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»STIRB UND WERDE...«

 

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Nachdem die strömenden Millionen nur immer und immer wieder in die Vernichtung oder ins eisige Nichts gestoßen waren, lösten sie sich von selber wieder auf. Hunderte und Tausende kleinerer und größerer Scharen wanderten ab und suchten ihr eigenes Heil. Abgesplitterte, räuberbandenähnliche, aber meist schwer­bewaffnete Soldatengruppen schlossen sich ihnen an und übernahmen das Kommando.

Auf einer tristen Ebene am Südrand einer unpassierbaren, kriegsverwüsteten, sich meilenweit gegen Osten erstreckenden Gegend machte eine erschöpfte Schar halt. Schätzungsweise mochten es ihrer acht- bis zehntausend sein. Unter zänkischem Geschrei, unflätigem Fluchen und wirrem Durcheinander­kommandieren, mit Gerumpel und Geraufe zerrann der Zug und lagerte schließlich gruppenweise auf den weiten, flachen, schon mit leichtem Dämmer umflorten Flächen. Diese Flächen waren größtenteils plattgetrampelt, was darauf schließen ließ, daß schon andere Scharen hier gerastet hatten und daß keine Seuchengefahr bestand. Da und dort wucherte noch büschelweise ausgebleichtes Gras und kärgliches Gesträuch. Das meiste war Steingeriesel, aus dem manchmal etliche niedere Mauerruinen emporragten.

Es war warm und trocken und konnte Spätsommer sein. Der Qualm der vereinzelt aufflammenden Lagerfeuer stieg kerzengerade in die windlose, staubige Luft. Hoch wölbte sich der wolkenlose Himmel, und sein dünnes, glasiges Blau ging schon über in ein ungewisses Grau. Über die Ermatteten und Toten stiegen die Kräftigeren und suchten den Umkreis ab. Gierig hatte jeder den Blick auf die Erde gerichtet, plötzlich bückte sich einer, stieß einen kurzen Laut hervor, fing mit beiden Händen hastig zu scharren an, und alle begannen zu scharren, verdrängten einander und schlugen sich zum Schluß um eine erlegte Maus. Manche Suchende brachen in tiefe Löcher und entdeckten zerfallene Kellergewölbe mit spärlichem, verschimmeltem Hausrat.

Es stank pestilenzialisch. Halbverweste Leichen lagen da, mit vielem schleimigem Gewürm überzogen.

Schmatzende Ratten hingen daran und stoben erschrocken in dunkle Winkel. Sofort jagten die Hungernden nach ihnen. In der Ebene hatten sich viele an die Grasbüschel gelegt, kratzten nach dem dünnen Wurzelwerk, nach Gewürm und Käfern. Ihre knochigen Kiefer malmten und malmten, und sie stellten fest, daß das welk gewordene Gras noch einigen Saft habe und nicht giftbitter schmecke. Den Lärm, der von den Feuerplätzen kam, übertönten hin und wieder blechern klingende Radiostimmen. »Hörst du?... Was ist das? Wieder Armee! Immer Armee!« sagte der kleine rothaarige Jankel Rositsch zu seinem Nebenmann Jean, dem Franzosen: »Hauptmann, hört!«

Schon längere Zeit kamen nur noch Radiomeldungen aus großen Armeegebieten, und die Flugzeuge, die über den Nomaden-schwärmen auftauchten, waren viel seltener geworden. Zuweilen schrieben sie ihre Warnungen ins Himmelsblau, meist aber verschwanden sie, als hätte das, was auf der Erde vorging, für sie keine Bedeutung. Und der Krieg? Was war eigentlich mit ihm? Hatte er sich in andere Regionen verzogen, hatte er eine lautlos schleichende Art angenommen, oder war er an seiner eigenen, sinnlosen Furchtbarkeit erstickt? Beklemmend still war es in der Luft geworden, und stumm glommen die ängstlich gemiedenen, vielzerklüfteten Mondlandschaften, die einst Städte gewesen waren. »Was du bloß immer mit deiner Armee willst? Alles Scheiße!« knurrte Jean. »Die Hunde sorgen doch nur für sich!«

»Ach!« ächzte ein Grasfresser, der rechts von ihnen lag. Sein langer, dürrer Körper plumpste haltlos flach hin: »Ach! Krepieren!.. .« Sein Kauen setzte aus. Er stöhnte kurz, rülpste, als wolle er sich erbrechen. Der eingefallene Bauch bog sich nach oben, seine spindeldürren Beine begannen zu zittern, streckten sich und wurden starr.

Er röchelte noch einmal. Sein zahnloser Mund war aufgebrochen. Das zerkaute Grasgekröse und dunkler Saft quollen heraus.

»Weg ist er!« sagte der links liegende, langhaarige, zottelbärtige Mensch, riß blitzschnell seinen Armeerevolver aus dem Gurt, richtete ihn drohend auf Jankel und Jean und griff

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nach dem schmutzigbraunen Militärmantel des Toten: »Auf den hab' ich schon lang gewartet...«

»Warum schießen, Bela? - Hab ihn!« rief Jankel ungerührt. »Hab ihn!« Jean riß ein neues Büschel Gras aus. Hastig machte sich Bela daran, dem Toten den Mantel auszuziehen.

Er grinste. »Schau, schau! Das Hemd von einer Madam hat er an!« Jankel und Jean beachteten ihn nicht. Aus den schon angedunkelten Weiten drang Geschrei, und eiliges Getrampel kam näher.

»Wasser! Wasser!... Hurra, Wasser!« schrien viele Stimmen: »Ein Bach! Wasser!« Wie neu belebt sprangen Jankel und Jean auf und rannten in die Richtung. Viele liefen daher. »Wasser! Gutes Wasser!... Da, gradaus ist ein Bach!« wurde im Stimmengewirr verständlich. Mit Behältern und Gefäßen aller Art liefen die zusammenströmenden Gruppen in die aufsteigende Nacht.

»Gegend gut!« sagte Jankel zu Jean: »Bach da! Vielleicht Fische drinnen! Boden trocken... Werden sagen, bleiben wir!« Er keuchte schwer im hastigen Dahingehen und wiederholte: »Werden wir sagen zu Hauptmann, zu was weiter? Bleiben wir!«

Der Mond kam bleich am Sternenleeren Himmel herauf. Jean schaute abwesend in die fahl scheinende Ebene und brummte irgend etwas Unverständliches vor sich hin. Mehr, immer mehr Gruppen überholten sie. Die ganze Schal verlagerte sich nach und nach an den Bach. Als Jankel und Jean dort ankamen, herrschte schon lautes Leben und gefährliches Gedränge. Während die einen unentwegt Wasser schöpften und wegschleppten, stiegen andere in den Bach, leuchteten mit Fackeln und Taschenlaternen die dunkel flimmernde Flut ab, griffen von Zeit zu Zeit in die Tiefe, rückten Steine weg und zogen einen Krebs oder einen dik-ken Frosch ins Licht. Lustiges Gebrüll gellte auf, und zuletzt füllte sich der Bach von Ufer zu Ufer.

»So läuft er«, stellten etliche fest, die den Wasserlauf untersuchten: »Da müssen wir weiter.« Tastend wateten sie vorwärts: »Und wie breit er ist!... Obacht! Da wird's tief!« Das Wasser stand ihnen schon bis zur Brust, wurde immer tiefer

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und kälter. Schlotternd und triefend stiegen sie ans Ufer und gingen weiter. Ihre Stimmen verloren sich in der ungewissen, fahlen Ferne. Auf einmal erschollen aufgeweckte Rufe. Schrille Pfiffe folgten. Es stellte sich heraus, daß der Bach in einen breiten, verlassenen Fluß mündete, der da und dort über die Ufer getreten war und weite, seeähnliche Ausbuchtungen zeigte. Weiter weg zeichneten sich im bleichen Mondlicht die scharfen Konturen des hochgetürmten Gerölls der unpassierbaren Gegend ab.

Die bewegte Nacht verging. Am Morgen zog die Schar an die weitläufige Mündungsstelle und blieb. Sie suchte sich wohnlich einzurichten. Schlimmer, als es bis jetzt gewesen war, konnte es nicht mehr werden, und das Wandern hatte den Sinn des Fliehens verloren.

Wie die paar Tausend an der Bachmündung, erreichten auch andere Scharen so eine ausgestorbene Ödnis, durchschnüffelten sie, wollten eigentlich nur kurze Rast halten und nisteten sich ungeachtet der Gefahren und aller Hoffnungslosigkeit in dieser Wildnis ein. Jeder begann, alte Ziegelsteine zusammenzusuchen, herumliegenden Krimskrams zu sammeln und sich ein Nest zu bauen. Der Schwärm hatte einen Stock gefunden. Schüchtern fing das Leben an - oder auch das endgültige Verhängnis. Aber eine unsagbare Müdigkeit, ein stumpfer Überdruß gegen alles Kriegerische und ein tiefer, verzweifelter Trieb nach Seßhaftigkeit waren über die Nomadenmassen gekommen. Platz war da, unendlich viel Platz! Die verstummte Erde war leer geworden wie ein unentdeckter Kontinent, leer und weit und ohne Grenzen. Weggewischt war jede Spur einstiger Staatlichkeit, und nichts deutete mehr darauf hin, daß sich irgendwo einmal Länder geschieden hatten. Und erschrek-kend wenige Menschen gab es nur noch! Nachträgliche Schätzungen sprechen übereinstimmend von kaum mehr als 250 bis 300 Millionen Überlebenden auf der Erdoberfläche, deren jämmerliche Herden durch einen blinden Zufall auf die kahlen Flächen geschwemmt wurden. Ebenso zufällig war ihre Rettung. Sie entsprang einem Umstand, den selbst ein Genie an Weitsicht nicht hätte erahnen können. Ein fernes Surren, das sich mit dem Näherkommen zu ei-

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nem metallischen Geknatter steigerte, erfüllte die frisch besonnte Luft über dem Lager, und selbst der Erschöpfteste hob noch einmal den Kopf. Silbrig wie schwebende Riesenkreuze glänzten Armeeflugzeuge, gingen tiefer und, gleich Tausenden von winzigen Flaumfedern aus zerplatzten Bettdecken, regneten Proklamationen auf die zusammengelaufenen, mißtrauisch emporstarrenden Nomaden herab. »Papierfetzen! Papier!« schimpften die: »So ein Humbug!« Ihre enttäuschten Gesichter wurden grimmig. Doch kaum hatten einige die niedergeflatterten Zettel entziffert, da änderte sich alles. Jeder johlte mit letzter Kraft, alle winkten wie rasend, schwenkten Hüte und Fetzen und sprangen wie besessen herum. Die Flugzeuge gaben Blinksignale, glitten wie verdunkelnde Wolkenschatten über die gespannte Menge, erreichten endlich seitab auf einem freien Platz den Boden und liefen hopsend über das aufstäubende Geriesel. Endlich blieben sie leicht schaukelnd stehen, und schon waren die Nomaden um sie.

»Platz frei machen! Nur die Hauptleute!« schmetterten Stimmen aus mächtigen Lautsprechern, und das wiederholte sich so lange, bis die Menge zurückwich. Aus den tauüberrieselten, stahlgrauen Flugzeugbäuchen sprangen Offiziere und Soldaten, schwer bewaffnet zwar, aber offenbar nur auf Sicherung bedacht. Sie nahmen abwehrbereite Stellung und verlangten abermals nach den Hauptleuten. »Wenn wir flink sind, gehören die Maschinen uns!« stieß Bela dem neben ihm stehenden Jankel zu und schien zu überlegen. »Ah, du bist wohl -«, rief der hastig, riß jäh die Augen weit auf und schrie jubelnd: »Rußki! Rußki!« Mit einer kleinen Schar Neugieriger lief er den vorausgegangenen Hauptleuten nach und sprudelte in einem fort aus sich heraus: »Rußki!... Rote Armee! Towarischtschi!« Er bekam eine fast kindlichbeleidigte Miene, als die Soldaten, die sich mit schußbereiten automatischen Gewehren vor die Flugzeuge gestellt hatten, nicht auf seine Zurufe reagierten. Scharf, fast böse schmetterte es abermals aus dem Lautsprecher: »Alles zurück, marsch! Nur die Hauptleute!« Nach einigem Zögern folgten die Herangelaufenen endlich. Die Nomaden-Hauptleute stiegen mit den Offizieren in ein Flugzeug. Lange und

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unruhig starrten die am Lagerrand stehenden Gruppen auf die Soldatenkette und murrten durcheinander. »Weißt du, was die Bande will?« knurrte Bela Jean an. »Vielleicht flitzen sie mit unseren Leuten weg, und wir sitzen allein im Dreck! - Ach, ihr Schlappschwänze, ihr Feiglinge! Ein richtiger Stoß, und wir sind obenauf!« »Und?... Und dann?... Was haben wir davon?« meinte Jean und maß ihn schräg.

»Idiot!« stieß Bela heraus: »So ein Maschinchen bringt uns doch überallhin... Schleimscheißer seid ihr, sonst nichts!« »Wart ab, wer der Dümmere ist!« sagte Jean verächtlich. »Dir zieh' ich noch mal die Haut ab!« murrte ihn Bela giftig an und drängte sich in eine andere Gruppe. Jankel zitterte vor Aufregung, hastete alles mögliche aus sich heraus und wiederholte mit kindlicher Einfältigkeit: »Rußki!... Rote Armee! Es wird werden gut, sehr gut!« Ingrid, sein rundköpfi-ges, stämmiges, einarmiges Weib, gab ihm einen Stoß und stampfte ungeduldig auf den Boden: »So hör doch endlich auf mit deinem blöden Geschnatter, du Affe!« Einige lachten. Zu den andern gewandt, sagte Ingrid ruhiger: »Was können sie schon groß wollen, wenn sie so lang verhandeln!« Jankel wandte wie eingeschüchtert den Kopf nach ihr und sagte schon wieder: »Aber vielleicht werden sie geben uns - vielleicht -.« »Halt die Fresse, Mensch!« fuhr ihn Bela grob an, denn jetzt stiegen die Hauptleute aus dem Flugzeug. Die Soldatenkette öffnete sich, der langgestiefelte untersetzte Greiner und der riesenlange Norweger Knudsen schritten auf die Wartenden zu.

»Ruhig! Bleibt stehen!« schrie Knudsen: »Der Krieg ist aus! Wir können bleiben, wo wir jetzt sind.« Er ließ Greiner weiterreden. Der straffte sich und schrie mit messerscharfer Kommandostimme: »Wer aber weg will, kann gehen! Die Armee verlangt, daß wir uns ihren Anordnungen unterstellen! Dafür wird sie uns anfangs bei der Versorgung und beim Aufbau helfen. Unser Lager liegt auf ihrem Gebiet. Eine Abteilung von Fachleuten bleibt da. Ein Arzt, Sanitäter, ein Ingenieur und ein Agronom mit seinen Gehilfen sind dabei. Wir sind verantwortlich, daß sie ungehindert arbeiten können. Material und Lebensmittel werden bald herange-

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schafft! Wir sind gerettet, versteht ihr?« Ein bellender Jubel zerriß die Luft. Wütend wehrte Greiner ab und schrie weiter: »Aber das geht alles nicht von heut auf morgen! Geduld, und jetzt keine Dummheiten! Stellt euch in Reihen! Mahlzeiten gibt's! Ruhig! Zum Teufel! Jeder kommt dran.« Die Soldaten bildeten eine Gasse. Mit gierigen Gesichtern und weit aufgerissenen Augen schoben sich die drängenden Reihen durch sie. Wie ein Rudel trampelnder Tiere stießen sie einander weiter. Dampfende Feldküchen standen da, und es roch nach langer, langer Zeit wieder nach würziger Suppe. Ein wildes Gedränge entstand um die Köche, die, Schöpflöffel weise Suppe austeilten und Brot verabreichten. Doch die Soldaten stießen jeden Vordringenden derb in die Reihe. Und es war auffällig, aufreizend fast, welch winzige Portionen Haferschleimsuppe es gab, welch kleine Brotstük-ke. Kein Bitten und Betteln half. Murrend schlangen die Hungrigen das Wenige in sich hinein. Enttäuscht, böse und gefährlich lugten sie auf die Feldküchen und auf die Soldaten, die Ballen, Fässer, Säcke und Kisten ausluden und in großer Hast ihre Zelte aufschlugen. »Die Hunde!... Sie haben doch!« knurrte Bela. Die um ihn Hockenden nickten verbissen. Aber was war denn das? Den? Jean, dem Jankel riß es auf einmal den Kopf nach vorn, stöhnend rülpsten sie, ihr dünner Leib zog sich ein, wieder sackte der Kopf wie geschleudert nach vorn, und auf einmal erbrachen sie sich. Der erschöpfte, ausgehungerte Magen hielt auch dieses leichte, wenige Essen nicht mehr. Die Weiber schrien grausig auf, die Kinder plärrten weinend, da alles hemmungslos aus ihnen herausrann. Aus den verzerrten Gesichtern schienen die Augen zu quellen. Viele Erbrechende drückten entsetzt ihre Hände an den Mund, schluckten und würgten das Hochgekommene wieder hinunter in den brennenden Schlund. Wieder andere kratzten und schabten das faulig stinkende, gespiene Essen verzweifelt vom Boden weg und verschlangen es abermals. Nur wenige zerkauten langsam ihr Stück Brot und spöttelten: »Tjaja, so geht's, so geht's, wenn man so viehisch hineinfrißt!« Erst dann machten sie sich gemächlich, fast behutsam an die Suppe. Der Arzt mit etlichen Sanitätern tappte durch die Reihen. Glitschig war der besudelte Boden.

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Oskar Maria Graf (1959) Die Erben des Untergangs - Roman einer Zukunft