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5.   Dilemmas und Kontroversen der traditionellen Psychiatrie

 

 

  Das medizinische Modell: Das trojanische Pferd der Psychiatrie   

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Als Folge einer komplexen historischen Entwicklung hat sich die Psychiatrie als ein Zweig der Medizin etabliert. Ihre dominierenden theoretischen Konzeptionen, das therapeutische Vorgehen bei Menschen mit emotionalen Störungen und Verhaltensproblemen, die Forschungsstrategie, die Grund- und Fachausbildung sowie die forensischen Maßnahmen werden vom medizinischen Modell bestimmt. Diese Situation rührt von zwei Dingen her: zum einen erwies sich die Medizin auf der Suche nach den Ursachen und einer effektiven Therapie für eine bestimmte kleine Gruppe von geistigen Abnormitäten als erfolgreich, und zum anderen hat sie die Fähigkeit demonstriert, viele der Störungen, für die keine spezifischen Ursachen gefunden werden konnten, symptomatisch zu beeinflussen.

Das kartesianisch-Newtonsche Paradigma, das die Entwicklung verschiedener Wissenschaftszweige wesentlich geprägt hat, spielte auch in der Geschichte der Neuropsychiatrie und Psychologie eine Schlüsselrolle. Das wieder erwachende wissenschaftliche Interesse an geistigen Störungen gipfelte im 19. Jahrhundert in einer Serie revolutionärer Entdeckungen, die die Psychiatrie eindeutig zu einer medizinischen Disziplin machten. Rasche Fortschritte und bemerkenswerte Forschungsergebnisse auf den Gebieten der Anatomie, Pathologie, Pathophysiologie, Chemie und Bakteriologie ließen die Tendenz wachsen, für alle geistigen Störungen eine organische Ursache zu finden, sei es eine Infektion, eine Stoffwechselstörung oder ein degenerativer Gehirnprozeß.

Diese »organische Orientierung« erhielt anfangs durch die Tatsache Auftrieb, daß in mehreren Fällen die Entdeckung der Ursache von bestimmten geistigen Abnormitäten zur Entwicklung erfolgreicher Therapie­formen führte. So fand man heraus, daß die progressive Paralyse — eine Krankheit, die u.a. mit Größenwahn­vorstellungen sowie Beeinträchtigungen des Intellekts und des Gedächtnisses einhergeht — von einer tertiären Syphilis des Gehirns herrührte, die von dem Protozoon Spirochaeta pallida verursacht wurde. Diese Erkenntnis hatte die erfolgreiche Behandlung mit Hilfe von Chemikalien und Fieberkuren zur Folge. Entsprechend verhielt es sich mit den geistigen Störungen, die die Pellagra begleiteten. Als klar wurde, daß die Ursache in einem Mangel an Vitamin B lag (an Nikotinsäure oder ihrem Amid), konnte man das Problem beseitigen, indem man das fehlende Vitamin in adäquaten Mengen zuführte.

Andere Formen geistiger Störungen ließen sich mit Gehirntumoren, degenerativen Veränderungen im Gehirn, Enzephalitis und Meningitis, verschiedenen Arten falscher Ernährung sowie perniziöser Anämie in Verbindung bringen. Ähnliche Erfolge erzielte die Medizin in der symptomatischen Kontrolle vieler Störungen des Gefühlslebens und Verhaltens, deren Ursache bis heute noch nicht gefunden werden konnten. Hierzu gehören die dramatischen Interventionen wie Kardiazolschocks, Elektroschocks, Insulinkomas und psychochirurgische Maßnahmen. 


Die moderne Psychopharmakologie war in dieser Beziehung mit ihrem reichhaltigen Arsenal an spezifisch wirksamen Medikamenten besonders effektiv. Man denke nur an die Hypnotika, Sedativa, Myorelaxantien, Analgetika, Psychostimulantien, Neuroleptika, Antidepressiva und Lithiumpräparate. Diese augenfälligen Triumphe medizinischer Forschung und Behandlung machten die Psychiatrie zu einem spezialisierten Zweig der Medizin und banden sie an das medizinische Modell. 

Es zeigte sich aber nachträglich, daß dies zu einer nicht unproblematischen Entwicklung führte. Die Erfolge bei der Aufdeckung der Ursachen geistiger Störungen mochten zwar erstaunlich sein, beschränkten sich aber nur auf einen kleinen Bruchteil der Probleme, mit denen es die Psychiatrie zu tun hat. Trotz ihrer anfänglichen Triumphe ist es der medizinisch orientierten Psychiatrie bis heute noch nicht gelungen, spezifische organische Ursachen für die Probleme zu finden, unter denen die absolute Mehrheit der Klienten leidet, nämlich für die Depressionen, die Psychoneurosen und die psychosomatischen Störungen. Auch bei der Aufdeckung der medizinischen Hintergründe der sogenannten endogenen Psychosen, insbesondere der Schizophrenie und der manisch-depressiven Störungen, war sie nur in sehr beschränkter und zugleich höchst problematischer Weise erfolgreich. Das Versagen des medizinischen Ansatzes sowie systematische klinische Untersuchungen emotionaler Störungen riefen eine Alternativbewegung ins Leben, nämlich den psychologischen Ansatz in der Psychiatrie, der zur Entwicklung der dynamischen Schulen der Psychotherapie führte.

Im allgemeinen entwickelte die psychologische Forschung für die Mehrzahl der emotionalen Störungen bessere theoretische Modelle als der medizinische Ansatz. Sie schuf bedeutende Alternativen zur biologischen Behandlung und rückte die Psychiatrie in vielerlei Hinsicht in die Nähe der Sozialwissenschaften und der Philosophie. Dies beeinflußte aber nicht den Status der Psychiatrie als medizinische Disziplin. In gewisser Hinsicht stabilisierte sich die Position der Medizin von selbst, da viele von der medizinischen Forschung entdeckten Medikamente, die die Symptome geistiger Störungen abschwächten, deutliche Nebenwirkungen hatten und somit einen Arzt erforderlich machten, der sie verschrieb und verabreichte. Die enge Liaison zwischen der Medizin und der reichen pharmazeutischen Industrie, die vor allem am Verkauf ihrer Produkte und an der Unterstützung medizinischer Bemühungen interessiert ist, schloß den Teufelskreis. Die Hegemonie des medizinischen Modells wurde zudem noch durch Art und Struktur der psychiatrischen Ausbildung sowie durch gesetzliche Bestimmungen verstärkt.

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Die meisten Psychiater haben nur eine sehr unzureichende Ausbildung in Psychologie. In den meisten Fällen werden Personen, die unter emotionalen Störungen leiden, in medizinischen Einrichtungen behandelt, wobei der Psychiater für die Therapiemaßnahmen gesetzlich verantwortlich ist. Der klinische Psychologe hat dabei häufig untergeordnete Funktionen. Seine Rolle ist der des Biochemikers oder Labortechnikers nicht unähnlich. Zu den traditionellen Aufgaben klinischer Psychologen gehören die Durchführung und Auswertung von Intelligenz- und Persönlichkeitstests sowie von Tests zur Erfassung organischer Beeinträchtigungen, die Beratung bei der Differentialdiagnose, die Bewertung des Erfolgs therapeutischer Maßnahmen sowie die Berufsberatung. 

Die genannten Aufgaben machen einen großen Teil der Aktivitäten derjeniger Psychologen aus, die nicht in der Forschung oder psychotherapeutisch tätig sind. Das Problem, wieweit Psychologen qualifiziert und befugt sind, psychiatrische Patienten therapeutisch zu behandeln, ist Gegenstand zahlreicher Kontroversen gewesen. Die Vorherrschaft des medizinischen Modells in der Psychiatrie hat zu einer mechanischen Übertragung bewährter medizinischer Konzepte und Methoden auf den Bereich der emotionalen Störungen geführt. Die medizinische Betrachtungsweise der meisten psychiatrischen Probleme und die aus ihr abgeleitete Behandlung emotionaler Störungen, insbesondere verschiedener Formen von Neurosen, wurden in den letzten Jahren vielfach kritisiert. Es gibt eine Vielzahl von Hinweisen darauf, daß diese Strategie mindestens ebenso viele Probleme geschaffen wie gelöst hat.

Solche Störungen, für die keine spezifischen Ursachen gefunden werden konnten, werden nach lockerem Sprachgebrauch als »Geisteskrankheit« bezeichnet.1 Menschen, die darunter leiden, werden mit sozial stigmatisierenden »Etiketten« versehen und routinemäßig Patienten genannt. Sie werden in medizinischen Einrichtungen behandelt, in denen die täglichen Ausgaben für ihren Aufenthalt eine gewaltige Summe an Geld verschlingen. Ein großer Teil davon sind Unkosten, die direkt mit dem medizinischen Modell zusammenhängen, etwa Kosten für Untersuchungen und Dienstleistungen, die im Hinblick auf die betreffende Störung und ihre effektive Behandlung von problematischem Wert sind. Viele Forschungsgelder werden für die Verfeinerung medizinischer Untersuchungsmethoden vergeben, mit denen man schließlich die Ursachen der »Geisteskrankheiten« aufdecken möchte, womit der medizinische Charakter der Psychiatrie vollends bestätigt würde.

In letzter Zeit ist zunehmend Unzufriedenheit mit der Anwendung des medizinischen Modells in der Psychiatrie geäußert worden. Wohl der bekannteste und auch eloquenteste Vertreter dieser Bewegung ist Thomas Szasz. In einer Reihe von Büchern, darunter Geisteskrankheit ein moderner Mythos? (191), führt er überzeugende Belege dafür an, daß die meisten Fälle sogenannter »Geisteskrankheiten« als Auseinandersetzungen des einzelnen mit Problemen seines Lebens aufgefaßt werden sollten.

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In ihnen spiegeln sich soziale, ethische und juristische Probleme wider, nicht »Krankheiten« im medizinischen Sinn. Die durch das medizinische Modell definierte Arzt-Patient-Beziehung verstärkt zudem die passive und abhängige Rolle des Klienten. Sie impliziert, daß die Lösung des Problems wesentlich von den Mitteln und Fähigkeiten der Person in der Rolle der wissenschaftlichen Autorität abhängt, nicht von den inneren Möglichkeiten des Klienten.

Nach dieser allgemeinen Einführung können wir näher auf die Konsequenzen des medizinischen Modells für Theorie und Praxis der Psychiatrie eingehen. Als Folge der mechanischen Übertragung des medizinischen Denkens auf alle psychiatrischen Probleme werden diese prinzipiell als Krankheiten aufgefaßt, deren Ursachen in Form anatomischer, physiologischer oder biochemischer Abnormitäten eines Tages gefunden werden dürften. Die Tatsache, daß man die Ursachen gegenwärtig noch nicht kennt, führt nicht dazu, sich von der rein medizinischen Betrachtungsweise zu lösen, sondern dient lediglich als Anreiz für ein noch entschlosseneres Weiterforschen nach medizinischen Grundsätzen mit weiter verfeinerten Mitteln.

So wurden die Hoffnungen organisch ausgerichteter Psychiater vor kurzem durch die Erfolge der Molekularbiologie neu belebt. Eine andere wichtige Konsequenz des medizinischen Modells liegt darin, daß man großen Wert auf die korrekte Diagnose eines einzelnen Patienten und auf die Schaffung eines akkuraten diagnostischen oder klassifikatorischen Systems legt. Ein solches Denken ist in der Medizin ganz wesentlich, da die richtige Diagnose Rückschlüsse auf die spezifischen Ursachen zuläßt und eindeutige, allgemeinverbindliche Folgen für die Therapie und die Vorhersage des Krankheitsverlaufs hat. 

So muß man den Typus einer infektiösen Erkrankung genau diagnostizieren, da jede Infektion eine spezifische Behandlung erfordert und auf die einzelnen Antibiotika unterschiedlich reagiert. Entsprechend bestimmt auch die Art eines Tumors die therapeutische Intervention, die annähernde Prognose oder die Gefahr von Metastasen. Man muß auch genau den Typus einer anämischen Erkrankung feststellen, da der eine Typus auf eine Behandlung mit Eisen, ein anderer auf eine Behandlung mit Kobalt anspricht, usw. Viele vergebliche Mühe ist auf das Problem der Verfeinerung und Standardisierung der psychiatrischen Diagnostik verwendet worden. Der Grund dafür ist, daß das für die Medizin gültige Diagnosekonzept bei den meisten psychiatrischen Problemen nicht anwendbar ist. 

Die mangelnde Übereinstimmung läßt sich klar anhand eines Vergleichs psychiatrischer Klassifikations­systeme verdeutlichen, die in verschiedenen Ländern — etwa in den USA, in Großbritannien, in Frankreich und in Australien — benutzt werden. Werden in unkritischer Anlehnung an dieses Konzept psychiatrische Diagnosen gefällt, so leiden sie unter mangelnder Reliabilität und Validität und sind von fragwürdigem Wert. Die Diagnose hängt entscheidend von der Schule ab, der der einzelne Psychiater angehört, von seinen individuellen Vorlieben, von der Menge der verfügbaren Informationen und von vielen anderen Faktoren.

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Manche Psychiater fällen ihre Diagnose einzig auf der Grundlage des gegenwärtig beim Patienten vorhandenen Symptomenkomplexes, andere auf der Grundlage psychodynamischer Spekulationen, wiederum andere auf der Grundlage einer Kombination aus beiden. Je nachdem wie ein Psychiater die psychischen Auswirkungen einer bestehenden körperlichen Störung — etwa einer Schilddrüsenstörung, einer Viruskrankheit oder eines Diabetes — oder bestimmte Ereignisse im vergangenen oder gegenwärtigen Leben des Patienten bewertet, kann die Diagnose völlig unterschiedlich ausfallen. Auch im Hinblick auf die Interpretation bestimmter diagnostischer Begriffe ist man sich sehr uneinig. So gibt es große Unterschiede zwischen amerikanischen und europäischen Schulen, was die Diagnose einer Schizophrenie anbelangt.

Ein anderer Faktor, der für die Diagnose in der Psychiatrie von Bedeutung sein kann, ist die Art der Beziehung zwischen Psychiater und Patient. Die Diagnose einer Blinddarmentzündung oder eines Hypophysentumors wird kaum von der Persönlichkeit des Arztes beeinflußt werden, wohl aber die psychiatrische Diagnose vom Verhalten des Patienten gegenüber dem Psychiater, der diese trifft. So können Übertragungs-Gegenübertragungsmechanismen oder sogar ein mangelndes Geschick des Psychiaters im Umgang mit Menschen bedeutsame Faktoren werden. Es ist eine wohlbekannte klinische Tatsache, daß sich das Verhalten und Erleben von Patienten je nach der Person, mit der sie gerade in Kontakt steht, ändern kann, und daß es auch von den allgemeinen Umständen oder der jeweiligen Situation abhängt. Viele Aspekte des heutigen psychiatrischen Alltags verstärken oder provozieren unter Umständen sogar verschiedene fehlangepaßte Verhaltensweisen.

Aufgrund des Mangels an objektiven Kriterien, die für die medizinische Diagnose und Behandlung körperlicher Erkrankungen so unerläßlich sind, neigen manche Psychiater dazu, sich auf ihre bisherige klinische Erfahrung zu verlassen. Außerdem sind klassifikatorische Systeme und Probleme häufig medizinischsoziologischen Einflüssen unterworfen. Sie können sich je nach Aufgabe des Arztes ändern. Die Begriffe aus der psychiatrischen Diagnostik sind flexibel und können unterschiedlich gehandhabt werden, je nachdem ob eine Diagnose für den Arbeitgeber, für die Versicherung oder für gerichtsmedizinische Zwecke bestimmt ist. Aber auch ohne solche speziellen Erwägungen werden die Diagnosen verschiedener Psychiater oder psychiatrischer Teams im Hinblick auf einen Patienten häufig auseinandergehen.

Viel Unklarheit herrscht sogar in bezug auf eine so wichtige Frage wie die Differentialdiagnose zwischen Neurose und Psychose. Dieses Problem wird gewöhnlich mit großem Ernst angegangen, obwohl noch nicht einmal eindeutig feststeht, daß psychopathologische Phänomene eindimensional angeordnet sind. Wenn Neurose und Psychose unabhängig voneinander sind, kann ein Patient von beiden betroffen sein.

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Befinden sie sich aber auf ein und demselben Kontinuum und ist der Unterschied zwischen ihnen nur quantitativer Natur, dann müßte vor und nach einer Psychose ein neurotisches Stadium durchlaufen werden. Selbst wenn die psychiatrische Diagnose reliabel und valide gemacht werden könnte, bleibt immer noch die Frage ihrer praktischen Relevanz und Anwendbarkeit. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen gibt es keinen Zweifel darüber, daß das Streben nach einer richtigen Diagnose letztlich vergeblich sein wird, weil diese keine allgemein akzeptierte Bedeutung für die Ursache, die therapeutische Behandlung und die Vorhersagen besitzt. 

Das Erstellen einer Diagnose ist für den Psychiater mit einem großen Aufwand an Zeit und Energie verbunden. Dies gilt erst recht für den Psychologen, der manchmal stundenlang Tests durchführen muß, ehe er eine endgültige Entscheidung treffen kann. Die Wahl der Therapieform wird letztlich von der Orientierung des Psychiaters und nicht von der klinischen Diagnose bestimmt. Organisch orientierte Psychiater werden schon bei Neurotikern routinemäßig Medikamente verordnen, wohingegen ein psychologisch orientierter Psychiater unter Umständen auch bei psychotischen Patienten eine Psychotherapie versuchen wird. Im Rahmen der psychotherapeutischen Arbeit reagiert der Therapeut auf Ereignisse in den Behandlungsstunden und folgt nicht einem von der Diagnose vorgegebenen Therapieplan. Auch die Wahl von Psychopharmaka richtet sich nicht nur nach der Diagnose, sondern häufig auch nach den subjektiven Vorlieben des Therapeuten, nach den klinischen Reaktionen des Patienten, nach dem Auftreten von Nebenwirkungen u.ä.

Ein weiteres bedeutsames Vermächtnis des medizinischen Modells ist die Interpretation der Funktion psychopathologischer Symptome. In der Medizin gilt im allgemeinen, daß eine Krankheit um so schwerer ist, je stärker die Symptome ausgeprägt sind. Werden sie schwächer, so wird dies als Zeichen der Besserung ausgelegt. In der rein naturwissenschaftlichen orientierten Medizin ist die Therapie nach Möglichkeit kausal. Eine symptomatische Behandlung wird nur bei unheilbaren Erkrankungen oder zusätzlich zur kausalen Therapie angewendet. Die Übertragung dieses Prinzips auf die Psychiatrie schafft beträchtliche Verwirrung. Zwar ist es üblich, die Abschwächung von Symptomen als Besserung der Grundkrankheit anzusehen, doch hat die dynamische Psychiatrie eine Unterscheidung zwischen kausaler und symptomatischer Behandlung eingeführt.

Somit ist klar, daß eine symptomatische Behandlung das Grundproblem nicht löst, ja es in gewisser Weise sogar verdeckt. Wie aus Beobachtungen im Rahmen der Psychoanalyse hervorgeht, ist die Intensivierung von Symptomen häufig ein Zeichen dafür, daß etwas Entscheidendes mit dem Grundproblem geschieht. Die neuen Selbsterfahrungstherapien sehen die Intensivierung von Symptomen als ein wichtiges therapeutisches Mittel an und setzen zu diesem Zweck hochwirksame Techniken ein. Die Erfahrungen mit einem Vorgehen dieser Art legen zwingend nahe, daß Symptome ein unvollständiges Bemühen des Organismus sind, ein altes Problem loszuwerden, und daß dieses Bemühen gefördert und unterstützt werden sollte.2)

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Aus dieser Sicht ist die symptomatische Behandlung der gegenwärtigen Psychiatrie zu einem großen Teil eigentlich antitherapeutisch, weil sie spontane Heilungsprozesse des Organismus stört. Die symptomatische Behandlung sollte also nicht als Methode der Wahl verwendet werden, sondern als Kompromiß, wenn der Patient eine angemessenere Alternative ausdrücklich verweigert oder wenn eine solche Alternative aus finanziellen bzw. anderen Gründen nicht möglich ist. Die dominierende Rolle des medizinischen Modells sollte demnach als eine Situation gesehen werden, die durch bestimmte historische Umstände geschaffen wurde und die gegenwärtig durch eine Kombination mächtiger Faktoren philosophischer, politischer, ökonomischer, administrativer und gesetzlicher Natur aufrechterhalten wird. Dieses Modell ist nicht die einzig mögliche wissenschaftliche Konzeption des Wesens emotionaler Störungen und ihrer optischen Behandlung. Es ist die Übertragung einer Denkweise - der medizinischen - auf Probleme der Psychiatrie, die in mancherlei Hinsicht segensreich gewesen sein mag, aber auch definitiv ihre Schattenseiten hat.

In Zukunft könnten Patienten mit psychiatrischen Störungen, die unzweifelhaft organisch begründet sind, in medizinischen Einrichtungen behandelt werden, die speziell für den Umgang mit Verhaltensproblemen ausgerüstet sind. Für diejenigen Patienten, bei denen auch in wiederholten körperlichen Untersuchungen keine organischen Störungen festgestellt werden können, sollten besondere Einrichtungen geschaffen werden, in denen man sich vor allen Dingen mit den psychologischen, soziologischen, philosophischen und spirituellen Aspekten ihrer Erfahrungen auseinandersetzt. Hochwirksame Heilmethoden und Techniken der Persönlichkeitsumwandlung, die sowohl die psychische als auch die physische Seite des Menschen ansprechen, sind bereits von humanistischen und transpersonalen Therapeuten entwickelt worden.

 

Der Wirrwarr der Lehrmeinungen in der Psychiatrie  

Einander widersprechende Theorien und alternative Interpretationen von Daten gibt es in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen. Auch die sogenannten exakten Wissenschaften bilden da keine Ausnahme. Man denke nur an die Meinungsverschiedenheiten bei der Interpretation der mathematischen Formeln der Quantentheorie. Es gibt aber nur sehr wenige Wissenschaftsgebiete, in denen der Mangel an Übereinstimmung so groß und der Umfang allgemein anerkannten Wissens so gering ist wie in der Psychiatrie und Psychologie.

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Die verschiedenartigsten miteinander wetteifernden Persönlichkeitstheorien gelangen häufig zu Erklärungen, die sich gegenseitig ausschließen, so im Hinblick auf die Fragen, wie die Psyche funktioniert, warum und wie sich psychopathologische Störungen entwickeln, und wie eine einwandfrei wissenschaftliche Therapie­konzeption beschaffen sein muß.

Die Meinungsunterschiede über die grundlegendsten Annahmen sind von so phänomenalem Ausmaß, daß man sich nicht zu wundern braucht, wenn der Psychiatrie und der Psychologie häufig der Status einer Wissenschaft abgesprochen wird. So formulieren und verteidigen Psychiater und Psychologen mit einer hervorragenden Hochschulbildung, einer überragenden Intelligenz und einer ausgeprägten wissenschaftlichen Beobachtungsgabe Konzepte, die theoretisch absolut unvereinbar miteinander sind und praktisch zu genau entgegengesetzten Maßnahmen führen. i

So gibt es Schulen mit einer rein organisch orientierten Auffassung von Psychopathologie. Ihrer Meinung nach ist das kartesianisch-Newtonsche Modell des Universums realitätsgerecht. Sie meinen, daß ein in struktureller und funktionaler Hinsicht normaler Organismus dieses Bild von Realität teilen und entsprechend funktionieren müßte. Jede Abweichung von diesem Ideal wird auf irgendeine anatomische, physiologische oder biochemische Abnormität des Zentralnervensystems oder eines anderen Körperteils zurückgeführt.

Wissenschaftler mit dieser Überzeugung sind auf der entschlossenen Suche nach Erbfaktoren, pathologischen Zell Veränderungen, hormonellen Ungleichgewichten, biochemischen Abweichungen und anderen physischen Ursachen. Jede Erklärung für eine emotionale Störung wird erst dann als wissenschaftlich akzeptiert, wenn sie in sinnvoller Weise mit spezifischen materiellen Ursachen in Verbindung gebracht werden kann. Das Extrem verkörpern die deutschen Vertreter dieser Richtung, deren Credo lautet: »Jedem gestörten Gedanken entspricht eine gestörte Gehirnzelle«. Sie meinen, daß eines Tages eine Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen verschiedenen Aspekten der Psychopathologie und Aspekten der Gehirnanatomie festgestellt wird.

Ein anderes extremes Beispiel ist der Behaviorismus oder die Verhaltensforschung, deren Verfechter gerne behaupten, ihr Ansatz würde als einziger die Bezeichnung »wissenschaftlich« verdienen. Sie sehen den Organismus als eine komplizierte biologische Maschine, deren Funktionen — einschließlich der höheren geistigen Funktionen — mit einer komplexen Reflexaktivität erklärt werden können, die auf dem Reiz-Reaktions-Prinzip beruht. Wie schon aus der Bezeichnung ersichtlich, legt die Verhaltensforschung den Schwerpunkt auf das Studium des Verhaltens. Die Vertreter der extremen Richtung weigern sich, introspektive Daten jeder Art und auch nur das Konzept des Bewußtseins in ihre theoretischen Erwägungen einzubeziehen.

Der Behaviorismus hat in der Psychologie sicherlich seinen Platz, nämlich als fruchtbarer Ansatz für eine bestimmte Art von Laborexperimenten. Er kann aber nicht ernsthaft den Anspruch eines alleingültigen Modells für das Funktionieren der menschlichen Psyche erheben.

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Es ist schon seltsam, wenn in einer Zeit, da nach Auffassung vieler Physiker das Bewußtsein in zukünftige Theorien von der Materie ausdrücklich einbezogen werden müßte, eine psychologische Theorie formuliert wird, ohne das Bewußtsein überhaupt zu erwähnen. Während die Vertreter der organisch orientierten Schule nach medizinischen Ursachen für geistige Abnormitäten suchen, neigen die Behavioristen dazu, diese als Ansammlung fehlangepaßter, nach dem Konditionierungsprinzip gelernter Verhaltensweisen zu sehen.

Im mittleren Bereich des Spektrums von Theorien, die psychopathologische Phänomene zu erklären versuchen, finden sich die Spekulationen der Tiefenpsychologie. Abgesehen davon, daß sie in ihren Grundkonzepten von den Organikern und Behavioristen abweichen, stehen sie auch noch miteinander im Streit. Manche der Auseinandersetzungen innerhalb dieser Gruppe habe ich schon weiter oben anläßlich der Besprechung der Abfallbewegungen von der Psychoanalyse erwähnt. In vielen Fällen sind die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Tiefenpsychologen sehr ernsthafter und grundlegender Natur. Am anderen Ende des Spektrums gibt es Ansätze, die sich von den organischen, behavioristischen und psychologischen Schulen unterscheiden. Sie vermeiden es sogar, überhaupt von Psychopathologie zu sprechen. So sehen beispielsweise die Vertreter der Phänomenologie die meisten Zustände, mit denen es die Psychiatrie zu tun hat, als Ausdruck philosophischer Probleme an. In diesen Zuständen spiegeln sich nach ihrer Auffassung Variationen der Existenz, verschiedene Formen des In-der-Welt-Seins wider.

Heutzutage weigern sich viele Psychiater, einen der oben beschriebenen engen und geradlinigen Ansätze als alleingültig zu akzeptieren, und sprechen statt dessen von einer »multiplen Ätiologie«. Ihrer Ansicht nach sind emotionale Störungen das Endresultat eines komplexen Zusammenspiels der verschiedensten Faktoren, von denen einige biologischer, andere wiederum psychologischer, soziologischer und philosophischer Natur sein dürften. Die psychedelische Forschung teilt diesen Standpunkt. Obwohl psychedelische Zustände durch einen klar definierten chemischen Reiz herbeigeführt werden, folgt daraus sicherlich nicht, daß das Studium der biochemischen und pharmakologischen Wirkungen im Körper nach Einnahme der psychedelischen Drogen zu einer vollständigen und umfassenden Erklärung des gesamten Spektrums psychedelischer Phänomene führen könnte. 

Die Droge ist nur ein Auslöser und Katalysator für den psychedelischen Zustand, der ein bestimmtes, der menschlichen Psyche innewohnendes Potential freisetzt. Die psychologischen, philosophischen und spirituellen Dimensionen dieser Erfahrung lassen sich nicht auf anatomische, physiologische, biochemische oder verhaltensmäßige Aspekte reduzieren und müssen mit den Mitteln erforscht werden, die diesen Phänomenen angemessen sind. Was die Situation in der psychiatrischen Therapie anbelangt, so ist sie gleichermaßen unbefriedigend. Das überrascht nicht, da die praktische Behandlung und die theoretische Konzeption psychopathologischer Störungen eng zusammenhängen.

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So befürworten die organisch orientierten Psychiater häufig extreme biologische Maßnahmen, und zwar nicht nur für die Behandlung schwerer Störungen wie der Schizophrenie oder der manisch-depressiven Psychose, sondern auch der Neurose und der psychosomatischen Erkrankungen. Bis zu Beginn der fünfziger Jahre waren die meisten der in der Psychiatrie üblichen Behandlungsmethoden ziemlich radikaler Natur. Zu ihnen zählten der Kardiazolschock, der Elektroschock, das Insulinkoma und die Lobotomie.3)

Sogar mit den modernen Psychopharmaka, die alle diese drastischen Maßnahmen beinahe vollständig ersetzten und die sehr viel feiner sind, gibt es Probleme. Man nimmt im allgemeinen an, daß sie eine psychiatrische Störung nicht an der Wurzel anpacken, sondern lediglich die Symptome beeinflussen. In vielen Fällen folgt auf die Phase der aktiven Behandlung eine unbestimmt lange Phase, in der zur Aufrechterhaltung der Wirkung der Patient das Medikament in geringeren Dosen weiter einnehmen muß. Viele Neuroleptika werden routinemäßig über einen sehr langen Zeitraum eingesetzt. Dies kann zu nicht mehr behebbaren neurologischen Schäden, Schäden der Netzhaut und einer echten Abhängigkeit führen.

Die psychologischen Schulen geben der Psychotherapie den Vorzug, nicht nur im Fall von Neurosen, sondern auch von vielen psychotischen Zuständen. Wie ich schon früher erwähnte, gibt es aber letztlich keine allgemein anerkannten diagnostischen Kriterien — außer einer klar nachweisbaren organischen Ursache wie Gehirnhautentzündung, Tumoren oder Arteriosklerose —, nach denen der Patient eindeutig mit organischer Therapie oder Psychotherapie behandelt werden muß. Außerdem gibt es beträchtliche Meinungsverschiedenheiten im Hinblick darauf, nach welchen Regeln eine biologische und eine psychologische Behandlung kombiniert werden sollen. Eine psychopharmakologische Therapie mag gelegentlich bei psychotischen Patienten notwendig sein, die psychotherapeutisch behandelt werden, und ist allgemein mit oberflächlichen, rein stützenden psychotherapeutischen Verfahren vereinbar. Viele Psychotherapeuten meinen aber, ein solches Vorgehen sei mit einer systematischen tiefenpsychologischen Behandlung unvereinbar. Während man mit den aufdeckenden Verfahren darauf abzielt, zu den Wurzeln des Problems zu gelangen, maskiert man mit einer symptomatischen Therapie die Symptome und deckt das eigentliche Problem zu.

Diese Situation wird nun auch noch durch die zunehmende Verbreitung der neuen Selbsterfahrungs­therapien kompliziert. Diese verwenden nicht nur die Symptome gezielt als Ansatzpunkte für Therapie und Selbsterfahrung, sondern sehen in ihnen auch einen Ausdruck von Selbstheilungsbestrebungen des Organismus, die sie mit hochwirksamen Techniken zu unterstützen versuchen. So konzentriert sich ein Teil der Psychiater mit allen Mitteln darauf, immer mehr und effektivere Wege zur Kontrolle der Symptome zu entwickeln, während ein anderer Teil ebenso große Anstrengungen unternimmt, immer wirksamere Methoden zu ihrer weiteren Ausfaltung zu erfinden.

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Viele Psychiater glauben, daß die symptomatische Behandlung ein Kompromiß ist, den man eingehen kann, wenn eine effektivere Alternative nicht bekannt oder durchführbar ist, während andere fest die Ansicht vertreten, daß es eine schwere Nachlässigkeit sei, keine dämpfenden Pharmaka einzusetzen.

In Anbetracht der mangelnden Übereinstimmung in Fragen der psychiatrischen Therapie — ausgenommen solcher Situationen, die strenggenommen in den Bereich der Neurologie oder eines anderen medizinischen Zweigs fallen wie die progressive Paralyse, die Gehirntumoren oder die Arteriosklerose — kann man neue therapeutische Konzepte und Strategien vorschlagen, ohne irgendwelche Prinzipien zu verletzen, die von der gesamten Fachwelt als absolut und allgemeingültig betrachtet werden.

 

Kriterien für die psychische Gesundheit und den therapeutischen Erfolg

Da die Mehrzahl der klinischen Probleme, mit denen es die Psychiater zu tun haben, nicht »Krankheiten« im eigentlichen Sinn des Wortes sind, stößt die Anwendung des medizinischen Modells in diesen Fällen auf erhebliche Schwierigkeiten. Obwohl sich die Psychiater seit über 100 Jahren größte Mühe geben, ein »umfassendes« diagnostisches System zu entwickeln, sind sie im großen und ganzen erfolglos geblieben. Der Grund dafür ist, daß keine krankheitsspezifischen Ursachen bekannt sind, die die Grundlage aller brauchbarer diagnostischer Systeme bilden.4) 

Thomas Scheff (180) hat diese Situation kurz und bündig so beschrieben: »Was die Klassifikation von Geisteskrankheiten anbelangt, so konnte keine der Komponenten des medizinischen Modells — Ursache, Verletzung, einheitliche und invariante Symptome, Verlauf und optimale Behandlung — zur Geltung gebracht werden.« Es gibt so viele Standpunkte, so viele Schulen und so viele nationale Unterschiede, daß nur sehr wenige diagnostische Konzepte für alle Psychiater ein und dasselbe beinhalten.

Dies hat aber die Psychiater nicht davon abgehalten, immer umfassendere und detailliertere offizielle Nomenklaturen zu produzieren. Die Fachleute benutzen weiterhin die gang und gäbe gewordenen Begriffe, auch wenn mittlerweile eine große Menge von Untersuchungsergebnissen vorliegt, nach denen viele Patienten gar nicht die Symptome haben, die in die bei ihnen angewendeten diagnostischen Kategorien fallen. Generell basiert die psychiatrische Gesundheitsversorgung auf unzuverlässigen und nicht erwiesenen diagnostischen Kriterien und Behandlungsrichtlinien. Die Frage, wer »geistig krank« und wer »geistig gesund« ist und wie diese »Krankheit« beschaffen ist, wirft sehr viel schwierigere und kompliziertere Probleme auf, als es den Anschein hat. Die Art und Weise, wie man zu einer solchen Entscheidung gelangt, ist sehr viel weniger rational, als es die traditionelle Psychiatrie gerne wahrhaben möchte.

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In Anbetracht der großen Zahl von Menschen mit schweren Symptomen und Problemen sowie bei dem gleichzeitigen Mangel an allgemein akzeptierten diagnostischen Kriterien lautet wohl die entscheidende Frage, warum und wie solche Menschen als geisteskrank bezeichnet werden und in psychiatrische Behandlung kommen. Untersuchungen haben ergeben, daß dies mehr von verschiedenen sozialen Merkmalen als von der Natur der ursprünglichen Abweichung abhängt (118). So ist es wesentlich, wie stark Symptome nach außen in Erscheinung treten. Es ist ein großer Unterschied, ob sie für jedermann bemerkbar oder ob sie relativ unauffällig sind. Ein anderer wichtiger Punkt ist der kulturelle Kontext, in dem Symptome auftreten. Die Vorstellung davon, was normal und akzeptabel ist, unterscheidet sich erheblich je nach sozialer Klasse, ethnischer Gruppe, Religionsgemeinschaft, geographischer Lage und historischem Zeitpunkt. Auch scheinen Statusmerkmale wie Alter, Rasse, Einkommen und Bildungsgrad die Diagnose zu beeinflussen. Die vorgefaßte Meinung des Psychiaters ist ebenfalls ein entscheidender Faktor. So hat sich in Rosenhans bemerkenswerter Untersuchung (177) gezeigt, daß das Fachpersonal einer psychiatrischen Klinik dazu neigt, normales und alltägliches Verhalten einer Person als pathologisch zu interpretieren, wenn diese einmal als geisteskrank diagnostiziert worden ist - auch wenn sie in Wirklichkeit normal ist. 

Eine psychiatrische Diagnose ist genügend vage und flexibel, um sie verschiedenen Umständen anpassen zu können. Sie kann relativ leicht verteidigt werden, wenn der Psychiater eine Zwangsunterbringung rechtfertigen muß oder wenn er vor Gericht beweisen soll, daß sein Klient im juristischen Sinn nicht verantwortlich war. Diese Situation steht in schroffem Gegensatz zu den strengen Kriterien, die der Psychiater für die Anklage anwendet, oder an die sich ein Militärpsychiater halten muß, da seine Diagnose unter Umständen eine Entlassung vom Wehrdienst rechtfertigen würde. Ähnlich flexibel kann die Diagnose beispielsweise auch in Versicherungsprozessen gehandhabt werden. Die fachlichen Argumente können erheblich unterschiedlich ausfallen, je nachdem auf welcher Seite der Psychiater steht.

Aufgrund des Mangels an präzisen und objektiven Kriterien wird die Psychiatrie immer von der sozialen, kulturellen und politischen Struktur der Gemeinschaft, in der sie praktiziert wird, beeinflußt. Im 19. Jahr­hundert wurde die Selbstbefriedigung als etwas Pathologisches angesehen, und viele Fachleute schrieben abschreckende Bücher, Artikel und Pamphlete über ihre schädlichen Auswirkungen. Die modernen Psychiater betrachten sie als harmlos und sehen in ihr ein Sicherheitsventil für den Abbau übermäßiger sexueller Spannungen. In der Stalinzeit erklärten die Psychiater in Rußland Neurosen und sexuelle Abweichungen als Produkte von Klassenkonflikten und verkommenen Moralvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft. Sie behaupteten, Probleme dieser Art wären mit dem Wechsel der sozialen Ordnung praktisch verschwunden. 

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Patienten mit solchen Symptomen wurden als Anhänger der alten Ordnung und als »Volksfeinde« angesehen. In den letzten Jahren ist die sowjetische Psychiatrie immer mehr dazu übergegangen, politisch Andersdenkende als geisteskrank zu klassifizieren und damit ihre Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik sowie eine entsprechende Behandlung zu rechtfertigen. In den USA war die Homosexualität als Geisteskrankheit definiert — bis 1973, als die Vereinigung amerikanischer Psychiater per Abstimmung entschied, sie sei keine. Die Mitglieder der Hippie-Bewegung in den sechziger Jahren galten bei traditionell orientierten Fachleuten als emotional labil, psychisch krank und möglicherweise durch Drogengenuß gehirngeschädigt, während die Psychiater und Psychologen der New Age-Bewegung sie als die emotional befreite Avantgarde der Menschheit betrachteten. Wir haben bereits früher über kulturelle Unterschiede im Hinblick auf die Vorstellungen von Normalität und geistiger Gesundheit gesprochen. Viele der Phänomene, die in den Augen der westlichen Psychiatrie symptomatisch für eine Geisteskrankheit sind, stellen offenbar Variationen des kollektiven Unbewußten dar, die in manchen Kulturen bzw. zu irgendeinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte als abolut normal und akzeptabel gegolten haben. 

Die psychiatrische Klassifikation und ihre »Symptomlastigkeit« lassen sich — so problematisch sie auch sein mögen — aus der Sicht der modernen therapeutischen Praktiken ein wenig rechtfertigen. Die verbal orientierten Psychotherapien tragen nicht gerade zu dramatischen Veränderungen des klinischen Bildes bei, und die dämpfenden Medikamente stören aktiv die weitere Entwicklung des als krankhaft angesehenen Prozesses, wobei die Gefahr besteht, ihn zum Stillstand zu bringen. Die Relativität eines solchen Vorgehens wird aber offenkundig, wenn in der Therapie mit Psychedelika oder anderen hochwirksamen Selbsterfahrungstechniken ohne die Zuhilfenahme von Drogen gearbeitet wird. Dies führt zu einem Ruß der Symptome, so daß der Patient gelegentlich innerhalb von Stunden ein völlig anderes klinisches Bild bietet. So wird deutlich, daß das, was die Psychiater als voneinander getrennte diagnostische Kategorien beschreiben, Ausdruck eines Umwandlungsprozesses ist, der in verschiedenen Stadien angehalten wurde.

Die Situation ist nicht viel ermutigender, wenn wir uns vom Problem der psychiatrischen Diagnose zur psychiatrischen Behandlung und Bewertung des Behandlungserfolgs zuwenden. Jeder Psychiater hat seine eigenen therapeutischen Methoden, die er bei den verschiedensten Problemen anwendet, auch wenn gar nicht sicher ist, daß sie effektiver sind als andere Methoden. Wie Kritiker der Psychotherapie aufgrund von Untersuchungen argumentieren konnten, gibt es keine überzeugenden Belege dafür, daß Patienten, die von Fachleuten behandelt werden, größere Besserungen zeigen als Patienten, die überhaupt nicht behandelt werden oder Unterstützung von Nicht-Fachleuten erfahren (37). Wenn sich im Verlauf einer Psychotherapie Besserung einstellt, dann läßt sich nur schwer der Nachweis erbringen, daß diese in einem direkten Zusammenhang mit dem therapeutischen Prozeß oder den theoretischen Ansichten des Therapeuten steht.

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Die Ergebnisse von Untersuchungen zur Effektivität von Psychopharmaka und ihren Einwirkungen auf die Symptome sind etwas ermutigender. Hier erhebt sich aber die kritische Frage, ob eine Beseitigung von Symptomen echte Besserung bedeutet oder ob die Anwendung von Pharmaka lediglich die Grundprobleme zudeckt und ihre Lösung verhindert. Es gibt immer mehr Hinweise darauf, daß die dämpfende Medikation in vielen Fällen den Heilungs- und Umwandlungsprozeß stört und daß sie nur dann eingesetzt werden sollte, wenn es der Patient so will oder wenn die Umstände den aufdeckenden Prozeß nicht erlauben. 

Da keine Klarheit über die Kriterien für die psychische Gesundheit herrscht, sind psychiatrische Etikettierungen problematisch, und da es zudem noch keine Übereinstimmung im Hinblick darauf gibt, was eine effektive Behandlung ausmacht, sollte man sich von einer Bewertung des Therapieerfolgs nicht viel versprechen. In der alltäglichen klinischen Praxis sind die Bewertungskriterien für den Zustand des Patienten die Art und die Intensität der gegenwärtig vorhandenen Symptome. Werden die Symptome stärker, dann spricht man von einer Verschlechterung des klinischen Zustands, werden sie schwächer, gilt dies als Zeichen der Besserung. Diese Anschauung widerspricht der Ansicht der dynamischen Psychiatrie, wo der Schwerpunkt auf die Lösung von Konflikten und die Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen gelegt wird. Hier geht eine Intensivierung von Symptomen einem größeren therapeutischen Fortschritt häufig voraus oder begleitet ihn. Die primär symptomorientierte Auffassung von Therapie steht auch in einem scharfen Gegensatz zu der in diesem Buch dargelegten Anschauung, wonach die Intensität von Symptomen die Aktivität des Heilungsprozesses anzeigt und Symptome ebensosehr als Problem wie auch als günstige Gelegenheit angesehen werden.

Während manche Psychiater bei der Bewertung des Therapieerfolgs ausschließlich von Veränderungen der Symptomatik ausgehen, beziehen andere in ihre Kriterien die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen und die soziale Anpassung mit ein. Nicht unüblich ist auch die Benutzung offenkundig kulturgebundener Kriterien wie die des beruflichen Erfolgs und der Wohngegend. So können aus dieser Sicht eine Erhöhung des Einkommens oder der Umzug in eine Wohngegend mit größerem Prestige als bedeutsame Anhaltspunkte für die psychische Gesundheit gewertet werden. Die Absurdität solcher Kriterien wird unmittelbar deutlich, wenn wir die emotionale Stabilität und die psychische Gesundheit mancher Menschen betrachten, die nach solchen Maßstäben an hoher Stelle rangieren würden, etwa Howard Hughes oder Elvis Presley. Die Tatsache, daß Kriterien dieser Art in klinische Erwägungen einbezogen werden, zeigt den Grad der theoretischen Verwirrung an. Es ließe sich ohne weiteres nachweisen, daß ein verstärkter Ehrgeiz, Wettbewerbsstreben und das Bedürfnis, Eindruck zu machen, Anzeichen einer Verschlechterung statt einer Besserung sind. In der Situation, in der sich die Welt heute befindet, kann eine freiwillig auferlegte einfache Lebensführung sehr wohl Ausdruck grundlegender psychischer Gesundheit sein.

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Da das in diesem Buch vorgestellte theoretische System der spirituellen Dimension im menschlichen Leben große Bedeutung beimißt, scheint es angebracht, die Spiritualität in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Für traditionell orientierte Psychiater schwingt in spirituellen Neigungen und Interessen eindeutig etwas Pathologisches mit. Auch wenn es nicht klar ausgesprochen wird, geht man im gegenwärtigen psychiatrischen Denken mehr oder weniger davon aus, daß zu geistiger Gesundheit Atheismus, Materialismus und das Weltbild der mechanistischen Wissenschaft dazugehören. So würden generell spirituelle Erlebnisse, religiöse Überzeugungen und die Ausübung spiritueller Praktiken die Diagnose einer psychopathologischen Störung wahrscheinlicher machen. 

Ich kann dies anhand eines persönlichen Erlebnisses aus der Zeit verdeutlichen, als ich in die USA kam und mit Vorlesungen über meine LSD-Forschungen in Europa anfing. 1967 sprach ich vor dem Fachbereich Psychiatrie der Harvard-Universität, wobei ich die Ergebnisse diskutierte, die ich mit Hilfe der LSD-Psychotherapie bei einer Gruppe von Patienten mit schweren psychiatrischen Problemen erzielt hatte. Während der Diskussion gab einer der Psychiater seine Interpretation meiner Auffassung von therapeutischen Erfolgen. Nach seiner Meinung waren an die Stelle der neurotischen Symptome psychotische Phänomene getreten. Ich hatte beschrieben, wie sich bei vielen eine auffallende Besserung zeigte, nachdem sie intensive Tod-Wiedergeburt-Erlebnisse und Erlebnisse der Einheit mit dem Kosmos gehabt hatten. Als Folge davon wandten sie sich spirituellen Dingen zu und interessierten sich sehr für die alten und östlichen Philosophien. Manche von ihnen wurden gegenüber dem Gedanken der Reinkarnation aufgeschlossen, andere praktizierten Meditation, Yoga und weitere Formen spiritueller Techniken. Diese Erscheinungen waren nach Ansicht dieses Psychiaters eindeutige Anzeichen für einen psychotischen Prozeß. Da heute das Interesse an spirituellen Praktiken weit verbreitet ist, würde eine solche Schlußfolgerung wohl nicht mehr so schnell gezogen werden. Diese Geschichte ist aber ein gutes Beispiel für die allgemeine Orientierung des gegenwärtigen psychiatrischen Denkens.

Die Situation in der westlichen Psychiatrie ist - was die Definition von Normalität und Geisteskrankheit, die klinische Diagnose, die generelle Behandlungsstrategie und die Bewertung des Therapieerfolgs angeht- ziemlich verwirrend und läßt viel zu wünschen übrig. Die geistige Gesundheit wird mit dem Fehlen von psychopathologischen Symptomen gleichgesetzt. Es gibt keine positive Definition vom normalen Menschen. Begriffe wie Lebensfreude, Liebesfähigkeit, Nächstenliebe, Ehrfurcht vor dem Leben, Kreativität und Selbstverwirklichung werden wohl kaum jemals in psychiatrische Erwägungen einfließen. 

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Die gegenwärtig verfügbaren psychiatrischen Techniken werden wohl auch kaum dem Therapieziel gerecht, das Sigmund Freud definiert hat, nämlich das übermäßige Leiden des Neurotikers in die normale Misere des Alltagslebens umzuwandeln. Ehrgeizigere Resultate sind unvorstellbar, solange nicht die Spiritualität und die transpersonale Perspektive in die Praxis der Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie einbezogen werden.

 

Psychiatrie und Religion: 
Die Rolle der Spiritualität im menschlichen Leben

Die Einstellung der traditionellen Psychiatrie und Psychologie zur Religion und zur Mystik wird von der mechanistischen und materialistischen Orientierung der westlichen Wissenschaft bestimmt. In einem Universum, in dem die Materie das Primäre ist, und Leben sowie Bewußtsein deren zufällige Nebenprodukte sind, gibt es keinen Platz für eine spirituelle Dimension der Existenz. Wirklich aufgeklärt sein heißt, seine eigene Unbedeutsamkeit als Bewohner einer der zahllosen Himmelskörper in den Millionen von Milchstraßensystemen zu akzeptieren. Dazu gehört auch die Erkenntnis, daß wir nichts anderes sind als hochentwickelte Tiere und biologische Maschinen, die sich aus Zellen, Geweben und Organen zusammensetzen. Und schließlich muß man für das wissenschaftliche Verständnis seiner Existenz auch noch die Tatsache hinnehmen, daß das Bewußtsein ein physiologisches Produkt des Gehirns ist und daß die Psyche von unbewußten triebhaften Kräften gesteuert wird.

Es wird wiederholt hervorgehoben, daß den Menschen durch drei wichtige Revolutionen in der Wissenschafts­geschichte der rechte Platz im Universum zugewiesen wurde. Die erste war die Kopernikanische Revolution, durch die der Glaube zerstört wurde, daß die Erde im Mittelpunkt des Weltalls steht und die Menschheit darin eine besondere Stellung einnimmt. Die zweite war die Darwinsche Revolution, durch die der Vorstellung ein Ende gesetzt wurde, die Menschen würden sich grundlegend von den Tieren unterscheiden. Und schließlich gab es noch die Freudsche Revolution, durch die die Psyche zum Abkömmling niedriger Instinkte reduziert wurde.

Eine am mechanistischen Weltbild orientierte Psychiatrie und Psychologie ist nicht in der Lage, zu unterscheiden zwischen den engstirnigen und oberflächlichen religiösen Überzeugungen, die für die führenden Religionen der Welt charakteristisch sind, und zwischen der Tiefe der echten mystischen Traditionen oder der großen spirituellen Philosophien wie der verschiedenen Schulen des Yoga, des Kaschmir-Shaivismus, des Vajrayana, des Zen, des Taoismus oder des Sufismus. Die westliche Wissenschaft ist blind gegenüber der Tatsache, daß diese Traditionen das Ergebnis jahrhundertelanger Erforschungen des menschlichen Geistes sind, in denen systematisches Beobachten, Experimentieren und Theoretisieren in einer Weise verknüpft worden sind, die der wissenschaftlichen Methode ähnelt.

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Abb. 29. Die Identifikation mit dem Fötus während der ungestörten intrauterinen Existenz hat typischerweise eine stark numinose Qualität. Dieses Bild zeigt die Beziehung zwischen embryonaler Glückseligkeit und Buddhanatur, wie sie in einer hochdosierten LSD-Sitzung zustande kam.

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Abb. 32. Dieses Bild von einer psychedelischen Sitzung spiegelt die Erfahrung einer vergangenen Inkarnation im alten Japan wider. Betont wird dabei besonders die blutige, grausame Atmosphäre der Samurai-Kämpfe. 

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Die westliche Psychologie und Psychiatrie neigen daher dazu, pauschal alle Formen von Spiritualität — so hochintelligent und wohlfundiert sie auch sein mögen — als unwissenschaftlich abzutun. In der mechanist­ischen Wissenschaft wird die Spiritualität mit primitivem Aberglauben, Mangel an Bildung oder klinisch-psychopathologischen Phänomenen gleichgesetzt. Wird hingegen eine religiöse Überzeugung von einer großen Gruppe geteilt, die sie in die Kultur integriert hat, dann wird sie von den Psychiatern mehr oder weniger toleriert. Unter diesen Umständen werden die üblichen klinischen Kriterien nicht angewendet und das Vertreten einer solchen Überzeugung auch nicht als Anzeichen für eine psychische Störung ausgelegt.

Spirituelle Formen der Lebensführung in nichtwestlichen Kulturen mit unzulänglichen Bildungssystemen werden gewöhnlich auf Unwissenheit, kindliche Leichtgläubigkeit und Aberglauben zurückgeführt. In unserer eigenen Gesellschaft könnte man ein solches Verhalten — besonders wenn es bei hochgebildeten und sehr intelligenten Menschen vorkommt — offensichtlich nicht so interpretieren. Hier greift die Psychiatrie auf Ergebnisse der psychoanalytischen Forschung zurück, nach denen die Ursprünge der Religion in ungelösten Konflikten aus der frühen Kindheit zu suchen sind. Nach dieser Vorstellung spiegeln die Gottheiten das Bild des kleinen Kindes von seinen Eltern wider, die Haltung des Gläubigen zu ihnen ist ein Zeichen von Unreife und kindlicher Abhängigkeit, und die Ausübung von Ritualen weist auf einen Kampf mit bedrohlichen psychosexuellen Impulsen hin, ähnlich wie es bei einem Zwangsneurotiker der Fall ist. 

Unmittelbare spirituelle Erlebnisse wie das Gefühl der Einheit mit dem Kosmos, das Empfinden, göttliche Energie durchströme den eigenen Körper, Tod- und Wiedergeburt-Erlebnisse, Visionen überirdisch schönen Lichts, Erinnerungen an Ereignisse aus früheren Inkarnationen oder Begegnungen mit archetypischen Wesen werden als massive psychotische Verzerrung der objektiven Realität gewertet, die auf einen schweren pathologischen Prozeß oder eine Geisteskrankheit hinweist. Bis zur Veröffentlichung der Forschungsarbeiten von Abraham Maslow konnte man sich in der akademischen Psychologie nicht vorstellen, daß irgendeines dieser Phänomene auch anders zu sehen wäre. Die Theorien von C.G.Jung und Roberto Assagioli, die in die gleiche Richtung wiesen, waren der akademischen Psychologie zu fern, um sich ernsthaft auszuwirken. 

Im Prinzip neigt die mechanistische Wissenschaft des Westens dazu, spirituelle Erlebnisse jeder Art als pathologische Phänomene zu betrachten. Die führenden Richtungen der Psychoanalyse interpretieren, dem Beispiel Freuds folgend, die Einheitserlebnisse und die ozeanischen Zustände der Mystiker als Regression auf den primären Narzißmus und auf die infantile Hilflosigkeit (57) und sehen die Religion als kollektive Zwangsneurose (52). 

Franz Alexander (2), ein weltweit bekannter Psychoanalytiker, schrieb eine spezielle Abhandlung, in der er die Zustände, die durch buddhistische Meditationsformen erzielt werden, als selbst herbeigeführte Katatonie hinstellte. Die großen Schamanen verschiedener Naturvölkertraditionen werden als Schizophrene oder Epileptiker beschrieben, und alle großen Heiligen, Propheten und Glaubensverkünder werden ebenfalls mit psychiatrischen Etiketten versehen. Zwar gibt es viele wissenschaftliche Untersuchungen, in denen auf die Ähnlichkeiten zwischen Mystik und Geisteskrankheit eingegangen wird, doch kaum eine echte Würdigung der Mystik oder eine angemessene Differenzierung zwischen der mystischen Weltschau und der Psychose. 

In anderen Arbeiten werden die Unterschiede zwischen Mystik und Psychose mit den Unterschieden zwischen einer ambulanten und einer floriden Psychose gleichgesetzt, oder es werden die kulturellen Rahmen­bedingungen hervorgehoben, die die Integration einer bestimmten Psychose in das soziale und historische Netzwerk gestatten. Solche psychiatrischen Kriterien werden routinemäßig und unterschiedslos auch auf große Glaubensverkünder vom Rang eines Buddha, Jesus, Mohammed, Sri Ramana Maharshi oder Ramakrischna angewendet.

Dies führt in unserer Kultur zu einer eigentümlichen Situation. In vielen Gemeinden herrscht immer noch ein beträchtlicher psychologischer, sozialer und sogar politischer Druck, der die Leute zwingt, regelmäßig in die Kirche zu gehen. Die Bibel liegt in vielen Motels oder Hotels aus, und viele prominente Politiker oder andere Personen des öffentlichen Lebens bekennen sich in ihren Reden zu Gott und zur Religion. Hätte aber ein Mitglied einer normalen Kirchengemeinde ein intensives religiöses Erlebnis, so würde es sehr wahrscheinlich von seinem Geistlichen zum Psychiater geschickt werden. 

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