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 21 Die Notwendigkeit der Erziehung   

 

 

 

   20  Der Vernunftanspruch der Utopien   

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Es ist nunmehr zu untersuchen, inwieweit die verschiedenen sozialistischen und kommunistischen Theorien die natürlichen Grenzen der Werterkenntnis beachten, inwieweit sie also <vernünftige> Theorien bleiben, um daraus auf die Möglichkeit einer maßgerechten organischem Theorie überhaupt schließen zu können.

Friedrich Engels bezeichnet Francis Bacon mit einigem Recht als den «Stammvater des englischen Materialismus». In diesem Lichte zeigt ihn auch der zukunftsfreudige Fortschrittsglaube der <Neu-Atlantis>, der sich auf die unabsehbar ausbaufähigen Errungenschaften der Naturwissen­schaften stützt und mit «programmatischer Phantasie» (Windelband) die Umrisse einer idealen Lebenstechnik entwirft. Insofern hier die Erkenntnis zur Grundbedingung aller Wohlfahrt gemacht wird, ist die Einstellung durchaus intellektualistisch, also im Sinne der lebensgesetzlichen Werttypen Eduard Sprangers theoretisch.

Die Vernunft, auch als überindividueller, aber freilich nur Auserwählten zugänglicher Besitz, verleiht soziale Vorrechte, nicht etwa nur im Innern des Staates, sondern vor allem auch im Verkehr mit Fremden. Außer an der Hervor­hebung des Präfekten des Fremdenheims, des Juden Joabin und vor allen anderen des Vaters des Hauses Salomons zeigt sich das am deutlichsten in den Reisen und Auslandsaufenthalten der Angehörigen dieses Hauses; sie sind Vergünstigung und Verpflichtung zugleich, da sie «zum Besten der Menschheit und des Staates» unternommen werden, wie es Platon, Morus und Vairasse empfehlen und, in bemerkenswerter Übereinstimmung, später wieder Fichte, welcher Gelehrte und Künstler, und zwar nur diese, auf öffentliche Kosten auf Reisen geschickt sehen will. Im übrigen ist die strenge Abgeschlossenheit oder gesetzliche Abschließung des Staates von der Außenwelt ein besonderes Kennzeichen aller utopischen Staatswesen.

Die einer derartigen Einstellung entsprechende Individualisierung drückt sich, wie mehrfach betont, am deutlichsten in der Einrichtung des Hauses Salomons aus, das mit seiner Aufgabe, Staat und Volk von Bensalem durch die Forschung und Wissenschaft zu beglücken und zu leiten, ebenso dem Stande der Herrscher oder Philosophen in Platons <Staat> ähnelt, wie der Societas Jesu in Paraguay oder der humanitären Vereinigung der Freimaurer, deren «Vorgeschichte», die Schrift Bacons denn auch zugerechnet worden ist (Walden).

Das Haus Salomons bekennt sich, soweit der bruchstückhafte Charakter der <Neu-Atlantis> diese Feststellung zuläßt, somit zu dem individualistischen Wert der Erkenntnis, der den politischen der Macht und den ethischen des Guten voraussetzt, um gegebenenfalls unter dem Gesichtspunkt des ästhetischen der Vollkommenheit den kommunistischen des Gleichsinns zum Zwecke des sozialen des Gemeinwohls befürworten und verwirklichen zu können. Hier ist man jedoch weithin auf bloße Vermutungen angewiesen.

Die Theorie als solche geht von bisher noch nicht gegebenen und sehr optimistischen Voraussetzungen aus: denn erst müßte es so weit kommen, daß tatsächlich eine Auslese von sittlich einwandfreien Theoretikern die Macht in die Hände bekäme, um über eine Gemeinschaft von ebenso guten sowie auch bis zu einem gewissen Grade einsichtigen, also vernünftigen Menschen, die den Wert der Erkenntnis anerkennen, zu herrschen. In dem Maße, in dem man eine solche Möglichkeit grundsätzlich leugnet, wird die Theorie Bacons daher genauso utopisch wie die Utopien Mores und Campanellas. 

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   21  Die Notwendigkeit der Erziehung   

 

Dieser Einwand ist natürlich nicht neu. Die Utopisten suchen ihn für gewöhnlich durch den Hinweis zu widerlegen, daß die Änderung der Daseins­bedingungen die Menschen von selbst verwandeln werde. Die Besserung der Menschen und der Verhältnisse ist also auch hier eine Frage der Erziehung, und zwar der Erziehung des Einzelnen zur Vernunft und durch die Vernunft.

Bacon löst sie, soweit es sich erkennen läßt, auf Grund der leitenden Überzeugung der Renaissance, daß der Staat ein «Kunstwerk», also eine «bewußte, von der Reflexion abhängige, auf genau berechneten sichtbaren Grundlagen ruhende Schöpfung» (Burckhardt) sei, indem er Macht und Wissen zu vereinigen sucht, «eins durch das andere stärkt, die Gesellschaft in den Dienst der Wissenschaft stellt und aus der Wissenschaft ein Werkzeug der sozialen Ordnung macht» (Bastide).

Man kann diese Haltung als radikalen sozialen Idealismus (Voigt) bezeichnen; sie behält trotzdem oder gerade dann ihre theoretische Berechtigung, zumal der nüchterne Sinn des Engländers das Maß des Möglichen gar nicht überschreiten zu wollen scheint und in der technischen Wunderschau auch keineswegs überschritten hat, wie wir heute wissen.

Weit anders freilich steht es mit Tommaso Campanella, dessen Werk allerdings auch einen ungleich reicheren Stoff zur Beurteilung bietet.

Zwar ist nun im <Sonnenstaate> in dem Gedanken der gemeinsamen Selbsterhaltung der Theorie eine viel breitere Grundlage gegeben; aber die radikale und kompromißlose Geistesart des Mönchs entgeht an kaum einer Stelle der Gefahr, daß der, hier freilich eingebildete und erträumte, «Besitz der Gewalt das freye Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt» (Kant). Denn in keinem anderen Menschen seiner Zeit als sich selbst sah Campanella den geborenen Metaphysikus des kommenden Sonnenreiches und erinnert damit wohl nicht ganz zufällig an sein großes Vorbild Thomas Morus, der dem Erasmus von Rotterdam am 3. September 1516 scherzend ausmalte, «wie groß er selber sich schon vorkomme als Fürst der Utopier, mit der Getreidekrone und im schlichten Franziskanermantel fremde pomphafte Gesandtschaften empfangend» (Oncken).

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Zur Selbstherrschaft und Verwirklichung des Gemeinsinns ist es also in jedem Falle notwendig, die gleich starke und mit gleichem Geltungsanspruch auftretende (politische) Strebung nach persönlicher Macht und Freiheit im Keime zu ersticken und damit innerhalb der Gesellschaft möglichst vollständig auszurotten. 

Das aber ist nur durch eine verwandte Kraft möglich, deren Inhaber im höchsten Bewußtsein ihrer Sendung eine unbeschränkte Erziehungs-Diktatur ausüben. Insofern nun die Harmonie des gemeinsamen Lebens zu einem guten Teil auf unbewußter Übereinstimmung aller Einzelnen beruht, also auf vorvernünftiger Bereitschaft gegründet sein muß, ist die Erziehung zu dieser Haltung eine Rückbildung und nur unter gewaltsamen Eingriffen: der Vernichtung natürlicher (individualistischer) Strebungen und Neigungen, wie unter anderem der Eltern- und Gattenliebe, möglich, genauso wie sie Platon für den freilich von vornherein als <unvernünftig> angesehenen Stand der Wächter vorsieht. 

Die Absicht ist dabei, dem Menschen «seine gesamte Struktur von der Gemeinschaft» zukommen zu lassen, damit er niemals «herausbegehrt». «Alle Kräfte, die jetzt und seit ehedem zur Konstituierung seiner Gemeinschaft notwendig und genügend» waren, sollen «in ihn hineingebildet» werden, «und außer ihnen wirken keine anderen auf ihn ein. So wächst er in den objektiven Geist Utopiens hinein, wie das Lebewesen in den biologischen Typus seiner Art hineinwächst» (Freyer), dem es «geopfert» (Reybaud) wird.

Der Erziehung ist daher in den Utopien ein wichtiger Platz eingeräumt, der wichtigste wohl im <Sonnenstaat>. Hier dienen ihr von dem mathematisch klaren Aufbau der urbs Heliaca (Meinecke) bis zu dem musealen Orbis pictus der Ringmauern, den Johann Amos Comenius, dessen Abhängigkeit von Campanella auch sonst bewiesen zu sein scheint (Kvacala, Wuttge), fünfzig Jahre später in Buchform zu verwirklichen bestrebt war, von den Tiergärten, die der Calabrese offensichtlich aus der noch lebendigen Erinnerung des süditalienischen Volkes an die prachtvollen <Bestiarien> König Rogers II. und seines Enkels, Kaiser Friedrich II., holte, bis zu den gemeinsamen Lehrstunden, von der Arbeit und Arbeitsverteilung bis zur Feier und Festgestaltung alle Einrichtungen der gesamten Staatspyramide.

Der Unterricht selbst stimmt im Sonnenstaat mit dem auf der Insel Utopia ziemlich genau überein. Wenn dort auch die Kinder schon vor dem dritten Lebensjahre das Alphabet an den Mauerwänden lernen und bereits in frühem Alter erstaunliche Sprachkenntnisse aufweisen, so werden sie doch hier wie da zum praktischen Unterricht aufs Land geführt, um den allen gemeinsamen Ackerbau von Grund auf zu erlernen. Ebenso wird neben der eigentlichen Berufsausbildung in einem bestimmten Handwerk in beiden Staaten die Allgemeinbildung der Erwachsenen eifrigst gepflegt; während in Utopien diese fleißig an den Vormittagsvorlesungen der <Studenten> teilnehmen, gibt es im Sonnenstaat eine für Männer und Frauen aller Altersstufen gemeinsame «Unterweisung in den mechanischen Künsten und in den spekulativen Wissenschaften».

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Es wäre aufschlußreich, zu erfahren, wie sich Francis Bacon den Unterricht und die Ausbildung der <Novizen und Schüler> des Hauses Salomons zu hochqualifizierten Spezialwissenschaftlern und Forschern vorgestellt hat.

Immerhin ist der Unterschied, in dem alle derartigen Vorhaben zu den bescheidenen Wünschen und Ansätzen des 19. Jahrhunderts stehen, auffällig und vielsagend. So begnügt sich etwa Robert Owen zweihundert Jahre nach Campanella damit, zu empfehlen, «die Kinder von der frühesten Jugend zum rechten Denken und Handeln zu erziehen, zu welchem Zweck sie davor bewahrt werden müssen, sich Falschheit und Heuchelei anzueignen und, einem Mitmenschen Unrecht zu tun, auch nur zu wünschen; auch müssen sie von dem lebhaften und brennenden Wunsche erfüllt sein, das Glück jedes Einzelnen zu fördern, und zwar ohne die geringste Ausnahme bezüglich von Sekten, Parteien, Völkern oder Rassen.»

Da gerade die individualistischen Strebungen im Haushalt der Natur zur Erhaltung der Art entwickelt sind, bedeuten die erzieherischen Maßnahmen der Behörden Utopiens und des Sonnenstaates, wie angedeutet, folgenschwere Eingriffe in die menschliche Grundstruktur, deren Erfolg am allerwenigsten durch die wissenschaftliche Ausbildung gewährleistet wird und nur durch den ungeheuerlichen Überwachungsapparat der <Magistrate> gesichert werden kann. Von diesen selbst wird gleichzeitig ein Höchstmaß an sittlicher Vollkommenheit, die ihrerseits nur auf unbedingter Anerkennung ethischer, also individualistischer Werte beruhen kann, verlangt. 

Sowohl ihre als auch der Beherrschten Wohlfahrt ist dabei eine weitere Voraussetzung, zu der wahrscheinlich der ideale «Bund von Wissenschaft und Arbeit» (Meinecke) verhelfen soll und die wiederum nur innerhalb verhältnismäßig kleiner und somit übersehbarer Gemeinschaften möglich erscheint, wie sie schon Jambulos in seinen <Systemata> zum Zwecke einer «vollkommen kommunistischen Regelung des gesamten wirtschaftlichen und sozialen Lebens» (Pöhlmann) empfahl.

Das Problem der Vereinigung von Individualismus und Sozialismus kann aber allein durch den Intellekt nicht gelöst werden, zumal auch die religiösen Gefühle weder völlig rationalisiert noch restlos in <vaterländische> aufgelöst werden können. Die Unvereinbarkeit der sozialen und individuellen Werte unter einem beliebigen aus einer der beiden gleichwertigen Ordnungen — hier der Vernunfterkenntnis — führt also bei Bacon und Morus, wie ganz besonders bei Campanella, trotz oder gerade wegen der strengen Folgerichtigkeit und Geschlossenheit der <Theorie> zu jener eigenartigen Doppelgleisigkeit, die wohl keine sozialistische Theorie vermeiden kann; vielmehr bedarf jede zu jeder Zeit des schöpferischen Optimismus' eines mit visionärer Kraft begabten Menschen und wird somit zur — Utopie. 

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    22  Das Kriegswesen   

 

Die Erziehung zu Uneigennützigkeit und Bescheidenheit, zu restlosem Aufgehen in der Gemeinschaft führt in den Utopien zu Wohlstand und Zufriedenheit. Und doch fehlt diesen vollkommenen Staatswesen, abgesehen von der Insel der Seligen Bensalem, das Glück des Friedens.

Als der vielgeprüfte Odysseus, von Schmutz und Salz des Meeres entstellt, am Strande der Insel Scheria aus dem schützenden Gebüsch hervortritt, ruft die Königstochter Nausikaa ihren ängstlichen Gespielinnen zu:

«... Wo fliehet ihr hin vor dem Manne? 
Meinet ihr etwa, er komme zu uns in feindlicher Absicht? 
Wahrlich, der lebt noch nicht und niemals wird er geboren, 
Der uns käm' in das Land der phäakischen Männer, mit Feindschaft 
Unsere Ruhe zu stören; denn sehr geliebt von den Göttern 
Wohnen wir abgesondert im wogenrauschenden Meere, 
An dem Ende der Welt, und haben mit keinem Gemeinschaft.»  

Das ist die wahre Insel der Seligen! Auf der Insel Utopia aber weist schon die Anlage des Hafens, im Sonnenstaat die gewaltige Befestigungsanlage auf den kriegerischen Sinn der Bewohner hin. Daß man dabei nicht nur an Verteidigung denkt, zeigen die eingehenden Erörterungen sowohl der militärischen Ausbildung aller Bürger einschließlich der Frauen, als auch der kriegerischen Maßnahmen gegenüber dem Feind.

Die Utopier verachten den Krieg. Die Reihe der Gründe, die sie dennoch bewegen können, zu den Waffen zu greifen, reicht von der Verteidigung des eigenen Staatsgebietes über die Befreiung und Unterstützung der Bundesgenossen und Freunde bis zur Vergeltung erlittenen Unrechts und — zur Erwerbung von Kolonien, «eine Liste von Fiktionen zur Begründung des gerechten Krieges..., mit der auch jede politische Theorie, die den Krieg unbedenklich als ultima ratio regum in Anspruch nimmt, zufrieden sein könnte» (Oncken).

Den idealen Erziehungsgrundsätzen entsprechen noch weniger die Maßnahmen, die zur Niederwerfung des Gegners auf <kaltem> Wege angewandt werden, bei denen das Geld, mit dem Mörder, Attentäter und Landesverräter erkauft werden sollen, die entscheidende Rolle spielt.

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Es dient auch zur Bezahlung fremder Söldner, der Zapoleten, in denen man die schweizerischen Reisläufer des 16. Jahrhunderts wiedererkannt hat und die eingesetzt werden, um das Blut der eigenen Mitbürger zu sparen. Denn diese werden erst in den Kampf geschickt, wenn Söldner und Bundesgenossen nicht ausreichen.

Außerhalb des Landes kämpfen nur Freiwillige, zur Verteidigung werden alle, sogar Frauen und Kinder herangezogen. Ihr Mut, der zum guten Teil auch auf der durch ihre gute Ausbildung bedingten Sicherheit beruht, sowie ihre vernünftige Besonnenheit werden hervorgehoben.

Unter den taktischen Maßnahmen erregt jene bereits im Alten Testament (2 Kön. 3,26) und bei Xenophon geschilderte Sitte Aufmerksamkeit, derzufolge eine auserlesene Schar die besondere Aufgabe hat, sich des feindlichen Führers zu bemächtigen.

Ähnliche Anweisungen kennen die Sonnenstaatler, deren Kriegswesen dem der Utopier überhaupt sehr verwandt ist. Neben den Frauen, die hier wie da als Kämpfer und Zeugen der Tapferkeit der Männer, wie sie schon Tacitus bei den Germanen erwähnt, mit in die Schlacht ziehen, führen sie die Knaben in die Gefechte, «damit sie den Krieg kennenlernen und sich an das Kampfgetümmel gewöhnen wie die Jungen der Wölfe und Löwen an das Blut», dieselben Knaben, die schon vom zwölften Lebensjahre ab in den Waffen ausgebildet werden, wie es Platon verlangt.

Das Kriegswesen ist, wie die Fortpflanzung und die Erziehung, im Sonnenstaat hervorragend organisiert und untersteht dem Minister <Pon>, also der <Macht>. Die einzelnen Abteilungen: Generalstab, Infanterie, Kavallerie, Artillerie und Quartiermeisterei, sind genau voneinander unterschieden, und an der Spitze des gesamten Ausbildungswesens steht der Minister selbst.

Demgegenüber erscheint die Insel Bensalem tatsächlich recht friedlich. Man kann sich kaum vorstellen, daß einer der Väter des Hauses Salomons sich mit derlei abgeben könnte, wenn auch in der «Mechanikerwerkstatt» Steinschleudern und «Kriegsmaschinen jeder Art, neuartige Mischungen von Pulver, griechisches Feuer, das im Wasser brennt und unverlöschbar ist, und Wurffeuer jeder Art» hergestellt werden. 

Es besteht jedoch hier bemerkenswerterweise eine strenge Geheimhaltungspflicht der Väter bezüglich dessen, was sie geheimzuhalten beschlossen haben. Und andererseits ist die Freude an der Erfindung von Maschinen ein Zeichen der Zeit: ihre Vollkommenheit bei den Utopiern wird von Morus genauso hervorgehoben wie von Campanella bei den Sonnenstaatlern. Dieser erwähnt neben anderen mechanischen Spielereien, wie dem automatischen Steigbügel und einer Art von Rotorschiff, an zwei Stellen, daß die Sonnenstaatler bereits die Kunst des Fliegens beherrschen, worin ihnen freilich die Väter des Hauses Salomons nicht nachstehen.

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   23  Die Religion   

 

Dem Ansehen, in dem bei den Bewohnern der Insel Bensalem die Väter des Hauses Salomons stehen, entspricht in gewisser Weise das der Behörden im Sonnenstaat und das der Priester in Utopien, nur daß gerade deren weltliche Macht auf ein Minimum beschränkt ist. Dagegen besitzen sie noch magische Gewalt, die sich insbesondere bei den sieben Priestern, die jeweils mit in Kriege und Schlachten ziehen, zeigt. Sie flehen nicht nur um Sieg für ihr Volk; sie schützen auch die Besiegten: ein Anruf genügt, um sich das Leben, eine Berührung, um sich mit Sicherheit sein Hab und Gut zu retten.

Auch bei den Sonnenstaatlern wird ein Priester in den Krieg geschickt, der <Forensis>, jedoch lediglich, um den Feinden eine letzte Mahnung, ein Ultimatum, zu übermitteln, wie ja auch in der <Neu-Atlantis> der christliche Priester, allerdings in seiner speziellen Eigenschaft als Vorsteher des Fremdenhauses, die Rolle des Unterhändlers spielt. Man hat den Eindruck, als ob sich die Stellung der Priester bei Campanella und Bacon im Zuge einer gewissen Aufklärung vermenschliche hätte. Aber das ist doch wohl nur bei Bacon der Fall. Denn bei Campanella ist aus den Priestern als Trägern magischer Gewalt eine Art von Übermenschen geworden, die auf Grund ihres umfassenden Wissens eine unbeschränkte Gewalt über die Seelen der Menschen ausüben; das gilt vor allem für den <Sol>. An die Stelle der äußersten Toleranz bei den beiden Engländern ist bei dem Italiener eine Unduldsamkeit getreten, die nicht einmal die Möglichkeit einer anderen Meinung in Betracht zieht.

Dabei deuten die religiösen Anschauungen der Sonnenstaatler auf einen metaphysischen Monismus, dessen Züge jedoch durch den astrologisch begründeten Determinismus einen gewissen rigorosen Charakter erhalten und somit zu dem liberalen Deismus Thomas Mores in stärkstem Gegensatz stehen.

Religionsgeschichtlich gesehen ist also doch der «typische universale Theismus der Humanisten» (Oncken), zu denen man in dieser Beziehung sicherlich auch getrost Francis Bacon rechnen kann, reformfreudig in die Zukunft gerichtet, während der ketzerische Mönch auch auf religiösem Gebiete den starren Autoritätsglauben predigt, wie er ja auch in Form eines absoluten Cäsaropapismus' die hierarchische Lösung, im Gegensatz etwa zu der streng esoterischen der alten Christengemeinden, an Stelle einer demokratischen oder kommunistischen setzt. Der Kanzler Heinrichs VIII. wäre davor wahrscheinlich genauso zurückgeschaudert wie vor der Suprematsakte.

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Es ist interessant, zu beobachten, wie alle drei Utopisten mit dem Verhältnis ihrer Idealstaaten zum Christentum fertigzuwerden versuchen.

Da diese auf fernen, von der Umwelt abgeschlossenen Inseln liegen, bedarf es jedesmal einer Fiktion, um eine etwaige Bekehrung glaubhaft zu machen. Am vorsichtigsten geht Bacon vor, am bedenkenlosesten Campanella, der wohl überhaupt die Schilderung der Religion eines utopischen Volkes als willkommene Gelegenheit benutzt, seine eigenen ketzerischen Ideen ohne neuerliche oder weitere Gefährdung von Leib und Leben zu verbreiten. 

Die Mitte hält in weiser Bescheidung More, der, an den Grundlehren des Christentums, das «jener heidnischen Lehre, die bei den Utopiern die vorherrschende ist, am nächsten zu stehen» scheint, festhaltend, die Notwendigkeit der Reform auf die Lebensführung im allgemeinen beschränkt. So ist der utopische Charakter der Werke für alle drei Verfasser, genau wie auf dem politischen Gebiete, Schutz- und Trutzwaffe zugleich. 

 

    24  Versuch einer Klassifikation   

 

Es wäre verfehlt, auf eine Zusammenfassung der Ergebnisse dieser kritischen Übersicht zu verzichten. Sie würde dann dem Vorwurf der Unvollständigkeit oder gar Unklarheit schwerlich entgehen. Denn einmal verlangt man auch heute noch mit Fug und Recht von jeder wissenschaftlichen Bemühung wenigstens die Andeutung einer, wenn auch noch so fragwürdigen, Klassifikation, dann aber erfordert auch der Gang der Untersuchung eine abschließende Gegenüberstellung. 

Indessen ist die Bemerkung am Platze, daß selbst die endgültigste begriffliche Formulierung der lebendigen Wirklichkeit deren letztes Wesen niemals zu erschöpfen vermag und nur Anhaltspunkte zu ihrer Einordnung oder aber Gesichtspunkte zu ihrer Betrachtung geben kann. Unter diesem Vorbehalt kann man den <Sonnenstaat> Campanellas eine utopische Theorie, die <Utopia> des Thomas Morus eine theoretische Utopie, die <Neu-Atlantis> Francis Bacons aber eine programmatische Utopie nennen.

Diese Bestimmungen sind noch kurz zu begründen: Der Wurzelboden des <Sonnenstaats> ist die matriarchalische Einheit der kollektiven Macht, der politischen Weisheit und der materiellen Liebe. Von ihr geht die Betrachtung des Lebens der Menschen aus, und zu ihr kehrt sie immer wieder zurück. Sie nimmt dabei notgedrungen den Umweg über den begreifenden und darstellenden Gedanken, verläßt aber auf weite Strecken den Boden der Wirklichkeit, die ihr fremd und feindlich erscheint und der deshalb an Stelle von maßvollen Besserungsvorschlägen scharfe Kontrastspiegel vor Augen gehalten werden. So nimmt die Theorie utopischen Charakter an. Der Leser kann sich des Gefühls nicht erwehren, daß die menschliche Natur im Sonnenstaat vergewaltigt wird, das heißt, daß ein solcher Staat <theoretisch> zwar möglich ist, aber praktisch nicht erträglich.

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Im Gegensatz dazu steht die <Utopia>, die als die Utopie schlechthin nicht etwa nur systematisch politische, sondern geradezu realistische Wesenzüge aufweist, so daß man sie im streng wissenschaftlichen Sinne <theoretisch> nennen kann. Eben in diesem Sinne ist sie ein Reformprogramm, das schon deshalb jedes Extrem vermeidet, weil sein Verfasser aus dem tätigen Leben des Politikers heraus schrieb und nicht aus der ohnmächtigen Auflehnung des Entrechteten wie Campanella oder der resignierten Kritik des Ausgeschalteten wie Bacon. Es ist deshalb beinahe tragisch zu nennen, daß auch More die Spannung zwischen Illusion und Kalkül nicht zu überbrücken vermochte, daß der realpolitische Reformer an der Irrationalität der Wirklichkeit scheiterte, nicht etwa nur, weil seine Zeit oder sein König ihn nicht verstehen wollten, sondern einfach deshalb, weil die Vernunft nur ein seltener Gast auf dieser Erde ist, der sich zudem immer dann flüchtet, wenn es zu laut und zu gewaltsam hergeht — auch in England.

Wie bei Campanella am Anfang und Ende jeder Überlegung die ideale Gemeinschaft, so steht bei Bacon als Ursprung und Ziel aller möglichen Vollendung das vollkommene Individuum, dessen körperliche Integrität die Voraussetzung für seine geistige Leistung ist und daher mit Vorsicht und Sorgfalt gesichert wird. In der patriarchalischen Kraft des Wissens, das Überlegenheit und Macht über Menschen und Dinge verleiht, beruht die Gewißheit, daß das Programm, das zwar im Augenblick noch utopisch ist und sich daher in das äußere Gewand einer Utopie hüllt, ohne Vergewaltigung der menschlichen Natur allein durch die überzeugende Gewalt der Erkenntnis tatsächlicher Möglichkeiten verwirklicht werden kann. So ergibt sich die merkwürdig paradoxe Tatsache, daß diejenige der drei Utopien, die sich in das märchenhafteste Gewand gehüllt hat und zudem nicht einmal vollendet ist, die stärkste Überzeugungskraft besitzt.

Der Theorie ist der leidenschaftliche Drang nach geistiger Beherrschung der geschaffenen Dinge und Wesen eigen, während die Utopie das scheinbar phantastische Bild des Unwirklichen als möglich darstellen will. 

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    25  Utopie und Erfahrung   

 

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Utopisch heißt also keineswegs unmöglich, sondern eben nur unwirklich, also noch nicht oder nicht mehr möglich. 

Als Lebenshaltung ließe sich der <Utopismus> vielleicht am treffendsten mit dem fichteschen Ausdruck der vernünftigen Triebhaftigkeit, «der unbedingten Herrschaft der Vernunft durch den Instinkt» bezeichnen, schon deshalb, weil Vernunft und Instinkt im Menschen in dauerndem Streit liegen und ihre Gleichsetzung oder bewußte Gleichschaltung <utopisch> ist. 

Aber gerade deshalb kommt man bei genauerer Betrachtung des praktischen Lebens mit den skeptischen Augen des Raphael Hythlodeus zu dem paradoxen Schluß, daß die Utopie eben darum einen verhältnis­mäßigen Wirklichkeits­vorrang vor der Theorie hat, weil die Leidenschaften, wie es sich sogar in der <Utopia> zeigt, stärker sind als die Vernunft. 

Insofern geht jede Utopie von der Erfahrung aus, daß es nicht so ist, wie es sein könnte.

Von Natur aus hat aber jedes Wesen das Bestreben, so zu sein, wie es sein kann. In dieser angeborenen <Richtung> liegt, theoretisch und praktisch, das Maß und der Maßstab, das Recht und die Gerechtigkeit: das Gewissen als dauernde Berichtigung, als Richtmaß und Richtschnur jedes Verhaltens.

Wenn man überhaupt an eine vorgesetzte Form, ein Formprinzip, eine Bestimmung des Menschen glaubt — und es hält schwer, eine andere Ansicht zu vertreten, wenn man die menschlich erkennbare Gesetz­mäßigkeit der Natur überschaut —, so muß man auch die Existenz eines gemeinmenschlichen und somit auch die eines staatlichen Formprinzips als organischer Zweckursache annehmen. Dieses kann vernünftigerweise nicht das gleiche sein wie das der Ameisen- und Bienenvölker (Hobbes), da jedem einzelnen Menschen ja die Möglichkeit gegeben ist, sich für oder gegen den Instinkt zu entscheiden. Es kann daher nur unter Anerkennung dieser Entscheidungsfreiheit, die Vernunft und Willen zu gleichen Teilen enthält, und nicht nur mit dem Verstand allein, sondern auch mit den Kräften der Seele angegangen werden.

Die Theorie aber, aus der Leidenschaft des abstrakten Verstandes geboren, kann tatsächlich nur, wie Antäus in Verbindung mit der mütterlichen Erde, im Zusammenhang mit der Erfahrung ihre organische Berechtigung erweisen — hierin ist der unermüdliche Experimentator Bacon ein echter Theoretiker, der unbedenkliche Forderer Campanella ein phantastischer Utopist —, die Utopie nur in Verbindung mit dem Leben der Gemeinschaft, «mit ihrer Mutter, mit dem Volke» (Stalin).

Das heißt nun nicht, daß die praktische Anwendbarkeit einer Theorie allein über ihren endlichen Wert entscheidet, sondern daß sie von wirklichen Möglichkeiten ausgehen muß, um nicht utopisch zu werden, während die Utopie eben nach möglichen Wirklichkeiten sucht.

Wenn es schon nicht ohne eine klassifizierende Begriffsbildung abgeht, so könnte man die geistige Grundlage der Theorie als kritischen Realismus, die der Utopie als sozialen Idealismus bezeichnen und hätte damit gleichzeitig Gradmesser für ihre Echtheit; es wäre aufschlußreich, dabei zu beobachten, wie die Theorie Campanellas in dieser Sicht tatsächlich <utopisch>, die Utopie Mores tatsächlich <theoretisch> erscheint.

Man wird unter solchen Gesichtspunkten aber auch beiden, der Utopie wie der Theorie, auch ohne die (individuelle) Vernunft als eine immer und unter jeder Bedingung segensreiche «Erfindung» der Griechen, als «Retterin» oder «Tyrannin» der Menschheit (Nietzsche) abzulehnen oder zu verherrlichen, die Berechtigung zugestehen müssen, weitab von überheblicher Besserwisserei, auch und besonders insofern es sich um Kritik von Zuständen oder fremden Reformplänen handelt, vernünftige Vorschläge zu einer vorteilhafteren Gestaltung des Zusammenlebens der Menschen zu machen. Allerdings: «man kann auf den Sinai steigen und dort in den Wolken weilen, um auf eine Eingebung zu warten; aber man muß dann auch mit Gesetzestafeln in der Hand herunterkommen». (Reybaud) Das bedeutet nichts anderes, als daß die Welt eine Leistung sehen will.

Eine solche Leistung in literarischem Gewande eines <Staatsromans> kann mehr sein als der Ausdruck einer Welt- und Lebensanschauung, mehr als Illustration oder Bildschmuck inmitten eines schier undurch­dringlichen Gewirrs trockener Lehrmeinungen — mehr und weniger, nämlich der unzweideutige Hinweis darauf, wie es sein könnte, wenn...

Solcher Hinweise aber finden sich nicht nur in den Bildern der Utopia, sondern auch der Neu-Atlantis und sogar des Sonnenstaats genug und übergenug. Dabei sind es trotz mancher Mängel immer wieder Bilder von Format: die einen voll südlicher Farbenpracht, die andern von nordischer Klarheit

Wie diese der Ausdruck kühler Überlegung sind, die das Wissen als den Weg zur Wahrheit erkannt hat, so jene der Ausbruch der leidenschaftlichen Erregung, die angesichts der natürlichen Gegensätze der menschlichen Strebungen Partei ergreift und in <Campanellas Sonett> ihren Ausdruck findet:

Drei Übel zu bestehn, bin ich geboren: 
Tyrannenmacht, Verdrehung, Heuchelei. 
Ich habe mir zum Beistand frank und frei 
die Liebe, Macht und Weisheit auserkoren.

Sie hab' ich aus der Nacht hervorbeschworen, 
die Pfeiler aller Leistung, diese drei 
Heilmittel gegen jede Lügnerei, 
darin die Erde knirschend sich verloren. 

Krieg, Pest und Neid und Lüge, Teuerungen, 
Verschwendung, Trägheit, Ungerechtigkeit 
sind den drei Übeln allerorts entsprungen;
die Eigenliebe zeugt sie allezeit,
sie, die geboren aus Unwissenheit
und die zu zwingen mir allein gelungen. 

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Ende

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