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    2.2   Stehen wir am Ende der Geschichte?   

Wahrlich, es hat den Anschein, als wolle die Natur das Menschen­geschlecht ausrotten, wie etwas Unnützes auf der Welt, das alles Geschaffene nur vernichtet. -Leonardo da Vinci-

   Die Uhr läuft ab   

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Ohne die Schöpferkraft der Natur wäre unsere Erde eine leblose Wüste gleich dem Mond. Auch auf einem solchen toten Planeten finden physikalische Abbau­vorgänge statt, welche die Entropie vermehren. Dieser Begriff stammt aus der Wärmelehre, in die ihn 1865 der Physiker Rudolf Clausius einführte. Er bedeutet dort die Summe der nicht mehr nutzbaren Energie. 

Inzwischen wird er in einem umfassenden Sinne angewandt: »Das Prinzip der Entropie­vermehrung reicht über die Grenze der Thermo­dynamik hinaus, es gilt für den gesamten Weltprozeß«, wie der Wissenschafts­journalist Christian Schütze in einem ausführlichen Artikel über <Entropie> feststellt.76

Im physikalischen Weltprozeß geht die Tendenz immer auf den Ausgleich hin, auf Verteilung und gleichmäßige Vermischung.77 Die organisierte wertvolle Materie verwandelt sich stetig auf ein undiffer­enziertes Durch­schnitts­gemisch hin, was keinen speziellen Wert hat. Die Abfallberge, die der Mensch erzeugt, sind ein alle Tage sichtbares Beispiel für Entropie.

Auf unserem Planeten sorgte die zielstrebige Aufbauarbeit der lebendigen Natur seit einigen tausend Millionen Jahren dafür, daß immer mehr Werte entstanden, als nach dem Entropiegesetz in der gleichen Zeit abgebaut wurden. Zu diesem Schöpfungs­vorgang war ein Energieüberschuß nötig, den uns die Sonne unaufhörlich liefert. Dieser Energiezufluß konnte über die Jahrmillionen durch die Photosynthese der Pflanzen in großen Mengen in nutzbare Energie umgewandelt werden.

Die zentrale Frage in der Untersuchung des britischen Philosophen Alfred Whitehead (1861-1947), <Die Funktion der Vernunft>, lautet: »Wenn wir die Welt als physikalisches System betrachten, bei dem die späteren Zustände vollständig durch die früheren determiniert sind, erscheint sie als ein endliches, in beständigem Verfall begriffenes System, dessen Vielfältigkeit und Aktivität fortwährend abnimmt.« Aber die Natur arbeitet in der entgegen­gesetzten Richtung, sie hat »eine aufwärtsgerichtete Tendenz, die dem physikalischen Verfall entgegen­gerichtet ist.«78

Die Vernunft des Menschen hat nach Whitehead ein Verhältnis zu den zwei beschriebenen, einander entgegengesetzten Aspekten der Erdgeschichte. Die erste Haupttendenz... 

»...zeigt sich im allmählichen Verfall der materiellen Natur. Mit unmerklicher Unaufhalt­samkeit zerstreut sich die Energie; die Quellen der Naturaktivitäten werden schwächer und versiegen; und sogar ihre materielle Substanz löst sich auf. Die andere, gegenläufige Tendenz manifestiert sich im jährlichen Frühlingserwachen der Natur und in der aufwärtsgerichteten Evolution der lebenden Organismen.«79

Erst seitdem sich der Mensch mit großtechnischen Mitteln am Abbau der lebendigen Natur beteiligt und Abfall erzeugt, überwiegt die jährlich erzeugte Entropie auf der Erde das jährliche Produkt der Natur. Der Umschlag in eine negative Bilanz wird sich irgendwann im 20. Jahrhundert ereignet haben. Die ökologische Weltbilanz wird seitdem immer negativer, und zwar genau in dem Maße, wie das — fälschlich so genannte — »wirtschaftliche Wachstum« zunimmt. 

 wikipedia  Leonardo_da_Vinci   wikipedia  Rudolf_Clausius      wikipedia  Alfred_North_Whitehead     wikipedia  Ökologischer_Fußabdruck   

Ob es die heute Lebenden gern hören oder nicht: Alle gehören zu den Parasiten der Natur, die »entwickelten« Völker sehr stark, die »unterentwickelten« bisher schwach; letztere sollen erst noch zu einer parasitären Lebens­weise »entwickelt« werden. Das heutige Weltprogramm, welches die Entwicklung der »Unter­entwickelten« zum hochtechnischen Zivilisationsstandard zum Ziel hat, ist ein perfektes Entropie­programm.

Die moderne Ökonomie hat die Welt auf den Kopf gestellt. Man denke sich die beiden Pyramiden als Sanduhr: der untere Teil ist nach oben gedreht. Nun rinnen die Bestandteile des Ökosystems unaufhörlich nach unten, die Uhr läuft ab. Sie läuft ab für alles Lebendige und nicht zuletzt für den Menschen, denn er ist das allerabhängigste unter den abhängigen Lebewesen.

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Es gibt eine Ökonomie der Natur, und das ist die Ökologie. Und es gibt die moderne, vom Menschen erdachte Ökonomie, die mit der Ökologie nichts gemein hat. 

Die derzeitige Ökonomie der Industrieländer dient nicht dem Leben, sondern sie steht im Dienste der Entropie, da sie diese Welt als physikalisches System, nicht als biologisches behandelt. Nur hier und da bezieht einer unter den Ökonomen in seine Kostenrechnung die Entropie­vermehrung ein. Begründet wurde diese Lehre von dem amerikanischen Ökonomen Nicholas Georgescu-Roegen,(80) angewandt von Boulding, Daly, Binswanger und weiteren Ökonomen.

Doch die meisten ökonomischen Theorien mißachten dieses Naturgesetz völlig. Daraus folgert Christian Schütze: »Vielleicht war es eine Ahnung dieser deprimierenden Einsicht, welche die Volks­wirtschaftler bewog, die Augen vor einem Weltgesetz zu verschließen, vor dem alle Illusionen von dauerhaftem Wohlstand, von ständigem Wachstum und der Fülle auf Erden zerbrechen müssen.« Wenn wir uns auf das verlassen, was wir auf Erden an Energievorräten haben, statt auf die Sonnenenergie, dann, schließt Christian Schütze, »verurteilt uns das Entropiegesetz über kurz oder lang zu Armut und Tod.«(81)

Darum ist der verheerendeste Vorgang auf diesem Planeten, der zur Zeit läuft, die hirnlose Liquidation der Natur in allen Erdteilen — der Natur, die kostenlos und gegen das Weltgesetz der Entropie­vermehrung Sonnen­energie in Nutzenergie umwandelt. 

Die Endphase des menschlichen Amoklaufs hat uns das vielleicht größte Universalgenie, das jemals gelebt hat, — Leonardo da Vinci — vorausgesagt, als er <Von der Grausamkeit der Menschen> schrieb:

»Man wird Geschöpfe auf Erden sehen, die einander fortwährend bekämpfen werden, und zwar unter sehr großen Verlusten und oft auch Todesfällen auf beiden Seiten. Sie werden keine Grenze kennen in ihrer Bosheit. Durch ihre rohen Glieder werden die Bäume in den riesigen Wäldern der Welt größtenteils dem Erdboden gleichgemacht werden, und wenn sie satt sein werden, dann werden sie zur Befriedigung ihrer Gelüste Tod und Leid, Drangsal, Angst und Schrecken unter allen lebendigen Wesen verbreiten. 

In ihrem maßlosen Übermut werden sie sogar zum Himmel fahren wollen, aber die allzugroße Schwere ihrer Glieder wird sie unten halten. Da wird auf der Erde, unter der Erde oder im Wasser nichts übrigbleiben, was sie nicht verfolgen, aufstöbern oder vernichten werden, und auch nichts, was sie nicht aus einem Land in ein anderes schleppen werden... O Erde, warum tust du dich nicht auf? Warum stürzest du sie nicht in die tiefen Spalten deiner riesigen Abgründe und Höhlen und bietest dem Himmel nicht mehr den Anblick eines so grausigen und entsetzlichen Unwesens?«(82)

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Wir befinden uns nun haargenau in der vorausgesagten Situation, daß wir die letzten Winkel der Erde und der Meere durchwühlen und das Gefundene in alle Länder transportieren. Aber auch das von der Schwere der Glieder stimmt trotz Weltraumfahrt weiterhin; denn es ist ein zu großer Energieaufwand nötig, um einen Menschen aus dem Schwerefeld der Erde hinaus­zuschießen, als daß jemals Erdenbewohner in größerer Zahl ausgesiedelt werden könnten.

So erscheint es ganz logisch, wenn ein einflußreicher Schriftsteller und Philosoph des 20.Jahrhunderts, Herbert Georg Wells, den gleichen Schluß zieht:

»Es kommt zu einem mörderischen Kampf ums Dasein. Die größeren Gemeinschaften oder Individuen rotten die kleineren aus und verzehren mehr und mehr.«83 Indem er die Summe seines Lebens und Denkens zieht, kommt er — sich selbst betrachtend — zu dem Ergebnis: »Wenn er folgerichtig gedacht hat, dann ist diese Welt am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt. Das Ende alles dessen, was wir Leben nennen, steht ganz nahe bevor und ist nicht zu vermeiden.«84

Wells ist der »Überzeugung, daß es keinen Weg gibt, der aus dieser Sackgasse heraus, um sie herum oder durch sie hindurch führt. Es ist das Ende.«85 Die modernen Verkehrsmittel und Flugkörper haben die Distanz aufgehoben, so daß die Ereignisse auf dem ganzen Planeten praktisch Gleichzeitigkeit erlangt haben, »das Leben mußte sich daran anpassen oder zu Grunde gehen, und mit der Überreichung dieses Ultimatums schwand der Plan künftiger Dinge dahin.«86

»Unser Universum ist nicht lediglich bankrott; es bleibt überhaupt keine Konkursmasse übrig; es hat nicht einfach liquidiert; es verschwindet völlig aus dem Dasein und läßt keine Trümmer hinter sich zurück. Das Bemühen, einen Plan, welcher Art immer, zu entwerfen, ist völlig müßig(87;  Zitate 86 und 87 von H.G. Wells)

 

   Das zerstörte Gleichgewicht   

In der Geschichte des Planeten Erde gab es langfristig ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Arten, wenn auch ab und zu eine Art verschwand und neue Arten auftauchten. So bestand auch ein Gleichgewicht zwischen dem Menschen und den anderen Arten (den Tieren, Pflanzen, Bakterien und Viren), wie in der Natur insgesamt, und eine übermäßige Vermehrung des Menschen wurde vereitelt.

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Nun hat der Mensch seine Gegenspieler besiegt und teilweise ausgerottet, so daß er sich ungehindert vermehren kann. Über das Gehirn des Menschen ist eine außernatürliche Macht in die Sphäre des Lebens eingebrochen, wie der Philosoph Ludwig Klages 1913 auf dem Hohen Meißner darlegte. Die Macht des Verstandes und des Willens führt dazu, daß eine Menschheit »in blinder Wut die eigene Mutter, die Erde, verheeren muß, bis alles Leben und schließlich sie selbst dem Nichts überliefert ist.«(88)

Damit ist der Planet Erde in ein neues Stadium getreten:

  1. Die biologische Evolution des Menschen ist zu Ende, da die natürliche Auslese kaum mehr wirkt.

  2. Der Mensch schneidet auch der Natur die Möglichkeit der weiteren Evolution ab. Ganz einfach deshalb, weil er ihr so gut wie keine Reservate mehr läßt. Die Natur wird »zivilisiert« wie der Mensch; in den Industrieländern gibt es keine großen Gebiete mit wildlebenden Pflanzen mehr.

  3. Der Mensch beschneidet der Natur den Raum auf dieser Erde Tag für Tag und füllt ihn blindlings mit Menschen. Je schneller er ihn überfüllt, um so früher schwindet seine eigene Lebensbasis dahin.

Die Gefahr liegt damit nahe, daß die Menschen in ihrer Überfülle aufeinanderstoßen und sich die letzten Lebensgrundlagen streitig machen werden, so daß sie sich schließlich gegenseitig ausrotten.

»Die Spannungen, die zu Kriegen führen könnten, werden sich vervielfachen«, heißt es lakonisch im Bericht an den amerikanischen Präsidenten.89

»Eine Kette von Ereignissen hat dem intelligenten Beobachter die Erkenntnis aufgedrängt, daß die Menschen­geschichte bereits ein Ende gefunden hat und daß es mit dem homo-sapiens, wie es ihm beliebt hat, sich zu nennen, in seiner jetzigen Gestalt aus und vorbei ist. Die Sterne in ihrer Bahn haben sich gegen ihn gewandt, und er hat irgendeinem anderen Lebewesen Platz zu machen, das besser ausgerüstet ist, dem Verhängnis entgegen­zutreten, das mit wachsender Schnelligkeit über die Menschheit hereinbricht ... Sich anpassen oder zugrundegehen ist heute wie immer der unerbittliche Imperativ der Natur.«(90; Wells 1945)

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Es kann leicht sein, daß der Mensch den point of no return, den Punkt, von dem es keine Rückkehr mehr gibt, bereits überschritten hat. Dann wäre das Ende unausweichlich. Unvermeidbar ist bereits, daß sich schon im Jahre 2000 mehr als 6 Milliarden Menschen auf dieser Erde befinden werden; daran können selbst die erfolgreichsten Maßnahmen zur Geburten­begrenzung nichts mehr ändern.

Maurice Blin sagt vom Menschen:

»Er hat sich von der Natur losgerissen und auch von der Kultur, die bis dahin die Natur geachtet hatte. Er hat der Weisheit den Rücken gekehrt und sich der Tragik hingegeben. Nachdem diese Lage ihn zunächst berauscht hat, erzeugt sie jetzt in ihm Angst und Beklemmung. Er verachtet die Vergangenheit und sieht sich nicht gerüstet für die Zukunft. Die Euphorie des Überflusses macht bei ihm nun der Furcht vor dem Mangel Platz. Mitten in seiner Sucht nach Konsum und Genuß stellt er sich die Frage nach seinem Heil.« 91

Nein! Er stellt sich die Frage noch nicht! Nur einige wenige stellen sie. Die große Mehrheit, Führer wie Geführte, ist weiter von Blindheit geschlagen.

Daß die Erde längerfristig, schon im nächsten Jahrhundert, weder die Zahl der Menschen noch ihre Ansprüche verkraften kann, darüber liegen gesicherte Ergebnisse in Fülle vor. Hier braucht nicht näher darauf eingegangen zu werden. Meinen Anteil steuerte ich 1975 mit <Ein Planet wird geplündert> bei.

So gibt es schwerwiegende Gründe für die Befürchtung, daß das Ende der menschlichen Geschichte auf dieser Erde begonnen hat, infolge der fatalen Entwicklungen, welche die Politiker geradewegs verbissen ansteuern. Sie werden Opfer ihrer eigenen Ziele;

»denn jedes Lebewesen ist Lebewesen in der Natur; und das Wesen, welches die Natur denaturiert, denaturiert damit notwendig sich selbst; es gibt kein Eiland der Privilegierten mehr; das ist die eigentliche Tragweite der ökologischen Krise, an deren Beginn wir uns heute befinden. Die Maximierung technischer Konstruktion in der Lebenswelt muß unweigerlich zum Tod der Lebenswelt führen. Zur Katastrophe wird es kommen, wenn wir diese schmerzliche Einsicht nicht rechtzeitig handhaben lernen.«(92; K. Müller)

Die Götzenbilder vom »wirtschaftlichen Wachstum« sind noch nicht zerschlagen. Sie lassen sich wohl auch nicht durch einen Frontalangriff zerstören; sie müssen langsam und gründlich ihres Zaubers beraubt werden. Wir müssen unentwegt fragen: Haben sie gehalten, was sie versprachen? Hätten sie überhaupt jemals ihre Verheißung einlösen können? Wie war es möglich, daß die Menschen einen solchen Weg einschlugen?

Wodurch konnten sich Irrtümer so verfestigen, daß sie selbst angesichts der Untergangs­drohungen nicht aufgegeben werden?

Dies ist im Teil 3 grundsätzlich zu behandeln. Bevor wir damit beginnen, ist es angebracht, die ökonomische Bilanz der heutigen Wirtschaft unter die Lupe zu nehmen. Wie groß sind ihre Erfolge, für die sie die kurzfristige Vernichtung der Welt in Kauf nimmt, wirklich? 

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Herbert Gruhl  1982  Das irdische Gleichgewicht