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1.  Die Beschaffenheit der Realität: Auf dem Weg zu einem neuen Paradigma  

 

 

  Die Wissenschaftsphilosophie und die Rolle des Paradigmas   

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In mehreren Abschnitten dieses Buches werde ich auf wichtige Beobachtungen aus verschiedenen wissen­schaft­lichen Teil­bereichen eingehen, die sich nicht in den Rahmen der mechanistischen Wissenschaft fügen und sich nicht mit dem traditionellen Theorien der Psychiatrie, Psychologie, Anthropologie und Medizin erklären lassen. 

Einige dieser neueren Unter­suchungs­ergebnisse sind von so weitreichender Bedeutung, daß eine drastische Revision unseres gegenwärtigen Verständnisses der menschlichen Natur und sogar der Beschaffenheit der Realität notwendig erscheint. Ich finde es deshalb angemessen, zu Beginn einen Abstecher in die Wissen­schafts­philosophie zu machen und einige moderne Vorstellungen über die Beziehung zwischen wissen­schaft­lichen Theorien und der Realität zu diskutieren.

Ein erheblicher Teil des Widerstands traditionsorientierter Wissenschaftler gegen den Zustrom neuer, revolutionärer Daten beruht auf einem fundamentalen Mißverständnis der Beschaffenheit und der Funktion wissenschaftlicher Theorien. In den letzten Jahrzehnten haben Philosophen und Wissenschafts­historiker wie Thomas Kuhn (105), Philipp Frank (46), Karl Popper (154, 155) und Paul Feyerabend (42) viel Klarheit auf diesem Gebiet geschaffen. Die Pionierarbeit dieser Denker verdient, hier kurz umrissen zu werden.

Seit der industriellen Revolution kann sich die westliche Wissenschaft gewaltiger Erfolge rühmen. Sie ist zu einer mächtigen Kraft geworden, die das Leben von Millionen Menschen prägt. Ihre materialistische und mechanistische Orientierung hat beinahe die Theologie und die Philosophie als die Leitprinzipien der menschlichen Existenz ersetzt und unsere Welt in einem unvorher­gesehenen Ausmaß verwandelt. Die technischen Triumphe waren so erstaunlich, daß erst in letzter Zeit einige wenige Menschen die absolute Autorität der Wissenschaft bei der grundlegenden Lebensgestaltung in Frage zu stellen wagten.

Die Lehrbücher der verschiedenen Wissenschaftszweige haben die Tendenz, die Geschichte der Wissenschaft als eine geradlinige Entwicklung zu beschreiben, in der sich das Wissen über das Universum nach und nach angesammelt hat und im heutigen Wissensstand gipfelt. In diesem Rahmen werden wichtige Persönlichkeiten für die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens so geschildert, daß sie an denselben Problemen und nach denselben festgelegten Regeln gearbeitet haben, die nach den neuesten Errungenschaften als wissenschaftlich gelten. Jeder historische Abschnitt wissenschaftlicher Ideen und Methoden wird als einer von logischen Schritten gewertet, die das Universum immer genauer beschreiben und der letzten Wahrheit über unsere Existenz immer näher kommen.


Eine genaue Analyse der Wissenschaftsgeschichte und -philosophie läßt aber deutlich werden, daß hier ein grob verzerrtes und romantisierendes Bild vom tatsächlichen Ablauf der Dinge gezeichnet wird. Man kann sehr wohl überzeugend argumentieren, daß die Geschichte der Wissenschaft alles andere als geradlinig verläuft, und daß die einzelnen Wissenschaftszweige trotz ihrer technischen Erfolge nicht unbedingt zu einer immer genaueren Beschreibung der Realität führen. Der prominenteste Vertreter dieses ketzerischen Standpunkts ist ein Physiker und Wissenschaftshistoriker, Thomas Kuhn.

Seine Untersuchung der Entwicklung wissenschaftlicher Theorien und Revolutionen wurde zunächst durch die Beobachtung bestimmter fundamentaler Unterschiede zwischen den Sozialwissenschaften und den Naturwissenschaften inspiriert. Ihm fiel auf, wie viele Unstimmigkeiten es innerhalb der Sozialwissen­schaften über die Art der grundlegenden Probleme und theoretischen Ansätze gab und wie stark sie waren. Diese Situation schien im schroffen Gegensatz zu der Situation in den Naturwissenschaften zu stehen. Obwohl es unwahrscheinlich war, daß Astronomen, Physiker und Chemiker sicherere und endgültigere Antworten hatten als Psychologen, Anthropologen und Soziologen, schien die zuerst genannte Gruppe aus irgendeinem Grund in keine ernsthaften Kontroversen über grundlegende Probleme verwickelt zu sein. Dieser auffälligen Diskrepanz ging Kühn in einer intensiven Erforschung der Geschichte der Wissenschaft weiter nach, die nach 15 Jahren zur Veröffentlichung seines bahnbrechenden Buchs »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« (105) führte.

Im Laufe dieser Untersuchung wurde immer offenkundiger, daß aus historischer Perspektive sogar die Entwicklung der sogenannten strengen Wissenschaften alles andere als glatt und eindeutig verläuft. Die Geschichte der Wissenschaft ist keineswegs ein Prozeß allmählicher Ansammlung von Daten und der Formulierung immer genauerer Theorien. Statt dessen zeigt er deutlich zyklischen Charakter mit bestimmten Stufen und einer eigentümlichen Dynamik. Er verläuft nach bestimmten Gesetzen. Die Veränderungen in ihm können verstanden und sogar vorhergesagt werden. Der zentrale Begriff in Kuhns Theorie, der all dies ermöglicht, ist der des Paradigmas.

Im weitesten Sinn kann ein Paradigma als eine Konstellation von Überzeugungen, Wertvorstellungen und Techniken definiert werden, die alle Mitglieder eines bestimmten Wissenschaftsbereichs akzeptieren. Einige Paradigmata haben grundlegenden philosophischen Charakter und sind sehr allgemein und umfassend, andere wiederum bestimmen das wissenschaftliche Denken in bestimmten, ziemlich eng umrissenen Forschungsbereichen. Demnach kann ein Paradigma für alle Naturwissenschaften maßgeblich sein, ein anderes für die Astronomie, die Physik, die Biochemie oder die Molekularbiologie, wiederum ein anderes hingegen für so hochspezialisierte und esoterische Bereiche wie die Virusforschung oder die Gentechnik.1)

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Ein Paradigma spielt für die Beobachtungen und Experimente im Rahmen der Wissenschaft eine wesentliche Rolle. Die Anerkennung eines bestimmten Paradigmas ist eine absolut unerläßliche Voraussetzung für jedes ernsthafte wissenschaftliche Unterfangen. Die Realität ist äußerst komplex. Es ist deshalb unmöglich, sich mit ihr vollständig zu befassen. In der Wissenschaft werden nicht alle an einem bestimmten Phänomen beteiligten Variablen beobachtet und berücksichtigt, nicht alle denkbaren Experimente durchgeführt, nicht alle Manipulationen im Labor oder in der Klinik vorgenommen. Dies zu leisten ist unmöglich. Der Wissenschaftler muß das jeweils behandelte Problem auf einen praktikablen Umfang reduzieren. Die damit verbundene Auslese wird von dem augenblicklich vorherrschenden Paradigma bestimmt. Auf diese Weise kann nicht vermieden werden, daß ein ganz bestimmtes Überzeugungssystem in die Forschung einfließt.

Die Beobachtungen selber legen nicht ganz bestimmte und unzweideutige Lösungen fest. Einerseits vermag kein einzelnes Paradigma alle verfügbaren Fakten zu erklären, andererseits lassen sich für die Interpretation ein- und derselben Daten viele verschiedene Paradigmata heranziehen. Welcher Aspekt eines komplexen Phänomens ausgewählt wird und welche von allen denkbaren Experimenten überhaupt oder zuerst durchgeführt werden, hängt von vielen Faktoren ab — von Zufällen bei der Untersuchung, der allgemeinen Bildung und der speziellen Schulung des Wissenschaftlers, seinen früheren Erfahrungen auf anderen Gebieten, seinem individuellen Charakter, von ökonomischen und politischen Faktoren sowie von anderen Variablen. 

Die Beobachtungen und Experimente können und müssen den Bereich akzeptabler wissenschaftlicher Lösungen drastisch beschneiden. Ohne dieses Element würde »science« zu »science fiction«. Damit allein kann aber eine bestimmte Interpretation oder ein bestimmtes Überzeugungssystem nicht vollständig gerechtfertigt werden. Es ist deshalb im Prinzip unmöglich, Wissenschaft zu betreiben, ohne bestimmte a priori-Überzeugungen oder grundlegende metaphysische Annahmen zu machen und bestimmte Antworten über die Beschaffenheit der Realität und des menschlichen Wissens bereit zu haben. Die Relativität eines jeden Paradigmas aber — unabhängig davon, wie zeitgemäß oder überzeugend es formuliert sein mag — sollte vom Wissenschaftler deutlich erkannt werden und von ihm nicht mit der Wahrheit über die Wirklichkeit verwechselt werden.

Nach Thomas Kühn spielen Paradigmata in der Wissenschaftsgeschichte eine entscheidende, wenn auch komplexe und mehr­deutige Rolle. Wie schon oben begründet, sind sie für den wissenschaftlichen Fortschritt absolut unerläßlich. In bestimmten Entwicklungsstadien aber sind sie mit einer theoretischen Zwangsjacke vergleichbar, die die Möglichkeit neuer Entdeckungen und die Erschließung neuer Realitätsbereiche drastisch einschränkt.

Wie die Wissenschaftsgeschichte lehrt, scheinen Paradigmen in ihrer progressiven und reaktionären Funktion nach dem folgenden vorhersagbaren Muster hin- und herzuschwanken:

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Die frühen Entwicklungsstadien der meisten Wissenschaften — von Thomas Kuhn als prä-paradigmatische Perioden bezeichnet — sind durch ein theoretisches Chaos und den Wettstreit vieler voneinander abweichender Ansichten über die Natur gekenn­zeichnet. Keine dieser Ansichten kann als eindeutig unzutreffend zurückgewiesen werden, da sie alle mit den Beobachtungen und den wissenschaftlichen Methoden ihrer Zeit grob vereinbar sind. Aus dieser Situation erwächst ein dominierendes Paradigma, das einen einfachen, eleganten und plausiblen Rahmen für die Daten liefen, der die Mehrzahl der verfügbaren Beobachtungen gut zu erklären scheint und der sich auch als Leitfaden für die weitere Forschung anbietet.

Sobald ein Paradigma vom größten Teil der Fachwelt akzeptiert wird, erhält es den Charakter einer Vorschrift dafür, wie man wissenschaftliche Probleme angehen soll. An diesem Punkt neigt man auch dazu, es mit einer genauen Beschreibung der Realität zu verwechseln, statt es als eine nützliche Landkarte, eine bequeme Annäherung oder ein Organisationsmodell für die gegenwärtig verfügbaren Daten zu sehen. Eine solche Verwechslung der Landkarte mit dem tatsächlichen Territorium ist typisch für die Geschichte der Wissenschaft. Die begrenzten Erkenntnisse über die Natur, die in aufeinanderfolgenden historischen Abschnitten existiert haben, sind von den Wissenschaftlern ihrer Zeit als umfassendes Abbild der Realität gesehen worden, das nur in den Details unvollständig war. Diese Beobachtung ist so augenfällig, daß es für einen Historiker leicht wäre, die Entwicklung der Wissenschaft als eine Geschichte von Fehlern und Eigentümlichkeiten statt von einer systematischen Daten­anhäufung und einer allmählichen Annäherung an die letzte Wahrheit darzustellen.

Ist ein Paradigma einmal akzeptiert worden, so wird es zu einem hochwirksamen Katalysator für den wissenschaftlichen Fortschritt. Kühn bezeichnet diese Stadium als die Periode der normalen Wissenschaft. Die meisten Wissenschaftler verbringen ihre ganze Zeit damit, normale Wissenschaft zu betreiben. Deswegen ist in der Vergangenheit dieser spezielle Aspekt der wissenschaftlichen Aktivität gleichbedeutend geworden mit dem Begriff Wissenschaft selber. Die normale Wissenschaft basiert auf der Annahme, daß die Fachwelt weiß, wie das Universum beschaffen ist. Die führende Theorie definiert nicht nur, was die Welt ist, sondern auch, was sie nicht ist; sie legt fest, was möglich ist, und auch, was im Prinzip unmöglich ist. Thomas Kühn beschreibt die Forschung als ein eifriges und hingebungsvolles Bemühen, die Natur in die von der fachlichen Ausbildung übernommenen theoretischen Schubladen zu zwängen. Solange das Paradigma als selbstverständlich genommen wird, hält man nur die Probleme für legitim, die vermutlich gelöst werden können. Damit wird ein rapider Fortschritt der normalen Wissenschaft garantiert. Unter diesen Umständen unterdrückt die Fachwelt — oft zu erheblichem Schaden der Wissenschaft — alle Neuheiten, da sie ihre Grundsätze zu untergraben drohen.

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Paradigmen sind nicht nur Feststellungen über die Beschaffenheit von Natur und Realität, sie definieren auch den zulässigen Problembereich, legen die akzeptablen Methoden zu seiner Erschließung fest und setzen Qualitätskriterien für Lösungen. Bei einem solchen Einfluß eines Paradigmas werden alle wissenschaftlichen Grundsätze in einem bestimmten Bereich drastisch umdefiniert. Einige Probleme, die früher als entscheidend wichtig galten, können nun für irrelevant oder unwissenschaftlich erklärt, andere einem anderen Wissenschaftszweig zugeteilt werden. Umgekehrt können einzelne Fragen, die früher überhaupt nicht existierten oder als trivial abgetan wurden, plötzlich das Siegel höchster wissen­schaftlicher Bedeutung tragen. Sogar in Bereichen, in denen das alte Paradigma seine Gültigkeit behält, werden die Probleme nicht mehr so wie früher gesehen, sondern umgemodelt und umdefiniert. Die normale Wissenschaft unter dem Einfluß des neuen Paradigmas verträgt sich nicht mehr mit dem, was man in Übereinstimmung mit dem alten Paradigma praktizierte, ja sie ist damit sogar unvereinbar.

In der normalen Wissenschaft werden eigentlich nur Rätsel mit bekanntem Ergebnis gelöst. Die Ergebnisse sind im wesentlichen vom Paradigma im voraus festgelegt und bieten kaum Neues. Der Schwerpunkt ruht darauf, wie man zu den Ergebnissen gelangt, und Ziel ist es, das führende Paradigma weiter zu artikulieren sowie zu seinem Gültigkeitsbereich und der Präzision seiner Anwendung beizutragen. Die normale Forschung häuft deshalb Daten an, weil die Wissenschaftler nur die Probleme auswählen, die mit den bereits bestehenden theoretischen und praktischen Mitteln gelöst werden können. Die Ansammlung grundsätzlich neuen Wissens ist unter diesen Umständen nicht nur selten und unwahrscheinlich, sondern im Prinzip gar nicht erst zu erwarten. Neue Entdeckungen können nur gemacht werden, wenn die auf dem bestehenden Paradigma basierenden Vorannahmen über die Natur und technischen Hilfsmittel versagen. Neue Theorien können nicht entstehen, ohne daß sich destruktive Veränderungen in den alten Ansichten über die Natur ergeben.

Eine radikal neue Theorie ist nie lediglich ein Zusatz zu bestehendem Wissen. Sie formt bisher gültige Grundregeln um, erfordert eine drastische Revidierung oder Neuformulierung bisheriger Theorien und geht mit einer Neubewertung bestehender Fakten und Beobachtungen einher. Nach Thomas Kühn verdienen nur solche Ereignisse die Bezeichnung wissenschaftliche Revolutionen. Sie können sich in einem bestimmten, eng umschriebenen Bereich menschlichen Wissens ereignen oder weitreichende Auswirkungen auf mehrere Wissenschaftszweige haben. Als hervorspringende Beispiele für Veränderungen dieser Art lassen sich nennen: der Übergang von der Aristotelischen zur Newtonschen und von der Newtonschen zur Einsteinschen Physik, vom geozentrischen System des Ptolemäus zur Astronomie von Kopernikus und Galilei, oder von der Phlogistontheorie zur Chemie Lavoisiers. In jedem Fall mußte eine weithin anerkannte und verdiente wissenschaftliche Theorie zugunsten einer anderen, die im Prinzip mit ihr unvereinbar war, aufgegeben werden.

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Dies führte immer zu einer Neudefinition der Probleme, die im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung von Bedeutung waren. Es wurde auch immer neu festgelegt, was als ein relevantes Problem zu gelten hatte und welche Wertmaßstäbe an seine legitime Lösung anzulegen waren. Damit ergab sich eine dramatische Wandlung in der wissenschaftlichen Anschauung. Man darf ohne Übertreibung sagen, daß sogar die Wahrnehmung der Welt beeinflußt wurde.

Thomas Kuhn weist daraufhin, daß sich jede wissenschaftliche Revolution durch eine Phase des theoretischen Chaos ankündigt, in der sich die normale Wissenschaft allmählich in eine - wie er sie nennt - außerordentliche Wissenschaft verwandelt. Früher oder später führt die alltägliche wissenschaftliche Praxis automatisch zur Entdeckung von Ungereimtheiten oder Anomalien. In vielen Fällen funktionieren bestimmte Teile technischer Ausrüstung nicht so, wie das Paradigma es vorhersagt, häufen sich zahlreiche Beobachtungen an, die sich in keinster Weise in bestehende Überzeugungen fügen, oder widersteht ein Problem hartnäckig wiederholten Lösungsversuchen von Seiten prominenter Vertreter der Fachwelt.

Solange ein Paradigma seine Faszination auf die Wissenschaftler ausübt, genügen Anomalien nicht, um die Gültigkeit der grundlegenden Annahmen in Frage zu stellen. Anfangs neigt man dazu, unerwartete Ergebnisse als Folge von Forschungsmängeln abzutun, da ja der Spielraum möglicher Ergebnisse durch das Paradigma klar definiert ist. Werden aber die Beobachtungen durch wiederholte Experimente bestätigt, kann es zu einer Krise kommen. Aber selbst dann geben die Wissenschaftler nicht das Paradigma auf, das diese Krise bedingt. Hat eine wissenschaftliche Theorie erst einmal den Status eines Paradigmas erreicht, dann wird sie erst für ungültig erklärt, wenn eine tragfähige Alternative zur Verfügung steht. Der Mangel an Übereinstimmung zwischen den Forderungen des Paradigmas und den Beobachtungen in der Wirklichkeit reicht nicht aus. Eine Zeitlang wird die Diskrepanz als Problem gewertet, das sich schließlich durch zukünftige Umänderungen und Neuformulierungen ergibt.

Wenn sich aber nach einer Phase langwierigen und vergeblichen Bemühens die Anomalie plötzlich als mehr als nur ein übliches wissenschaftliches Rätsel erweist, beginnt für den betroffenen Wissenschaftszweig das Stadium der außerordentlichen Wissenschaft. Die größten Kapazitäten auf diesem Fachgebiet konzentrieren sich auf dieses Problem. Die Forschungskriterien lockern sich und die Experimentatoren werden offener für gewagte Alternativen. Es werden immer mehr widerstreitende und zunehmend voneinander abweichende Theorien formuliert. Die Unzufriedenheit mit dem bestehenden Paradigma wächst und wird immer unverblümter zum Ausdruck gebracht. Die Wissenschaftler öffnen sich philosophischen Überlegungen und sind bereit, über Grundsätze zu diskutieren — eine Situation, die im Stadium der normalen Forschung unvorstellbar ist. Vor und während wissen­schaftlicher Revolutionen gibt es auch tiefgehende Debatten über legitime Methoden, Probleme und Beurteilungskriterien.

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In einem solchen Zustand wachsender Krise wird die professionelle Unsicherheit immer größer. Das Versagen alter Regeln bedingt eine intensive Suche nach neuen.

In dieser Übergangsperiode überschneiden sich die Probleme, die vom alten, mit denen, die vom neuen Paradigma gelöst werden können. Das überrascht keineswegs, da Wissenschaftsphilosophen immer wieder demonstriert haben, daß sich bestimmte Datenkonstellationen immer mit mehr als nur einem theoretischen Konstrukt erklären lassen. Wissenschaftliche Revolutionen sind diejenigen Phasen, in denen nicht wie sonst Daten angehäuft werden, sondern in denen das ältere Paradigma ganz oder teilweise durch ein neues Paradigma, das mit dem alten unvereinbar ist, ersetzt wird. Die Entscheidung zwischen zwei widerstreitenden Paradigmen kann nicht mit Hilfe der Bewertungsprozeduren der normalen Wissenschaft gefällt werden. Letztere sind ein unmittelbares Produkt des alten Paradigmas, das in Frage gestellt wird, und ihre Gültigkeit hängt wesentlich vom Ergebnis des Widerstreits ab. Das Paradigma bestätigt sich also lediglich selber; es kann überzeugend wirken, aber nicht wirklich durch logische oder gar wahrscheinlichkeitstheoretische Argumente überzeugen.

Die zwei widerstreitenden Schulen haben ernsthafte Probleme mit der Kommunikation oder der Sprache. Sie gehen von unterschiedlichen Grundsätzen, Annahmen über die Wirklichkeit und Definitionen von Elementarbegriffen aus. Daraus resultiert, daß sie nicht einmal einer Meinung sind, was die wesentlichen Probleme, ihre Beschaffenheit und ihre Lösungsmöglichkeiten angeht. Ihre Kriterien für Wissenschaft sind nicht dieselben, ihre Argumente sind vom Paradigma abhängig, und eine sinnvolle Konfrontation ist unmöglich, wenn es nicht gelingt, die Begriffe der einen Schule in die Sprache der anderen zu übertragen. Innerhalb des neuen Paradigmas werden die alten Begriffe drastisch umdefiniert und erhalten eine vollkommen neue Bedeutung. Auf diese Weise scheinen sie in einem völlig anderen Zusammenhang miteinander zu stehen. Als charakteristische Beispiele lassen sich die unterschiedlichen Bedeutungen der Begriffe Materie, Raum und Zeit in der Newtonschen und in der Einsteinschen Physik anführen. Irgendwann einmal wird auch ein Werturteil formuliert werden, da verschiedene Paradigmata in den Problemen, die sie lösen, und in den Fragen, die sie unbeantwortet lassen, voneinander abweichen. Die Kriterien für die Bewertung dieser Situation liegen aber vollkommen außerhalb des Rahmens der normalen Wissenschaft.

Wissenschaftler, die normale Wissenschaft betreiben, sind hauptsächlich damit beschäftigt, Probleme zu lösen. Sie nehmen das Paradigma für bare Münze und haben kein Interesse daran, seine Gültigkeit zu überprüfen. Tatsächlich investieren sie viel, um seine Grundannahmen weiter zu bewahren. Dies geschieht teilweise aus verständlichen menschlichen Beweggründen, wie etwa um die Zeit und die Energie wettzumachen, die sie in ihrer Ausbildung oder für akademische Leistungen, für die sie das jetzt in Frage gestellte Paradigma ausgeschöpft haben, aufgewendet hatten.

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Das Problem hat aber sehr viel tiefere Wurzeln und geht über menschliche Irrtümer oder Emotionen hinaus. Es berührt den Kern des Wesens eines Paradigmas und dessen Rolle für die Wissenschaft.

Ein wesentlicher Teil des Widerstandes beruht darauf, daß man sich auf das Paradigma als ein wahres Abbild der Realität stützt und von ihm letztlich die Lösung aller Probleme erhofft. Der Widerstand gegen das neue Paradigma ist also bei genauester Betrachtung eben die Einstellung, die die normale Wissenschaft ermöglicht. Ein Wissenschaftler, der normale Wissenschaft betreibt, gleicht einem Schachspieler, dessen Aktivitäten und Fähigkeiten im Rahmen des Spiels entscheidend von einem Satz starrer Regeln abhängen. Ziel des Spiels ist es, nach den optimalen Lösungen innerhalb dieser von vornherein gegebenen Regeln zu suchen. Unter diesen Umständen wäre es absurd, diese in Frage stellen oder gar ändern zu wollen. Sowohl der Schachspieler als auch derjenige, der normale Wissenschaft betreibt, nehmen die Spielregeln als gegeben hin. Diese stellen den Satz von Prämissen, die für das Problemlösen erforderlich sind. Im Gegensatz zu anderen kreativen Bereichen ist in der Wissenschaft das Neue um seiner selbst willen nicht erwünscht.

Die Überprüfung eines Paradigmas erfolgt also erst, nachdem wiederholte Fehlschlage bei der Lösung eines wichtigen Problems eine Krise verursacht und damit zum Widerstreit zweier rivalisierender Paradigmen geführt haben. Der neue Kandidat für ein Paradigma muß bestimmten essentiellen Kriterien genügen, um sich zu qualifizieren. Er muß eine Lösung für wesentliche Probleme in Bereichen bieten, in denen das alte Paradigma versagte. Zudem muß die Problemlösungskapazität seines Vorgängers nach dem Paradigmawechsel gewahrt bleiben. Außerdem muß der neue Ansatz die Lösung zusätzlicher Probleme in neuen Bereichen versprechen. In wissenschaftlichen Revolutionen gibt es jedoch immer sowohl Gewinne als auch Verluste. Letztere werden normalerweise vertuscht oder stillschweigend akzeptiert, solange nur der Fortschritt gewährleistet ist.

So vermochte die Mechaniklehre Newtons — im Gegensatz zu den dynamischen Lehren von Aristoteles und Descartes — nicht die Beschaffenheit der Anziehungskräfte zwischen Materieteilchen zu erklären, sondern nahm einfach die Schwerkraft als gegeben hin. Diese Frage wurde später von der allgemeinen Relativitätstheorie aufgegriffen und beantwortet. Die Gegner Newtons sahen in seiner Betonung innewohnender Kräfte einen Rückfall in das frühe Mittelalter. Ähnlich verhielt es sich mit der Theorie Lavoisiers, die nicht die Frage beantworten konnte, warum verschiedene Metalle einander so ähnlich waren. Mit dieser Frage hatte sich die Phlogistontheorie erfolgreich auseinandergesetzt. Erst im 20. Jahrhundert war die Wissenschaft wieder in der Lage, dieses Problem anzugehen. Die Gegner Lavoisiers erhoben auch den Vorwurf, die Verwerfung »chemischer Prinzipien« zugunsten von Laborelementen sei ein Rückschritt von einer erwiesenen Erklärung zu einer bloßen Bezeichnung.

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Auf ähnliche Weise haben Einstein und andere Physiker gegen die vorherrschende probabilistische Interpretation der Quantenphysik opponiert.

Die Entscheidung für das neue Paradigma erfolgt nicht in Stufen, Schritt für Schritt, unter der Last unerbittlicher Beweise oder logischer Argumente. Sie hat den Charakter einer plötzlichen Veränderung, vergleichbar mit einem Figur-Grund-Wechsel in der Wahrnehmung, und folgt dem Alles-oder-Nichts-Prinzip. Wissenschaftler, die sich ein neues Paradigma zu eigen gemacht haben, sprechen von einem Aha-Erlebnis, von der plötzlichen Lösung eines Problems, oder von einem Blitz der Intuition. Die Gründe dafür sind ziemlich komplex. Zusätzlich zu der Fähigkeit des Paradigmas, die Situation zu berichtigen, die das alte Paradigma in die Krise gestürzt hat, nennt Kühn Beweggründe irrationaler Art, durch die persönliche Lebensgeschichte bedingte Eigentüm­lichkeiten, den bisherigen Ruf oder die Nationalität des Urhebers u.a. Die ästhetischen Merkmale des Paradigmas können ebenfalls eine bedeutende Rolle spielen, etwa seine Eleganz, seine Einfachheit oder seine Schönheit.

 

In der Wissenschaft gibt es die Tendenz, die Konsequenzen eines Paradigmawechsels lediglich als eine Neuinterpretation früherer Daten zu verstehen. Nach dieser Ansicht sind die Beobachtungen selber eindeutig durch die Beschaffenheit der objektiven Welt und des Wahrnehmungsapparats festgelegt. Diese Ansicht selber aber ist paradigmabedingt und zählt zu den Grundsätzen der kartesianischen Weltanschauung. Beobachtungsrohdaten sind weit davon entfernt, nur das wiederzugeben, was wahrgenommen wird. Äußere Reize dürfen nicht mit Wahrnehmungen oder Empfindungen verwechselt werden. Letztere werden durch Erfahrung, Erziehung, Sprache und Kultur geprägt.

Unter bestimmten Bedingungen können ein- und dieselben Reize zu unterschiedlichen Wahrnehmungen und unterschiedliche Reize zu ein- und denselben Wahrnehmungen führen. Ersteres kann durch sogenannte Kippfiguren verdeutlicht werden (Ente oder Kaninchen bzw. Vase oder Profile zweier menschlicher Gesichter), letzteres wird demonstriert durch eine Versuchsperson, die durch Umkehrlinsen blickt und lernt, ihre Wahrnehmung der Welt zu korrigieren. Es gibt keine neutrale Beobachtungssprache, die nur auf den Eindrücken auf der Netzhaut basiert. Die Vorstellungen von der Beschaffenheit der Reize, der Sinnesorgane und ihrer wechselseitigen Beziehungen geben die vorherrschende Theorie von der Wahrnehmung und dem menschlichen Geist wieder. 

Der Wissenschaftler, der ein neues Paradigma akzeptiert, interpretiert nicht die Realität in einer neuen Weise, sondern ist wie jemand, der durch Umkehrlinsen blickt. Er sieht dieselben Gegenstände und dieselbe Anordnung von Gegenständen und ist sich dessen auch bewußt, doch erscheinen sie ihm in ihrem Wesen und in vielen Details vollkommen umgewandelt. Ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß sich mit der Veränderung eines Paradigmas die Welt der Wissenschaftler verändert. Sie benutzen neue Beobachtungsinstrumente, schauen woandershin, beobachten andere Dinge und nehmen sogar vertraute Objekte in einem völlig neuen Licht wahr.

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Nach Kühn kann dieser radikale Umschwung in der Wahrnehmung mit der plötzlichen Versetzung auf einen anderen Planeten verglichen werden. Wissenschaftliche Fakten und das Paradigma lassen sich nicht mit absoluter Klarheit trennen. Die Welt des Wissenschaftlers verändert sich quantitativ und qualitativ durch neue Veränderungen sowohl faktischer als auch theoretischer Art.

Die Verfechter eines revolutionären Paradigmas verstehen ihre theoretische Neuerung nicht als eine letztlich wiederum nur relative Wahrnehmung der Wirklichkeit. Sie neigen dazu, das alte Paradigma als falsch abzutun und das neue Paradigma als die richtige Beschreibung der Realität aufzufassen. Im strengen Sinn war aber keine der alten Theorien falsch, solange sie nur auf die Phänomene angewendet wurde, die sie angemessen erklären konnte. Lediglich ihre Übertragung auf andere Bereiche war falsch. Nach Kühn können daher alte Theorien bewahrt werden und ihre Richtigkeit behalten, wenn ihr Anwendungsbereich nur auf die Phänomene und den Grad der Beobachtungsgenauigkeit beschränkt wird, der durch die bereits gegebenen experimentellen Belege abgedeckt wird. Das bedeutet, daß kein Wissenschaftler mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Autorität über irgendein Phänomen sprechen kann, das noch nicht beobachtet wurde. Strenggenommen dürfen Forscher sich nicht auf ein Paradigma stützen, wenn sie Neuland betreten oder einen Präzisionsmaßstab anlegen, der theoretisch noch nie beansprucht wurde. Aus dieser Sicht hätte noch nicht einmal die Phlogistontheorie jemals widerlegt werden können, wenn sie nicht auf Phänomene übertragen worden wäre, bei deren Erklärung sie versagte.

Nach einem Paradigmawechsel kann die alte Theorie in gewisser Hinsicht als Spezialfall der neuen gesehen werden, doch muß man sie zu diesem Zweck neu formulieren und umwandeln. Diese Revidierung ist nur möglich, weil sich der Wissenschaftler die Vorteile einer nachträglichen Einsicht zunutze machen kann. Eine solche Revidierung geht mit einer Veränderung der Bedeutung von Grundsätzen einher. Die Newtonsche Mechanik kann als ein Sonderfall der Einsteinschen Relativitätstheorie aufgefaßt werden und man kann auch erklären, warum diese Lehre innerhalb ihrer Anwendungsgrenzen auch ihren Dienst tut.

Doch die Grundbegriffe wie Raum, Zeit und Masse haben sich drastisch verändert und sind nicht mehr mit den Begriffen in ihrem ursprünglichen Sinn vergleichbar. Die Newtonsche Mechaniklehre bewahrt ihre Gültigkeit, solange sie nicht auf hohe Geschwindigkeiten angewendet wird oder unbegrenzte Richtigkeit ihrer Beschreibungen und Vorhersagen beansprucht. Alle historisch bedeutsamen Theorien stimmten mit den beobachteten Fakten überein, wenn auch nur mehr oder weniger. Es gibt keine abschließende Antwort auf irgendeiner Stufe der wissenschaftlichen Entwicklung, ob und wie weit eine einzelne Theorie die Tatsachen angemessen erklärt. Es ist aber absolut sinnvoll, zwei Paradigmen miteinander zu vergleichen und zu fragen, welches von beiden den beobachteten Fakten gerechter wird. In jedem Fall aber sollten Paradigmata lediglich als Modelle und niemals als endgültige Beschreibungen der Wirklichkeit aufgefaßt werden.

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Das Akzeptieren eines neuen Paradigmas fällt selten leicht, da dies von verschiedenen Faktoren emotionaler, politischer und administrativer Art abhängt und nicht lediglich eine Sache der Logik ist. Je nach Art und Wirkungsbereich des Paradigmas und den speziellen Umständen kann es länger als eine Generation dauern, bevor sich die neue Sicht der Wirklichkeit in der Fachwelt voll etabliert hat. Die Äußerungen zweier großer Wissenschaftler sollen dies verdeutlichen. So schreibt Charles Darwin gegen Ende seines Buches Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (31): »Obwohl ich von der Wahrheit der in diesem Buche ... mitgeteilten Ansichten vollkommen durchdrungen bin, so hege ich doch keineswegs die Erwartung, erfahrene Naturforscher davon zu überzeugen, deren Geist von einer Menge von Tatsachen erfüllt ist, welche sie seit einer langen Reihe von Jahren gewöhnt sind, von einem dem meinigen ganz entgegengesetzten Gesichtspunkte aus zu betrachten ... aber ich blicke mit Vertrauen auf die Zukunft, auf junge und strebende Naturforscher, welche beide Seiten der Frage mit Unparteilichkeit zu beurteilen fähig sein werden« (S. 556, 557). 

Noch deutlicher wird Max Planck in seiner wissenschaftlichen Selbstbiographie (151):  

»Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt fühlen, sondern vielmehr dadurch, daß die Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist« (S. 22). 

(d-2015:)  wikipedia  Max_Planck   1858-1947 

Ist das neue Paradigma erst einmal akzeptiert und in die Wissenschaft eingegliedert worden, findet man seine Grundannahmen in den einschlägigen Lehrbüchern. Da diese Quellen wissenschaftlicher Autorität sind und einen pädagogischen Auftrag haben, müssen sie nach jeder wissenschaftlichen Revolution umgeschrieben werden. Wie es aber ihre Eigenart ist, tendieren sie dazu, nicht nur Details, sondern sogar die Existenz der Revolutionen, aus denen diese Details hervorgingen, zu verbergen. Die Wissenschaft wird als eine Reihe einzelner Entdeckungen und Erfindungen beschrieben, die in ihrer Gesamtheit den modernen Wissensstand ausmachen. Es hat daher den Anschein, als ob die Wissenschaftler schon von den ersten Anfängen an genau die Ziele verfolgt hätten, die das neueste Paradigma widerspiegeln. 

In den historischen Darstellungen beschreiben die Texte in der Regel nur den Aspekt der Arbeit einzelner Wissenschaftler, der als Beitrag zum gegenwärtigen Standpunkt aufgefaßt werden kann. So wird bei der Diskussion der Newtonschen Mechanik nicht erwähnt, welche bedeutsame Rolle Newton Gott zugewiesen hat oder welches Interesse er für die Astrologie und die Alchemie hegte, die ein wesentlicher Bestandteil seiner Philosophie waren. Entsprechend kann man nirgendwo nachlesen, daß die kartesianische Dualismus von Geist und Körper die Existenz Gottes implizierte.

In den Standardlehrbüchern wird gewöhnlich nicht darüber gesprochen, daß viele Begründer der modernen Physik wie Einstein, Bohm, Heisenberg, Schrödinger,

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Bohr und Oppenheimer ihre Entdeckungen nicht nur voll vereinbar mit der mystischen Weltschau fanden, sondern sogar in einem gewissen Sinn mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten in mystische Bereiche vordrangen.

Sind die Lehrbücher einmal umgeschrieben worden, dann scheint die Wissenschaft erneut eine geradlinige Anhäufung von Daten zu sein und hat die Geschichte der Wissenschaft wiederum den Charakter eines schrittweisen Anwachsens von Wissen. Die Rolle menschlicher Irrtümer und Eigenheiten wird heruntergespielt und der zyklische Charakter der Paradigmata mit ihren periodischen Wechseln wird verschleiert. So ist der Boden für ein sicheres Betreiben normaler Wissenschaft bereitet, zumindest so lange, bis sich das nächste Mal genügend Beobachtungen angesammelt haben, die das soeben akzeptierte Paradigma wiederum in Frage stellen.

Ein anderer wichtiger Philosoph, dessen Arbeiten vom Standpunkt unserer Diskussion höchste Bedeutung zukommt, ist Philipp Frank. In seinem zukunftsträchtigen Werk Philosophy of Science (46) nimmt er eine lebendige und detaillierte Analyse der Beziehungen zwischen beobachtbaren Fakten und wissenschaftlichen Theorien vor. Es gelingt ihm, den Mythos zu zerstreuen, wissenschaftliche Theorien könnten von verfügbaren Tatsachen logisch abgeleitet werden und seien durch die Beobachtungen der phänomenalen Welt eindeutig festgelegt. Als historische Beispiele zitiert er die Geometrie von Euklid, Riemann und Lobatschewski), die Newtonsche Mechanik sowie die Einsteinsche Relativitätstheorie und Quantenphysik und gewährt dabei bemerkenswerte Einsichten in die Beschaffenheit und Dynamik wissenschaftlicher Theorien.

Nach Frank basiert jedes wissenschaftliche System auf einer kleinen Anzahl von Grundsätzen über die Realität oder Axiomen, die als selbstverständlich hingenommen werden. Die Richtigkeit dieser Axiome wird nicht durch logische Überlegung erschlossen, sondern ist das Produkt direkter Intuition.2) Durch einen strikt logischen Denkprozeß läßt sich von den Axiomen ein System anderer Sätze oder sogenannter Theoreme ableiten. Das resultierende Gedankengebäude ist rein logischer Natur. Es bestätigt sich selber, und seine Richtigkeit ist im wesentlichen von den physikalischen Vorgängen in der Welt unabhängig. Die Beziehungen zwischen einem solchen System und den empirischen Beobachtungen müssen nun überprüft werden, um den Grad seiner praktischen Anwendbarkeit und Entsprechung zur Wirklichkeit zu bestimmen. Zu diesem Zweck müssen die theoretischen Elemente in Form von »operationalen Definitionen« (im Sinne von Bridgman) beschrieben werden.3 Nur dann lassen sich der Grad und die Grenzen der Anwendbarkeit eines theoretischen Systems auf die materielle Realität feststellen.

Die der Euklidschen Geometrie oder der Newtonschen Mechanik innewohnende logische Richtigkeit ist nicht durch die Entdeckung zerstört worden, daß sie sich nur innerhalb bestimmter Grenzen auf die physikalische Realität anwenden lassen. Nach Frank sind alle Hypothesen ihrem Wesen nach spekulativ.

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Der Unterschied zwischen einer rein philosophischen und einer wissenschaftlichen Hypothese ist der, daß letztere empirisch überprüft werden kann. Es ist nicht mehr von Bedeutung, daß eine wissenschaftliche Theorie dem gesunden Menschenverstand entspricht. Diese Forderung ist seit Galileo Galilei irrelevant. Sie kann phantastisch und absurd sein, solange sie sich nur auf der Basis jedermann zugänglicher Erfahrungen überprüfen läßt.

Umgekehrt ist eine direkte Feststellung über die Beschaffenheit des Universums, die nicht experimentell getestet werden kann, reine metaphysische Spekulation und keine wissenschaftliche Theorie. Äußerungen wie »alle existierenden Dinge sind materieller Natur und es gibt keine rein geistige Welt« oder »das Bewußtsein ist ein Produkt der Materie« fallen ganz klar in diese Kategorie, egal wie selbstverständlich sie dem gesunden Menschenverstand oder einem mechanistisch orientierten Wissen­schaftler erscheinen mögen.

 

Die radikalste Kritik der wissenschaftlichen Methodologie und ihrer gegenwärtigen Praxis stammt von Paul Feyerabend. In seinem höchst provokativen Buch <Wider den Methodenzwang; Entwurf einer anarchistischen Erkenntnistheorie> (42) argumentiert er mit Nachdruck, daß die Wissenschaft nicht von einem System fester, unveränderter und absoluter Prinzipien bestimmt wird und auch nicht bestimmt werden kann. In der Vergangenheit finden sich eindeutige Belege dafür, daß die Wissenschaft ihrem Wesen nach anarchistisch ist. Die Verletzungen grundlegender erkenntnistheoretischer Regeln waren nicht einfach Zufall, sie waren schon immer für den wissenschaftlichen Fortschritt absolut notwendig.

Die erfolgreichsten wissen­schaftlichen Forschungen sind nie ausschließlich von rationaler Methodik geleitet worden. In der Wissenschaftsgeschichte im allgemeinen sowie in Zeiten großer Umwälzungen im besonderen hätte eine strengere Anwendung des Kanons der jeweils vorherrschenden wissenschaftlichen Methodik die Entwicklung nicht beschleunigt, sondern vielmehr zum Stillstand gebracht. Die Kopernikanische Revolution und andere wichtige Entwicklungen in der modernen Wissenschaft überlebten nur, weil wiederholt gegen die Vernunft verstoßen wurde.

Die sogenannte »Konsistenzbedingung«, wonach eine neue Hypothese mit akzeptierten Hypothesen übereinstimmen muß, ist unvernünftig und hemmt die Produktivität. Sie schafft eine Hypothese aus der Welt, nicht weil sie an den Fakten vorbeigeht, sondern weil sie im Konflikt mit einer anderen Theorie steht. Auf diese Weise schützt und bewahrt sie in der Regel die ältere Theorie, nicht die bessere. Hypothesen, die etablierten Theorien widersprechen, führen uns zu Belegen, die nicht auf andere Weise herbeigeschafft werden können. Fakten und Theorien sind enger miteinander verknüpft, als es die konventionelle Wissenschaft annimmt. Bestimmte Tatsachen können gar nicht erst ohne Hilfe von Alternativen zu den etablierten Theorien ans Tageslicht gebracht werden.

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Wenn man sich Problemen der empirischen Überprüfung widmet, dann erscheint es dringend geboten, einen ganzen Satz einander überschneidender, den Tatsachen gerechter, aber miteinander unvereinbarer Theorien anzuwenden. Die Erfindung von Alternativen zu der Ansicht, die im Mittelpunkt der Diskussion steht, macht einen wesentlichen Teil der empirischen Methode aus. Es genügt nicht, Theorien mit Beobachtungen und Tatsachen zu vergleichen. Die Daten, die man im Rahmen eines bestimmten Denkmodells erhält, sind nicht unabhängig von den grundlegenden theoretischen und philosophischen Annahmen dieses Modells. Ein wirklich wissenschaftlicher Vergleich zweier Theorien muß die »Tatsachen« und »Beobachtungen« im Kontext der Theorie, die gerade geprüft wird, behandeln.

Da die Fakten, Beobachtungen und sogar Bewertungskriterien »paradigmagebunden« sind, werden die wichtigsten formalen Eigenschaften einer Theorie nicht durch ihre Analyse, sondern durch die Gegenüberstellung mit anderen Theorien ermittelt. Wenn also ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin den empirischen Gehalt ihres Standpunktes maximieren wollen, müssen sie eine pluralistische Methodologie anwenden, d.h. rivalisierende Theorien einführen und Denkmodelle mit Denkmodellen statt mit Erfahrungen vergleichen.

Es gibt keinen Gedanken oder kein Gedankengebäude, wie uralt oder absurd es auch erscheinen mag, das nicht unser Wissen bereichern kann. So mögen alte spirituelle Systeme und Mythen von Urvölkern seltsam und unsinnig wirken, nur weil man ihren wissenschaftlichen Gehalt nicht kennt oder dieser durch Anthropologen bzw. Philologen, die mit den einfachsten physikalischen, medizinischen oder astronomischen Kenntnissen nicht vertraut sind, entstellt wurde.

In der Wissenschaft kann die Vernunft nicht überall regieren und das Irrationale nicht vollständig ausgeschlossen werden. Es gibt keine einzige interessante Theorie, die mit allen Fakten in ihrem Bereich übereinstimmt. Wir müssen feststellen, daß alle Theorien bestimmte quantitative Ergebnisse nicht zu reproduzieren vermögen und daß sie auch in qualitativer Hinsicht bis zu einem erstaunlichen Grad ungeeignet sind.

Alle Methodologien, auch die sinnfälligsten, haben ihre Grenzen. Neue Theorien sind zu Beginn auf einen ziemlich engen Bereich von Fakten beschränkt und werden nur langsam auf andere Bereiche übertragen. Der Modus dieser Übertragung wird selten durch die Elemente festgelegt, die den Inhalt ihrer Vorgänger ausmachen. Der sich entfaltende Begriffsapparat der neuen Theorie legt schon bald seine eigenen Probleme und Problembereiche offen. Viele frühere Fragen, Tatsachen und Beobachtungen, die nur im aufgegebenen Zusammenhang sinnvoll sind, erscheinen plötzlich unsinnig und irrelevant; sie werden entweder vergessen oder beiseite geschoben. Umgekehrt erhält eine ganze Reihe vollkommen neuer Fragen entscheidendes Gewicht.

Die obige Diskussion wissenschaftlicher Revolutionen, der Dynamik von Paradigmata und der Funktion von Theorien in der Wissenschaft mag bei dem heutigen Leser den Eindruck hinterlassen, in erster Linie historisch bedeutsam zu sein. Man könnte leicht annehmen, daß der letzte wichtige theoretische Umschwung in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts stattgefunden hat und daß sich die nächste wissenschaftliche Revolution irgendwann einmal in ferner Zukunft abspielen wird.

Die zentrale Botschaft dieses Buches ist aber, daß sich die westliche Wissenschaft einem Paradigma­wechsel von bisher nie gekanntem Ausmaß zu nahem scheint. Diese Umwälzung wird unsere Vorstellungen von der Realität und der menschlichen Natur verändern, die Lücke zwischen der Weisheit der Antike und der modernen Wissenschaft schließen und die Gegensätze zwischen östlicher Spiritualität und westlichem Pragmatismus aussöhnen.

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