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Anstelle eines Vorwortes 

Nulldiät des Politischen und Ausnahmezustand  

Rolf Henrich 1996

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Seien wir ehrlich: Als politisches und wirtschaftliches Gebilde ähnelt Deutschland zum Jahrtausend­ende in fataler Weise der DDR in ihrer Schlußphase. So, wie sich die Gesellschaft der DDR nicht mehr auf eine veränderte Welt des Politischen und Wirt­schaftlichen umzustellen wußte, macht derzeit Deutschland als Ganzes keinerlei Anstalten, den Trott des «Weiter-so-wie-bisher» zu überwinden.

Und seine politische Klasse redet und redet!

Derweilen wird die «deutsche Krankheit» zur Kategorie ökonomischer Diagnosen. Seit die asiatische Konkurrenz mit ihrer planmäßigen «Unterbezahlung» der Arbeit die Arbeit in Deutschland für überflüssig erklärt hat, ist der Musterschüler der Markt­wirtschaft zum Krankheitsfall geworden. Wenn hierin ein entscheidender Grund für die unaufhaltsam steigende Massen­arbeits­losigkeit zu sehen ist, haben wir es tatsächlich nicht mehr mit einer bloßen Krise zu tun, sondern mit dem Beginn des Zusammen­bruchs der deutschen Wohlfahrtsordnung.

Und wir stehen nicht vor dem Beginn eines kommenden Aufstiegs, wie die stolze Rede vom «gewachsenen Gewicht des wieder größer gewordenen Deutschland» leise suggerieren will. Vor uns liegen die Wirrnisse des alten Zusammenbruchs.

Angesichts einer solchen Perspektive sind die gewohnten Kategorien des politischen Denkens lediglich noch geeignet, die Härte dieser Realität schönzureden. Man versuche doch nur einmal, das übliche Kriterium des «Rechten» oder «Linken» auf die drängendsten Probleme hierzulande anzuwenden! Sofort wird sich die Untauglichkeit dieser Kategorien und der ganze Provinz­ialismus des sich in solchen Begriffen bewegenden Denkens herausstellen.

Nichtsdestoweniger offeriert die oppositionelle Hälfte der politischen Klasse nach wie vor ein «Linksbündnis» als Heilmittel gegen das Siechtum des sozialen Organismus. Während die Regierenden hartnäckig zu suggerieren bemüht sind, daß Sparen für sich genommen schon Politik sei.

Der sich darin offenbarenden Dekadenz des Politischen kann man nicht mehr mit Ideen oder moralischen Appellen beikommen. Man muß stattdessen die Fragestellung radikalisieren, damit die ganze Verantwortungslosigkeit der politischen Klasse deutlich wird. Zu fragen ist: Gibt es für Deutschland einen kürzeren Weg in den Ausnahmezustand als den über die Fortsetzung der Nulldiät des Politischen, wie sie diesem Land seit Jahren verabreicht wird?

Sie haben richtig gelesen: Wir steuern auf den Ausnahmezustand zu! 

Tatsächlich gibt es ja kein politisches Handeln mehr, welches die Selbst­verteidigungs­kräfte unserer politischen Existenzform bestärkt und der schleichenden Annäherung des Ausnahme­zustands entgegenwirkt. Je mehr aber die in Jahren herangezüchteten überzogenen Konsumansprüche und ein schwacher, in seiner Zahlungsfähigkeit eingeschränkter Staat in Deutschland ins Gemenge geraten, desto prekärer wird die Waffenruhe in der sozialen Schlacht um die Fleischtöpfe.

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Wo erst einmal jede Minderung im sozialen Transfer einer Kriegserklärung gleichkommt, ist «Weimar» nicht mehr weit entfernt. Und wer den Zusammen­bruch des DDR-Sozialismus seinerzeit damit begründet hat, daß dieser seine Verheißungen und materiellen Versprechen nicht einlösen konnte, der sollte heute im Ernst darüber nachdenken, ob sich dieselben Menschen, die damals auf die Straße gegangen sind, nicht schon bald ebenso gegen den «Sozial- und Verteilerstaat» richten werden — dann nämlich, wenn sich einmal endgültig herausgestellt haben wird, daß dieser das allgemeine «Wohlstands»-Versprechen nicht mehr einhalten kann. Wie viele Menschen werden wohl, wenn die Republik erst einmal konkursreif ist, die Zahlungsunfähigkeit der öffentlichen Hand als Verrat zugunsten der Reichen verstehen?

Der Rechtsfrieden ist jedoch nicht etwa allein dadurch gefährdet, daß die Arbeitslosigkeit weiterhin steigt und Luxuslöhne wie Vorruhestands­regelungen hierzulande ebenso unbezahlbar werden wie die Pensionen der Beamten. Jetzt, da der Ost-West-Gegensatz als Weltordnungs­prinzip weggefallen ist, stellen wir mit Entsetzen fest, daß überall um uns herum — und nun auch in nächster Nähe im Osten — Archipele des Elends existieren, gegen die wir uns sichern müssen wie hinter Mauern, damit das Wohlleben der Zivilgesellschaft nicht durch die Barbaren gestört werden kann. 

Diese Gesellschaften der Armen sind nomadische in dem Sinne, wie Mackinder die barbarische Gesell­schaft gesehen hat: Überall auf der Welt lösen sich die lokalen kulturellen Bindungen, und die Bevölkerungs­massen der Archipele werden reif zum Hereinbranden. Mit den Menschen aber, die nichts zu verlieren haben, kommt zugleich die in den Archipelen des Elends vorherrschende Raub- und Beutewirtschaft, die sehr schnell die Wucht einer gerichteten und kollektiven Gewalt erreichen kann

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Und eine durch Nichtstun gekennzeichnete Politik würde am «Tag X», sobald erst einmal die «Wasserströme über jede Schwelle laufen», nichts anderes zu sagen wissen als goethes Zauberlehrlings-Wort:

Die ich rief, die Geister 
werd ich nun nicht los.

Denn ebenso, wie sich im Inneren das Sozialstaatskonzept ungewollt und unter der Hand zum Auslöser kommender Unordnung verwandelt hat, verhält es sich im weltpolitischen Maßstab mit dem Menschenrechts­universalismus. Auch hier dasselbe «Wohlstands»-Versprechen gegenüber der Dorfarmut des «global village» — Wohlstand als angebliche Voraussetzung für ein Leben in Würde.  

Obwohl eine vergleichbare hochtechnisierte Basis und Arbeitsteilung wie im Westen als Grundlage der Daseins­versorgung großer Massen gar nicht vorhanden ist und die nötigen Güter zum Zwecke der Materialisierung der formellen Rechte nicht zur Verfügung stehen, soll jedem Menschen seine eigene und unantastbare Würde garantiert werden. Wo aber das Brot knapp ist und die Menschen immer mehr werden, verengt sich auch der Raum für Würde. Genauer gesagt, es beginnt da der Kampf ums nackte Dasein.

Wer also in den Archipelen Ordnung herstellen wollte, kann sich sicherlich nicht an einem Menschen­rechts­begriff ausrichten, der seine massen­demo­kratische Bedeutung am Maßstab westlicher Verhältnisse ausgebildet hat. Ein beliebiger historischer Blick zurück genügt, um sich eine mögliche Ordnung der ursprünglichen Akkumulation vorzustellen, wie sie ja auch in Europa erst durchlaufen werden mußte, bevor «Menschenrechte» Geltung haben konnten.

Als Politikkonzeption untauglich, befördert der Menschenrechtsuniversalismus jedoch jede Menge Erwartungen in den ärmsten Teilen der Welt, die «vor Ort» gar nicht befriedigt werden können. Damit aber trägt er ein gerüttelt Maß dazu bei, daß die Menschen ganz simpel ihr Glück dort versuchen wollen, wo die Propagandisten der Bewegung sitzen. 

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Ohne ihnen selbst hierzulande wirklich «menschenwürdige» Lebens­verhältnisse gewährleisten zu können, wird der Menschenrechtsuniversalismus gleichwohl zur Begleitideologie jeder unkontrollierten Einwanderung. Bis der Haß des Pöbels sich gegen die Ankömmlinge Luft macht.

Wer hier nun wieder immer nur Nazis und ihre dummen Mitläufer wittert, liegt falsch. Ebenso geht der «moralische Anspruch auf Immigration», den ein Mann wie Habermas postuliert, an der Sache vorbei. Die notbedingte Wanderungs­bewegung muß man vielmehr als Interessen- und Rechtskollision ernstnehmen: Hier stehen sich nämlich ein eigenmächtiger Aneignungsversuch an einer in bestimmter Weise organisierten, begrenzten Lebensgrundlage einerseits und ein kollektiv-europäischer Begrenzungs­versuch andererseits naturzuständlich gegenüber.

Neben der Massenarbeitslosigkeit, dem jederzeit möglichen demographischen Erdrutsch und der west­europäischen Abschottungs­problematik gehört in eine Kurzfassung des Gefahrenkatalogs natürlich eine Kette von Konfliktherden um uns herum. Die zu erwartenden Erschütterungen drohen insgesamt wahrscheinlich ohnehin noch weniger aus einem eskalierenden inneren Unfrieden als aus der weiteren Zuspitzung einer Welt-Lage, die erdrutschartig zunehmend durch Verteilungskämpfe und Bürgerkriege aller Art charakterisiert ist.

Insbesondere gilt dies natürlich für den auseinandergebrochenen Großraum der ehemaligen Sowjetunion. Die Behandlung der russischen Minderheiten in Lettland und Estland etwa könnte sehr rasch Moskau zu einer Militär­intervention veranlassen. Oder denken wir nur an Ungarn — mit einem Viertel seiner Bevölkerung und einem Drittel seines ehemaligen Staatsgebietes unter rumänischer Herrschaft in Transsylvanien. 

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Neben Ungarn die Ukraine. Als Staat mit fünfundfünfzig Millionen Einwohnern, Lang- und Mittelstreckenraketen und unklaren Verhältnissen auf der Krim ist sie nur sechshundert Kilometer von Deutschland entfernt. Bisher war dieses Land, in dem ein Fünftel der Bevölkerung Russen sind und in dem neben einer orthodoxen Mehrheit eine unierte katholische Minderheit betet, noch nie souverän. 

Abgesehen davon, daß sich das alles nach den im Osten geltenden Kriterien keinesfalls zu einem ethnisch oder religiös einheitlichen Nationalstaat zusammen­rechnet, bleibt die entscheidende Frage: Wie soll man sich die politisch gewollte Wiedergeburt Großrußlands vorstellen, ohne daß das Stammland des altrussischen Staates, der «Kiewer Rus», also der Ursprungsort der Kultur Rußlands, in diese neuerliche «Sammlung der Reiche» einbezogen wird? 

Wie werden sich die ukrainischen Nationalisten dazu verhalten?

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Mit den drei Beispielen ist lediglich auf einige nachbarliche Gefahrenzonen im Windschatten unserer Aufmerksamkeit gewiesen, die sich zuletzt ganz auf den jetzt mühsam eingedämmten postjugoslawischen Bürgerkrieg konzentrierte. Die Konfliktgeschichte des Jahrhunderts weist jedoch ohnehin eine wachsende Streuungsrate der Ereignisse auf, in Abhängigkeit von dem jeweils erreichten Grad an Mobilität. Jeder ist heute jedermanns Nachbar. Und von den Mitgliedstaaten der UNO sind ungefähr ein Drittel durch schlagkräftige Aufstandsbewegungen, politisch-religiöse Fundamentalisten und Exilregierungen in ihrer Stabilität ernsthaft gefährdet.1)

1)  Allein die Zahl der sogenannten <inneren> Kriege ist gegenüber 1945 — im Unterschied zu der gelungenen Eindämmung des zwischenstaatlichen Krieges in dieser Epoche — auf das Fünffache gestiegen.

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Das Erschrecken über das eines Tages plötzlich hereinbrechende Unvorstellbare dürfte um so größer sein, je weniger der Ausnahme­zustand mit seinen Besonderheiten zuvor bedacht wurde. So, wie es in einer Erdbebenzone gute Gründe dafür gibt, mögliche Wirkungen eines nächsten Bebens zu besprechen, ist es sinnvoll daran zu denken, daß der Zusammenbruch der bisherigen Welt-Ordnung einschließlich des deutschen Sozialstaats bis auf weiteres von heftigen Erschütterungen begleitet sein wird. Anstrengungen, die darauf gerichtet sind, die Friedensordnung im Inneren Deutschlands zu schützen, können zukünftig nur dann noch erfolgreich sein, wenn die Bedeutung des Weltbürgerkriegs-Geschehens mit seinen Rückwirkungen auf die hiesigen Verhältnisse wenigstens ansatzweise verstanden wird.

Das Nachdenken über den Ausnahmezustand ist hierzulande allerdings verpönt. Und das beileibe nicht nur, weil eine Politik, die sich allein an Tages­geschäften und medialen Erfordernissen orientiert, irgendwann das Gespür für die Zerbrechlichkeit und Zufälligkeit jeglicher Ordnung verliert. Hinzu kommt in Deutschland die Erinnerung daran, daß der berühmte, für viele eher berüchtigte Staatsphilosoph Carl Schmitt, dessen Arbeiten um den Ausnahme­zustand kreisen, sich den Nationalsozialisten angedient haben soll. Wodurch die Beschäftigung mit dem Ausnahmezustand zum Unthema geworden ist.

Mit Inbrunst wird hingegen dem Glauben an den Rechtsstaat gehuldigt, so, als könne dieser für alle Zeiten unser ganzes sozial­politisches Leben in ein begradigtes Strombett zwingen, als sei allen kommenden Konflikten durch sein bloßes Dasein die Spitze genommen. Natürlich schimmert durch das Anhimmeln der Rechtsstaatlichkeit und die Verdrängung der dynamischen oder gar explosiven sozialpolitischen Substanz des Lebens unverkennbar die Utopie eines Ewigen Friedens hindurch. 

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Von Carl Schmitt können wir im Unterschied dazu lernen, daß hinter der Fassade jeder Normalität, auch der «demokratischen», elementare Kräfte rumoren und brodeln, um bei passender Gelegenheit den Schleier des sich ständig Wiederholenden und deshalb Beruhigenden zu zerreißen.

Wer das Problem des Thomas Hobbes für Deutschland auf die Tagesordnung setzen will, muß natürlich mit dem Vorwurf der Schwarzmalerei rechnen. Dem Staat in Mitteleuropa gelingt es aufs Ganze gesehen und im Vergleich zu blutigeren Weltregionen ja noch immer ganz gut, die gegensätzlichen Gruppierungen in der Gesellschaft davon abzuhalten, sich bis zur extremen Feindschaft — also bis zum Bürgerkrieg hin — zu entzweien. 

Was sind schon ein paar Chaostage in Hannover — oder die kurdisch-türkischen Zusammenstöße und der Bombenterror der PKK gegen Reisebüros und Vereine, wenn ansonsten alles seinen Gang geht und man weiterhin die U-Bahn benutzen kann, ohne wie in Tokyo Giftgas einatmen zu müssen. Auf die richtige Einstellung kommt es an. Hat man die einmal für sich gewonnen, konnte man noch ein Phänomen wie den bundesdeutschen «Feierabend­terrorismus» dem interessanten Spiel der Differenzen gutschreiben.

Wer dazu nicht bereit ist, wird die sich steigernde Friedlosigkeit nicht übersehen wollen. Hans Magnus Enzensberger hat die Erscheinungen solcher Gewaltausbrüche in seinem Essay <Aussichten auf den Bürgerkrieg> addiert. Aussichten auf den Bürgerkrieg — das bedeutet derzeit noch nicht mehr als das Anwachsen von «Grauzonen», in denen es keine Autorität mehr gibt. Von der Hafenstraße in Hamburg angefangen bis zum schrittweisen Rückzug des Rechts vor Mafiastämmen aus aller Herren Ländern und der Gewaltherrschaft zweifelhafter Clans über Mitbürger fremder Herkunft.

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Orwells <1984> beschrieb den Alptraum einer Ordnung, die alles unter Kontrolle haben wollte. Das ist Vergangenheit. Zwölf Jahre danach droht der Rückfall in die Barbarei. Ein postmodernes Wikingertum, neue Plünderer — und im Wald sind wieder Räuber. Diesmal in Gestalt rumänischer Banden. Bereiche weiten sich aus, die in Korruption und Gewalt abgleiten, mit Verschachtelungen von offizieller Gesellschaft und Schatten­gesellschaften. Wieviele Jugendliche sind es eigentlich, die sich «autonom» fühlen, ohne die geringste Bindung an Gesetz und Ordnung? Unsere Institutionen sind der schleichenden Re-Chaotisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse kaum mehr gewachsen — am allerwenigsten der Rechtsstaat und die Gerichte.

Daß ein Titel wie Enzensbergers <Aussichten auf den Bürgerkrieg> gerade in dem Augenblick auf der Bestsellerliste erscheint, wo das Ende der fetten Jahre des deutschen Wohlstands absehbar wird, spricht natürlich Bände. Wollte man doch gerade hierzulande Politik ersetzen durch ein ständiges Wirtschafts­wachstum, welches parallel mit dem allgemeinen Wohlstand vor allem soziale Befriedung und Entideologisierung garantieren sollte. Nachdem die Frage nach der politischen Einheit und den Mechanismen ihrer Herstellung in Zeiten der Prosperität nicht der Rede wert war, dämmert es in Zeiten leerer Kassen allmählich, daß politische Einheitsbildung in und aus der Gesellschaft heraus vielleicht doch eine Grundvoraussetzung für das Überleben einer freiheitlichen Gesellschaft sein könnte — etwa in fundamentalen Krisen im Inneren oder bei unterschiedlichsten Bedrohungen von Außen.

Ob der Staat Bundesrepublik Deutschland in der Form ist, daß er sich in diesem Fall der Fälle als «Kristallisations­kern des Politischen» bewähren könnte, ist durchaus zweifelhaft. Als «Sozial- und Verteilerstaat» leidet dieser Staat mehr denn je unter der ihm schon von Ernst Forsthoff angekreideten...

«...Paradoxie, daß er erstens echte Herrschaft unmöglich macht, aber zweitens im Falle der Krise, der existentiellen Gefährdung Herrschaft und Autorität unvergleichlich mehr braucht als jeder andere Staat zuvor».

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Das ständige Erkaufenmüssen massenhaften Wohlverhaltens macht naturgemäß jede brauchbare Herrschafts­beziehung unmöglich. Wo man selbst beamteten «Staatsdienern» einen Umzug von Bonn nach Berlin mit DM-Millionen versüßen muß, um ihre Folge­bereitschaft zu bekommen, braucht sich keiner mehr wundern. 

Wenn sich die Zustimmung zum Maß für die Effizienz der Gesetze und Normen entwickelt, schmilzt noch der letzte Abstand zwischen Regierenden und Regierten in sich zusammen. Von da an ist es die Aufgabe der Machthaber, ein System der ständigen Absprache und Verhandlungen zu moderieren. Sehr zum Wohle der «Zivilgesellschaft», nicht jedoch der Gemeinschaft. Bei diesem ständigen Hin und Her, aus dem keine Rangordnung mehr hervorgehen kann, entsteht ein Gleichgewichtsspiel, in dem schließlich alle nur nach ihrem Gusto und der jeweiligen Lage der Stimmungen entscheiden.

Wo es einmal so weit gekommen ist, liegt die Willkür der Macht nicht mehr in der Machtausübung, sondern in der Zustimmung. Einer Zustimmung, die jede Rangordnung dementieren wird, die sich zu fein ist, über die Macht auf der Straße zu verhandeln, mit den Massen, den Gruppen, den Individuen — täglich und in jedem sozialen Kontext.

Mit dem allmählichen Verlust jeglicher Rangordnung wächst aber unbemerkt das Risiko des Losbrechens von Gewalttätigkeiten. Wir geraten damit in eine Krise der Unterschiede, wie sie Shakespeares Ulysses in seiner berühmten Reflexion des Degree, der Differenz, anschaulich schildert:

Tilg' Rangordnung, verstimme diese Saite, 
und höre dann den Missklang! Alles träf 
auf offenen Widerstand. Empört dem Ufer 
erschwöllen die Gewässer übers Land, 
dass sich im Schlamm die Feste Erde löste;
Macht würde der Tyrann der blöden Schwäche, 
der rohe Sohn schlug seinen Vater tot;
Kraft hieße Recht — nein, Recht und Unrecht, deren 
endlosen Streit Gerechtigkeit vermittelt, 
verlören, wie Gerechtigkeit, den Namen.

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Wenn das Gleichgewicht die Gewaltbereitschaft lockert, dann ist es unerläßlich, daß sich die durch das Gewaltmonopol des Staates garantierte Friedens­ordnung als Ungleichheit und Positivität definiert, als der Unterschied zwischen «Gut» und «Schlecht». Wird dieser Unterschied geschliffen und jede angemessene Relation von Schutz und Gehorsam verdreht, verstummt die Sprache über Recht und Unrecht. 

«Was bleibt den Menschen zu sagen, wenn es einmal mit ihnen so weit gekommen ist, als <versöhnt euch oder bestraft euch gegenseitig (rene GIRARD).  

Hier ist der letzte Grund, warum der «große Gestalter» im VALERY'schen Eupalinos-Dialog ein «Feind der Ähnlichkeiten und jener versteckten Gleichheiten» ist, «die zu entdecken uns entzückt».

Natürlich darf die Domestizierung der Freund-Feind-Dialektik im Inneren niemals in den Versuch ausarten, Spontaneität zu verhindern oder gar alles zu ächten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist. Wer Ambivalenzen mit dem Chaos und dem «Ende der Zivilisation» gleichsetzen will, weiß nicht, was Leben ist. Da der «Gesammt-Charakter der Welt in alle Ewigkeit Chaos» ist, wie schon nietzsche wußte, können wir nur «schematisieren — dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserm praktischen Bedürfnis genugtut». Wir müssen «schematisieren» — denn ein unstrukturiertes Chaos wäre allzu unsicher. Gesellschaftliche Ordnungen eliminieren das Chaos also nicht, sondern übersetzen es in eine Kombinatorik sicherer und unsicherer Erwartungen.

Ausreichende Erwartungssicherheit ist eine Grundbedingung menschlichen Zusammenlebens. So können wir das Chaos des modernen Lebens wagen, weil es die Polizei gibt, die das Risiko eines gewaltsamen Todes oder eines tätlichen Angriffs stark senkt. Als überschaubares Risiko verliert die Gefahr ihr negatives Vorzeichen und kann vom Kriminaljustizsystem verwaltet werden. 

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Als derart «gezähmtes» begegnet uns das Chaos dann allerdings immer noch allerortens — ob in den Rotlichtvierteln der Großstädte, auf der Autobahn oder in den Nachtzügen der U-Bahn. Und daß periodisch «Chaoten» immer wieder die eingespielten Regularien durcheinanderbringen, hat durchaus sein Gutes. Politikfähig werden solche Kräfte jedoch erst, in dem sie «schematisieren», das heißt, sich gegen Gewalt und Fundamentalismus abgrenzen.

Für die Zuwanderer gilt dasselbe. Wollen diese an ihrer Religion und ethnischen Kultur festhalten, und sei es nur deshalb, um als Gruppe ihre Identität und Durchsetzungsfähigkeit zu stärken, so kann dies nur gut sein. Wollen sie jedoch hierzulande einen Bürgerkrieg ausfechten, wie etwa die PKK, muß dies als eine Gefährdung des Rechtsfriedens begriffen werden, die man nicht mehr nur unter kriminalistischen Gesichtspunkten betrachten kann. Wenn Revolten Gesetz und Ordnung außer Kraft setzen, droht das schlimmste aller Übel: der Bürgerkrieg. Mit dem Bürgerkrieg sollte keine gesellschaftliche Gruppe spielen dürfen.

In dem Maße, wie aus dieser Richtung bisher unbekannte Formen der Gewalt über Deutschland kommen, werden wir neue Formen der Gewaltbegrenzung und der Verteidigung unserer grundgesetzlichen Ordnung erfinden müssen. Denn Rechts­staatlichkeit setzt allemal ein Mindestmaß an politischer Stabilität und geordneten Verhältnissen voraus.

Die dabei vorab zu klärende Frage ist allerdings, wo das zivilisatorische Minimum im Hinblick auf öffentliche Ordnung und Sicherheit anzusetzen ist, unter dem die abnorme Situation des «Naturzustands» definitiv gegeben wäre: der Ausnahmezustand. Deren Beantwortung hängt natürlich davon ab, ob eine Staatspartei oder Kriminalpolitiker in einer pluralistischen Gesellschaft darüber entscheiden, wann die gewünschte Ordnung unterschritten wird. Immer vorausgesetzt, daß ein Land überhaupt noch gewillt ist — in welcher Form und wie vage auch immer — Grenzen und Beschränkungen für sich zu akzeptieren und zu definieren.

19/20

Weil genau dies politisch in Deutschland zunehmend weniger und oft nur noch aus wahltaktischen Gründen heraus geschieht, hat sich gerade auch in Deutschland-Ost inzwischen der fatale Eindruck festgesetzt, als hätten wir nach dem Beitritt ordnungs­politisch nurmehr die Wahl zwischen Mafia und GuLag, zwischen der demokratisch bemäntelten Anarchie der Ellenbogen und der Rückkehr zum Staatsdespotismus.

Entstehen konnte ein solcher Eindruck deshalb, weil beinahe alle Tendenzen der politischen Entwicklung dahin gehen, möglichst jeglicher ernstzunehmenden Unterscheidung auszuweichen, wann und wo der in der geltenden Rechtsordnung ja selber gar nicht vorgesehene Ausnahmefall der Unterschreitung des gewollten zivilisatorischen Minimums gegeben sein könnte.2

In Vorwendezeiten mag ein solches Politikverständnis seine Berechtigung gehabt haben. Damals konnte man darauf hoffen, daß, solange die Friedens­absprachen zwischen den Großmächten nur hielten, keine ernsthaft bedrohlichen Vorkommnisse den Bestand und die Vervollkommnung der westdeutschen Idylle und der ostdeutschen Großnische stören konnten. Spätestens seit dem Zusammen­bruch des Staatssozialismus aber steht die Friedensordnung Deutschlands wieder im Horizont innerer wie äußerer Auseinander­setzungen, die uns sehr schnell zwingen können, ordnungspolitisch Farbe zu bekennen.

Unter praktischen Gesichtspunkten des Tages bleibt ein Ordnungs-Denken übrig, das die Aufrecht­erhaltung der für das Funktionieren der Lebensordnung erforderlichen Relation von Schutz und Gehorsam garantieren will. Dabei geht es nicht im entferntesten mehr um die lupenreine polizeiliche Modellierung des Gemeinwesens, sondern nurmehr darum zu verhindern, daß das Lebensgefüge dieses Landes ins Schleudern gerät und die letzten dem Ungeformten abgetrotzten Formen zerbrechen. 

Auf eine solche Sorge wird man in der Zukunft kaum verzichten können, sollen soziale Ordnung und reziproke Erwartbarkeit weiterhin möglich bleiben. Wir brauchen - neben erhöhter Risikobereitschaft - ein waches Bewußtsein für den Zustand, den Hobbes «the first Chaos of violence and civil war» genannt hat.

Wir müssen den Ausnahmezustand vermeiden. Das aber heißt: Wir dürfen nicht in unserem Willen zur Form nachlassen — als der entscheidenden Macht, nämlich der katechontischen.

Sobald das Normengewebe der Legalität zerreißt, von dem die Menschen Recht und Rechtsschutz erwarten, gibt es keinen Staat mehr, und die Gehorsams­pflicht entfällt. Auf ein Chaos sind Normen nicht mehr anwendbar.

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2)  Hier liegt erkennbar der «blinde Fleck» der Debatte um die Schäuble-Vorschläge zur inneren Sicherheit, der Diskussionen um «Vorfeldermittlungen», die Ausweitung nachrichten­dienstlicher Tätigkeitsfelder und so weiter.

 

* wikipedia  Katechon 

 

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 Rolf Henrich  1996