden Partners auf Eis, doch mit Anfang 30 konnte sie ihn nicht mehr verdrängen, auch wenn sich immer noch keine stabile Beziehung abzeichnete.

»Wie eine Dampfwalze, die über alles rüber geht«, so beschreibt sie die Sehnsucht nach einem Kind. Als ich sie frage, wonach sie sich konkret gesehnt hat, zögert sie lange. »Das ist total schwer. Ich habe das ja nicht argumentativ aufgelöst, warum ich das jetzt will.« Nach weiterem Überlegen erzählt sie dann von dem Wunsch, »ein neues Leben entstehen zu lassen und es aufzuziehen, aufwachsen zu sehen. Noch mal eine andere Dimension im eigenen Leben zu haben. Es zu erweitern. Ich wollte erleben, wie ein Mensch auf die Welt kommt. Es war die Bereitschaft oder der Wunsch, sich dafür zu öffnen, dass etwas ganz Neues in meinem Leben passiert.« 

Sie berichtet von der schwierigen Beziehung zu der eigenen Mutter und dass sie die Mutterrolle positiv besetzen wollte, mit eben dem füllen, was sie in ihrer Kindheit vermisst hat. »Ich wollte gern, wenn auch in einer anderen Position, erleben, dass Muttersein auch etwas anderes sein kann, so eine wirkliche Nähe.«
Wir sprechen über die weit verbreitete Kinderwunschmotivation, sich selbst zu heilen oder Aspekte der eigenen Kindheit wieder gutzumachen. Zutiefst persönliche Ursehnsüchte kreuzen sich hier mit einem utopischen Begehren nach einer besseren Welt. Ein unbescholtenes, aus nichts als Fleisch und Potentialität bestehendes Lebewesen nicht zu beschränken oder zu verformen, wie es seit dunkelsten Vorzeiten jedem Kind in jeder Familie widerfahren
ist, sondern so großzuziehen, dass es als ausgeglichener, glücklicher, selbstbewusster Mensch in die Welt tritt, ohne jede Spur von Ressentiment, Aggression, Narzissmus – eine so anmaßende wie verführerische Hoffnung. 

(27/28)

In Sergej Tretjakows Theaterstück <Ich will ein Kind haben> aus dem Jahr 1924 verquickt sich der Kinderwunsch der sowjetischen Parteifunktionärin Milda so sehr mit ihrem Ziel, eine neue sozialistische Gesellschaft aufzubauen, dass sie ununterscheidbar werden. Es ist der Traum der restlosen Aufhebung der Differenz zwischen dem Privaten und dem Gesellschaftlichen – eine Utopie, die heute kaum im Vordergrund der meisten Kinderwünsche stehen wird, aber entfernt in dem Bestreben durchschimmert, mit dem eigenen Wunschkind alles richtig machen zu wollen.

So sprechen meine Gesprächspartnerinnen eher vom eigenen Leben und von Gefühlen als von einer anderen Welt – von dem »Kokon aus Liebe«, um den Begriff von Tom, Friedas Mann, der mit 60 ein zweites Mal Vater geworden ist, zu gebrauchen: »Diese Masse von weichem, süß riechendem Babyding, das dich irgendwann heiß und innig lieben wird, und du liebst es genauso abgöttisch zurück, und wir alle haben zusammen Anteil an dieser Liebe.« Seine Frau spricht von der »Lebensqualität«, die sie mit der Ankunft ihres ersten Kindes mit Tom gewonnen hat und die sie unbedingt ein zweites Mal erfahren wollte. »Ein Kind bringt so viel Selbstverständlichkeit und Normalität ins Leben«, sagt sie. »Das eigene Leben wird einfach schöner.« Dieter, ein 44-jähriger, kinderloser Orthopäde aus Karlsruhe, erläutert seinen Wunsch so: »Es ist einfach eine mit nichts anderem zu vergleichende Bereicherung, Zeit des eigenen Lebens mit Kindern zu verbringen, etwas an sie weiter zu geben, deren Entwicklung zu verfolgen. Es ist nichts, was durch andere Formen des Zusammenlebens mit Menschen oder andere Formen des beruflichen Tätigseins in einer ähnlichen Art und Weise erfüllt werden kann. Mit Kindern zusammen zu leben, diese Form des Fremdzentriertseins, verändert die Perspektive aufs Leben grundlegend – auch durch die Tatsache, dass das Wesen sind, die erst mal darauf angewiesen sind, dass du dich um sie kümmerst, dass du etwas mit ihnen machst, ernsthaft auch gibst, in dieser asymmetrischen Art und Weise, die in der Eltern-Kind-Beziehung zumindest im ersten Moment charakteristisch ist.«

All das kann ich mehr oder weniger nachvollziehen, wobei ich nicht, wie Tom und Frieda, aus eigener Erfahrung sprechen kann. Aber ist der verzweifelte Schmerz, den ich und so viele andere im Angesicht der drohenden Unmöglichkeit, den Kinderwunsch zu erfüllen, durch diese Vorstellungen einer »erhöhten Lebensqualität«, einer »einzigartigen Form des Fremdzentriertseins« zu erklären? Haben Frieda und Tom deswegen etliche Inseminationen, drei In-vitro-Fertilisationen, ein über Jahre sich hinwegziehendes, schließlich gescheitertes Adoptionsverfahren und eine Eizellspende in Spanien über sich ergehen lassen, um es ein bisschen schöner und lebendiger zu haben?

Diese Erklärungen leuchten ein, aber sie greifen noch nicht ganz.

Ich wende mich an die Psychologin Dr. Almut Dorn, die sich auf dem Gebiet der Gynäkologischen Psychosomatik spezialisiert hat und in ihrer Hamburger Praxis vor allem Frauen und Paare mit unerfülltem Kinderwunsch betreut. Sie spricht von den »archaischen Bildern«, die einem solchen Wunsch zugrunde
liegen, und von dem Verlangen nach Bindung. »Viele Frauen sagen mir, dass es diese bedingungslose Liebe ist, die sie sich dort erhoffen. Nichts dafür tun zu müssen. Was natürlich der Realität nicht ganz entspricht, auch als Mutter muss man etwas dafür tun. Aber erst mal hat man natürlich dieses – fast – unbeeinflusste Kind, das auf die Welt kommt und sich an die Eltern bindet, egal, wie wir sind als Eltern.« Sie verweist auch auf das Bedürfnis, zu hegen und zu pflegen und andere zu umsorgen.

Als nächstes frage ich meinen Mann, was ihm die Jahre über gefehlt hat. Er beschreibt »ein komplett unschuldiges Wesen mit großen Augen, das dich braucht. Und du bist vollkommen fasziniert davon, wie es die Welt sieht. Du machst den Hampelmann, um es zum Lachen zu bringen oder wenigstens mit dem Weinen
aufzuhören. Ich bin gern dabei und beobachte, wenn Babys lernen und sich entwickeln und alles um sich herum aufnehmen, und ich frage mich dann immer, was sie dabei denken. Oder wenn sie schlafen und man sehen kann, dass sie träumen. Was träumt denn ein Baby, es weiß doch gar nichts von der Welt?
Das fasziniert mich.« Er erinnert sich genau an den Augenblick, als er diesen Wunsch nach einem Baby das erste Mal verspürt hat. »Ich war neun Jahre alt und lag mit meiner frisch geborenen Schwester auf dem Bett meiner Eltern, wir waren alleine, und ich wollte einfach ein Baby. Ich wollte Vater werden und so ein Baby haben. Es war ein sehr starkes Gefühl.«

Eine Begegnung mit einem Baby oder einem kleinen Kind ist bei vielen der Auslöser für einen intensiv verspürten Wunsch, oder sie frischt eine alte, vielleicht schon durch viele Hindernisse ermüdete Sehnsucht wieder auf. So berichtet Frieda von einem Adoptions-Workshop, auf dem sich ein Frauenpaar mit ihrem adoptierten Säugling präsentierte. »Sie haben erzählt, wie sie nach so und so vielen Kinderwunschbehandlungen in einem Workshop saßen und sich gefragt haben, warum machen wir das eigentlich. Deswegen haben sie ihr Baby mitgebracht, damit wir sehen, warum. Es steht wirklich ein Mensch am anderen Ende und der hat eine Realität. Dafür lohnt sich das Ganze. Das war natürlich der Höhepunkt des Tages, das war das Beste von allem. Dieser lebendige Mensch.«

Sich einen Menschen wünschen. Vielleicht kommen wir damit der Sache ein wenig näher. Und der Frage, warum es so schwer ist, die Intensität dieses Wunsches und das Leiden an dessen Unerfüllbarkeit »argumentativ aufzulösen«, wie Franziska sagt. Gibt es etwas Unermesslicheres und näher an unser verletzlichstes Selbst Reichendes, das man sich wünschen könnte? Dass alleinstehende Menschen, die sich einen Partner oder eine Partnerin wünschen, in ihrem tiefsten Inneren verletzt sein können, wenn sie allein bleiben, hat eine gewisse Selbstverständlichkeit in unserer Kultur. Möge es noch so schwer sein, darüber zu sprechen, der Wunsch nach Zweisamkeit wird kaum in Frage gestellt. Dass der Wunsch nach einem Kind ähnlich intim und grundsätzlich sein kann, ist weniger entschieden.

Möglicherweise ruft es sogar ein bestimmtes Unbehagen hervor. Judith, die mit Ende 40 schon sehr lange auf ein Kind hofft, meint, dass das Wort »Wunsch« zu schwach ist, um ihr Verlangen auszudrücken. »Wenn man das einmal zulässt, dann ist es eher ein Begehren. Es ist eben doch viel stärker als ein Berufswunsch oder so.« Im Deutschen aber ist das Wort »Begehren« zu sehr sexuell konnotiert, meint sie, um es auf ein Kind zu beziehen, während man im Englischen oder Französischen durchaus von »a desire for a child« oder »un désir d’enfant« sprechen  kann.

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Die Psychologin Daphne de Marneffe scheut sich nicht, diese zwei Bereiche zusammen zu denken: Ihr Buch Die Lust, Mutter zu sein heißt im englischen Original Maternal Desire – also »mütterliches Begehren«. »Nach allgemeinem Verständnis gehören die Begriffe ›Mutter‹ und ›Verlangen‹ oder ›Lust‹ […] nicht in ein und denselben Satz. Verlangen oder Lust, so hat man uns beigebracht, hat eher mit Sex zu tun; Muttersein dagegen mit praktisch allem anderen als Sex.«

Marneffe behauptet nicht, dass das sexuelle Begehren und das Verlangen nach einem Kind ineinander übergehen oder füreinander einstehen, aber dass sie ähnlich tief, substantiell und unhinterfragbar sein können. 

Als ich die eingangs erwähnte Anja, eine sportliche, 35-jährige Kostümbildnerin aus Leipzig, nach den Bildern frage, die ihre Sehnsüchte nach einem Kind füttern, spricht sie stattdessen vom eigenen Körper: »Ich glaube, es ist weniger wichtig, wie genau ich mir das jetzt vorstelle, dass es einen Garten gibt und da Kinder herumrennen oder so. Es hat mehr mit einem ziemlich tiefen Wahrnehmen von Leben oder auch Körper zu tun. Vielleicht ist es auch stark damit verbunden, auf eine Geburt vorbereitet zu sein, mit der Bereitschaft, gebären zu können.« 

Damit kann ich mich identifizieren: Das Gefühl, bereit zu sein, oder, genauer, wahrzunehmen, dass etwas in mir wirkt, aber nicht zum Zuge kommen kann. Das ist ein Zehren und ein Reißen sondergleichen und schwer in Worte zu fassen, weil es jenseits des vernunftgesteuerten Ichs stattfindet.

Als Franziska, wie Anja mit Anfang 30 und partnerlos auf ein Leben ohne Kinder blickte, hat sie dieses Bild der Zukunft »fast wahnsinnig gemacht. Das war sehr schwer auszuhalten«, sagt sie leise. »Ich habe gedacht, oh Gott, das passiert nicht mehr, und das fand ich irgendwie inakzeptabel, absolut, das ging nicht. Das war ein ziemlicher Schmerz. Ich kann dir nicht sagen, warum.«

 

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Millay Hyatt