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Anmerkungen  

 

165-171

1)  In diesem Buch stellt Liedloff die Lebensentwicklung der Yequana-Indianer von Venezuela dar. Hier finden wir eine Kindesentwicklung vor, welche die vollen Möglichkeiten der menschlichen Entwicklung für Liebe und Lebendigkeit — nicht Macht und Tod — fördert. Das hier angegebene Beispiel dient als Vergleich zu unserer Kultur.

 

2)  Der Vorgang, durch den »Güte« und »Toleranz« zum Mittel der Unterdrückung und Kontrolle verwandelt werden, wird auf Seite 71 ff. weiter erörtert.

Ich möchte hier nur Christopher Lasch (>Das Zeitalter des Narzißmus<, 1980) zitieren. Er hebt hervor, wie auf gesellschaftlicher Ebene die Erscheinung der Toleranz ein zwingendes System der Kontrolle verbergen kann. Wenn ein Kind zum Beispiel nicht essen möchte, bringt man die Autorität des Arztes ins Spiel. Wenn es sich nicht gehorsam benimmt, wird der Psychiater oder Psychologe hinzugezogen, um dem Kind mit seinem »Problem« zu helfen. Auf diese Weise kann Autorität als »Freund« des Kindes dargestellt werden und »Eltern machen ihr eigenes Problem — den Ungehorsam — zu dem des Kindes«.

Worauf ich ziele, ist jedoch die allgemeine Gewalttätigkeit, die im Menschen durch die Verstümmelung seiner Autonomie gefördert wird — ob durch direkte oder indirekte, bewußte oder unbewußte Mittel. Es ist eine Gewalttätigkeit ohne Zutritt zu ihren Beweggründen, und sie wächst überall. Wir finden sie in unseren Kindern, in unseren Schulen, und wenn wir gewillt sind, können wir ihren Ursprung erkennen. Der folgende Dialog kommt aus einer englischen Schule (Hirsch, 1972):

Die Lehrerin: »Wer kann mir über die IRA (Irish Republican Army) etwas sagen? Um was handelt es sich bei dem Konflikt in Nord-Irland?« — »Oh, die Katholiken hassen die Protestanten — können wir nicht was Interessanteres tun?« — »Wenn's euch nicht interessiert, warum unterstützt ihr die IRA?« — »Weil sie Bomben werfen und Sachen zertrümmern — Leute zerbomben — großartig!« Die Lehrerin schreibt: »Sie lieben die Gewalttätigkeit, nicht die Gerechtigkeit. Es sind ihre Eltern und Lehrer, die sie hassen, nicht die Protestanten...«

Hier ist ein Gedicht von einem ihrer Schüler:

Die Schule ist langweilig, die Schule ist verrückt
Bald werde ich abgehen, das macht mich froh.
Kein Fußball mehr, kein Spaß mehr.
Aber ich bereue nicht die Dinge, die ich tat.
Von Lehrern verprügelt, ist einem alles gleichgültig.
(Übersetzt von A. G.)

Dieses Gedicht läßt uns wissen, daß die tiefste Verletzung der Kinder unserer Epoche, überhaupt jener, die rebellieren, darin liegt, daß sie ihren Unterdrückern beigetreten sind, indem sie ihre Fähigkeit verloren haben, ihren eigenen und des anderen Schmerz und Leid zu erfühlen. Das ist jedoch ein Unterschied: Statt für heuchlerische Werte treten sie für überhaupt keine Werte ein.

Ich danke Claus D. Eck dafür, daß er meine Aufmerksamkeit auf Pink Floyd's Lied >The Wall< gelenkt hat. Es trifft die Heuchelei, die dieser Malaise zugrunde liegt:

Hush now baby, don't you cry
Mama's gonna make all of your
Nightmares come true

Mama's gonna put all of her fears into you
Mama's gonna keep you right here
under her wing
She won't let you fly but she might let you sing

3)  Das Konzept der »Kritischen Periode« (Critical Period, wie sie zum Beispiel von J. P. Scott, 1958, beschrieben worden ist) ist eine Erweiterung des ursprünglichen Konzepts, deren Grundidee jedoch immer noch mechanisch ist: Es gibt kritische Zeitpunkte in der Entwicklung, in denen, wenn die Stimulus-Situation günstig ist, entsprechende Verhaltensformen ausgelöst werden können. Wenn das nicht der Fall ist, entfällt die Verhaltensbildung. Daß der Organismus etwas mit dem Nichts-Lernen zu tun haben könnte, bleibt jedoch ausgeschaltet. Dagegen hat R. C. Davis (1957) in einem fast vergessenen Experiment gezeigt, daß die Reaktion den Stimulus aussucht! Diese Arbeit bestätigt und erweitert Piagets Vorschlag, daß ein Stimulus seine Bedeutung erst erhält, wenn er dem Schema eines inneren Prozesses entspricht Q. H. Flavell, 1963).

4)  W. McDougall (1928) war einer der ersten Psychologen, der sich mit der Empathie als Mittel der emotionellen Reaktion befaßte. Ein Faktum in der menschlichen wechselseitigen Begegnung (leider nur im negativen Sinne) bilden auch die Studien von S. Hygge (1976), der sich mit dem Messen des Hautwiderstandes während empathischer Vorgänge befaßt hat. Es ist interessant, daß Kenneth Clark (1980) in seiner Rede zur Annahme eines Preises der Amerikanischen Psychologischen Gesellschaft dafür plädierte, sich der Empathie als eines wichtigen Phänomens in der menschlichen Entwicklung wieder anzunehmen. Für unsere Zwecke ist die Empathie als direktes Erfühlen des emotionellen Zustands der anderen Person, durch den eigenen Muskel-(kinästhetischen)-Sinn, betont. Das, was einen Menschen von den eigenen emotionell betonten Muskelvorgängen trennt, trennt ihn demzufolge von der unmittelbaren Wahrnehmung des emotionellen Zustands eines anderen. Wenn für das Kleinkind völlig evidente Wahrnehmungen, zum Beispiel Ängstlichkeit oder Ungeduld der Mutter, von dieser verleugnet oder das Kind für die Äußerung seiner Wahrnehmung gar bedroht wird, so erhöht dies seine Hilflosigkeit derart, daß seine empathischen Einfühlungen ihm zur Last werden. Die Komplexität dieser Situation sehen wir in einer Variation dieses Vorgangs. In einer frühen psychoanalytischen Schrift beschreibt A. Stärke (1921) die widersprüchlichen und unintegrierbaren Empfindungen eines Säuglings, der an den durchs Stillen entzündeten Brustwarzen seiner Mutter saugt. Er erfährt im selben Moment seine Befriedigung und ihren Schmerz.

 

5)  Das Versagen vor dem Leben ist schon von Ribble (1943) und von Shaheen u.a. (1968) beschrieben worden. Schneirla (1959) zeigt die neurologischen Grundlagen dafür auf. Die Notwendigkeit eines andauernden Einströmens von niedrigen Stimulusintensitäten über die afferenten Nervenbahnen erhält und formiert zum Beispiel das metabolische Muster des Individuums. Im allgemeinen werden die Verschiedenheiten der Intensität des Stimuluszuflusses, dem Kleinkinder ausgesetzt sind, grundlegend für die Entwicklung grundsätzlicher Eigenschaften ihres späteren Erregbarkeitsniveaus (Denenberg, 1964).

6)  Die Unmöglichkeit, die Umwelt für die eigene Lage bewegen zu können, führt zur Vertiefung der Hilflosigkeit, die durch das Nichts-Lernen hervorgerufen wird. Die Hilflosigkeit, die sich aus der resultierenden Wirkungslosigkeit entwickeln kann, trägt wohl zur Verringerung der Vitalität des Organismus bei. M. A. Visintainer u.a. (1982) zeigen, daß der Widerstand gegen Tumoren bei Ratten bedeutend reduziert wurde, wenn diese Tiere den Streß, dem sie ausgesetzt waren, nicht zu umgehen lernen konnten. (Es wurde ihnen unmöglich gemacht, elektrischen Schocks auszuweichen.) Interessant ist eine frühere Arbeit von L. S. Sklar und H. Anisman (1979), der zufolge längere Erfahrung mit solchen Schocks, den Widerstand gegen Tumoren wieder verstärkte. Hier haben wir vielleicht ein Beispiel der »Anpassung« an die Hilflosigkeit?

7)  N. R. F. Maier und T. C. Schneiria (1942) betonen, daß das Kontiguitätslernen (Pawlows S-R) für das frühe Entwicklungsstadium primär ist. Jedoch muß selektives Lernen postuliert werden, um die wechselnden Beziehungen zwischen Handlung und Stimulus und endogener Kondition zu erklären.

8)  Solange wir am Begriff der Schizophrenie als eines Konzepts, dessen Wert auf differentialdiagnostische Bestimmung zielt, festhalten, werden wir ihn nicht zu einer umfassenderen Sicht der Frage des Menschseins ausdehnen können. Das jedoch ist mein Bemühen. Gaetano Benedetti (1972, 1976, 1983, 1983) hat Fundamentales dazu beigetragen, daß die Tore unseres Verständnisses erweitert wurden. Seine Arbeiten sind nicht nur geprägt von der Brillanz seiner Formulierungen und der Tiefe seines Verständnisses für den Schizophrenen, sondern auch von einer außerordentlichen Liebe für den leidenden Menschen. Es ist dieses tiefe Mitleid — »a compassion without pity« (eine Liebe für den Mitmenschen ohne Beimischung verschmälernder Bemitleidung) —, wodurch er unser Bewußtsein erweitert. Seine wissenschaftlichen Arbeiten sind der Beweis dafür, daß es nicht nur das scharfe Denken allein, sondern die Liebe ist, welche zur echten Erkenntnis der menschlichen Lage führt. Deswegen überschreitet er (im transzendenten Sinne) die Begrenzung meist großangelegter Forschungen auf diesem Gebiet, die, indem sie das Erleben des Schizophrenen zerstückeln, die Gesamtheit seiner uns konfrontierenden Angaben zerstören. Gustav Bychowski (1966) sprach auch oft von Eugen Bleuler, dessen Schüler er während des Ersten Weltkrieges war und dessen Hinweisen auf die moralische Prägung der Schizophrenie, ihren Wahrheitsdrang. Das alles bringt uns dem erweiterten Sinn des Begriffs »Schizophrenie« wesentlich näher. Das Schizophrene ist Endresultat eines Ringens mit und nicht der Anpassung an das Unmenschliche in unserem Leben. 

Dadurch kann uns das Studium der Schizophrenie und des schizoiden Zustandes Eintritt in die Anatomie des Selbst ermöglichen. Das ist auch u. a. J. Henrys (1963, 1965), R. D. Laings (1959) und M. Siiralas (1961) Ansicht. Ein Beispiel dieser Erweiterung des Begriffs der Schizophrenie stellt auch die brillante Auslegung des Psychoanalytikers W. V. Silverberg von Rainer Maria Rilkes >Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke< dar. An Hand dieses Prosa-Gedichts zeigt Silverberg (1947), wie die Hilflosigkeit, die zur Verneinung der bedrohenden Welt führte, sich in eine eigentliche Bestätigung einer allumfassenden und enthaltenden Psyche verwandelt (wie man sie bei Schizophrenen finden kann). Im Gedicht erlebt der umzingelte Held die auf ihn niederschlagenden blitzenden Säbel der Heiden als einen lachenden, auf ihn niederrieselnden Wasserbrunnen. Dieses »schizoide Manöver« (Silverberg) ist aber ein mehr oder weniger großer Aspekt jeder menschlichen Beziehung; denn die Furcht vor der Individualität des anderen stammt aus den frühkindlichsten Erfahrungen, als wir »liebenden« Erwachsenen ausgesetzt waren, deren Versuch, uns ihren Willen aufzusetzen, uns mit dem Erlöschen des eigenen keimenden Selbst bedrohte.

9)   F.M. Alexander litt an Sprachstörungen, die fast zum Verlust seiner Stimme führten. Während langer, qualvoller Jahre arbeitete er an sich, um seine Muskulatur in Haltung und Bewegung zu verbessern. Als er das erreicht hatte, bekam er auch seine Stimme wieder unter Kontrolle. Seine Methode lehrt, wie falsche Bewegungsgewohnheiten abgelegt werden können (Alexander, 1910, 1932).

 

10)  Es ist interessant, daß Paulo Freire (1970, 1972) in seiner Studie über die Unterdrückten feststellt: »Die Unterdrückten haben das Image des Unterdrückers internalisiert.« Als Revolutionären wird ihnen der Austausch der Rollen zum Ziel, nicht aber eine authentische Existenz.

11)  In Millers Text ist klar, daß er mit Mutter auch die Gesellschaft meint. Die Zitate sind von mir aus der englischen Ausgabe übersetzt worden, weil die deutsche literarisch, aber nicht psychologisch, korrekt ist.

12)  Es ist interessant, daß V. J. Lenin in >Der Linke Radikalismus. Die Kinderkrankheit im Kommunismus« (1920) die infantile Natur solcher Forderungen als Abhängigkeit erkannte. Er schrieb: »Sie verwechseln Wunschdenken mit Tatsachen«, sie »führen Ungeduld als theoretisches Argument an«.

13)  Anna Freuds Konzept der Identifikation mit der Aggression (1946) ist relevant. Sie zielt auf die Abwehrfunktion solcher Identifikation. Ich betone, wie sehr solche Identifikation gegen den eigenen möglichen Kern gerichtet ist.

14)  Der englische Politologe R. V. Sampson (1966) schildert in seiner Studie der Psychologie der Macht diesen Vorgang mit moralischer Kraft und Tiefe. Er dokumentiert in Biographien, wie der Ehrgeiz vieler erfolgreicher Männer Ausdruck des Machtstrebens ihrer Mutter ist.

15)  In Liedloffs (1980) Studie über die Yequana sehen wir auch die Fähigkeit, die Wirklichkeit anderer anzuerkennen, was Wissenschaftlern öfter nicht möglich ist. Ihre eigene Ideologie des Seins verhindert das Sehen. Da Liedloff nicht mit den »Fach-Augen« der Anthropologen zu den Yequanas kam, war sie frei, diese Menschen zu erleben.

16)  Antill und Cunningham (1979) haben beschrieben, wie Frauen Selbstachtung auf »männliche« Triebe bauen. Die Autoren, selber in diesem Mythos befangen, nehmen ihr Forschungsresultat als grundsätzliche Selbstachtung an, anstatt daß es eben eine gewisse ehrgeizige Schicht von Frauen widerspiegelt. Daß es Verrat am eigenen Sein oder Verhüllung der Feindseligkeit durch Identifizierung mit dem Mann repräsentieren kann, davon wissen sie nichts.

17 Die sogenannte »Checkers Speech«, 1952. Nixon war von seinen eigenen Worten so gerührt, daß er selber weinte (Halberstam, 1979). Es ist, wie ich es beschreibe: Wirkliches Leid irritiert, »dagegen ein trügerisches Manöver, wie tränennasse Augen«, erfüllt Menschen mit der »Macht« ihrer »Großzügigkeit«. Sie fühlen sich erhoben im selben Moment, in dem sie die Wahrheit und ihr eigenes Leben verleumden. Und so wurde diese TV-Rede zum bestimmenden Erfolg seiner Vize-Präsidenten-Wahl 1952.

18 Die Zitate sind aus Elaine Pageis >Versuchung durch Erkenntnis: Die Gnostischen Evangelien< (1981), eine scharfsinnige Bibelforschung über die Nag-Hammadi-Funde im Jabal al-Tärif des Oberen Ägypten, wo 1945 die fast 2000 Jahre alten Schriften der Gnostiker gefunden wurden.

19 Jean Liedloff (1980) schreibt in ihrer Studie über unser menschliches Versagen über dieses ungestillte Verlangen: »Dieser Zustand mag, obwohl er sein Leben lang anhalten wird, unbemerkt bleiben — aus dem einfachen Grund, daß es sich keine andere Art der Beziehung von Selbst zu anderen vorstellen kann.« Das stimmt aber nicht hinsichtlich des Lernens von Macht.

 

20 Folgende Arbeiten sind grundlegend: Blechschmidt (1976); Hebb (1958); Kuo (1932a, b, c, d, e, 1963); Lehrman (1953, 1965); Schneiria (1949, 1956, 1959, 1965).

21 Ribble (1943); Spitz und Wolf (1946).

22 Grunebaum u.a. (1960); Heron u.a. (1953); Lilli (1956).

23 Der Begriff »Kultur« wird hier in der angelsächsischen und soziologischen Bedeutung verwendet. Der deutsche bildungsbürgerliche Begriff umfaßt einen weiteren idealistischen und historischen Bedeutungshorizont, der im restriktiveren Sinn von culture nur teilweise enthalten ist.

24 Eine Umschreibung Henry Millers: »Pfeile der Sehnsucht nach dem anderen Ufer« in seiner Studie >Vom Großen Aufstand< (1954) über Rimbaud.

25)  Aronson und Rosenbloom (1971) beobachteten, daß Säuglinge schon mit dreißig Tagen Schmerz und Leid ausdrückten, wenn sie mit einer Diskrepanz im Wesen der Mutter konfrontiert wurden. Indem die Stimme der Mutter von woanders herkam als aus der Richtung, in der sie gesehen wurde, wurde die Einheit der Perzeption des Säuglings verletzt. Seine entsprechende Unruhe und Irritation ist der Beweis für eine ursprüngliche, einheitliche Einstellung und ein ihr entsprechendes Bedürfnis nach Integration.

26)  Albert Speers Autobiographie (>Erinnerungen<, 1969) ist ein Beispiel für die Art Mensch, die weiß, was zu fühlen ist, aber eigentlich nichts fühlt. Matthis Schmidt (1982) hat Speers wirkliche Persönlichkeit entlarvt. Wie erfolgreich Speer in seiner Image-Manipulation war, wird anhand seines Nachrufs am 2. September 1981 in der >New York Times< ersichtlich. Hier wurde seine Humanität gerühmt. Friedrich Percyval Reck-Malleczewen jedoch, ein konservativer Deutscher, der 1945 von der Gestapo ermordet wurde, schrieb über ihn als einen Mann, »der in seiner konstruktiven Visage diese widerlich mechanistische Bubenseele seiner Generation offenbart« (1971). Er erkannte das Seelenlose eines Angepaßten ohne eigenes Selbst. Ähnlich beschreibt Fest (1963) Martin Bormann: ». . . kein einziges Ereignis in (seinem) Leben trägt die Marke einer Individualität.«

27)  M. Maccoby (1979) zeigt solche Zusammenhänge in seiner Beschreibung der heutigen Großindustriemanager auf, unterläßt es aber, die Konsequenzen zu ziehen, da er selbst in hohem Ausmaß mit Macht und Erfolg identifiziert ist. James Fallows (1981), der frühere Chef-Speechwriter Präsident Carters, beschreibt solche Menschen in der heutigen Politik Amerikas in seiner Studie über die amerikanische Armee. Vgl. hierzu auch seinen Aufsatz <Materialbeschaffung statt Verteidigung>, 1981) und die Bemerkungen Admiral Rickovers (1982). 

Die Arbeit über die Flugzeugindustrie von John Newhouse im >New Yorker< (1982) schildert ebenfalls Menschen, deren »Wirklichkeit« einem unwirklichen Selbst entspricht. Da diese aber dem Mythos des Erfolgs angepaßt sind, wird ihr Verhalten nicht durchschaut. Das hat leider Konsequenzen für uns alle. Auf dem Gebiet der Wissenschaft möchte ich nur den Betrug und das Plagiat in der medizinischen Literatur erwähnen, der in den USA ans Licht kam (Science 1980, 1982): Als eine Ärztin und Wissenschaftlerin, deren Artikel von dem Redakteur einer medizinischen Zeitschrift gelesen und abgelehnt wurde, um dann von ihm unter seinem eigenen Namen zu erscheinen, sich beklagte, wurde sie zuerst von anderen Professoren und Redakteuren als kleinlich bezeichnet. Jemand, der zweihundert Artikel innerhalb einer Dekade publiziert hatte und den Täter beschützte, muß ja im Recht sein! Das schlimmste dabei war, daß die akademischen Institutionen, verwickelt in diesen Fall, diese Art von Betrug rechtfertigten, indem sie es dem Druck, erfolgreich zu sein, zuschrieben! Man kann das natürlich verstehen, wenn wir sehen, wie sehr Image den Platz wahrer Gefühle eingenommen hat.

Der neue Präsident der Amerikanischen Wissenschaftlichen Gesellschaft (AAA) wurde seinen Mitgliedern in ihrer wöchentlichen Zeitschrift (Science, 1980) auf folgende Weise vorgestellt: Wir lesen, daß dieser Mann nicht nur Professor und Leiter eines Universitätsdepartements ist, sondern darüber hinaus Vorsitzender eines nationalen Komitees, das zweihundert anderen Wissenschaftlern vorsteht, Vorsitzender mehrerer internationaler wissenschaftlicher Komitees, Berater verschiedener Regierungsvertretungen, Fachberater einiger Laboratorien, außerordentlicher Herausgeber von sechs internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften ist und daß er im Vorstand mehrerer bedeutender Industrieunternehmen sitzt. Dann am Ende dieses erschöpfenden Berichts wird uns versichert, daß diesem Mann noch »Raum« für Familienleben und Vergnügen bleibt. Mit so einer Image-Bezogenheit, ist es da ein Wunder, daß wir die Menschen ohne Selbst und ohne wahre Gefühle nicht erkennen?

28)  Man muß Miller so verstehen, daß er Mutter und/oder Vater meint, daß der Vater zum Symbol der schlechten Mutter wird und später zu dem der verweigernden und verneinenden Gesellschaft.

29)  Der Historiker Erich Kahler (1956) legt nahe, daß des Apostel Paulus Bekehrung, durch die sich sein Haß gegen das Christentum plötzlich gegen das jüdische Gesetz wendete, eine solche Wende gegen das vorige Selbst war.

 

30)  Das ist tatsächlich auch bei Psychopathen der Fall. Hier werden die Formen der geistigen Gesundheit zum Deckmantel der inneren zerstörerischen Wut, die man aber nur dann wahrnimmt, wenn sie plötzlich und unerwartet ausbricht. Wenn jemand jedoch an der Macht ist, wird man ihn kaum als Psychopathen etikettieren. Der amerikanische Psychiater Hervey Cleckley (1964) beschrieb diesen, vom Beobachter meist verschleierten Vorgang, in einer Studie mit dem bezeichnenden Titel >Unter der Maske der geistigen Gesundheit^

31)  Learned Hand, der Ober-Richter des Berufungsgerichtes der USA, in seinem Freispruch von Judith Coplon, die von der Regierung ihrer Ideen wegen des Verrats angeklagt wurde (United States v. Coplon, United States Court of Appeals, Second Circuit, 1950).

 

32)  Wenn das offizielle Selbst nicht mehr funktioniert, wenn die Versprechungen, die Identität garantieren, unter dem Druck außerordentlicher Zerrüttungen auseinanderfallen (wie es zum Beispiel Norman Cohn, 1961, für das Mittelalter und den Schwarzen Tod beschrieb und wie es heutzutage, im Zeitalter der allgegenwärtigen Bedrohung alles Lebens durch Atomwaffen und der allgemeinen wirtschaftlichen Auflösung, vor sich geht), dann revoltiert man gegen die gewaltsam auferlegten Formen.

Nur von den untersten auf der Hierarchieleiter jeglicher Macht können wir noch die Wahrheit des ganzen Vorgangs erfahren, da sie am wenigsten vom Widerspruch ihrer Lage ein Bewußtsein haben. 

Marie Luise Kaltenegger (1982) zeichnet in Gesprächen mit Somozas Nationalgardisten in einem Gefängnis in Nicaragua diese Selbsts ohne Ich auf. Ein Ausbilder der früheren Mord-Einheit EEBI beschreibt das Training:

»Damit einer gehorchen lernt, bringen sie ihn dazu, demütigende Dinge zu tun. Sich hinzustellen zum Beispiel und auf Befehl wie ein Schaf zu blöken... Daß ihm die ganze Truppe in den Arsch tritt... Bis er begriffen hat, daß er keine Fragen zu stellen hat...« und von einem der Ausgebildeten: »Ich bin klein und mager. Bevor ich zur Nationalgarde ging, hatte ich vor allem und jedem Angst... (heute) habe ich keine Angst, das ist das wichtigste... Das nenne ich einen Mann.« Ein anderer: »Ich hatte keine Schuhe... In der Armee geben sie dir eine Uniform, Stiefel, Essen, ein Bett. Mir gefiel es beim Militär. Die Nationalgarde war schon in Ordnung.« 

Auf die Äußerung, daß das Volk sagt, die Nationalgarde sei ein korrupter Mörderhaufen gewesen: »Das Volk ist ein Scheißdreck. Das Volk lügt. Gestern war es für Somoza, heute ist es für die Sandinisten. Das, was das Volk sagt, zählt nicht.«

Über die Tatsache, daß die gefangenen Somoisten nicht hingerichtet wurden: «... ich verstehe es nicht. Warum (belasten sie sich) mit Tausenden von Todfeinden? Ich finde, die Sandinisten haben nichts begriffen ... Es sind eben Zivilisten.«

Also, wenn man menschlich ist, ist man ein weicher Idiot! Das geht ihm gegen den Strich, denn es konfrontiert ihn mit seiner eigenen verworfenen Menschlichkeit.

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