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2. Oktober 2000 

Guha-1993

 

 

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Mit Beginn des Frühlings haben Australien und Neuseeland ihre Verbote verschärft, sich während der Mittagsstunden für längere Zeit der prallen Mittagssonne auszusetzen. Die Krebskliniken können den »Patientenanfall« mit Hautkrebs nicht mehr bewältigen. Die Krankenkassen und Versicherungen verweigern mit dem Segen der Regierungen die Ersatzpflicht bei Zuwiderhandeln. Arbeit im Freien wird in der Mittagszeit eingeschränkt. 

Es sieht schlimm aus für die südliche Halbkugel. Experten warnen: Mit dem Verschwinden der antarktischen Nacht wird unter der verstärkten Sonneneinstrahlung ein riesiges Loch in der Ozonhülle entstehen, direkt über Australien und Neuseeland. Befürchtet wird ein langanhaltendes Tiersterben. Die freilebende Fauna hat langfristig keine Überlebenschance. Und das Pflanzenwachstum wird sich um ein Drittel verringern.

Geht es wirklich um Schuld? Oder nicht doch lediglich der Vollzug eines unabänderlichen Gesetzes der Evolution: Was sich nicht anpaßt, wird ausgemerzt? Also doch eine griechische Tragödie: unausweichliches, unvermeidbares Verhängnis, für das der Mensch nicht verantwortlich ist. Dann aber sollten diejenigen aus Barmherzigkeit schweigen, die es besser wußten, die Warner und Mahner. Denn schon ein einziger Vernünftiger verkörpert zugleich die Möglichkeit der kollektiven Vernunft.

Dann aber doch Schuld und keine bequeme, letztlich irgendwie beruhigende griechische Tragödie? Es hätte nicht sein müssen, ihr hättet wissen können, was ihr tatet. Ihr hättet umkehren können!

Pech für die Australier, daß noch 20 Millionen Tonnen FCKW und Halone unterwegs sind in die Stratosphäre – und zwar noch 70 oder 90 Jahre lang. Sie werden das tödliche Chlormonoxid bilden. Da nutzt auch das Sonnenbad-Verbot nichts. Aus Millionen Kühlschränken und Klima-Anlagen quillt das Gift. 

Der König Midas mußte einst, um nicht zu verhungern, ein Läuterungsbad nehmen, weil ihm alles zu Gold wurde, was er anfaßte. Was wir anfassen, wird zu Gift. Nur steht uns kein Läuterungsbad zur Verfügung.

 

4. Oktober 2000

Dringlichkeitsantrag Australiens und Neuseelands in den Vereinten Nationen, den Reisanbau einzuschränken zugunsten der Getreidekultur. Offenkundig eine Panikreaktion, wenngleich eine verständliche. Der Ozonabbau werde rapide beschleunigt durch das Methan, das aus den unendlichen Reis-Sümpfen Asiens aufsteigt. Millionen von Tonnen. Canberra erklärt sich gleichzeitig bereit, den Viehbestand um die Hälfte zu reduzieren, um die Methan-Emission entsprechend zu verringern. Obwohl dadurch die Existenz zahlloser Farmer ruiniert werde, sei die Regierung zu dieser drastischen Maßnahme entschlossen, weil andernfalls das Überleben auf der südlichen Erdhalbkugel auf dem Spiel stehe, wobei es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Ozonausdünnung über dem Nordpol auch für Europa die Existenzfrage aufwerfe.

Die bedauernswerten Australier: Es ist richtig, daß aus den Reisfeldern jährlich 130 Millionen Tonnen Methan aufsteigen und daß dieses Gas zwanzigmal zerstörerischer ist als CO2 – aber wovon sollen sich die Milliarden Asiaten ernähren? Läßt sich eine jahrtausendelange Ernährungskultur in wenigen Jahren ändern? Wie soll in den Sumpfgebieten, wo eben nur Reis wächst, Getreide angebaut werden? Aussichtslos.

Doch der Aufschrei der Australier hallt bis nach Europa, aber dort ist es still. Aus den Müllkippen der Industriestaaten quillt soviel Methan wie aus den Reisfeldern Indiens und Chinas zusammen.

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Das Freiburger Öko-Institut weist darauf hin, daß sich der Methangehalt in der Atmosphäre von 0,4 ppm auf 1,9 ppm erhöht habe. Das signalisiert eine Katastrophe. Das Problem der Australier und Neuseeländer ist also auch unseres, aber dennoch harmlos, wenn man die Perspektiven bedenkt: Sollten große Teile der Permafrost-Böden in Rußland und Kanada auftauen, würden Milliarden, wenn nicht Billionen Tonnen Methangas freigesetzt. Und genau dies geschieht bereits.

 

Wieder diese Fatalität: Mit Reis assoziiert man Leben und Überleben, mit Vieh Wohlstand. Pecus, das Vieh, pecunia, das Geld. Aber da ist das Kohr'sche Gesetz: Unaufhörliches Wachstum ist Wucherung, ist Krebs und führt zum Erstickungstod. In der Natur gibt es nur Systeme mit negativer Rückkoppelung, von den Galaxien bis zu den Quanten. Das ist ein Naturgesetz, das alles im Gleichgewicht hält. Was dagegen verstößt, muß sterben, wie die Dinosaurier. Was sich daran hält, überlebt, wie der Ameisenbär, obwohl er nichts dafür kann. Der Ameisenbär hätte sicher gerne eine dickere Haut, damit er die Termiten ungestört auffressen könnte. Und könnte er handeln wie ein Mensch, hätte er sich längst eine dicke Haut zugelegt. So aber hat die Evolution für ihn gedacht und sie ihm verweigert – und ihn dadurch gerettet. Denn er kann nur ein Zehntel eines Termitenbaus zerstören, dann muß er das Weite suchen, weil er zerstochen ist. Hätte er Verstand wie ein Mensch und könnte er sich Apparate schaffen, hätte er seine Existenzbasis aufgefressen, und es gäbe ihn nicht mehr. Das Problem der Freiheit zeigt sich als Exempel beim Ameisenbären.

Weil er unfrei ist, überlebt er, die Evolution sorgt für ihn. Teilt ihm das Maß seiner Freiheit zu. Weil der Mensch frei ist, mehr zu fressen, als er braucht und verträgt, muß er – verschwinden? Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit, sagt Karl Marx.

Alle vom Menschen geschaffenen Systeme haben eine positive Rückkoppelung: Wachstum, Wucherung, Fortschritt. Es ist der menschliche Verstand, der gegen das Naturgesetz verstößt. Ein Geschwür. Zwanghaft. Unfreiheit.

Mein Muttermal am Unterschenkel scheint sich zu verändern. Jetzt in der Größe eines Fünf-Pfennig-Stücks. Ausgefaserte Ränder, es näßt. Morgen zum Arzt.

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5. OKTOBER 2000

Der Umweltschutzbericht der Bundesregierung strotzt wieder von Erfolgsmeldungen. Wieder wurden opfervolle Siege im Kampf gegen die Zerstörung der Natur errungen. Und die Regierung sieht sich in vorderster Front, reißt Europa mit. Die Siegesmeldungen erinnern mich an die Wehrmachtsberichte aus dem Zweiten Weltkrieg. Anfangs wurden die offensiven Siege bejubelt, später dann, ab Stalingrad, die defensiven. Am Ende gab es nur erfolgreiche Niederlagen, denn es hätte ja noch schlimmer kommen können. Der Eindruck verstärkt sich, als befänden wir uns im Kampf um die Natur in einer Post-Stalingrad-Phase. Lauter Rückzugs- und Abwehrerfolge. Vorwärts Kameraden, wir müssen zurück!

Aber wer ist denn der Feind? Das sind wir selbst. Also kämpfen wir gegen uns selbst und rühmen uns der erfolgreichen Niederlagen, die wir uns bereiten. Daher können wir ja gar nicht verlieren, wir siegen immer, so oder so.

Der Umweltminister will jetzt doch neue Überlegungen anstellen, ob der Erhalt der Natur als Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen werden soll — das Wort Natur kommt im Grundgesetz überhaupt nicht vor! Eventuell will Berlin einen Vorstoß Dänemarks für die ganze EG unterstützen. Eine 15 Jahre alte Forderung. Aber jetzt wird es ihnen offenbar ernst.

Jahrtausendelang hat der Mensch in die Natur und ins übersinnliche Jenseits gelauscht, um Fingerzeige der Überirdischen zu erhalten, damit er sich orientieren könne. Orakel, Propheten, Seher, Wahrsager, Opferdeuter, Priester waren um Auskunft bemüht. Die Kosmogonien, Mythen, Kulte, Riten, Religionen und Gebete — was sind sie anderes als der Versuch, die unbegriffene Natur zu deuten? Die Natur war furchterregend, gewaltig und übermächtig, grausam und unerbittlich, dennoch hielt sie alles Lebendige und nährte es, auch den werdenden, begreifenden Menschen.

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Die Menschwerdung vollzog sich unter dem Druck der Angst. Um diese Angst zu mildern, erfand der Mensch die Götter und Geister, Engel und Teufel, er personifizierte das Unbegreifliche. Denn mit Göttern und Geistern ließ sich kommunizieren, selbst mit dem Teufel. Sie stellten Forderungen und gaben Antworten, nach denen man sich richten konnte.

Das mag zwar nicht das Paradies gewesen sein, aber der Sündenfall setzte ein, als sich der Mensch seiner selbst als Herrscher über die Natur bewußt wurde und die Schöpfung als eine Vielzahl von Objekten wahrzunehmen begann. Seit einem halben Jahrhundert sendet die Natur Signale aus, daß sie drauf und dran sei, zu erkranken. Sie warnt uns, daß es mit ihrer Geduld zu Ende gehe, denn ihre Krankheit wäre unser Untergang. Um uns den Ernst der Lage vor Augen zu führen, opferte sie zunächst Unschuldige — sie ließ es zu, daß wir 120.000 Tier- und Pflanzenarten ausrotteten. Sie ließ die Welt ärmer werden. Sie nahm es hin, daß wir die Seen und Flüsse erstickten, dann ganze Meere erdrosselten, die Wälder vergifteten. Sie zog ihre Gletscher zurück, ließ die Meere steigen, schickte uns Orkane und Sturmfluten.

Und alle diese Warnungen, die unsere Altvorderen entsetzt hätten, schlugen wir in den Wind.

Es ist, als wollten wir unsere Ur-Ahnen an der Natur rächen für die Jahrmillionen unaufhörlich erlittene Angst vor ihr und ihren Erscheinungen. Wir haben der Natur unsere Zivilisation entgegengestellt. Unsere zweite Natur ist die eigentliche geworden. Und die hat allemal Vorrang, mit ihren Sachzwängen und Unabweisbarkeiten. Eine gigantische Maschine, die man mit Natur füttert und die uns vorgaukelt, man könne sie reparieren, wenn Defekte sichtbar werden. Sie läßt sich nicht mehr reparieren. Die Industrie­zivilisation ist auch keine Maschine, sondern ein waberndes und wucherndes Netz, ein unaufhörlich wachsender Regelkreislauf mit ausschließlich positiver Rückkoppelung. Nur — die ökologischen Sachzwänge werden sich als die stärkeren erweisen, trotz der vielen Opfer, die die Natur uns zuliebe bereits gebracht hat, um uns aufzuwecken. Sie braucht uns nicht, aber wir brauchen sie.

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Im Fernsehen haben sie jahrelang diese schöne, wahre Banalität unters Volk zu bringen versucht, als Motto stand sie unzähligen Büchern und Sonntagsreden voran, niemand, der es bezweifelt hätte: »Die Natur braucht uns nicht, aber wir — brauchen die Natur.«

Die »Primitiven« haben die Natur verstanden, weil sie ihr noch nicht entfremdet waren. Die Weisheit des Primitiven. Wir dagegen haben alles gemessen, gewogen und berechnet, in Kubikkilometern und parts per billion, die Substanzen analysiert und die Teile zergliedert und katalogisiert, die Fäden aus den Zusammenhängen gezogen und die Prämissen formuliert. Die Natur gab die Geheimnisse ihrer Details preis und offenbarte ihre Wunder — aber wir haben sie in ihrer Ganzheit nicht begriffen. Das Staunen blieb aus, sie blieb uns fremd. Wissen statt Weisheit, Kenntnisse statt Erkenntnis, das ist der Rückschritt des Fortschritts. Die Ausplünderung der eigenen Existenz und die Beraubung unserer Lebensgrundlagen. Ein wütender Masochismus, der gegenüber unseren Kindern und Enkeln zum Sadismus wird.

 

An jeder Universität gibt es heute einen Lehrstuhl für Ethik: Ethik von Wissenschaft und Technik, Ethik der Politik, Ethik der Wirtschaft. Ethik und Umwelt. Eine öffentlich-institutionalisierte Kompensation für Schuld und schlechtes Gewissen. Aber um welche Ethik geht es? Verhalten war immer diktiert, Gut und Böse wurde den Leuten eingebleut. Das Ich des Individuums blieb schwach, die moralischen Autoritäten setzten auf das Über-Ich, das ihnen die Herrschaft über den einzelnen und über die Massen sicherte. Immer nur partikulare Ethiken, Teilwahrheiten, aber leider mit universalem Anspruch.

Ethisch ist, was der heiligen Mutter Kirche frommt. Moralisch ist, was dem Vaterlande dient, was die Wissenschaft voranbringt. Ethisch ist, was der Wirtschaft nutzt. Und immer waren es wenige, die eine Ethik formuliert — und durchgesetzt haben. Eine solche Ethik will Verhaltenskontrolle durch Schuldgefühle, ist also eine sublime Form von Fremdbestimmung und Unterdrückung. Am wirksamsten sind die ethischen und moralischen Normen, wenn man sie schon als Kind wie mit der Muttermilch einsaugt und verinnerlicht, damit sie als verselbständigter Befehlsgeber, als Über-Ich, fungieren.

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Ethik und Moral herrschen dann durch Angst und entfremden den Menschen von seinen natürlichen Wünschen und Bedürfnissen, indem sie diese als schlecht denunzieren. Selbstunterdrückung durch Ethik und Moral bringt den sadistischen, autoritären und autoritätshörigen Typus hervor, der heute gebraucht wird. Und der weiß das nicht einmal.

Die Teil-Ethiken des Abendlandes haben immer das Leben gering geachtet.

Wirtschaftsethik? Gut ist, was dem Betrieb nutzt, Kosten spart, den Gewinn mehrt, Wachstum garantiert, die Wettbewerbs­fähigkeit verbessert, billige Ressourcen verbraucht, Luft, Wasser, Boden, Wälder, Tiere, Menschen. Das ethische Dilemma, kirchlich und moralisch gesegnet: Die Wirtschaftsethik fragt nicht nach den Folgen, wenn die Bilanzen stimmen und der Wohlstand blüht. Ausweglos. Dabei bestimmen letztlich die Produktionsverhältnisse die ethischen Voraussetzungen: In Zeiten der Not herrscht strenge Moral, in Zeiten des Wohlstands stellt sich Libertinage ein. Konsum und Verbrauch als gesellschaftliche Pflicht dulden keine Askese, nicht einmal Selbstbeschränkung. Nicht einmal Selbstreflexion und Nachdenken. Die Entfesselung der Industriezivilisation hat alles verändert, mit Ausnahme des menschlichen Denkens.

Moral und Ethik werden niemals in der Lage sein, zum Erhalt der Schöpfung beizutragen. Und damit zum Erhalt des Menschen. Ebenso wenig wie man Frieden machen kann, kann man Umweltschutz machen. Wir wissen ja, daß und weshalb wir die Umwelt schützen sollen und müssen. Wir kennen das universale Gebot, aber wir befolgen es nicht — und werden es solange nicht befolgen, solange wir — wie Kant — die ethische Frage stellen: »Was sollen wir tun?« Statt dessen die Verstehensfrage: »Wer sind wir? Warum handeln wir so? Warum haben wir Angst, warum unterdrücken wir uns selbst?« Die Verstehensfrage erst böte die Chance eines ersten Schrittes, zu einer Aussöhnung des Menschen mit sich selbst und der Natur zu gelangen. Ethik ist ein Ergebnis des Mißtrauens des Menschen gegen sich selbst. Verstehen fördert Vertrauen.

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Es kann kein ethisches Postulat geben, die Natur um ihrer selbst willen zu schützen, weil jede Ethik als Ergebnis der anthropozentrischen Kulturentwicklung des christlichen Abendlandes damit überfordert wäre. Keine Ethik kann Menschen, die um ihre Existenz kämpfen, die Plünderung der letzten Ressourcen verbieten, um ihr Dasein zu sichern. Aber sie verbietet ja nicht einmal den Raubbau an der Natur, um Wachstums­raten und Profite für Reiche zu sichern, die schon im Überfluß leben, weil sie den fatalen Sachzwang nicht beseitigen kann: Ohne ständiges Wachstum bräche unser Wirtschaftssystem — und damit wahrscheinlich unser Gesellschaftssystem — zusammen.

Hier läge die große Chance der Religion, allerdings nur, wenn sie sich von ihren ethischen Postulaten befreite und den Menschen so annähme, wie er ist, ohne die ständige Versuchung, Schuld und Angst zu wecken und ihn mit Strafen zu bedrohen. Wenn sie ihn also verstehen lernte als Teil der Schöpfung, nicht als deren Beherrscher. Angstfrei leben in und mit der Natur, nicht gegen sie. Christus hat den Hinweis gegeben, dessen Symbolik stets falsch gedeutet worden ist:

Sehet die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde, sie ernten nicht, sie säen nicht, und Gott der Herr ernähret sie doch.

Aber Immanuel Kant, an dem keiner vorbeikommt, wenn von Ethik die Rede ist? Auch er löst das Dilemma nicht. Wenn sittliches, also vernünftiges Handeln nur dann autonom ist, weil ich das Sittengesetz selber will und verinnerlicht habe, so taucht das Problem des Über-Ich auf, das der Königsberger natürlich nicht kannte. Jedes rigide Über-Ich gibt dem Individuum die Gewißheit, die Normen nicht als fremde verinnerlicht zu haben, sondern sie aus Gründen der praktischen Vernunft selber zu wollen. Und es handelt so, wie es der Kategorische Imperativ befiehlt, als ob die Maxime seiner Handlungen durch seinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte. Auch wenn Kant die praktische Vernunft als Absicht und Gabe der Natur definiert, hilft das nicht weiter. Das Tun des Guten ist zum geringsten Teil ein unmittelbarer Akt der Vernunft und des Willens, zu dem jeder Mensch fähig wäre, sondern sehr viel intensiver ein Ergebnis des Sozialisationsprozesses insgesamt. Erst dieser entscheidet über die Stärke des Ich und über die Fähigkeit des Individuums, autonom zu handeln.

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Konrad Lorenz hat es einfacher und einleuchtender ausgedrückt: Alles, was der Arterhaltung dient, ist vernünftig, daher auch gut, denn dann muß es auch mit der Umwelt in Einklang stehen. Da der Mensch seine Art gefährdet, handelt er unvernünftig, also böse, weil nicht im Einklang mit der Natur stehend. Die Grundprämissen der Ethik ergeben sich also daraus, ob ein Verhalten im Einklang mit der Natur steht oder nicht. Eine solche Ethik wäre objektivierbar.

Der Umweltschutzbericht der Bundesregierung ist nur ein weiteres Dokument für die Entfremdung des Menschen von seiner inneren und äußeren Natur. Als wäre die »Umwelt« keine Mitwelt, als wäre sie um des Menschen willen da als Zweck, seine Existenz zu garantieren, möglichst komfortabel, airconditioned. Ein Dokument für die Überforderung der Politik und ihrer Ratgeber.

Solange sie Boden, Luft, Wasser, Pflanzen und Tiere als Produktionsfaktoren begreifen, die um der Existenzsicherung des Menschen willen geschützt werden müssen, wird das Elend fortbestehen, weil es nicht verstanden wird. Alle Philosophie, alle Psychologie, alle Anthropologie erweisen sich, auch wenn sie sich gutgemeint in den Dienst des Umweltschutzes stellen, letztlich nur als irrige Spekulationen, als Selbsttäuschung und primitiver Narzißmus, sofern sie den Menschen in den Mittelpunkt stellen und die gesamte Schöpfung als auf ihn hin ausgerichtet deuten. Diese Grundprämisse ist falsch: Wir sind nicht die Krone der Schöpfung, sondern ihr größtes Problem. Die Natur ist nicht zu unserem Zweck geschaffen worden, sondern wir sind ein Ergebnis der Natur und ihrer evolutionären Entwicklung. Auch der Mensch hat keinen Zweck, außer dem, zu existieren. Die Vertreibung aus dem Paradies hat erst jetzt begonnen!

 

7. OKTOBER 2000

Gestern stellten die Stadtwerke die Trinkwasseraufbereitung ein. Die Belastung des Grundwassers mit Schwermetallen nimmt alarmierende Ausmaße an. Auch die Frankfurter wissen sich bald nicht mehr zu helfen.

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Die Überschwemmungen der letzten Jahre hätten die Chemikalien ins Grundwasser gespült. Ich bezweifle das. Die Verseuchung ist Folge der unzähligen Altlasten. Die Sünden der Väter beginnen, die nachfolgenden Generationen heimzusuchen. Schätzungsweise 200.000 Müllkippen gibt es in diesem kleinen Deutschland, eine auf 1,5 Quadratkilometer. Die meisten kennt man gar nicht mehr, viele stammen noch aus dem vorigen Jahrhundert. Sogar das Mineral­wasser wird zusehends »belastet«, also giftiger.

Meine Kindheit im Bayerischen Wald: sich noch einmal müde und durstig über eine Quelle beugen und kristallenes, köstliches, kaltes Wasser in vollen Zügen trinken. Vorbei.

Was jetzt? Woher soll Wiesbaden Wasser nehmen? Die Weltkurstadt, die ihren Ruf der Heilkraft des Wassers verdankt, muß die Hähne abdrehen und Wasser kaufen.

Ich stelle mir vor, die Bewohner eines Hauses würden sich so benehmen wie die Menschen gegenüber der Natur. Überall Gift, Unrat, Müll, stickige Luft. Die Katze und der Kanarienvogel verendet, im Garten Pflanzen und Sträucher verdorrt, die Kinder bereits krank. Die Behörden würden das Domizil schließen und die Bewohner in die Irrenanstalt einweisen.

 

8. OKTOBER 2000

Die Redaktionsleitung entschließt sich, die Seite »Auto-Motor-Sport« einzustellen. Die Wirtschafts­redaktion erklärt sich für überfordert, andere Kriterien für die Bonität eines Unternehmens zu entwickeln als die der Effizienz: Wachstum, Gewinn, Kosteneinsparung, Rationalisierung, Wettbewerbsfähigkeit. Die Widersprüche sind unlösbar.

Der größte Widerspruch: das Bildungssystem. Je effektiver es gestaltet wird, je höher die Qualifikation der Schul- und Studienabgänger, desto intensiver und irreversibler die Zerstörung der Natur. Wissen statt Weisheit, Kenntnisse statt Erkenntnis. Datenbänke statt Bildung.

Die Kinder »wissen« noch um diese Zusammenhänge. Im Kindergarten malten sie das Thema »Wir und die Natur«.

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Erschütternd. Andreas malte einen großen, schwarzen Mann — wohl seinen Vater — , der aus dem Fenster nach der Sonne greift. Unter dem Fenster das Geäst eines toten Baumes.

Wir werden den Kindern mit Erfolg beibringen, ihre Weisheit im Laufe der Jahre zu vergessen und gegen Wissen einzutauschen.

 

10. OKTOBER 2000

Krisensitzung in der Redaktion mit der Verlagsleitung. Die Auflage der FR sinkt dramatisch. Die Auswertung von Leserumfragen scheint klar zu belegen, daß unsere Entscheidung, dem Umweltschutz Vorrang einzuräumen, nicht angenommen wird. Die »Katastrophenberichte« und »Krisenkommentierung« überfordern den Leser offenbar und gehen ihm an die Nerven, obwohl sie lediglich die Realität wiedergeben, allerdings ungeschminkt. Doch damit geben wir vielen Lesern keine Chance mehr zu verdrängen. Die Sehnsucht nach der heilen Welt ist von der Redaktion unterschätzt worden. Die Freude am unbeschwerten Genuß der produzierten Güter bestimmt alle Fragen der Ethik und der Psychologie.

Vor allem haben wir gegen ein Grundprinzip erfolgreichen Zeitungsmachens verstoßen: Wir haben den Lesern kein Feindbild mitgeliefert und uns selbst nicht als allwissende Vorkämpfer zur Identifikation angeboten. Der Versuch, komplexe und vernetzte Regelkreisläufe zu vermitteln, in denen Wirkungen und Ursachen identisch sind, übersteigt das Verständnis der meisten Menschen. 

Für die Zerstörung der Umwelt sind nicht Politiker oder Unternehmer verantwortlich, sondern das ganze gesellschaftlich-industrielle System. Die agierenden Figuren sind nur Vollstrecker der Sachzwänge des Systems. Das wird von ihnen erwartet, danach bemißt sich ihre Leistung. Dieses System aber versteht längst niemand mehr — Galbraith, Forrester, von Hayek. 

Aber jeder ist ein Teil dieses Systems und insofern verantwortlich: der Autofahrer, der Stromverbraucher, der Konsument, Arbeitnehmer und Unternehmer, Gewerkschaften und Parteien. Alle, die immer besser leben wollen und Druck auf die »Verantwortlichen« ausüben, damit sie dafür sorgen. Alle, die Wachstum für unverzichtbar halten. Und das sind alle.

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An unserer sinkenden Auflage bewahrheitet sich die These, daß die Realitätswahrnehmung des Menschen eine begrenzte ist. Sie taugt nur dafür, lineare Ursachenketten zu erkennen, aber keine Regelkreisläufe. Diese Begrenzung reichte in vorzivilisatorischer Zeit aus, um sich zurechtzufinden. In komplexen Industriegesellschaften erweist sie sich als schweres Defizit, das zu unserer Misere beiträgt. Die Evolution hatte aber noch keine Zeit, dieses Defizit auszugleichen. 10.000 Jahre sind zu kurz, die Kultur­entwicklung ist ihr davongerast. Nur mit bewußter Reflexion und intellektueller Anstrengung ließe sich das Defizit ausgleichen. Dann aber stellt sich Ratlosigkeit ein, denn Denken bereitet Unlust (Freud). Die Systeme sind zu kompliziert.

Von einer Zeitung, einer kritischen zumal, wird erwartet, daß sie weiß, wo es lang geht, daß sie die Lösungen kennt. Sie muß energisch auf diejenigen zeigen können, die das letzte Wort haben. Videant consules..., sollen die Verantwortlichen dafür sorgen. Dann sind die anderen entschuldigt, obwohl sie ebenfalls Teil des Systems sind.

 

Der Fall Meißner-AG: Wer war schuld an der katastrophalen Vergiftung des Mains im August? Die Prügel bekam der Schichtführer der Nachtschicht, der die Brühe in den Main leitete. Unsere Recherchen ergaben: Der Schichtführer kannte die chemische Zusammensetzung und die Gefährlichkeit der Substanz nicht genau. Der Abteilungsleiter hatte zu undeutliche Anweisungen gegeben. Der Vorstand konnte sich noch nicht auf ein Konzept für eine vollbiologische Kläranlage einigen, der Aufsichtsrat ist zu gleichgültig, obwohl er die Prioritäten beeinflußt; in- und ausländische Konkurrenz setzt der Firma Hoechst schwer zu, die Stadt verzögerte bislang den Verkauf eines Grundstückes für die Kläranlage, die Banken haben Bedenken wegen der Rentabilität, die Bundesregierung erschwert Entsorgung des anfallenden Giftmülls, verbietet aber das Produkt nicht, weil es angeblich unverzichtbar ist, die Nachfrage der Kunden ist groß; die Landesregierung hat noch keinen Standort für eine Müllverbrennungsanlage finden können;

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gegen die aber die Grünen und alle Umweltschutz-Organisationen protestieren, weil die Technik nicht ausgereift sei und giftige Rückstände in die Luft gelangen; der Hoechst-Betriebsrat weigert sich, einer Produktionseinstellung zuzustimmen — wegen der Arbeitsplätze.

Am Ende wurde der Schichtführer gehängt, das letzte Glied der vermeintlichen Ursachenkette, die in Wirklichkeit ein Regelkreislauf ist, der unser ganzes System umfaßt, sogar über die Europäische Gemeinschaft hinaus.

Die Redaktion weiß nicht, wie es weitergehen soll. Lineares — unzulängliches — Ursachendenken versus realitätsgerechtes Systemverständnis, Vereinfachung versus komplexe Vernetzung, falsch versus richtig. — Seit jeher das Problem des Journalismus. Je anspruchsvoller er war, desto weniger Erfolg war ihm beschieden. Und anspruchsvoll war er selten genug.

Sollen wir wieder zurückkehren zum einfachen und vereinfachenden Kausalitätsprinzip? Klare Ursache, klares Feindbild? Das wäre nur Selbsttäuschung.

 

14. OKTOBER 2000

EU-Kommission legt Untersuchungsbericht vor, eine Art Fazit von 170 Jahren Industriezivilisation: Alle Kunstwerke im Freien weitgehend zerstört. In Deutschland die Portale der meisten Dome und Kirchen nicht mehr zu retten. Burgen und Schlösser verwittern »mit dem Zeitfaktor 10«, also zehnmal schneller. Stonehenge wird unter Plexiglas gestellt, die Akropolis soll überdacht werden. Das Forum Romanum zerfällt zu einem Steinhaufen. Der Konstantinsbogen, der Titusbogen, das Ende nach 2000 Jahren. Olympia, Delphi, Ephesus, Baalbek. Diese rapide Verarmung, dieser Ausverkauf.

 

17. OKTOBER 2000

Andreas schwer erkrankt. Erbrechen, Fieber, eine böse Allergie. Der Arzt steht vor einem Rätsel. Schwacher Trost, daß die Allergien grassieren. Der menschliche Organismus protestiert gegen die eigene künstliche Umwelt. Die paradoxeste Form der Schizophrenie.

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Jetzt erst, da die Badesaison vorbei ist, werden die Strände an Nord- und Ostsee geschlossen. Das Baden ist hiermit offiziell verboten. Salmonellen, Bakterien, Viren. Was denken sich die Leute eigentlich? Eine Frechheit! 

Ich wette, sie haben den Sommer über sehr genau gewußt, daß das Baden lebensgefährlich geworden ist und die letzte Saison bevorsteht. Es war überdies allgemein bekannt. Die Nordsee ist seit Jahren eine giftige Kloake. Nur: Solange keine behördliche Äußerung vorliegt, liegt auch kein Problem vor. Denken die Leute. Eine seltsame Herdenmentalität. Augenscheinlich eine Form der Resignation. Irgend jemand wird's schon richten.

Die Ostsee ist tot, und wir werden ihre Regeneration nicht mehr erleben. Polen und Balten, auch die Russen haben kein Geld für Umweltschutz, das Hemd sitzt ihnen näher als der Rock, die übliche Selbsttäuschung. Die jeweilige politische Führung muß für einen höheren Lebensstandard sorgen, das wird von ihr erwartet, in dieser Verantwortung steht sie. Die tote Ostsee ist also das Ergebnis einer pseudo-ethischen Legitimation.

Die letzte Chance für die Nordsee wurde 1990 verpaßt, in Den Haag. Ich habe damals mitdemonstriert. »Rettet die Nordsee!« Die Briten weigerten sich, die Verklappung ihres Giftmülls einzustellen. Die Kontinentaleuropäer gaben sich empört und waren insgeheim froh über den tumben Sündenbock, denn Rhein, Maas, Scheide und Elbe transportieren ja auch heute noch den meisten Dreck. So erwies sich die fünfte »Nordseeschutzkonferenz« im letzten Jahr als traurige Groteske. Was denn noch schützen? Allenfalls noch die Badegäste. Der Patient selber ist tot.

Wenn die Giftspritzen auf ein Zehntel des Jahres 1985 reduziert würden, könnte er in 80 Jahren vielleicht reanimiert werden. »Wo die Nordseewellen spülen an den Strand...« Fortschreitende Abstumpfung. Vor 12 Jahren hat das Schicksal der traurig verendenden Seehunde noch die Öffentlichkeit alarmiert. Jetzt sind die Seehunde alle verschwunden.

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Da war der schwedische Delegierte auf der Danziger »Ostseeschutzkonferenz« wenigstens ehrlich: Es werde erst in 50 Jahren eine Technik zur Verfügung stehen, um die giftigen Einleitungen zu vermeiden. Bis dahin müsse man mit der giftigen Kloake »leben«. Die Sachzwänge der Industriestaaten ließen sich nun mal wegen ihrer komplexen Strukturen nicht ändern. Richtig! Wo viel verdaut wird, wird nun mal viel geschissen. Und doch, wie weit ist es nur mit den Schweden gekommen! Fast jeder hat sein Häuschen am Strand und sein Segelboot. Nur ins Wasser springen dürfen sie nicht mehr. Jeder hat das »Baden verboten!« längst im Kopf. Und das Schlimmste: Jeder findet das mittlerweile »natürlich« und ganz »in Ordnung«. Daher wird sich auch nichts ändern, denn jede nachwachsende Generation wird in diese »Natürlichkeit« und »Ordnung« eingebunden. So wird das Baden in der Ostsee zur Nostalgie. Die gute alte Zeit.

Wenn man die 50 Jahre des schwedischen Delegierten zur allgemeinen Perspektive für den ökologischen Umbau macht, wird es zu spät sein. Gewässer mögen sich mittelfristig regenerieren. Aber die globalen Öko-Systeme regenerieren sich in Jahrmillionen. Das ist perspektivlos. Wenn sie kippen, ist es der point of no return. 50 Jahre. Soooofoooort!!!!

Ich habe mir die Minister und Beamten und Referenten und Experten in Ostende und Danzig genau angeschaut. Geschniegeltes Pack im feinen Zwirn und gutes Benehmen, das übliche. Der deutsche Umweltminister lächelte säuerlich — »a very good joke indeed« —, als er gefragt wurde, ob er den in seinen Haus anfallenden Müll im Swimmingpool entsorgen würde, um darin auch noch zu baden. Man hätte ihn fragen sollen, ob er seine Kinder und Enkel darin schwimmen lassen würde.

Obwohl der Planet auf die Dimensionen des Lebensraumes einer Hominiden-Gruppe zusammenge­schrumpft ist, haben wir immer noch die räumliche Vorstellung von Weite und riesigen Entfernungen. Das ist ein Irrtum der Wahrnehmungsfähigkeit. In Wahrheit liegt alles vor jedermanns Haustür. Nord- und Ostsee liegen vor der Haustür der Amerikaner, die sterbenden Tropenwälder liegen vor unserer Haustür.

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Die qualmenden Schornsteine in China verdrecken unsere Luft, und unsere Autoabgase lassen auch das Klima in Patagonien steigen. Wenn die Brasilianer und die Kanadier und die Chinesen die Umwelt zerstören, so geht das uns Deutsche an, und wir haben ein Recht, uns einzumischen, so wie die anderen ein Recht der Einmischung haben, wenn wir die Luft verdrecken, denn es ist auch ihre Luft.

Der Mensch kann über den engen Horizont einer Gruppe hinaus keine Verantwortung übernehmen, weil er Jahrmillionen in der Gruppe gelebt hat. In der Gruppe hat sich die Menschwerdung vollzogen. Es genügte, Verantwortung nur für die Gruppe, den eigenen Lebensraum, das Kollektiv-Ich zu haben. Außerhalb der Gruppe war das Fremde, Bedrohliche. Das war nicht mehr sein Schicksal.

Die eigene Wohnung hält er sauber. Die Müllkippe vor der Stadt regt ihn noch auf. Das Waldsterben oder die tote Nordsee bedauert er vielleicht. Der drohende Klimakollaps raubt ihm den Schlaf nicht mehr, obwohl er ihm näher sein wird als seine Wohnung.

Der Nachbar meiner Studentenbude schüttete seine Abfälle einfach in einer Zimmerecke auf. Die Hausbesitzerin erwirkte seine Kündigung. Gegen den Galvanisierungsbetrieb, der nahezu einen ganzen Frankfurter Vorort vergiftete, gab es ein paar Demonstrationen unentwegter Umweltschützer. Das System aber, das uns vergiftet, trägt zum Wachstum bei und ist schon ethisch legitimiert. Die Kant'schen Apriori, unsere angeborenen Fähigkeiten, Realität wahrzunehmen, taugen nicht zum Leben in einer Industrie­gesellschaft. Sie sind sogar überfordert, den Sinn der Metapher zu verstehen, daß die Erde ein Raumschiff ist, aus dem niemand aussteigen kann.

 

20. OKTOBER 2000

Die histologische Untersuchung hat ergeben, daß mein wachsendes Muttermal am Bein bösartig ist. Ein Melanom also, Hautkrebs. Seit meiner Kindheit ist mir das Muttermal gegenwärtig, war mir gewissermaßen vertraut. Jetzt kommt es mir wie ein verräterisches Tier vor, das mir übel will. Fühle mich fast getäuscht und hintergangen.

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21. OKTOBER 2000

Der Monsunregen in Südostasien ist abermals ausgeblieben. Die innertropische Konvergenz, das fragile, ausbalancierte Zusammenspiel der Luftmassen über den Land- und Seegebieten, scheint gestört zu sein. Das asiatische Festland ist zu warm, der Himalaja nicht mehr kühl genug, um eine Sogwirkung zu erzielen. Die Reisernte zu zwei Dritteln vernichtet. Das Vieh muß geschlachtet werden. Es wird wieder ein großes Sterben geben.

Seit einem halben Jahrhundert versteppt der indische Subkontinent. Und die Bevölkerung hat sich verdoppelt. 1,2 Milliarden Menschen haben immer weniger zu essen. Die Zeitbombe Mensch. Der Raubbau an der Natur wie ein konzentrischer Doppelangriff: von der einen Seite die Attacke der grassierenden Armut, die bald den letzten Baum gefällt haben wird. Von der anderen Seite die wuchernden Plantagen, die alles einebnen. Und zwischen beiden das Netz des Kastensystems, der hinduistischen Weltverneinung, die keines Protestes fähig ist; und die groteske Ungerechtigkeit des gesellschaftlichen Systems.

Wie still und ergeben die Inder sterben, Nirwana. Die Hoffnung auf die Wiedergeburt. Ein Glück für ihre Nachbarn.

 

23. OKTOBER 2000

Tina ist schwanger! Aber statt Freude wie bei Andreas und Sylvie diesmal große Traurigkeit. Wir sind uns einig: kein Kind mehr. Wir könnten es nicht mehr verantworten. Die Lebensperspektiven eines Kindes sind nicht mehr abschätzbar. Zwar ist jedes entstehende Leben mit unvorhersehbaren Risiken behaftet, das Leben ist lebensgefährlich, aber wenn der Versuch einer Voraussicht nur noch auf Risiken stößt, dann wäre es lieblos, das Kind in diese Welt zu lassen. Makabre »Güterabwägung«. Obwohl wir es nicht aussprechen, denken wir beide an Sylvie.

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24. OKTOBER 2000

Die Vereinten Nationen beschließen einen Fond von 12 Milliarden Dollar für den Deichbau und Meerwasser-Entsalzungsanlagen. Vor allem Staaten wie Bangladesh, den Philippinen, Indonesien und den großen pazifischen Inseln soll geholfen werden. Erhebliche Einwände der Industriestaaten. Die Weltbank will die Kreditvergabe »sehr genau« prüfen. Die Regierungen der Dritten Welt sollen zu mehr Selbsthilfe angehalten werden. Immer das gleiche Argument: Wir beuten sie wirtschaftlich aus, verkaufen ihnen Waffen, kooperieren mit den Eliten und verdrecken den Globus — und dann sollen die sich — die Völker! die armen Massen — selber helfen. Aber die Massen sind kein Völkerrechtssubjekt, nur Regierungen, und seien diese noch so korrupt.

Die deutsche Bundesregierung erinnert daran, daß sie bereits im August 1989 auf die Notwendigkeit hingewiesen habe, die Deiche zu verstärken. Damit habe sie ein nachahmenswertes Beispiel der Umweltprophylaxe gegeben. Das Signal hätte auch im pazifischen Raum gehört werden müssen. Auch die Niederlande halten sich etwas darauf zugute, bereits 1990 ein zusätzliches Deichbauprogramm in Höhe von 12 Milliarden Mark aufgelegt zu haben. Das ist so viel wie das UNO-Programm insgesamt und fast der Staatshaushalt von Bangladesh. Wie soll denn dieses Land 20 oder 30 Jahre lang Deiche bauen?

Die Dicke des Grönlandeises hat um 600 Meter abgenommen, die Packeiszone um 400 Kilometer nach Norden gewandert. Der Meeresspiegel steigt. Fataler Nebeneffekt: Die Sonnenstrahlung wird nicht mehr reflektiert, sondern absorbiert. Sie erwärmt das Wasser. Die Meeresspiegel steigen schneller.

 

26. OKTOBER 2000

Ein wundervoller Herbst geht zur Neige. Aber die Landwirte jammern, auch die Winzer haben nur kümmerliches, saures Zeug in die Kelter gefahren. Frühjahr und Sommer waren zu naß. Regen und Überflutungen. Die Fleischpreise sind im Keller, Brot dafür schier unerschwinglich.

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Der »Spiegel« meldete, das Bundes­land­wirtschafts­ministerium bereite eine Rationierung für Getreide- und Molkereiprodukte vor. Gegen den Einspruch aus Brüssel. Das übliche Dementi folgt prompt.

Das neue Wiesbadener Wasserwerk hat die Ausmaße einer chemischen Fabrik. Wann es in Betrieb gehen kann, ist allerdings noch ungewiß. Wenn die Wasserversorgung nicht bald funktioniert, droht der Stadt eine Katastrophe. Man kann 300.000 Menschen nicht über längere Zeit mit Notstandsmaßnahmen versorgen. Es gibt Wasser in Hülle und Fülle, überall treten die Grundwasserspiegel an die Oberfläche. Aber man kann es nicht trinken. Wir haben unsere Umwelt in ein chemisches Labor verwandelt.

Tina schläft seit dem frühen Nachmittag, fast ohne zu atmen, in kauernder Stellung, die Knie fast bis zum Kinn hochgezogen, den linken Daumen im Mund. Der Anblick läßt mich schaudern. Unendlicher Schmerz, unendliche Trauer in dieser Haltung, eine unbewußte, instinktive Solidarität mit dem Kind, das man ihr heute morgen weggemacht hat. Scheußliche Prozedur. Die Schwestern geschäftsmäßig, der Arzt routiniert-konzentriert, vorher und nachher sehr jovial: »So, das hätten wir!«

Inzwischen war der Fötus, das Kind, durch ein Absaugrohr in einem stählernen Behälter verschwunden. Wie Abfall, entsorgt. Niemand hat es gesehen, niemand wird es je sehen. Nur die Vorstellung nagt und zwingt mir peinigende Bilder von einem lachenden Kind auf, das an meinem Halse hängt.

Sentimentalität. Die Vernunft sagt: dennoch! Es war die richtige Entscheidung. Die Schuldgefühle, die uns in den nächsten Jahren geplagt hätten. In 40, 50, 60 Jahren werden die Lebenden die Ungeborenen beneiden. Unser lieber Anonymus wäre uns dann für das heutige Geschehen dankbar.
      Wie weit sind wir nur gekommen.

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27. OKTOBER 2000

Die letzten Rosen, schon sehr pastellfarben. Astern und Dahlien denken ans Aufhören. Ein milder Sonntag, gläsern, von Spinnweben durchzogen. Der Tau funkelt in den Gräsern und Zweigen bis in den Mittag. Weiter Spaziergang mit Tina im Taunus. Wie haben sich die Buchenwälder gelichtet! Die gewaltigen Eichen auf der Höhe von Ehrenbach haben schwarze Aste. Wie skelettierte Finger. Im nächsten Frühjahr werden sie das Memento mori verstärken. Die Schonungen mit den genetisch veränderten Fichten und Buchensetzlingen wollen nicht so recht anschlagen. Ein Drittel bereits mit vergilbten Nadeln und Blättern. Dem Rest werden aber gute Chancen gegeben. Dann wird ein Baum aussehen wie der andere.

Der Römerturm bei Orlen ragt weithin sichtbar aus dem Gesträuch ins Land, wie zur Zeit des Antonius Pius, als man ihn erbaute. In Norden sind die Türme des Limburger Doms zu erkennen. Der siechende Wald gibt den Blick frei und weitet die Landschaft. Die Schwalben sind noch da. Was hält sie noch? Wie schon der Star wird nun auch die Schwalbe zum Standvogel. Sie macht wohl jetzt doch einen ständigen Sommer. Die Vogelwarte Radolfszell ist überzeugt, daß das Verhalten der Zugvögel die Klimaänderung anzeigt.

 

28. OKTOBER 2000

Aus Japan der ernstgemeinte Vorschlag, in den Tiefen der Ozeane Atombomben zu zünden, um das viel zu warm gewordene Oberflächenwasser mit dem kühlen Tiefenwasser zu durchmischen. Wenn die Klimaerwärmung in diesem Tempo weitergehen sollte, müßte man diesen Vorschlag für das Jahr 2015 ins Auge fassen. Mit etwa 5000 Sprengsätzen von je einer Megatonne, gezündet ab 1000 Meter Tiefe, könnte die Oberflächentemperatur der Ozeane vor allem in Äquatornähe um rund vier Grad abgesenkt werden. Dadurch würde nicht nur das Volumen der Wassermassen abnehmen, auch die Luft würde sich abkühlen, etwa auf den Wert der siebziger Jahre. Das Eis der Polkappen und der Gletscher nähme wieder zu, würde wieder die Sonnenstrahlung reflektieren und den Pegel der Meere fallen lassen. Die Gefahr der Wirbelstürme und Überflutungen würde erheblich gemildert, weil die Luftdruckgegensätze nicht mehr so kraß wären.

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Außerdem erwarten die japanischen Wissenschaftler, daß mit einer solchen Durchmischung des Wassers die Kapazität der Ozeane, Kohlendioxyd zu binden, enorm ausgeweitet würde. Der Lufthülle würde das schädliche Gas entzogen, der Treib­haus­effekt verschwände. Die Gefahr einer radioaktiven Verseuchung wird als relativ gering eingeschätzt. Die vernichtete Meeresfauna würde sich wieder regenerieren.

Die schiere, wenngleich nicht eingestandene Verzweiflung von Verrückten. Aber ich bin sicher, sie werden es tun. Irgendwann, als letztes Mittel 5.000 atomare Sprengsätze als letzter Strohhalm der Menschheit. Sie glauben tatsächlich, den Globus wie eine defekte Uhr reparieren zu können. Je mehr sie über ihn wissen, desto weniger verstehen sie die Natur als Ganzes.

Dagegen Goethes Naturverständnis! Weder idyllisiert noch romantisiert, sondern als Einheit, als wirkenden Zusammenhang wahrgenommen. »Die Natur kommt durch den Menschen zur Sprache.« Naturwissen­schaftliche Erkenntnis bewirkt offenbar einen Verlust an Überzeugungswissen, an Weisheit. Daher wird uns die Natur um so fremder, je mehr an Details wir über sie wissen.

 

30. OKTOBER 2000

Die Militanz der Anti-Pkw-Bewegung droht in einen Bürgerkrieg auszuarten. In der Nacht vor dem gestrigen Aktionstag allein in Deutschland drei Millionen Autos beschädigt! Sechs Milliarden Mark Schaden an einem einzigen Tag! Rund 100 Straßensperren allein auf den Autobahnen. Ein Wunder, daß niemand ums Leben kam. Die Ordnungskräfte sind offenkundig machtlos. Wenn sich die unvermeidlichen Chaoten unter die Protestbewegung mischen sollten, um dann Steine von Brücken auf die Autofahrer zu werfen — nicht auszudenken.

Aber gewaltiger Zulauf für die Anti-Auto-Bewegung. In fünf Jahren wird die deutsche Automobilindustrie ruiniert sein, ihre Umsätze sind in den letzten drei Jahren ohnehin drastisch gesunken.

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Milizen bei VW und BMW — natürlich mit Duldung der Gewerkschaft; in mehreren Städten, so auch in Frankfurt und Wiesbaden, Dresden und Magdeburg, bilden sich die ersten Patrouillen. Mit dem deutschen Auto ist nicht zu spaßen. Wie werden die Versicherungen diesen Schlag verdauen? Die 4000 festgenommenen Protestler werden ja kaum für den Schaden geradestehen können.

Sind wir Zeugen schmerzhafter Geburtswehen, unter denen endlich die Vernunft zur Welt kommt? Immerhin, die S-Bahnen nach Frankfurt sind jetzt überfüllt, die Bahn meldet sprunghaften Anstieg der Passagierzahlen.

Wie definiert sich Gewalt?

Die Zerstörung eines Autos ist sicher Gewalt, die Demolierung von drei Millionen aber ein Zeichen von Notwehr, allenfalls sekundäre Gewalt. Die primäre Gewalt ist die Zerstörung der Natur — und die üben die Autofahrer aus. Solange das Benzin- oder Dieselauto das wichtigste Verkehrs- und Transportmittel ist, kann kein wirksames Umweltstrafrecht geschaffen werden. Das Volk, von dem alle Gewalt ausgeht» fährt nun mal Auto. Sein gewalttätiges Verhalten ist daher Rechtens. Dagegen kann sich kein Strafgesetz wenden.

Die Anti-Pkw-Bewegung könnte der Politik dennoch wichtige Entscheidungshilfe leisten, wenn diese für den Paradigmenwechsel, die Umwertung eines Wertes, offen wäre. Der Individualverkehr erweist sich als gefährliche, lebensbedrohende Sackgasse der Industriezivilisation. Er darf keine Zukunft haben, oder er ruiniert die Zukunft aller.

Vielleicht Wasserstoff, vielleicht Sonnen­energie, aber der Benzin-Pkw muß aus dem Verkehr gezogen werden. Doch die Regierung wagt noch nicht einmal, den Schwertransport zu begrenzen, als ersten Schritt. Seit 1992 hat sich der Lkw-Verkehr verdoppelt. 12.000 Kilometer neue Autobahnen.

Die Vernunft mit Gewalt durchsetzen? Einst die Überzeugung, die Gewalt der Vernunft reiße alle Barrikaden ein, sie breche sich Bahn für das, was sie als richtig erkannt hat. Wenn man nur aufklärte, informierte. Sigmund Freuds Glaube an die »leise Stimme der Vernunft«, die sich aber unvermeidlicherweise durchsetzen werde. Das ist zu bezweifeln.

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In unserer Industriezivilisation ist die alte Vernunft eine lästige Potenz des Menschen geworden. Wir haben die neue Vernunft. Nach der alten Vernunft schädigt das Auto die Natur, also ist das Autofahren unvernünftig und daher unmoralisch. Nach der neuen Vernunft besteht eine große Nachfrage nach dem Auto, das außerdem unzählige Arbeitsplätze sichert. Also ist es vernünftig und daher moralisch. Die Vernunft der Natur gegen die Vernunft der Zivilisation. Aber nur eine wird siegen.

Was geht in den Hirnen der Hunderttausenden vor, die tagtäglich von Wiesbaden, Kronberg, Königstein, Bad Homburg, Dietzenbach, Neu-Isenburg oder Langen mit dem Auto nach Frankfurt fahren, sich morgens und abends im Stau quälen, für 20 Kilometer eine Stunde und länger brauchen? Mit der S-Bahn wären sie in 10 bis 20 Minuten im Herzen der City. Jeder einzelne weiß, daß er die Natur zerstört, seinen Beitrag zum Mord an der Kultur leistet. Dennoch tut er's. Unbegreiflich.

Die Technik hat den Menschen nicht nur den Evolutionsgesetzen entzogen, die ihn zum Menschen gemacht haben, sie hat ihn offenbar auch seiner instinktiven Reaktion beraubt, auf Gefahren angemessen zu reagieren. Allerdings hat sich die Wahrnehmung von Angst geändert. Sie resultiert nicht mehr aus direkter Gefahr, sondern aus einer indirekten, einer sich allmählich transformierenden globalen Situation, die das individuelle Handlungs- und Erlebnisumfeld weit übersteigt. Das überfordert die Wahrnehmungsfähigkeit. Weder der Sinnes- noch der Verstandesapparat des Menschen ist dafür ausgelegt, globale Situationen zu erfassen — und sich für sie als Individuum verantwortlich zu fühlen. Die Technik erweist die Antiquiertheit des Menschen. Er ist hoffnungslos rückständig, weil die Evolution zu langsam ist. Die biologischevolutionäre Fortentwicklung des sinnlichen Apparates kommt mit der Dynamik der gesellschaftlich-technischen Veränderungen, die er selbst ins Werk gesetzt hat, nicht mehr mit.

Die Suggestivwirkung des Autos als Ich-Ersatz, als Steigerung und Optimierung der begrenzten Sinnesausstattung kann noch nicht als geklärt gelten.

Wer im Stau steht, erlebt keinen Rausch der Freiheit, wer sich im Schritt-Tempo seinem Ziel entgegenquält, kein Omnipotenzgefühl, wer eisern in die Kolonne gezwungen wird, keine Überlegenheit an Kraft. Ist es die Einsamkeit des Käfiginsassen als Erlebnis erlesener Individualität? Der Stau als neues Gemeinschaftserlebnis?

Was geht in den Hirnen der Auto-Konstrukteure und der Produzenten vor, Kraftmaschinen von 450 PS zu bauen, um dann die Geschwindigkeit auf 250 Stundenkilometer zu begrenzen? Eben die Suggestion der Kraft als Ich-Ersatz. Kein Zweifel, Moral und Vernunft sind auf Seiten der Anti-Pkw-Bewegung. Sechs Milliarden Mark sind kein zu hoher Preis, sollten sie etwas bewirken. Allerdings ist das Ende des Konflikts nicht absehbar. Und bis dahin ist Schlimmes zu befürchten.

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