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2. Dimensionen der menschlichen Psyche: 

Eine Kartographie des Innenraums 

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Einer der bedeutendsten Beiträge der modernen Bewußtseinsforschung zu dem sich abzeichnenden neuen wissenschaftlichen Weltbild war eine vollkommen neue Anschauung von der menschlichen Psyche. Während das traditionelle Modell der Psychiatrie und Psychoanalyse den Personbegriff in den Mittelpunkt stellt und streng auf der biographischen Ebene bleibt, hat die moderne Bewußtseinsforschung neue Ebenen, Bereiche und Dimensionen erschlossen. Eine umfassende Darstellung dieses neuen Modells würde den Rahmen dieses Buches sprengen und ist schon an anderer Stelle veröffentlicht worden (67). Ich möchte hier nur kurz seine wesentlichen Merkmale skizzieren, wobei ich den Schwerpunkt besonders auf die Beziehung zu dem aufkommenden neuen Wissenschaftsparadigma lege.

 

Im Bewußtsein gibt es keine klaren Grenzen, doch lohnt es sich aus didaktischen Gründen, zwischen vier deutlich voneinander abgehobenen Ebenen oder Bereichen der menschlichen Psyche und den jeweils zugehörigen Erfahrungen zu unterscheiden: 1. der sensorischen Barriere, 2. dem individuellen Unbewußten, 3. der Ebene von Geburt und Tod und 4. dem transpersonalen Bereich. Erlebnisse aller dieser Kategorien sind den meisten Menschen ohne weiteres möglich. Sie lassen sich in Sitzungen mit psychedelischen Drogen ebenso beobachten wie in verschiedenen modernen Formen der Selbsterfahrungstherapie, in denen mit dem Atem, mit Musik, mit Tanz und mit dem Körper gearbeitet wird.

Bewußtseinsverändernde Labortechniken wie etwa Biofeedback, Schlafentzug, Reizdeprivation oder Reizüberflutung sowie verschiedene, den kinästhetischen Sinn beeinflussende Maßnahmen können ebenfalls viele dieser Phänomene erzeugen. Es gibt die verschiedensten spirituellen Praktiken aus dem Altertum und dem Osten, die eigens dafür gedacht sind, das Auftreten dieser Phänomene zu erleichtern. Viele Erlebnisse dieser Art können sich auch in spontanen Episoden von Bewußtseinsveränderung einstellen.

Das gesamte Erlebnisspektrum dieser vier Bereiche ist auch schon von Historikern und Anthropologen beschrieben worden, und zwar im Zusammenhang mit verschiedenen Prozeduren von Schamanen, mit Übergangsriten und Heilungszeremonien bei Naturvölkern, mit Tod- und Wiedergeburtmysterien sowie mit Trancetänzen in ekstatischen Religionen.


Die sensorische Barriere und das individuelle Unbewußte  

Die Techniken, mit denen man in die Bereiche des Unbewußten vordringen kann, aktivieren in der Regel zuerst die Sinnesorgane. Auf diese Weise beginnt für viele Personen, die mit solchen Techniken experimentieren, die Selbsterforschung mit verschiedenen Sinneserfahrungen. Sie sind mehr oder weniger abstrakter Natur und haben keine auf die betreffende Person bezogene symbolische Bedeutung. Sie können ästhetischen Genuß vermitteln, führen aber zu keinem tieferen Verständnis des Selbst.

Veränderungen dieser Art können in jedem Sinnesbereich auftreten. Bei weitem am häufigsten aber sind optische Phänomene. Das Sichtfeld hinter den geschlossenen Augenlidern wird in den Farben reichhaltiger und lebendiger, und die betreffende Person kann verschiedene geometrische oder architektonische Formen wahrnehmen, beispielsweise dynamische Kaleidoskopmuster, mandalaähnliche Konfigurationen, Arabesken, gotische Kirchenschiffe, Decken von Moscheen und vielfach verwobene Muster, die an mittelalterliche Verzierungen oder orientalische Teppiche erinnern. Visionen dieser Art können bei jeder Form tiefer Selbsterfahrung auftreten, sind aber besonders intensiv nach der Einnahme von psychedelischen Drogen. 

     

Abb. 4 

Zeichnung aus der Serie eines tschechischen Malers aus einem der frühen LSD-Experimente, durchgeführt von Dr. J. Rubicek in Prag. 

Das erste Bild zeigt dramatische, unspezifische Verzerrungen des Körperbildes.

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Abb.5  Zwei weitere Bilder aus der Serie des von Dr. Rubicek behandelten tschechischen Malers: (a) Kombinierte Vision einer Krankenschwester, die eine Abführmittel-Schale hält, und einem Kellner mit einer Flasche Rotwein, (b) Illusorische Verwandlung eines Verkehrspolizisten, wie der Künstler ihn sah, als er nach dem Experiment nach Hause gefahren wurde.

 

Die Veränderungen im akustischen Wahrnehmungsfeld können sich als Klingeln in den Ohren, als Geräusche zirpender Grillen, als Summen, als Glockengeläute oder als Dauertöne von hoher Frequenz bemerkbar machen. Sie werden unter Umständen von verschiedenen ungewöhnlichen taktilen Empfindungen in verschiedenen Teilen des Körpers begleitet. Gerüche und Geschmäcker können in diesem Stadium ebenfalls auftreten, doch sind sie bei weitem nicht so häufig.

Sinneserfahrungen dieser Art haben für den Prozeß der Selbsterfahrung und Selbstfindung nur wenig Bedeutung. Sie scheinen eine Barriere darzustellen, die man überwinden muß, ehe die Reise in das Unbewußte beginnen kann. Manche Aspekte dieser Sinneserfahrungen lassen sich mit bestimmten anatomischen und physiologischen Eigenschaften der Sinnesorgane erklären. So scheinen beispielsweise die geometrischen Visionen die innere Struktur der Retina und anderer Teile des optischen Systems widerzuspiegeln.

Der nächste Bereich, der sich sehr leicht dem Erleben erschließt, ist das individuelle Unbewußte. Phänomene, die zu dieser Kategorie gehören, sind zwar von erheblicher theoretischer und praktischer Relevanz, doch brauchen wir nicht viel Zeit für ihre Beschreibung aufzuwenden, weil sich die meisten herkömmlichen psychotherapeutischen Ansätze auf diese Ebene der Psyche beschränken. Zu diesem Thema gibt es eine überaus reichhaltige, wenn auch von sehr viel Widersprüchen geprägte Literatur. 

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Erlebnisse, die aus dem Bereich des individuellen Unbewußten stammen, haben Bezug zu bedeutsamen Ereignissen und Umständen aus dem Vorleben — angefangen von der Geburt bis zur Gegenwart —, die emotional stark besetzt sind. Auf dieser Stufe der Selbsterforschung kann eine verdrängte, bisher nicht integrierte traumatische Erinnerung oder irgendeine unvollständige psychische Gestalt aus dem Unbewußten auftauchen und den Inhalt des Erlebens bilden.

Dazu muß eine einzige Bedingung erfüllt sein: das Thema muß eine genügende emotionale Relevanz haben. Hier liegt ein gewaltiger Vorteil von auf das Erleben konzentrierten Selbsterfahrungstherapien gegenüber den vorwiegend verbalen Ansätzen. Techniken, die das Unbewußte direkt aktivieren, scheinen selektiv das emotional bedeutsamste Material zu verstärken und seine Bewußtwerdung zu erleichtern. Sie haben deshalb die Funktion einer Art inneren Radars, das das System abtastet und die Inhalte mit der stärksten emotionalen Besetzung aufspürt. Dies befreit den Therapeuten nicht nur von der Aufgabe, das Relevante vom Irrelevanten zu trennen, sondern bewahrt ihn oder sie auch vor Entscheidungen, die zwangsläufig durch die theoretische Orientierung und viele andere Faktoren verzerrt sind.1) 

 

Im großen und ganzen läßt sich das biographische Material, das im Rahmen einer Selbsterfahrungstherapie auftaucht, mit der Freudschen Theorie oder einer ihrer Abkömmlinge angemessen verstehen. Es gibt aber mehrere wichtige Unterschiede zu den herkömmlichen dynamischen Psychotherapieformen. In einer bis in tiefe Schichten vordringenden Selbsterfahrungstherapie wird das biographische Material nicht erinnert oder rekonstruiert, es kann voll wiedererlebt werden. Dies schließt nicht nur Gefühle, sondern auch Körperempfindungen, bildhafte Vergegenwärtigung einzelner Elemente und andere Sinnes Wahrnehmungen ein. Ein typisches Beispiel dafür ist die vollständige Regression zurück auf die Entwicklungsstufe zum Zeitpunkt eines erinnerten Ereignisses. 

Ein anderer wichtiger Unterschied besteht darin, daß die relevanten Erinnerungen und andere biographische Elemente nicht getrennt voneinander auftauchen, sondern voneinander abgehobene dynamische Konstellationen bilden, für die ich die Bezeichnung COEX-Systeme (aus dem englischen »Systems of Condensed experience) geprägt habe. Die COEX-Systeme enthalten Erinnerungen (und assoziierte Phantasien) aus unterschiedlichen Lebensabschnitten, deren gemeinsamer Nenner eine starke emotionale Besetzung von der gleichen Qualität, eine starke körperliche Empfindung der gleichen Art oder irgendein anderes wichtiges Element ist. Ich faßte die COEX-Systeme zunächst als Prinzipien auf, die die Dynamik des individuellen Unbewußten regelten, und erkannte ihre Wichtigkeit für das Verständnis der inneren Prozesse auf dieser Ebene. Später wurde aber deutlich, daß die COEX-Systeme ein allgemeines Prinzip darstellen, das auf allen Ebenen der Psyche wirksam ist und sich nicht auf den biographischen Bereich beschränkt.

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Die meisten biographischen COEX-Systeme sind mit bestimmten Aspekten des Geburtsprozesses dynamisch verbunden. Perinatale Themen und ihre Elemente besitzen wiederum spezifische assoziative Verknüpfungen zu ähnlichen Erlebnissen im transpersonalen Bereich. Es ist deshalb für eine dynamische Konstellation nicht untypisch, daß sie Material aus mehreren Lebensabschnitten, vom Vorgang der biologischen Geburt und aus bestimmten transpersonalen Bereichen wie etwa Erinnerungen aus früheren Inkarnationen, Identifizierung mit Tieren und mythologische Handlungsabfolgen enthält. Hierbei spielt die im Erleben vorhandene Ähnlichkeit zwischen diesen Themen von unterschiedlichen Ebenen der Psyche eine wichtigere Rolle als irgendein konventionelles Kriterium des kartesianisch-Newtonschen Weltbildes, sei es, daß zwischen den beteiligten Ereignissen Jahre oder Jahrhunderte liegen, daß zwischen dem menschlichen und dem tierischen Erleben gewöhnlich ein himmelhoher Unterschied besteht oder daß Elemente der »objektiven Realität« mit archetypischen und mythologischen Elementen kombiniert sind.

 

In der traditionellen Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie konzentriert man sich ausschließlich auf psychische Traumen. Körperlichen Traumen wird kein direkter Einfluß auf die psychologische Entwicklung und keine Beteiligung am Entstehen psychopathologischer Phänomene zugeschrieben. Dies steht in einem auffallenden Gegensatz zu Beobachtungen aus Stadien einer sehr tiefen Selbsterfahrung, in denen Erinnerungen an körperliche Traumen wichtiger als alles andere zu sein scheinen. In der psychedelischen Behandlung und in anderen intensiven Selbsterfahrungstherapien ist das Wiedererleben lebensbedrohlicher Krankheiten, Verletzungen und Operationen oder etwa von Situationen, in denen man beinahe ertrunken wäre, extrem häufig. Die Bedeutung solcher Erlebnisse übersteigt zweifellos bei weitem die der gewöhnlichen psychischen Traumen. Die Emotionen und Körperempfindungen, die aus Situationen, in denen das Überleben oder die Unversehrtheit des Organismus bedroht waren, übriggeblieben sind, scheinen eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung verschiedener psychopathologischer Formen zu spielen, ein Umstand, der bisher von der akademischen Wissenschaft nicht erkannt wurde. 

Leidet beispielsweise ein Kind an einer lebensbedrohlichen Krankheit, etwa an Diphtherie, bei der es zu ersticken glaubt, so wird dieses Erlebnis nicht als Trauma mit bleibenden Auswirkungen gewertet. Die konventionelle Psychologie würde sich auf die Tatsache konzentrieren, daß das Kind zum Zeitpunkt des Krankenhausaufenthalts von seiner Mutter getrennt und damit emotional depriviert war. Eine intensive Selbsterfahrungstherapie macht aber deutlich, daß Traumen mit lebensbedrohlicher Thematik bleibende Spuren hinterlassen und erheblich zur Entwicklung emotionaler und psychosomatischer Störungen beitragen, etwa zur Entwicklung von Depressionen, Angstzuständen oder Phobien, sadomasochistischen Tendenzen, sexuellen Problemen, Migränekopfschmerzen oder Asthma.

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Die Erfahrungen schwerer körperlicher Traumen stellen einen natürlichen Übergang zwischen der biographischen Ebene und dem im folgenden beschriebenen Bereich dar, dessen Hauptelement das Doppelphänomen von Geburt und Tod ist. Sie beinhalten Erlebnisse aus dem Leben der betreffenden Peson und sind deshalb ihrer Natur nach biographisch. Die Tatsache aber, daß sie sie bis an den Rand des Todes brachten und mit extremen Beschwerden und Schmerzen verbunden waren, verbindet sie mit dem Geburtstrauma. Aus einleuchtenden Gründen kommt Erinnerungen an Krankheiten und Traumen, in denen das Atmen beeinträchtigt war — etwa Erinnerungen an eine Lungenentzündung, eine Diphtherie, einen Keuchhusten oder eine Situation, in der man beinahe ertrunken wäre — in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu.

 

Die Begegnung mit Geburt und Tod: 
Die Dynamik perinataler Matrizen

Je tiefer der Prozeß der Selbsterfahrung dringt, desto stärker kann das Element des emotionalen und körperlichen Schmerzes werden. Er kann einen so extremen Grad erreichen, daß die betreffende Person der Meinung ist, sie habe die Grenzen des individuellen Leidens überschritten und verspüre nun den Schmerz einer ganzen Gruppe von Menschen, der gesamten Menschheit oder gar allen Lebens überhaupt. Typische Beispiele dafür sind Erlebnisse, in denen man sich mit verwundeten oder sterbenden Soldaten identifiziert, mit Gefangenen von Konzentrationslagern oder Kerkern, mit verfolgten Juden und Frühchristen, mit Mutter und Kind während der Geburt oder mit Tieren, die von einem Feind angegriffen und zerfleischt werden. Erlebnisse auf dieser Ebene sind gewöhnlich von heftigen physiologischen Reaktionen begleitet, etwa von verschieden starken Erstickungsanfällen, von beschleunigtem Puls und starkem Herzklopfen, von Übelkeit und Erbrechen, von Veränderungen der Gesichtsfarbe, von Schwankungen der Körpertemperatur, von spontan auftretenden Hautausschlägen oder Quetschungen, von krampfhaften Zuckungen, von Zittern, von Verkrümmungen des Körpers oder anderen auffallenden motorischen Phänomenen. 

Auf der biographischen Ebene müssen sich nur diejenigen, die tatsächlich schon mit dem Tod in enge Berührung gekommen sind, in ihrer Selbsterfahrung mit der Bedrohung ihres Lebens auseinandersetzen. Auf dieser Ebene des Unbewußten hingegen beherrscht die Todesthematik das Bild vollkommen. Die Personen, deren Leben oder körperliche Unversehrtheit noch nicht ernstlich bedroht waren, können in diesen Bereich des Erlebens unmittelbar hineingeraten. Bei den anderen wird in der Regel das Wiedererleben schwerer Traumen, Operationen oder Verletzungen stärker und geht schließlich in ein Erlebnis der oben beschriebenen Art über.

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Das Erlebnis der Konfrontation mit dem Tod auf dieser Ebene ist gewöhnlich eng mit verschiedenen anderen Phänomenen verknüpft, die mit dem Geburtsvorgang im Zusammenhang stehen. In Erlebnissen dieser Art hat man nicht nur das Gefühl, um seine Geburt bzw. Entbindung zu kämpfen, sondern viele der physiologischen Begleiterscheinungen sind auch für den tatsächlichen Vorgang der Geburt typisch. Sehr häufig empfinden sich die betreffenden Personen als Föten und können verschiedene Aspekte ihrer biologischen Geburt mit sehr spezifischen und nachprüfbaren Einzelheiten wiedererleben. Das Element des Todes kann sich in der gleichzeitigen oder abwechselnden Identifizierung mit alternden, leidenden oder sterbenden Menschen bemerkbar machen. Obwohl nicht das gesamte Spektrum der Erlebnisse auf dieser Ebene auf das erneute Durchleben der biologischen Geburt zurückgeführt werden kann, scheint das Geburtstrauma doch ein wesentlicher Aspekt dieses Prozesses zu sein. Aus diesem Grund ziehe ich es vor, diesen Bereich des Unbewußten als »perinatal« zu bezeichnen.2)

Die Verbindung zwischen der biologischen Geburt und den oben beschriebenen Erlebnissen ist sehr tiefgehender und spezifischer Natur. Dies macht es möglich, mit Hilfe der für eine Geburt typischen Phasen ein theoretisches Modell zu konstruieren, das die Dynamik des Unbewußten auf der perinatalen Ebene verstehen hilft. Die Tod- und Wiedergeburterlebnisse treten in Form charakteristischer Themenverbindungen auf, deren grundlegende Merkmale von bestimmten anatomischen, physiologischen und biochemischen Aspekten der aufeinanderfolgenden Phasen der Geburt, mit denen sie verknüpft sind, logisch abgeleitet werden können. Wie ich weiter unten noch darstellen werde, bietet die Anlehnung an die biologische Geburt neue Einsichten in den dynamischen Aufbau verschiedener psychopathologischer Formen und läßt revolutionäre therapeutische Möglichkeiten sichtbar werden.

Trotz seiner engen Verbindungen mit dem Geburtsvorgang geht der perinatale Prozeß über den rein biologischen Aspekt hinaus und besitzt wichtige philosophische und spirituelle Dimensionen. Er sollte deshalb nicht reduktionistisch allein vom konkreten Geburtsvorgang her verstanden werden. Wer selber in seinem Erleben ganz in dieser Sphäre des Unbewußten gefangen ist oder sich als Forscher intensiv mit den Phänomenen auf dieser Ebene befaßt, dem mag die biologische Geburt als allumfassendes Erklärungsprinzip ausreichend erscheinen. Meiner eigenen Ansicht nach ist jedoch die theoretische Anlehnung an den tatsächlichen Geburtsvorgang lediglich ein nützliches Modell, dessen Anwendbarkeit auf Phänomene aus einem bestimmten Bereich des Unbewußten beschränkt bleibt. Dringt der Selbsterfahrungsprozeß in transpersonale Bereiche ein, muß man über dieses Modell hinausgehen und einen anderen Ansatz zu Hilfe nehmen. Es gibt bestimmte wichtige Merkmale des Tod- und Wiedergeburtprozesses, die deutlich darauf hinweisen, daß perinatale Erlebnisse nicht einfach mit dem Wiedererleben der biologischen Geburt gleichgesetzt werden können. 

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Bestimmte Erlebnisabfolgen besitzen unstrittig einen therapeutischen Wert und ermöglichen das Durcharbeiten problematischer Gefühle und Körperempfindungen. Sie führen auch zu einem tiefgreifenden Wandel in der Persönlichkeit. Die Begegnung mit Geburt und Tod auf dieser, Erfahrungsebene geht in der Regel mit einer existentiellen Krise von außerordentlichem Ausmaß einher, in deren Verlauf sich der einzelne ernsthaft mit dem Sinn des Lebens und mit seinen grundlegenden Wertvorstellungen und Lebensbewältigungsstrategien auseinandersetzt. Die Krise läßt sich nur lösen, wenn man die Verbindung zu tief im Innern wohnenden spirituellen Dimensionen der Psyche und Elementen des kollektiven Unbewußten herstellt. Die daraus resultierenden Persönlichkeitsveränderungen scheinen mit solchen Wandlungen vergleichbar zu sein, die im Zusammenhang mit alten Tempelmysterien oder Initiations- und Übergangsriten bei Naturvölkern beschrieben worden sind. Die perinatale Ebene ist somit eine wichtige Berührungsfläche zwischen dem individuellen und dem kollektiven Unbewußten oder zwischen der traditionellen Psychologie und der Mystik oder transpersonalen Psychologie.

Die Tod- und Wiedergeburtserlebnisse, die die perinatale Ebene des Unbewußten widerspiegeln, sind sehr vielfältig und komplex. Sie treten in vier typischen Mustern oder Konstellationen auf. Dabei scheint es eine tiefere Entsprechung zwischen diesen Themengruppen und den klinischen Stadien des biologischen Geburtsvorgangs zu geben. Für die Theorie und Praxis der therapeutischen Arbeit auf dieser Ebene des Erlebens hat es sich als sehr nützlich erwiesen, die Existenz hypothetischer dynamischer Matrizen zu postulieren, die die Prozesse in diesem Bereich des Unbewußten bestimmen. Ich habe diese Matrizen als perinatale Grundmatrizen bezeichnet.

Die Matrizen haben nicht nur eigene emotionale und psychosomatische Inhalte, sondern fungieren auch als Ordnungsprinzipien für Material aus anderen Bereichen des Unbewußten. Auf der biographischen Ebene sind Elemente wichtiger COEX-Systeme, die körperliche Mißhandlung, Bedrohung, Trennung, Schmerz oder Ersticken zum Inhalt haben, mit speziellen Aspekten der perinatalen Grundmatrizen eng verknüpft. Die Ausfaltung des perinatalen Bereichs weist auch häufig verschiedene transpersonale Elemente auf, etwa archetypische Visionen von der großen Mutter oder der bösen Muttergöttin, der Hölle, dem Fegefeuer, dem Paradies oder dem Himmel, mythologische oder historische Szenen, Identifikation mit Tieren und Erinnerungen an frühere Inkarnationen. Wie im Fall der verschiedenen COEX-Systeme ist auch hier das Bindeglied die gleiche Qualität von Emotionen oder Körperempfindungen bzw. die Ähnlichkeit der Umstände. Die perinatalen Matrizen haben auch spezifische Beziehungen zu verschiedenen Aspekten der Aktivitäten in den Freudschen erogenen Zonen, der oralen, analen, urethralen und phallischen Zone.

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Im folgenden will ich kurz die biologische Basis der einzelnen perinatalen Grundmatrizen, ihre Merkmale im Erleben, ihre Funktion als Ordnungsprinzipien für andere Arten von Erlebnissen sowie ihre Verbindung zu Aktivitäten in den verschiedenen erogenen Zonen darstellen (siehe die Übersicht auf S. 110f). Die Bedeutung der perinatalen Ebene des Unbewußten für eine neue Auffassung von psychopathologischen Erscheinungen sowie spezifische Beziehungen zwischen einzelnen perinatalen Grundmatrizen und verschiedenen emotionalen Störungen werden Gegenstand eines eigenen Kapitels sein.

 

Perinatale Grundmatrix I:

Die biologische Grundlage dieser Matrix ist die Erfahrung der ursprünglichen symbiotischen Einheit des Fötus mit dem mütterlichen Organismus in der intrauterinen Existenz. In störungsfreien Phasen des Lebens im Mutterleib können die Bedingungen für das Kind nahezu ideal sein. Verschiedene physikalische, chemische, biologische und psychische Faktoren können aber diesen Zustand ernsthaft beeinträchtigen. Auch wird in der Regel in den letzten Schwangerschaftsphasen die Situation für das Kind ungünstiger, da es gewachsen ist, seine Bewegungsfreiheit stärker eingeschränkt ist und die Plazenta relativ unzureichend geworden ist.

Abb. 6.

Gefühl des Einsseins mit dem Therapeuten: 

Erlebnis aus einer psychedelischen Sitzung, in der es um Wiedererleben der symbiotischen Einheit mit dem mütterlichen Organismus im Uterus und während des Stillens ging.

 

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Übersicht über die perinatalen Grundmatrizen

 

Matrix I

Matrix II

Matrix III

Matrix IV

 

Zugehörige psychopathologische Syndrome

 

Schizophrene Psychosen (paranoide Symptomatik, Gefühle der mystischen Vereinigung, Begegnungen mit meta-physischen Kräften des Bösen); Hypochondrie (fremdartige und bizarre Körperempfindungen); hysterische Halluzinose und Verwechslung von Tagträumen mit der Wirklichkeit

Schizophrene Psychosen (Empfindungen von Höllentorturen, Wahrnehmung der Welt als etwas Sinnloses und »Gemachtes«); schwere gehemmte »endogene« Depressionen; irrationale Minderwertigkeits- und Schuldgefühle; Hypochondrie (schmerzhafte Körperempfindungen); Alkohol- und Drogensucht

Schizophrene Psychosen (sadomasochistische und skatologische Elemente, Selbstverstümmelung, abnormes Sexualverhalten); agitierte Depression; sexuelle Perversionen (Sadomasochismus, männliche Homosexualität, Trinken von Urin und Kotessen); Zwangsneurose; psychogenes Asthma, Tics und Stottern, Konversions- und Angsthysterie; Frigidität und Impotenz; Neurasthenie; traumatische Neurosen; Organneurosen; Migränekopfschmerzen; Enuresis und Enkompresis; Schuppenflechte; Magengeschwüre  

Schizophrene Psychosen (Tod- und Wiedergeburterlebnisse, wahnhaftes Sendungsbewußtsein, Erlebnisse des Weltuntergangs und der Neuerstehung der Welt, der Rettung und Erlösung sowie der Identifikation mit Jesus Christus); manische Symptomatik; weibliche Homosexualität; Exhibitionismus

 

Zugehörige Aktivitäten in den Freudschen erogenen Zonen

 

Libidinöse Befriedigung in allen erogenen Zonen; libidinöse Gefühle beim Wiegen und Baden; teilweise Annäherung an diesen Zustand nach oraler, analer, urethraler oder genitaler Befriedigung oder einer Entbindung

Orale Frustrationen (Durst, Hunger, Schmerzempfindungen); Kot- und/oder Urinverhaltung; sexuelle Frustration; Kälte-, Schmerz- oder andere unangenehme Empfindungen 

Kauen und Verschlucken von Essen; orale Aggressionen gegen einen Gegenstand; Defäkieren und Urinieren; anale und urethrale Aggressionen; sexueller Orgasmus; phallische Aggressionen; Entbindung eines Kindes; statoakusti-sche Erotik (Iactatio, Turnen, intensive Hobbys, Fallschirmspringen)

Sättigung von Durst und Hunger; Genuß beim Saugen; libidinöse Gefühle nach dem Defäkieren, dem Urinieren, dem sexuellen Orgasmus oder einer Entbindung  

 

Zugehörige Erinnerungen aus dem Leben nach der Geburt

 

Situationen aus dem späteren Leben, in denen wichtige Bedürfnisse befriedigt wurden, etwa glückliche Augenblicke aus dem Säuglings- und Kindesalter (liebevolle Zuwendung von der Mutter, Spiel mit anderen Kindern, harmonisches Familienleben etc.); erfüllende Liebe; Romanzen; Ausflüge oder Urlaubsreisen in eine schöne Umgebung; Genuß von Kunstwerken mit hohem ästhetischen Wert; Schwimmen im Meer und in klaren Seen etc. 

Situationen, die mit Gefahr für Leib und Leben verbunden waren (Kriegserlebnisse, Unfälle, Verletzungen, Operationen, schmerzhafte Krankheiten, Situationen, in denen man dem Ertrinken oder Ersticken nahe war, Gefängnisaufenthalte, Gehirnwäsche und illegale Verhöre, körperliche Mißhandlungen etc.); schwere psychische Traumen (emotionale Deprivation, Ablehnung, bedrohliche Situationen, erdrückende Familienatmosphäre, Verspottung und Demütigung usw.)

Kämpfe, Auseinandersetzungen und Abenteuer (aktive Angriffe in Schlachten und Revolutionen, Erlebnisse aus der Wehrdienstzeit, unruhige Flugreisen, Fahrten auf stürmischem Meer, gefährliche Autofahrten, Boxkämpfe); sinnesberauschende Erlebnisse (Karneval, Jahrmärkte und Nightclubs, wilde Partys, sexuelle Orgien etc.); Situationen, in denen man als Kind sexuelle Aktivitäten von Erwachsenen beobachtete; Situationen, in denen man Opfer von Verführung oder Vergewaltigung war; bei Frauen: Entbindung ihrer Kinder

Zufälliges Entkommen aus gefährlichen Situationen (Ende von Kriegen oder Revolutionen, Überleben eines Unfalls oder einer schweren Operation); Überwindung schwieriger Hindemisse durch eigenes Bemühen; Strapazen und heftige Anstrengungen, die von Erfolg gekrönt wurden; Naturszenen (Frühlingsbeginn, Ende eines Sturms auf dem Meer, Sonnenaufgang etc.)  

 

Zugehörige Phänomene in LSD-Sitzungen

 

Ungestörtes intrauterines Leben: Positive Erinnerungen an das Leben im Mutterleib; »ozeanische« Ekstase; Erlebnisse der Einheit mit dem Kosmos; Archetypus von Mutter Natur; Visionen vom Himmel und vom Paradies.

Störungen des intrauterinen Lebens: Negative Erinnerungen an das Leben im Mutterleib (fötale Krisen, Krankheiten und Aufregungen der Mutter, Zwillingssituation, Abtreibungsversuche); kosmisches »Verschlungenwerden«; paranoides Denken; unangenehme Körperempfindungen (»Kater«, Kältegefühle und feine Spasmen, unangenehme Geschmäcker, Ekel, das Gefühl, vergiftet zu werden); Visionen von Dämonen verschiedener Kulturen der Welt, Begegnungen mit bösartigen metaphysischen Kräften. 

Verschlingender Malstrom, gefährliche Mutterspinnen, würgende Schlangen und Kraken; heftiges körperliches und psychisches Leiden; Empfindung einer unerträglichen und ausweglosen Situation, die nie enden wird; verschiedene Visionen von der Hölle; das Gefühl, in einer Falle oder einem Käfig (ohne Ausweg) gefangen zu sein; quälende Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle; apokalyptische Visionen von der Welt (Schrecken von Kriegen und Konzentrationslagern, Terror der Inquisition; gefährliche Seuchen; Krankheiten; Gebrechlichkeit und Tod usw.); Gefühle der Sinnlosigkeit und Absurdität der menschlichen Existenz; Erleben der Welt als etwas »Gemachtes« und maschinell Künstliches; unheilvolle dunkle Farben und unangenehme körperliche Erscheinungen (Druckgefühle, Herzklopfen, Hitze- und Kälteempfindungen, Schwitzen, Atemnot).

Intensivierung des Leidens bis zu kosmischen Dimensionen; gleichzeitiges Empfinden von Lust und Schmerz; »vulkanische« Ekstase; leuchtende Farben; Explosionen und Feuerwerk; sadomasochistische Orgien; Mord und Blutopfer; aktive Teilnahme an blutigen Schlachten; wilde Abenteuer und Erkundung gefahrvollen Terrains; orgiastische sexuelle Gefühle; Harems- und Kamevalsszenen; Tod- und Wiedergeburterlebnisse; religiöse Blutopfermotive (Blutopfer bei den Azteken, Christi Leiden und Tod auf dem Kreuz, Dionysos etc.); intensive Körperreaktionen (Druckschmerzen, drohendes Ersticken, Muskelspannungen, die sich tremor- und zuckungsartig entladen, Übelkeit und Erbrechen, heftige Hitze- und Kälteempfindungen, Schwitzen, Herzbeschwerden, mangelnde Schließmuskelkontrolle)  

Plötzliches Nachlassen eines starken Drucks; Erweiterung des Raums; Visionen von gigantischen Hallen; strahlendes Licht und wunderschöne Farben (himmelblau, golden, Regenbogen, Pfauenfedern); »epiphanische« oder »erleuchtende« Ekstase; Gefühle der Wiedergeburt und Erlösung; Wunsch nach einem einfachen Leben; Intensivierung der Sinneseindrücke; Gefühle der Brüderlichkeit; humanitäre und karitative Neigungen; gelegentlich manische Aktivität und Größenwahnvorstellungen; Übergang zu Elementen der ersten perinatalen Grundmatrix; angenehme Gefühle können durch eine Krise bei der Nabelschnurdurchtrennung unterbrochen werden: stechende Schmerzen am Nabel, Aussetzen der Atmung, Todes- und Kastrationsängste, Veränderungen der Körperlage, aber kein Druck von außen.

 

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Abb. 7. Der ozeanische Mutterleib: ein Zustand gelöster Ekstase, erfahren in einer von der ersten perinatalen Grundmatrix bestimmten LSD-Sitzung. Im Erleben entspricht die Identifikation mit der intrauterinen Existenz des Fötus dem Gefühl, Ozean zu werden und sich mit verschiedenen Lebensformen des Wassers zu vereinen.

 

Die angenehmen und unangenehmen Erinnerungen an das Leben im Mutterleib können die tatsächlichen biologischen Gegebenheiten widerspiegeln. Zudem aber kann sich bei Personen, deren Erleben von der ersten Grundmatrix beherrscht wird, ein ganzes Spektrum an Bildern und Themen finden, die mit dieser Matrix nach den Gesetzen des Erlebens auf dieser Ebene verbunden sind. Der ungestörte intrauterine Zustand wird manchmal von anderen Erfahrungen begleitet, die mit diesem das Fehlen von Grenzen und Hindernissen gemeinsam haben, etwa von einem ozeanischen Bewußtsein, von der Identifikation mit Lebensformen des Wassers (etwa mit einem Wal, einem Fisch, einer Qualle, einer Anemone oder einer Seetangpflanze) oder dem Aufgehen im interstellaren Raum. 

Weitere charakteristische und logische Begleiterscheinungen des glückseligen fötalen Zustands sind Vorstellungen von der Natur, in denen sie sich von ihrer schönsten Seite zeigt, etwa als Mutter Natur, die Geborgenheit ausstrahlt und bedingungslos nährt. Archetypische Bilder aus dem kollektiven Unbewußten, die in diesem Zusammenhang auftauchen, sind die Vorstellungen vom Himmel oder vom Paradies der verschiedenen Kulturen. Das Erleben der ersten Grundmatrix enthält auch Elemente der kosmischen Einheit und der mystischen Vereinigung. (S. Abb. 8, S. 34.)

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Die Störungen des intrauterinen Lebens sind von Bildern und Erlebnissen begleitet, die die Gefahren unter Wasser, schmutzige Wasserströme, eine verseuchte oder ungastliche Natur und heimtückische Dämonen zum Inhalt haben. Die mystische Auflösung aller Grenzen wird psychotisch verzerrt und erhält paranoide Untertöne.

Positive Aspekte der ersten Grundmatrix sind eng mit der Erfahrung der symbiotischen Einheit an der Mutterbrust, mit positiven COEX-Systemen und mit Erinnerungen an Situationen verbunden, die von innerem Frieden, Befriedigung, Entspannung oder schönen Naturszenerien geprägt sind. Ähnliche selektive Verbindungen gibt es auch zu verschiedenen Formen positiver transpersonaler Erfahrungen. Umgekehrt sind negative Aspekte der ersten Grundmatrix gewöhnlich mit bestimmten negativen COEX-Systemen und entsprechenden negativen transpersonalen Elementen verknüpft.

Was die Freudschen erogenen Zonen angeht, so fallen die positiven Aspekte der ersten Grundmatrix mit dem biologischen und psychischen Zustand zusammen, in dem es keine Unlustspannungen gibt und alle Partialtriebe befriedigt sind. Negative Aspekte dieser Matrix scheinen spezifische Verbindungen zu körperlicher Übelkeit und Verdauungsstörungen mit Dyspepsie zu haben.

 

Perinatale Grundmatrix II:

Dieses Erfahrungsmuster steht in Verbindung mit den ersten Anfängen der biologischen Geburt und ihrer ersten klinischen Phase. Hier wird das ursprüngliche Gleichgewicht der intrauterinen Existenz gestört, zunächst durch alarmierende chemische Signale, dann durch Muskelkontraktionen. Wenn sich dieses Stadium voll entfaltet, wird der Fötus in periodischen Abständen durch Gebärmutterspasmen zusammengepreßt. Die Cervix ist geschlossen, und der Weg nach außen ist noch nicht erkennbar. (S. Abb. 9, S. 51.)

Wie schon im Fall der vorhergehenden Matrix kann die biologische Situation in ziemlich konkreter und realistischer Weise wiedererlebt werden. Symbolisch wird der Anfang der Geburt von der Erfahrung des kosmischen Verschlungenwerdens begleitet. Die Person, deren Erleben von der zweiten perinatalen Grundmatrix beherrscht wird, wird von immer stärker werdenden Gefühlen der Angst überwältigt und sieht ihr Leben in unmittelbarer Gefahr. Sie kann aber die Ursache dieser Gefahr nicht eindeutig erkennen und neigt dazu, die Welt paranoid zu interpretieren. Sehr charakteristisch für diese Phase ist das Erlebnis, in die Mitte einer dreidimensionalen Spirale, eines Trichters oder eines Strudels erbarmungslos hineingezogen zu werden. Gleichwertig mit der Vision von einem vernichtenden Mahlstrom ist das Erlebnis, von entsetzlichen Ungeheuern wie einem riesigen Drachen, einem Leviathan, einer Pythonschlange, einem Krokodil oder einem Wal verschlungen zu werden. Ebenso häufig werden Angriffe von Riesenkraken oder Riesenspinnen erlebt. 

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Eine weniger dramatische Version des gleichen Erlebnisses ist der Abstieg in eine gefahrvolle Unterwelt, in ein weitverzweigtes Grottensystem oder in ein verwirrendes Labyrinth. Die mythologische Entsprechung zu diesem Motiv scheint der Beginn der Reise des Helden zu sein. Verwandte religiöse Themen sind der Fall der Engel und der Verlust des Paradieses.

Einige dieser Bilder mögen einem analytisch Denkenden seltsam vorkommen, doch offenbaren sich in ihnen die Gesetzmäßigkeiten des Erlebens auf dieser Ebene. Der Strudel symbolisiert eine ernsthafte Gefahr für einen Organismus, der frei im Wasser treibt, und zwingt ihm eine eindeutige Bewegungsrichtung auf. Die Situation des Verschlungenwerdens stellt den Übergang von der Freiheit in eine lebensbedrohliche Beschränkung dar und ist vergleichbar mit der Situation des Fötus, der in die Beckenöffnung der Mutter hineingepreßt wird. Eine Krake fesselt mit ihren Fangarmen Organismen, die frei im Meer schwimmen, und eine Spinne fängt Insekten, die bisher ungehindert herumfliegen konnten. 

Das symbolische Gegenstück zum voll entwickelten ersten Stadium der Entbindung ist die Erfahrung der Ausweglosigkeit oder Hölle. Auf dieser Ebene des Erlebens herrscht das Gefühl vor, in einer alptraumhaften Welt wie in einem Käfig gefangen und unglaublichen psychischen sowie körperlichen Qualen ausgesetzt zu sein. Die Situation wird in der Regel als absolut unerträglich empfunden. Sie scheint ohne Ende und hoffnungslos zu sein. Das lineare Zeitempfinden geht verloren, und ein Ende der Qualen oder irgendein Ausweg scheinen undenkbar. Dies kann zu einer Identifikation mit Gefangenen von Kerkern oder Konzentrationslagern führen, mit Insassen einer Irrenanstalt, mit den Sündern in der Hölle, oder mit archetypischen Figuren, die die ewige Verdammnis symbolisieren, etwa mit dem wandernden Juden Ahasver, dem Fliegenden Holländer, mit Sisyphus, Tantalus oder Prometheus. 

Die Person, deren Erleben unter dem Einfluß der zweiten perinatalen Grundmatrix steht, ist auch blind für alles Positive in der Welt oder in ihrem Leben. Typisch sind quälende Gefühle metaphysischer Einsamkeit, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Minderwertigkeit, existentieller Verzweiflung und Schuld. Was die ordnende Funktion dieser Matrix anbelangt, so zieht sie COEX-Systeme mit Erinnerungen an Situationen an, in denen man passiv und hilflos von destruktiven Kräften überwältigt wurde, ohne entfliehen zu können. Ebenfalls hinzutreten können transpersonale Motive mit ähnlichen Merkmalen, Im Hinblick auf die Freudschen erogenen Zonen scheint diese Matrix mit unlustvoll erlebten Spannungen oder Schmerzen in Verbindung zu stehen. 

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Abb. 10. 

Das Erleben beim Beginn der biologischen Geburt und dem einsetzenden Einfluß der zweiten perinatalen Grundmatrix in einer hochdosierten LSD-Sitzung. In voller Identifikation mit dem Fötus fühlt sich der Klient in einen monströsen, vernichtenden Malstrom hineingezogen.

 

 

Abb. 11. Vision aus einer von der Anfangsphase der zweiten perinatalen Grundmatrix bestimmten psychedelischen Sitzung. Die einsetzenden Wehen, erlebt als die Attacke einer monströsen Krake.

 

 

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Abb. 12.

Dieses Bild des Schweizer Malers Hansruedi Giger verbindet die anatomische Zerbrechlichkeit des Fötus mit aggressiver Maschinerie und einschnürenden, an die Geburt erinnernden Stahlbändern um den Kopf herum. 

(Aus: Necronomium.)

 

Auf der oralen Ebene sind es Hunger, Durst, Übelkeit und schmerzhafte Reize, auf der analen Ebene sind es Schmerzen im Enddarm und Kotverhaltung, auf der urethralen Ebene sind es Blasenschmerzen und Harnverhaltung. Die entsprechenden Empfindungen auf der genitalen Ebene sind sexuelle Frustration und übermäßige Spannungen, Vaginakrämpfe, Hodenschmerzen und die schmerzhaften Kontraktionen, die bei Frauen in der ersten klinischen Phase der Geburt auftreten.

 

Perinatale Grundmatrix III:

Viele wesentliche Merkmale dieser komplexen Erlebensmatrix lassen sich von ihrer Verbindung mit der zweiten klinischen Phase der biologischen Geburt herleiten. In diesem Stadium setzen sich die Gebärmutterkontraktionen fort, doch im Gegensatz zum vorhergehenden Stadium ist die Cervix erweitert und ermöglicht dadurch eine allmähliche Fortbewegung des Fötus durch den Geburtskanal. Damit einher gehen ein gewaltiger Kampf ums Überleben, massiver mechanischer Druck von außen sowie häufig Sauerstoffmangel und drohendes Ersticken. In den letzten Phasen der Geburt kann der Fötus in enge Berührung mit biologischen Stoffen wie Blut, Schleim, Fruchtwasser, Urin oder gar Kot kommen.

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Aus der Sicht des Erlebens ist die dritte perinatale Grundmatrix sehr weitläufig und kompliziert. Neben dem realistischen Wiedererleben verschiedener Aspekte des tatsächlichen Kampfes im Geburtskanal finden sich sehr verschiedenartige Phänomene, die in typischen Themenabfolgen auftreten. Dazu gehören vor allen Dingen das Motiv des titanischen Kampfes, sadomasochistische Erlebnisse, heftige sexuelle Erregung, Erlebnisse mit Dämonen, skatologische Erlebnisse und die Begegnung mit dem Feuer. Alle diese Elemente sind in den Rahmen des Prozesses von Tod und Wiedergeburt eingefügt.

Der Aspekt des titanischen Kampfes wird unmittelbar verständlich, wenn man bedenkt, welche gewaltigen Kräfte in dieser Geburtsphase wirksam werden. Der zarte Kopf des Kindes wird durch starke Gebärmutterkontraktionen, die einen Druck von 20 bis 50 Newton ausüben, in die enge Beckenöffnung gepreßt. Jemand, der mit diesem Aspekt der dritten perinatalen Grundmatrix konfrontiert wird, verspürt mächtige Energieströme, die sich aufstauen und in explosiver Weise entladen. Charakteristische symbolische Themen in diesem Zusammenhang sind entfesselte Naturelemente (Vulkanausbrüche, elektrische Stürme, Erdbeben, Gezeitenwellen oder Wirbelstürme), gewalttätige Szenen aus Kriegen oder Revolutionen und technische Motive (thermonukleare Reaktionen, Atombomben und Raketen). Zu den etwas gemäßigteren Versionen dieses Erlebnismusters zählen gefährliche Abenteuer, etwa die Teilnahme an einer Jagd oder Kämpfe mit wilden Tieren, die Erforschung gefahrvollen Terrains und die Eroberung von Neuland. Entsprechende archetypische Themen sind Bilder vom Fegefeuer, vom Jüngsten Gericht, große Taten von Superhelden und mythologische Kämpfe von kosmischem Ausmaß zwischen Dämonen und Engeln oder zwischen Göttern und Titanen.

 

Die sadomasochistischen Aspekte dieser Matrix spiegeln die Mischung aus Aggressionen wider, die vom weiblichen Fortpflanzungssystem gegen den Fötus gerichtet werden, und aus den heftigen Reaktionen des Kindes auf das drohende Ersticken, die Schmerzen und die Angst. Häufige Motive in diesem Zusammenhang sind das Blutopfer, die Selbstopferung, die Folter, die Hinrichtung, die Ermordung, sadomasochistische Praktiken und die Vergewaltigung. Die erlebnismäßige Logik der sexuellen Komponente des Tod- und Wiedergeburtprozesses läßt sich auf Anhieb nicht so leicht erkennen. Sie kann durch die bekannte Beobachtung erklärt werden, daß drohendes Ersticken und unmenschliches Leiden im allgemeinen eine seltsame Form intensiver sexueller Erregung hervorrufen. Die Erlebnisse auf der perinatalen Ebene sind gekennzeichnet durch eine überaus heftige Intensität des Sexualtriebs, der mechanisch und ungerichtet ist und pornographische oder abweichende Merkmale hat. In den zu dieser Kategorie gehörenden Erlebnissen wird Sex mit Tod, Gefahr, biologischen Elementen, Aggressionen, selbstzerstörerischen Impulsen, körperlichen Schmerzen und Spiritualität (aufgrund der Nähe zur vierten perinatalen Grundmatrix) kombiniert.

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Die Tatsache, daß die sexuelle Erregung auf der perinatalen Ebene mit Lebensgefahr, Angst, Aggressionen und biologischen Elementen gepaart ist, hat wesentliche Bedeutung für das Verständnis sexueller Abweichungen und anderer Formen sexueller Pathologie. Diese Verbindungen werden in einem späteren Abschnitt eingehender besprochen.

Das Element des Dämonischen in diesem Stadium des Tod- und Wiedergeburtprozesses kann sowohl den Therapeuten als auch den Klienten vor schwierige Probleme stellen. Durch den unheimlichen Charakter der auftretenden Motive können beide zögern, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Die häufigsten Themen in diesem Zusammenhang sind der Hexensabbath (Walpurgisnacht, s. Abb. 13), Höllenorgien oder Schwarze Messen und die Versuchung. Der gemeinsame Nenner der Geburtserfahruhg in dieser Phase und dem Hexensabbath oder der Schwarzen Messe ist eine eigentümliche Mischung aus Tod, sexuellen Abweichungen, Angst, Aggressionen, skatologischen Elementen und verzerrten spirituellen Impulsen (s. Abb. 14, S. 121).

Der skatologische Aspekt des Tod- und Wiedergeburtprozesses besitzt seine natürliche biologische Grundlage in dem Umstand, daß das Kind in den letzten Geburtsstadien in enge Berührung mit Exkrementen und anderen biologischen Stoffen kommen kann. Die perinatalen Erlebnisse übertreffen aber in der Regel bei weitem das, was das Neugeborene eventuell wirklich erlebt hat. Sie können das Gefühl vermitteln, in Exkrementen zu schwimmen, in Abfällen oder Kloaken herumzukriechen, Kot zu essen, Blut oder Urin zu trinken oder sich in Fäulnis zu befinden.

Das Element des Feuers wird entweder in seiner gewöhnlichen Form erlebt — als Identifikation mit einem Brandopfer — oder in einer archetypischen Form als reinigendes Feuer (Pyrokatharsis), das alles Schlechte und Verdorbene im Menschen zerstört und ihn auf seine spirituelle Wiedergeburt vorbereitet. Das Feuer ist das am wenigsten verständliche Element der Geburtssymbolik. Als biologische Begleiterscheinung käme vielleicht die kulminierende Überreizung des Neugeborenen und das damit verbundene wahllose »Feuern« peripherer Neuronen in Frage. Interessanterweise haben Mütter in dieser Phase der Geburt häufig das Empfinden, daß ihre Vagina wie Feuer brenne. In diesem Zusammenhang verdient auch erwähnt zu werden, daß beim Verbrennen feste Stoffe in Energie umgewandelt werden. Das Erlebnis des Feuers begleitet auch den Ich-Tod, nach dem sich der Betreffende philosophisch mit Energiemustern und nicht mit fester Materie identifiziert.

Die religiösen und mythologischen Symbole dieser Matrix haben überwiegend das Opfer und die Selbst­opferung zum Thema. Sehr häufig sind Szenen aus präkolumbianischen Opferritualen, Visionen von der Kreuzigung Christi oder die Identifikation mit Jesus Christus, sowie die Verehrung der schrecklichen Göttinnen Kali, Coatlicue oder Rangda. 

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Abb. 13.
Hexensabbath auf dem Blocksberg. An diesem, durch den Hexensabbath berühmten Platz spielt auch die Walpurgisnacht in Goethes Faust. Der alte Holzschnitt zeigt das bekannte Ritual, bei dem Meister Leonhard auf den Anus geküßt wird, während die Orgien beginnen.

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Die ebenfalls häufigen Szenen aus der Teufelsanbetung und der Walpurgisnacht wurden bereits erwähnt. Eine andere Gruppe von Bildern bezieht sich auf religiöse Rituale und Zeremonien, in denen Sex und wildes rhythmisches Tanzen kombiniert sind, etwa die Anbetung des Phallus, Fruchtbarkeitsriten oder verschiedene Stammeszeremonien von Naturvölkern. Ein klassisches Symbol für den Übergang von der dritten zur vierten perinatalen Grundmatrix ist der legendäre Vogel Phönix, dessen alte Form im Feuer stirbt und dessen neue sich aus der Asche erhebt und sich zur Sonne emporschwingt.

 

Es gibt mehrere wesentliche Merkmale dieses Erlebnismusters, die es von dem zuvor beschriebenen Muster der Ausweglosigkeit unterscheiden. Die Situation erscheint nicht hoffnungslos, und die Person, die sich in ihr befindet, ist auch nicht hilflos. Sie ist aktiv beteiligt und hat das Gefühl, daß ihr Leiden eine ganz bestimmte Richtung und ein Ziel besitzt. In der Sprache der Religion ausgedrückt ähnelt diese Situation mehr dem Fegefeuer als der Hölle. Außerdem spielt die Person, deren Erleben von der dritten perinatalen Grundmatrix bestimmt wird, nicht mehr die Rolle eines hilflosen Opfers, sondern die eines Beobachters. Sie kann sich gleichzeitig mit beiden Seiten identifizieren, und zwar bis zu dem Punkt, an dem sich kaum mehr auseinanderhalten läßt, ob sie nun der Angreifer oder das Opfer ist. 

Während die Situation der Ausweglosigkeit ausschließlich mit Leiden verbunden ist, steht das Tod- und Wiedergeburterlebnis an der Grenze zwischen Leiden und Ekstase oder verbindet beides. Es erscheint angemessen, dieses Erlebnis als »vulkanische Ekstase« — im Gegensatz zur »ozeanischen Ekstase« der Einheit mit dem Kosmos — zu charakterisieren. Bestimmte Merkmale verbinden die dritte perinatale Grundmatrix mit COEX-Systemen, die sich aus Erinnerungen an intensive und gefährliche sinnesstarke und insbesondere sexuelle Erlebnisse, an Auseinandersetzungen und Kämpfe, an aufregende, aber gefährliche Abenteuer, an Vergewaltigung und sexuelle Orgien oder an Situationen mit biologischem Material zusammensetzen. Ähnliche Verbindungen bestehen auch zu gleichgearteten transpersonalen Erlebnissen. Im Hinblick auf die Freudschen erogenen Zonen steht diese Matrix im Zusammenhang mit physiologischen Aktivitäten, die nach einer längeren Phase der Spannung plötzliche Erleichterung und Entspannung bringen. Auf der oralen Ebene sind es das Kauen und Herunterschlucken von Essen (bzw. umgekehrt das Erbrechen), auf der analen und urethralen Ebene das Defäkieren und das Urinieren, und auf der genitalen Ebene die Steigerung zum sexuellen Orgasmus und die Empfindungen einer entbindenden Frau in der zweiten Geburtsphase.

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Abb. 14. 
Dieses Bild des Schweizer Malers Hansruedi Giger verbindet Elemente von Aggression, Kreuzigung und Tod in dämonischer Atmosphäre mit den Motiven der Sexualität und der Schlange] die sich - die perinatale Herkunft der Vision unterstreichend - wie eine Boa constrictor um den Körper der Frau windet. 
(Aus: Necronomium.)

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Perinatale Grundmatrix IV:

Diese perinatale Matrix steht in einem sinnvollen Zusammenhang mit der dritten klinischen Entbindungs­phase, der eigentlichen Geburt des Kindes. In diesem letzten Stadium geht der quälende Geburtskampf zu Ende. Das Vorwärtstreiben durch den Geburtskanal erreicht seinen Höhepunkt, und auf die extreme Steigerung von Schmerzen, Spannungen und sexueller Erregung folgen unmittelbar Entspannung und Erleichterung. Das Kind ist geboren und sieht nach langer Dunkelheit zum ersten Mal das grelle Licht des Tages (oder des Operationsraums). Nach der Durchtrennung der Nabelschnur ist die körperliche Trennung von der Mutter abgeschlossen, und das Kind steht am Beginn seiner neuen Existenz als anatomisch eigenständiges Individuum.

Wie schon im Fall der anderen Matrizen scheinen einige der zugehörigen Erlebnisse die tatsächlichen biologischen Ereignisse während der Geburt wie auch bestimmte geburtshelferische Maßnahmen wirklichkeitsgetreu wiederzugeben . Aus einleuchtenden Gründen ist dieser Aspekt im Fall der vierten perinatalen Grundmatrix sehr viel reichhaltiger als die konkreten Erinnerungen im Rahmen der anderen Matrizen. Die speziellen Details lassen sich auch leichter nachprüfen. Dazu gehören Besonderheiten des Geburtsmechanismus, die Art der verwendeten Betäubungsmittel, Hilfeleistungen während der Geburt mit Händen oder Instrumenten sowie Einzelheiten der Erfahrungen und der Pflege nach der Geburt.

Das symbolische Gegenstück zu diesem letzten Entbindungsstadium ist das Wiedergeburtserlebnis, das das Ende des kampfreichen Tod- und Wiedergeburtprozesses anzeigt. Paradoxerweise hat die Person auf dieser Stufe des Erlebens zu dem Zeitpunkt, an dem nur ein Schritt sie von einer großen Befreiung trennt, das Gefühl, unmittelbar vor einer gewaltigen Katastrophe zu stehen. Dies führt häufig zu einer festen Entschlossenheit, die Erfahrung an dieser Stelle abzubrechen. Wird sie dann doch zugelassen, so wird der Übergang von der dritten zur vierten perinatalen Grundmatrix von einem Gefühl der absoluten Vernichtung auf allen nur vorstellbaren Ebenen begleitet, von körperlicher Zerstörung, von emotionaler Auflösung, von intellektueller Niederlage, von tiefster moralischer Verirrung und von absoluter Verdammnis mit transzendentalen Ausmaßen. Diese Erfahrung des »Ich-Todes« scheint unmittelbar eine schonungslose Zerstörung aller Bezugspunkte im früheren Leben des betreffenden Menschen nach sich zu ziehen. Wird dieser Ich-Tod in seiner letzten und vollständigen Form erlebt,3) dann bedeutet er das unwiderrufliche Ende der philosophischen Identifikation mit dem, was Alan Watts als das »von Haut umhüllte Ich« bezeichnete.

Auf dieses Erlebnis der totalen Vernichtung und des »Aufschlagens auf dem Boden des Kosmos« folgen unmittelbar Visionen von blendend weißem oder goldenem Licht, das übernatürliche Schönheit ausstrahlt. Es kann mit der Offenbarung von göttlichen archetypischen Wesen, mit den leuchtenden Farben eines Regenbogens oder mit den herrlichen Mustern eines Pfauengefieders in Verbindung gebracht werden. Auch können sich in diesem Zusammenhang Visionen der Natur einstellen, wie sie im Frühling zu neuem Leben erwacht oder nach einem Gewitter in neuer Frische erstrahlt. 

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Abb. 15.
Eine Erlebnis-Sequenz während des Übergangs von der dritten zur vierten perinatalen Grundmatrix. Das erste Bild (a) zeigt eine gigantische und drohende Golem-ähnliche Gestalt, die den Zugang zum Licht blockiert. 

Das zweite Bild (b) spiegelt ein späteres Stadium des Prozesses wider: das Hindernis ist überwunden, und der Klient steht der jetzt frei zugänglichen aufgehenden Sonne gegenüber, die er umarmt. 
(Sammlung Dr. Milan Hauser, Prag.)

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Die Person, die unter dem Einfluß dieser Erlebnisse steht, verspürt eine tiefe Befreiung und Erlösung. Sie fühlt sich frei von Angst, Depressionen oder Schuld, geläutert und unbelastet. Damit einher geht eine ganze Fülle positiver Emotionen gegenüber der eigenen Person, gegenüber anderen und gegenüber der Existenz im allgemeinen. Die Welt erscheint als ein schöner und sicherer Ort, und die Lebensfreude wird ungemein gesteigert4.

Die Symbole für dieses Erlebnis von Tod und Wiedergeburt können aus vielen Bereichen des kollektiven Unbewußten stammen, da jede größere Kultur ihre eigenen mythologischen Formen dieses Phänomens besitzt. Der Ich-Tod kann in Verbindung mit verschiedenen zerstörerischen Gottheiten — mit Moloch, Shiva, Huitzilopochtli, Kali oder Coatlicue (s. Abb. 16, S. 52) — oder in Form der vollkommenen Identifizierung mit Jesus Christus, Osiris, Adonis, Dionysos bzw. einem anderen mythischen Wesen, das geopfert wurde, erfahren werden. Die göttliche Erscheinung kann Gott vollkommen abstrakt als hell leuchtende Lichtquelle oder je nach Religion mehr oder weniger personifiziert darstellen. Ebenso häufig sind Erlebnisse der Begegnung oder Vereinigung mit den großen Muttergöttinnen wie der Jungfrau Maria, Isis, Lakshmi, Parvati, Hera oder Kybele.

Was den biographischen Bereich angeht, so können Erinnerungen an persönliche Erfolge und das Ende von gefährlichen Situationen, das Ende von Kriegen oder Revolutionen, das Überleben von Unfällen oder die Genesung nach schweren Krankheiten wach werden.

Im Hinblick auf die Freudschen erogenen Zonen ist die vierte perinatale Grundmatrix mit dem Zustand der Befriedigung verbunden, der unmittelbar auf Aktivitäten folgt, die unlustvolle Spannungen gelöst haben, also mit der Sättigung des Hungers durch Essen, mit erleichterndem Erbrechen, Defäkieren und Urinieren, mit dem sexuellen Orgasmus und mit der erfolgreichen Geburt eines Kindes.

 

Jenseits des Gehirns: Die Ebene der transpersonalen Erfahrungen

Wie schon früher erwähnt haben transpersonale Erlebnisse viele fremdartige Merkmale, die die Grundannahmen der materialistischen Wissenschaft und des mechanistischen Weltbildes vollkommen in Frage stellen. Sie treten zwar im Verlauf einer sehr intensiven Selbsterfahrung auf, doch lassen sie sich nicht einfach als intrapsychische Phänomene im konventionellen Sinn interpretieren. Einerseits bilden sie das Ende eines Kontinuums, das auch noch die biographischen und perinatalen Erlebnisse umfaßt, andererseits scheinen sie häufig direkt — ohne Vermittlung durch die Sinnesorgane — von Informationsquellen gespeist zu werden, die eindeutig außerhalb des konventionell definierten Bereichs des Individuums liegen.

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In transpersonalen Erlebnissen kann man sich mit anderen Menschen oder mit Mitgliedern anderer Spezies identifizieren, man kann Zugang zu mikroskopischen und astronomischen Bereichen gewinnen, die sonst ohne technische Hilfsmittel nicht wahrgenommen werden können, und man kann in historische und prähistorische Zeiten, in die Zukunft, an weit abgelegene Orte oder in andere Dimensionen der Existenz versetzt werden. Die Ebene der Erinnerungen steht in Beziehung zur individuellen Lebensgeschichte und ist ihrer Natur nach eindeutig biographisch. Perinatale Erlebnisse scheinen den Übergang von der personalen zur transpersonalen Ebene zu bilden. Dieser Umstand wird in ihrer Verbindung zu Geburt und Tod, also zum Anfang und Ende der individuellen Existenz, deutlich. Die transpersonalen Phänomene selber decken Verbindungen zwischen Individuum und Kosmos auf, die wir gegenwärtig mit unserem Verstand nicht fassen können. Wir können lediglich sagen, daß sich irgendwann während der Ausfaltung des perinatalen Bereichs ein seltsamer Möbius-artiger Sprung ereignet, durch den das Eindringen in das individuelle Unbewußte Erlebnissphären aufschließt, die das gesamte Universum umfassen, oder - anders ausgedrückt - durch den sich das individuelle Unbewußte zum Überbewußten wandelt.

Der gemeinsame Nenner dieser sonst sehr reichhaltigen und weitläufigen Gruppe von Phänomenen ist das Empfinden, daß das eigene Bewußtsein über die Grenzen des Ich hinausgegangen ist und die Beschränkungen von Raum und Zeit überschritten hat. Im »normalen« oder gewöhnlichen Bewußtseinszustand erfahren wir uns selber als innerhalb der Grenzen unseres physischen Körpers existierend. Unsere Wahrnehmung der Umwelt wird durch die physikalisch vorgegebene Reichweite der äußeren Sinnesorgane eingeschränkt. Sowohl unsere Innenwahrnehmung (Interozeption) als auch die Wahrnehmung unserer Außenwelt (Exterozeption) bewegen sich innerhalb der gewöhnlichen räumlichen und zeitlichen Grenzen. Unter normalen Bedingungen erleben wir in lebendiger Weise nur unsere gegenwärtige Situation und unsere unmittelbare Umgebung, wir erinnern uns lediglich an vergangene Ereignisse und wir haben Ahnungen oder Phantasien von der Zukunft.

In transpersonalen Erlebnissen scheinen eine oder mehrere der genannten Beschränkungen nicht mehr zu existieren. Viele zu dieser Kategorie gehörende Erlebnisse werden von den Betreffenden als Zurück­versetzung in historische Zeiten und als Erforschung ihrer biologischen und spirituellen Vergangenheit interpretiert. In verschiedenen Formen intensiver Selbsterfahrung sind sehr konkrete und realistische Erlebnisse nicht ungewöhnlich, die sich als Erinnerungen an Ereignisse im Fötus- und Embryoalter erweisen. Viele Personen berichten auch von lebhaften Eindrücken auf der Ebene eines zellularen Bewußtseins, die ihre Existenz als Samen oder Ei zum Zeitpunkt der Empfängnis widerzuspiegeln scheinen. Manchmal geht die Reise in die Vergangenheit offenbar noch weiter, und die Betreffenden sind überzeugt, Ereignisse aus dem Leben ihrer Vorfahren oder gar aus der gesamten Existenz einer Rasse oder eines Kollektivs wiederzuerleben.

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Gelegentlich wird auch von Erlebnissen berichtet, in denen sich die Betreffenden mit verschiedenen tierischen Vorfahren im Stammbaum der Evolution identifizieren oder in denen sie sich sicher sind, in eine frühere Inkarnation zurückversetzt zu werden. (S. Abb. 17, S. 149.)

In anderen transpersonalen Phänomenen werden weniger die zeitlichen als die räumlichen Grenzen über­schritten. Hierzu gehören die Erlebnisse des Verschmelzens mit einer anderen Person in einen Zustand der Zweieinigkeit oder der vollständigen Identifikation mit ihr, das Annehmen des Bewußtseins einer ganzen Gruppe von Menschen oder seine Ausweitung auf die gesamte Menschheit. Auf ähnliche Weise können die Grenzen der spezifisch menschlichen Erfahrung überschritten und das Bewußtsein von Tieren, Pflanzen oder sogar leblosen Gegenständen und Prozessen angenommen werden. Im Extremfall ist es möglich, sich in seinem Bewußtsein mit allen Geschöpfen, mit unserem Planeten oder mit dem gesamten materiellen Universum zu identifizieren. 

Ein anderes Phänomen, das im Zusammenhang mit der Überschreitung der normalen räumlichen Grenzen steht, ist das Annehmen des Bewußtseins von verschiedenen Teilen des Körpers, etwa des Bewußtseins verschiedener Organe, Gewebe oder einzelner Zellen. Hinzu kommt die bedeutsame Kategorie transpersonaler Erlebnisse, die verschiedene außersinnliche Wahrnehmungen beinhalten, etwa außerkörperliche Erfahrungen, Telepathie, Präkognition, Hellsehen und Hellhören sowie Raum- und Zeitreisen.

In einer großen Gruppe transpersonaler Erlebnisse scheint die Erweiterung des Bewußtseins über die phänomenale Welt und das Raum-Zeit-Kontinuum, wie wir es im alltäglichen Leben wahrnehmen, hinauszugehen. Sehr häufige Beispiele sind Erlebnisse der Begegnung mit Geistern verstorbener Menschen oder übermenschlichen Geistwesen. Personen, die unter LSD-Einwirkung stehen, berichten auch häufig von Visionen archetypischer Formen, einzelner Gottheiten und Dämonen sowie komplexer mythologischer Handlungsabfolgen. Hinzu treten noch das intuitive Verständnis universeller Symbole, die Erfahrung des Fließens von Chi-Energie, wie es die chinesische Medizin und Philosophie beschreiben, und die Erregung von Kundalini-Energie oder die Aktivierung verschiedener Chakras. Im Extremfall scheint das individuelle Bewußtsein die Gesamtheit der Existenz zu umfassen und sich mit dem Geist des Universums oder dem Absoluten zu identifizieren. Die letztmögliche aller Erfahrungen ist aber offenbar die des über- und metakosmischen Nichts, der rätselhaften uranfänglichen Leere, die sich ihrer selbst bewußt ist und die gesamte Existenz im Keim enthält.

Die oben ausgeführte erweiterte Kartographie des Unbewußten hat große Bedeutung für jeden ernsthaften wissenschaftlichen Versuch, Phänomene wie den psychedelischen Zustand, den Schamanismus, die Religion, die Mystik, die Übergangsriten, die Mythologie, die Parapsychologie und die Schizophrenie zu verstehen. 

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Diese Kartographie ist nicht nur von akademischem Interesse. Wie ich in einem späteren Kapitel noch zeigen werde, hat sie tiefgehende und revolutionäre Auswirkungen auf das Verständnis psychopatholog­ischer Phänomene und eröffnet neue, von der traditionellen Psychiatrie ungeahnte therapeutische Möglichkeiten.

 

Das Spektrum des Bewußtseins  

Die im vorigen Abschnitt gezeichnete »Landkarte« des Innenraums wirft ein interessantes Licht auf die gegenwärtige Verwirrung in der Welt der Tiefen­psychotherapie und die Auseinandersetzungen zwischen ihren verschiedenen Schulen. Das dargestellte Gesamtkonzept paßt zu keinem der bestehenden Ansätze, doch die verschiedenen Erlebnisebenen lassen sich adäquat mit verschiedenen psychologischen Systemen oder alten spirituellen Philosophien beschreiben. 

Schon früh in meiner psychedelischen Forschung machte ich die Beobachtung, daß die Patienten während einer psycholytischen Behandlung mit LSD in der Regel von einem Freudschen zu einem Rankianisch-Reichianisch-existentialistischen und schließlich zu einem Jungschen Stadium überwechselten (66). Die Bezeichnungen für die einzelnen Stadien spiegeln die Tatsache wider, daß die jeweiligen Theorien die besten verfügbaren Modelle zum Verständnis der Phänomene in diesen aufeinanderfolgenden Therapieabschnitten boten. 

Es wurde auch deutlich, daß kein westliches psychologisches System bestimmten Phänomenen gerecht werden konnte, die in fortgeschrittenen Therapiestadien oder auf tieferen Ebenen der psychedelischen Erfahrung auftraten. Hier mußte man auf die alten und fernöstlichen spirituellen Philosophien wie das Vedanta, verschiedene Yogasysteme, den Kaschmir-Shaivismus, den Mahayana-Buddhismus, das Vajrayana, den Taoismus oder den Sufismus zurückgreifen. Wie sich unzweifelhaft herausstellte, kann das gesamte Spektrum des menschlichen Erlebens nicht mit einem einzigen psychologischen System beschrieben werden. Jede Hauptebene der Bewußtseinsentwicklung erfordert ein vollkommen andersgeartetes Erklärungsmodell.

Der gleiche Gedanke wurde unabhängig von mir von Ken Wilber entwickelt und sehr detailliert in seinen Büchern Spectrum of Consciousness (207), The Atman Project (209) und Halbzeit der Evolution (210) ausgearbeitet. Wilbers Konzept der Spektrumpsychologie beinhaltet ein Bewußtseinsmodell, daß die Einsichten der großen psychologischen Schulen des Westens und die Grundprinzipien einer »psychologia perennis« integriert, d.h. einer Auffassung vom menschlichen Bewußtsein, die die bedeutsamsten Erkenntnisse der »philosophia perennis« in eine psychologische Sprache umsetzt. 

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Nach Wilbers Meinung spiegeln sich in der großen Vielfalt der psychologischen und psychotherapeut­ischen Schulen nicht so sehr unterschiedliche Interpretationen der gleichen Probleme oder Unterschiede in der Methodik wider, sondern unterschiedliche Ebenen des Bewußtseinsspektrums, auf die sich die einzelnen Schulen jeweils beziehen. Der Hauptfehler aller dieser voneinander abweichenden Richtungen besteht darin, daß sie ihren Ansatz in der Regel verallgemeinern und auf das ganze Spektrum anwenden wollen, wo er doch eigentlich nur für eine bestimmte Bewußtseinsebene gilt. Jede dieser Hauptrichtungen der westlichen Psychotherapie ist deshalb mehr oder weniger »korrekt«, wenn sie auf der ihr zugehörigen Ebene bleibt, und jede macht sich grober Verzerrungen schuldig, sobald sie unangemessen auf andere Bänder des Bewußtseinsspektrums angewendet wird. Eine wirklich umfassende und integrierte Psychologie der Zukunft wird sich jeder der einander ergänzenden Einsichten, die die einzelnen psychologischen Schulen beitragen, bedienen. 

Seit seinem ersten Buch hierzu, The Spectrum of Consciousness (207), hat Wilber sein Modell verfeinert und weiterentwickelt und es auch mit Erfolg auf die Entwicklung des individuellen menschlichen Bewußtseins sowie der Geschichte der Menschheit angewendet. In The Atman Project (209) nimmt er eine transpersonale Interpretation der Ontologie und Kosmologie vor, die in kreativer Weise viele westliche psychologische Schulen und Systeme der philosophia perennis integriert. Diese allumfassende Betrachtungsweise bezieht die Entwicklung des Bewußtseins aus der materiellen Welt und vom Individuum zum Atman-Brahman ebenso ein wie die umgekehrte Entwicklung von der absoluten Wirklichkeit zu den manifesten Welten. Der Prozeß der Bewußtseinsentwicklung verläuft demnach sowohl nach außen, vom Unterbewußten zum Ich-Bewußtsein, als auch nach innen, vom Ich-Bewußtsein zum Überbewußten. Wilbers Ansichten in diesem Zusammenhang und das Konzept des Atmanprojekts sind für das Thema dieses Buches so wichtig, daß sie besondere Erwähnung verdienen. 

 

Wilbers Beschreibung der nach außen gerichteten Bewußtseinsentwicklung beginnt mit dempleromatischen Stadium, dem undifferenzierten Bewußtseinszustand des Neugeborenen, das weder zeit- noch räum- noch gegenstandsgebunden ist und den Unterschied zwischen dem Ich und der materiellen Welt nicht kennt. Das darauf folgende uroborische Stadium, das in enger Verbindung mit der Nahrungsaufnahme steht, enthält die erste primitive und unvollständige Unterscheidung zwischen dem Subjekt und der materiellen Welt. Es fällt mit der frühen oralen Phase der libidinösen Entwicklung zusammen. 

Das typhonische Stadium ist charakterisiert durch die erste vollständige Differenzierung zwischen Subjekt und materieller Umwelt. In diesem Stadium entsteht das organische Ich oder das Körper-Ich, das durch das Lustprinzip sowie instinkthafte Dränge und Entladungen beherrscht wird. Dieses Stadium schließt die anale und die phallische Phase der libidinösen Entwicklung ein. Der Erwerb der Sprache, geistiger Funktionen und des Denkens kennzeichnet das verbale Ich-Stadium. Hier differenziert sich das Ich vom Körper und erhält geistig-verbalen Charakter. Der Prozeß führt weiter in das geistige Ich-Stadium, das mit der Entwicklung linearen, abstrakten und begrifflichen Denkens sowie der Identifikation mit einem Selbstbild einhergeht.

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Die nach außen gerichtete Entwicklung des Bewußtseins und gewöhnlich auch die der Persönlichkeit hat schließlich ihren Höhepunkt im zentaurischen Stadium, einer Integration von Ich, Körper, Persona und Schatten auf hoher Ebene.

Die zentaurische Ebene ist die höchste Stufe der Bewußtseinsentwicklung, die von der mechanistischen Wissenschaft des Westens anerkannt und ernstgenommen wird. Die westlichen Psychiater und Psychologen leugnen entweder die Existenz irgendwelcher höherer Bewußtseinsstufen oder sie stempeln sie zu psychopathologischen Phänomenen ab. In der Vergangenheit mußten diejenigen, die an Erkenntnissen über höhere Bewußtseinszustände interessiert waren, sich an die großen Weisen oder die mystischen Schulen des Ostens und Westens wenden. Im letzten Jahrzehnt aber hat die transpersonale Psychologie die komplexe Aufgabe in Angriff genommen, die Weisheit der »ewigen« Philosophie und Psychologie mit den Theoriengebäuden der westlichen Wissenschaft zu vereinen. Ken Wilbers Arbeiten stellen auf diesem Gebiet eine große Leistung dar.

Wilbers Modell der Bewußtseinsentwicklung endet nicht mit dem zentaurischen Stadium. Er sieht dieses als Übergang zu transpersonalen Existenzbereichen an, die über das Ich-Bewußtsein ebenso weit hinausgehen wie das Ich-Bewußtsein über das typhonische Stadium. Der erste dieser transpersonalen Bereiche der nunmehr nach innen gerichteten Bewußtseinsentwicklung ist die niedrigere feinstoffliche Ebene, die den astralpsychischen Bereich umfaßt. Auf dieser Ebene ist das Bewußtsein, das sich weiter aus Ich und Körper herausdifferenziert, in der Lage, über die gewöhnlichen Fähigkeiten des grobstofflichen Körper-Ich hinauszugehen. Hierzu gehören die außerkörperlichen Erfahrungen, okkulte Phänomene, Auras, Astralreisen, Präkognitionen, telepathische Phänomene, Hellsehen, psychokinetische Phänomene usw. Die höhere feinstoffliche Ebene ist der Bereich der authentischen religiösen Intuition, der symbolischen Visionen sowie der Wahrnehmung göttlichen Lichts und Klangs, höherer Geistwesen und archetypischer Formen.

Jenseits der höheren feinstofflichen Ebene liegt der kausale Bereich. Die niedrigere Ebene dieses Bereichs umfaßt das Bewußtsein einer über allem stehenden Gottheit, dem Ursprung der archetypischen Formen. Auf der höheren Ebene werden alle Formen radikal transzendiert und verschmelzen mit der grenzenlosen Strahlung des höchsten formlosen Bewußtseins. Auf der Ebene der letzten Einheit schließlich nimmt das Bewußtsein vollständig seine ursprüngliche Existenzform an, es erwacht zum Sein aller Phänomene — der grobstofflichen, feinstofflichen und kausalen — an sich. An diesem Punkt erweist sich jeder Augenblick des gesamten Weltgeschehens als das eigene Wesen, außerhalb dessen es nichts gibt und vor dem es nichts gegeben hat. Die Formen sind identisch mit dem Nichts, das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche, das Weltliche und das Übernatürliche sind ein und dasselbe. Dies ist der Endzustand, auf den die gesamte kosmische Entwicklung zustrebt.

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In Wilbers Modell ist die Kosmologie mit einem Prozeß verbunden, der in der umgekehrten Richtung verläuft. Sein Modell beschreibt, wie phänomenale Welten aus der Ureinheit durch fortschreitende Reduktion und durch Ausfaltung höherer Strukturen in niedrigere entstehen. Dabei folgt Wilber ausschließlich dem Text des Tibetanischen Totenbuchs oder des Bardo Thödol, das das Durchwandern der Zwischenstadien oder Bardos zum Zeitpunkt des Todes schildert.

Einer der originellsten Beiträge aus Wilbers Arbeiten ist die Tatsache, daß er im wesentlichen identische oder zumindest ähnliche Prinzipien und Mechanismen aufdecken konnte, die hinter der verwirrenden Vielfalt der zahlreichen Stadien der nach außen und innen gerichteten Bewußtseinsentwicklung stehen. Seine verschiedenen Konzepte werden zweifellos Standardelemente einer transpersonalen Psychologie der Zukunft werden.

Sein grundlegendstes und aufschlußreichstes Konzept ist aber das Atmanprojekt. Ihm gelang nämlich der äußerst überzeugende Nachweis, daß die treibende Kraft auf allen Ebenen der Evolution (ausgenommen auf der Ebene der Ureinheit des Atman selber) die intensive Suche des Individuums nach der ursprünglichen kosmischen Einheit ist. Aufgrund der den einzelnen Stufen innewohnenden Beschränkungen gelingt dies aber nur in Form unbefriedigender Kompromisse. Dies ist die Erklärung für die verschiedenen Mißerfolge dieses Projekts, die zum Verlassen der beteiligten Ebenen und zur Umwandlung in das nächste Stadium führen.

Wilber wendete dieses Modell nicht nur auf die Entwicklung des Individuums an, sondern auch auf die der gesamten Menschheit. In Halbzeit der Evolution (210) gelingt ihm in der Tat eine grundlegend neue Interpretation der Geschichte und der Anthropologie. Der Umfang des vorliegenden Buches gestattet mir nicht, seinen einzigartigen Beiträgen zur transpersonalen Psychologie gerecht zu werden. Der interessierte Leser sei deshalb auf Wilbers Werke im Original verwiesen. Ehe ich dieses Kapitel abschließe, möchte ich aber noch kurz auf die Bereiche eingehen, in denen meine eigenen Arbeiten und die in diesem Buch dargestellten Konzepte trotz der sonst weitgehenden Übereinstimmung von Wilbers Modell abweichen.

 

Wilber hat hervorragende Arbeit geleistet, indem er eine erfolgreiche Synthese scheinbar unvereinbarer Daten aus den verschiedensten Bereichen und Disziplinen vornahm. Seine Kenntnisse der Literatur sind wahrhaft enzyklopädisch zu nennen, sein analytischer Verstand ist systematisch und durchdringend, und die Klarheit seiner Logik höchst bemerkenswert. Um so mehr überrascht es, daß er nicht die Unmenge an Daten aus alten und modernen Quellen berücksichtigte, die die ausschlaggebende psychologische Bedeutung der vorgeburtlichen Erfahrungen und des Geburtstraumas offenbaren. 

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Nach meiner Auffassung ist die Kenntnis der perinatalen Dynamik wesentlich für jedes ernsthafte Verständnis der Probleme im Zusammenhang mit den Religionen, der Mystik, den Übergangsriten, des Schamanismus und der Psychosen.

Wilbers Beschreibung der nach außen gerichteten Bewußtseins­entwicklung beginnt mit dem undifferenzierten pleromatischen Bewußtsein des Neugeborenen und endet mit der letzten Einheit mit dem Absoluten. Seine Beschreibung der nach innen gerichteten Bewußtseinsentwicklung, die sich eng an das Tibetanische Totenbuch anlehnt, setzt beim letztmöglichen Bewußtsein, dem reinen und makellosen Dharmakaya, an, führt durch die drei Bardos und endet mit dem Augenblick der Empfängnis. Der Komplexität der embryonalen Entwicklung und der darauffolgenden Stadien der biologischen Geburt wird in seinem System, das sonst in allen anderen Bereichen penibel ausgearbeitet ist, keine Beachtung geschenkt.

Ein anderer wichtiger Unterschied zwischen meinen Beobachtungen und Wilbers Modell betrifft das Phänomen des Todes. Für Wilber ist das Thanatoskonzept verbunden mit einer Umwandlung des Bewußtseins von einem Stadium in das nächste. Er setzt das Sterben mit dem Aufgeben der ausschließlichen Identifikation mit einer bestimmten Bewußtseinsstruktur gleich. Dadurch wird ein Fortschreiten von einer Stufe zur nächsten möglich. Er macht aber keinen Unterschied zwischen dem »Tod« eines Stadiums der Bewußtseinsentwicklung und den Erfahrungen im Zusammenhang mit dem biologischen Tod. Dies steht in krassem Gegensatz zu den Beobachtungen aus der psychedelischen Therapie und anderen Formen intensiver Selbsterfahrung, wonach die Erinnerungen an lebensbedrohliche Ereignisse, einschließlich die Erinnerungen an die Geburt, eine Kategorie von besonderer Bedeutung ausmachen.

Diese Erkenntnis macht deutlich, daß es wichtig ist, zwischen dem Prozeß des Übergangs von einer Entwicklungsstufe zur nächsten und dem Geburtstrauma sowie anderen, das Überleben des Organismus bedrohenden Ereignissen zu unterscheiden. Die zuletzt genannten Erfahrungen gehören einer anderen logischen Kategorie an und nehmen eine Metaposition gegenüber den Prozessen ein, die Wilber bei der Beschreibung des Thanatos einbezieht. Sie gefährden die Existenz des Organismus als individuelle Einheit ungeachtet seines Entwicklungsstadiums. Eine kritische Bedrohung des Überlebens kann während des embryonalen Zustands, in jeder Phase des Geburtsvorgangs und in jedem Alter ohne Rücksicht auf das Stadium der Bewußtseinsentwicklung eintreten. Lebensgefährliche Situationen in der vorgeburtlichen Existenz oder während der Geburt scheinen sogar wesentlich an der Entstehung eines Gefühls der Trennung und Isolation und nicht — wie Wilber meint — der Entstehung des Gefühls der Zerstörung beteiligt zu sein.5)

Nach meiner Auffassung kann das Verständnis der menschlichen Natur ohne eine angemessene Berück­sichtigung der Geburt und des Todes nur unvollständig und unbefriedigend sein. Die Integration dieser Elemente würde Wilbers Modell noch mehr logische Stimmigkeit und einen größeren pragmatischen Wert verleihen.


Bis dahin vermag es aber nicht, wichtige klinische Daten zu erklären und bleibt Wilbers Beschreibung der therapeutischen Implikationen seines Modells der am wenigsten überzeugende Teil seiner Arbeit, gerade für Kliniker, die gewohnt sind, sich mit den praktischen Problemen der Psychopathologie auseinanderzusetzen.

Der letzte Punkt, den ich in diesem Zusammenhang erwähnen möchte, ist der Umstand, daß Wilber mit Nachdruck die Linearität sowie die radikale Unterschiedlichkeit von »Prä«- und »Trans«-Phänomenen hervorhebt (etwa die Gegenüberstellung von präpersonal und transpersonal oder von Prä-Ich- und Post-Ich-Stufen usw.). So sehr ich auch im Prinzip einer Meinung mit Wilber bin, scheint mir doch der absolute Charakter seiner Darstellungen übertrieben. Die Psyche ist ihrem Wesen nach multidimensional oder holographisch, und wenn man sie mit einem linearen Modell abzubilden versucht, führt dies unweigerlich zu Verzerrungen und Irrtümern. Dies wird ein ernsthaftes Problem für jede Beschreibung der Psyche bleiben, solange man sich ausschließlich verbaler Mittel bedient. 

Nach meinen eigenen Beobachtungen nimmt die Bewußtseinsentwicklung nach dem zentaurischen Stadium nicht einen linearen Verlauf, sondern faltet sich in einem gewissen Sinn in sich selber aus. Im Laufe dieses Prozesses kehrt das Individuum zu früheren Entwicklungsstadien zurück, bewertet sie aber aus der Sicht eines reifen Erwachsenen. Gleichzeitig wird es sich deutlich bestimmter Aspekte und Qualitäten dieser Stadien bewußt, die ihnen schon seit jeher innewohnen, die es aber damals im Zusammenhang mit der linearen Entwicklung nicht wahrgenommen hat. Somit hat die Trennung von »Prä«- und »Trans«-Phänomenen paradoxen Charakter. Sie sind weder vollkommen voneinander verschieden, noch sind sie vollkommen miteinander identisch. 

Wird diese Erkenntnis auf psychopathologische Probleme angewendet, dann dürften die Unterscheidungs­kriterien für den entwicklungsbedingten und den pathologischen Zustand mehr im Gesamtzusammenhang liegen, in der Art und Weise, wie der Betreffende mit diesem Zustand umgeht und ihn in das alltägliche Leben integriert, und nicht in der Natur der mit ihm einhergehenden Erfahrungen. Eine detailliertere Diskussion der oben angesprochenen Punkte und einiger anderer Fragen, die Wilbers faszinierende und inspirierende Arbeiten aufwerfen, würde den Rahmen dieses Buches sprengen und muß einer gesonderten Veröffentlichung vorbehalten bleiben. 

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