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1  Zum Begriff der Utopie und des utopischen Romans

von Hiltrut Gnüg 1983

 

 

Und es entstand die erste, die goldene Zeit: ohne Rächer,
Ohne Gesetz, von selber bewahrte man Treue und Anstand. 
Strafe und Angst waren fern; kein Text von drohenden Worten 
Stand an den Wänden auf Tafeln von Erz; es fürchtete keine 
Flehende Schar ihren Richter: man war ohne Rächer gesichert. 

Fichten fällt man nicht, um die Stämme hernieder von ihren 
Höhn in die Meere zu rollen, nach fremden Ländern zu fahren;
Außer den ihrigen kannten die Sterblichen keine Gestade. 

Keinerlei steil abschüssige Gräben umzogen die Städte;
Keine geraden Posaunen, nicht eherne Hörner, gekrümmte, 
Gab es, nicht Helme noch Schwert, des Soldaten bedurften die Völker
Nicht: sie lebten dahin sorglos in behaglicher Ruhe. 

Selbst die Erde, vom Dienste befreit, nicht berührt von der Hacke, 
Unverwundet vom Pflug, so gewährte sie jegliche Gabe, 
Und die Menschen, zufrieden mit zwanglos gewachsenen Speisen, 
Sammelten Früchte des Erdbeerbaums, Erdbeeren der Berge,

Kornelkirschen, in stachligen Brombeersträuchern die Früchte 
Und die Eicheln, die Jupiters Baum, der breite, gespendet. 
Ewiger Frühling herrschte, mit lauem und freundlichem Wehen 
Fächelten Zephyrlüfte die Blumen, die niemand gesäet. 

Ja, bald brachte die Erde, von niemand bepflügt, das Getreide:
Ungewendet erglänzte das Feld von gewichtigen Ähren. 
Hier gab's Ströme von Milch, dort ergossen sich Ströme von Nektar, 
Und es troff von der grünenden Eiche der gelbliche Honig. 

Ovid:
Metamor-
phosen,
S. 26

 

Ovid bei
detopia

 

7-19

Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia (De optimo reipublicae statu, deque nova insula Utopia) — kündet Thomas Morus' Schrift, die der Gattung ihren Namen gab. Sein <Nicht-Ort> — so die wörtliche Übersetzung der griechischen Wortbildung — ist jedoch keineswegs in einem Nirgendwo angesiedelt, sondern hat seine Wurzeln im festen Erdreich konkreter Geschichte.

Anders als etwa Ovids Mythos vom Goldenen Zeitalter, der eine paradiesische Ära in einer zurückliegenden, vorgeschichtlichen Zeit vorstellt, zeichnet Morus in seiner Utopie den Entwurf einer glücklichen Menschengesellschaft, den die Zukunft einlösen soll.

Der Mythos beschwört einen paradiesischen Glückszustand vor dem Sündenfall, ein sorgenfreies, angenehmes Leben, das eine verschwenderisch großzügige Natur den Menschen schenkt. Hier bedarf es noch nicht der menschlichen Arbeit, um der Natur ihre Schätze abzugewinnen, und kein Gesetz ist nötig, das das Zusammenleben der Menschen regelte. Freundliche Sanftheit macht hier das <natürliche> Wesen von Mensch und Natur aus. 

Doch auch wenn in die Utopie Glücksvorstellungen einfließen, die die Wunschphantasie im Mythos ausmalt, sie nimmt ihren Ausgangspunkt jeweils von einer als mangelhaft, schlecht empfundenen Realität, in der die Natur dem Menschen nichts freiwillig preisgibt und in der Gesetze das menschliche Zusammenleben bestimmen; sie geht vom homo faber aus, der sich eine glückliche, das heißt, auch vernunftgemäße Lebensordnung selbst schaffen muß. 

Die Utopie, aus dem Möglichkeitssinn des Subjekts geboren, gründet nicht in einem archaischen, vorlogischen Urtraum von dem einen Glück, sondern sie ist jeweils geschichtlich verankerter Gegenentwurf zu einer gesellschaftlichen Realität, in der falsche Gesetze dem Glück der Menschen entgegenstehen. Der Titel der Schrift von Thomas Morus verweist schon auf Wesensmerkmale der Utopie; sie beansprucht die Konzeption einer besten Staatsverfassung, die sie in einem fernen Inselreich realisiert weiß. 

Die Ferne ist gleichsam das fiktionale Signal, daß Utopia noch nicht von dieser Welt ist; doch indem ihre politische und soziale Verfassung als Optimum vorgestellt, das Optimum zugleich als das Vernunftgemäße gedacht wird, ist sie zugleich mächtiger Appell, der Vernunft zu ihrem Recht in der Geschichte zu verhelfen. Die Realisierungs­tendenz ist der Utopie anders als z.B. dem Märchen immanent.

Erst allmählich löste sich der Begriff Utopie von dem Werk des Thomas Morus und wurde einerseits zur Bezeichnung einer literarischen Gattung, dem utopischen Staatsroman, andererseits vollzog sich auch mit der Ablösung von dem einmaligen literarischen Werk eine solche Ausweitung des Begriffs, die eine einheitliche Definition unmöglich macht. Gleichzeitig wechselte die Einschätzung der Utopie; der Bedeutungswandel des Begriffs reicht von dem ursprünglichen >Nichtort<, der jedoch ideelle Realität besaß und Produkt konstruktiver Vernunft war, über den >besten Staat< bis hin zur Schimäre, so in der 8. Auflage des »Dictionnaire de l'Academie francaise« von 1931.


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Einzig Francois Rabelais, jüngerer Zeitgenosse des Thomas Morus, spielt in seinem Riesen-Roman <Gargantua et Pantagruel> — erschienen 1532/64 — mehrmals direkt auf Thomas Morus' Werk Utopia an. Mit diesen Anspielungen suggeriert er den Lesern einen weiteren Deutungshorizont seines phantastischen Romans, in dem sein Realitätsgehalt schärfere Konturen gewinnt. 

An der Unterschiedlichkeit dieser beiden Werke des 16. Jahrhunderts, die beide pointierte Zeitkritik mit dem Entwurf einer besseren Gesellschaft verbinden, läßt sich die Spannweite des utopischen Romans veranschaulichen. Morus' Utopia ist in strengem Sinne kein Roman, und Rabelais' <Gargantna et Pantagruel> läßt sich kaum mit dem Etikett des <utopischen Staatsromans> charakterisieren. 

Doch man müßte aus der Vielfalt utopischer Prosa sicherlich viele interessante Werke weglassen, um einem <reinen> Begriff vom utopischen Roman zu entsprechen. Insofern plädieren die meisten Literatur­wissenschaftler für eine flexible Auslegung des Begriffs, die der Fülle utopischer Literatur gerecht wird.

Friedrich Krey, der Mitherausgeber eines wichtigen Sammelbandes zum utopischen Roman, umreißt in seiner Einleitung die Forschungssituation in folgender Weise:

Allein die für das Utopische offenbar besonders fruchtbare englischsprachige Literatur enthält eine solche Fülle derartiger Werke, daß sie bisher von keinem auch noch so emsig sammelnden Bibliographen bewältigt werden, geschweige denn durch die definitorische Kunst eines Theoretikers in ein System gebracht werden konnte. Ein Kenner wie Arthur O. Lewis [...] definiert diese dann auch in traditioneller Weise als erzählende Prosawerke, die das Bild einer idealen Gesellschaft enthalten, nachdem er zuvor feststellt, daß der heute herrschende Gebrauch des Begriffs es ihm ohne weiteres gestattet hätte, die Verfassung der Vereinigten Staaten, das Manifest der Weathermen oder die Kommentarspalten der <New York Times> in seine Reihe aufzunehmen. 

 (Villgradter / Krey, 1973, 12)

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Nun, die Verfassung der Vereinigten Staaten mag viel Utopisches enthalten, insofern sie ein Maximum an Freiheit und Gleichheit garantiert, das die Realität nicht eingelöst hat. 

Utopisch wäre daran der Idealitätscharakter, die Nicht-Existenz/Noch-Nicht-Existenz der verheißenen besten Staatsverfassung. Dennoch ist wohl offensichtlich, daß sie nicht der utopischen Literatur, genauer dem utopischen Roman zuzurechnen ist: Sie versteht sich als unmittelbare Handlungs­anweisung für die politische Praxis, stellt keine Fiktion dar. 

Der fiktionale Charakter jedoch, das heißt, die Einkleidung des idealen Gesellschaftsentwurfs in eine Geschichte, kennzeichnet den utopischen Roman, die utopische Erzählprosa. Fiktionalität grenzt den utopischen Staatsroman gegen philosophische Traktate oder Parteiprogramme strukturell ab, der Entwurf einer idealen Gesellschaft, eines glücklichen Lebens hebt ihn inhaltlich von anderen epischen Genres wie dem Abenteuerroman, der Familiensaga usw. ab. Dabei kann einmal der konstruktive Entwurf im Vordergrund stehen — wie in den Staatsutopien von Morus, Bacon, Campanella, Mercier u.a. —, andererseits die Lust an fiktionaler Ausgestaltung — so bei Rabelais, Cyrano de Bergerac, Swift u.a.

Daß der Utopiebegriff seit dem späten 19. Jahrhundert immer stärker die Bedeutung der bloßen Schimäre annimmt, eines phantastischen Ideals, das per Definition schon eine »impossibilite« darstellt — so die Bestimmung in der »Grande Encyclopedie« von 1901 —, das hängt sicherlich mit der Fiktionalität der utopischen Romane zusammen. 

Wenn die Wörterbücher den Begriff für das 17. und 18. Jahrhundert nicht notieren, für Jahrhunderte, in denen viele utopische Romane geschrieben worden sind, weist das darauf hin, daß der Begriff hier noch eng an das Werk des Thomas Morus geknüpft war. 


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Doch der Bedeutungswandel zum bloß Imaginativen, nicht Realisierbaren hat seinen Grund auch in der Geschichte der politischen Theorie: Friedrich Engels' Schrift <Die Entwicklung des Socialismus von der Utopie zur Wissenschaft> (1883) bescheinigt den Sozialutopien, wie sie sich in der Tradition der Utopia des Thomas Morus entwickelt haben, letztlich — bei aller Würdigung — ihren phantastischen, nicht realisierbaren Charakter. 

Auch wenn Engels vornehmlich politische Sozialutopien wie die von Saint-Simon, Fourier oder Owen analysiert und sie von seinem dialektisch-materialistischen Wissenschaftsbegriff her in ihrem begrenzten Erkenntniswert kritisiert, seine Einschätzung der Sozialutopien als wichtige, aber durch die marxistische Wissenschaft überholte Phase des Sozialismus mag zu der Wandlung des Utopieverständnisses beigetragen haben. 

Zwei Beispiele nur für das 20. Jahrhundert: 

Das spanisch-deutsche Wörterbuch übersetzt den Begriff mit »unmöglich, phantastisch«, die 13. Auflage des Duden von 1947 erklärt ihn mit »Schwärmerei, Hirngespinst«. Damit wird nicht nur die Realisierungstendenz utopischer Entwürfe negiert, sondern auch der logisch-konstruktive Impuls, der den Staatsromanen in der Nachfolge des Thomas Morus eignete.

Doch sowohl die philosophisch diskursive Utopie wie auch das fiktionale Genre des utopischen Romans, die jeweils in anderer Weise die Faktizität des Bestehenden transzendieren, leben aus der Spannung zu ihrer jeweiligen geschichtlichen Realität. Insofern tritt die Utopie kaum ohne ihre Zwillings­schwester, die Satire, auf. Wenn in der Satire — so Schiller in seiner Schrift <Über naive und sentimentalische Dichtung> (1795) — »die Wirklichkeit als Mangel dem Ideal als der höchsten Realität gegenübergestellt« (38) wird, malt der Autor in der Utopie das Ideal bester Lebens­verhältnisse aus: beide sind aufeinander bezogen. Das heißt, Mangel und Wunsch sind die beiden Impulse utopischen Denkens.

Kritik an bestehenden Verhältnissen und der Wunsch, eine bessere Zukunft zu schaffen, unterscheiden die Utopien von der bloßen tagträumenden Phantasie, die gleichsam <ohne Fahrplan> ausschweift.


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»Auch Utopien haben ihren Fahrplan« (Bloch, 1977, 555), formuliert Ernst Bloch in seinem Werk Das Prinzip Hoffnung, das heißt, sie sind nicht beliebige, frei über der konkreten Geschichte schwebende Wachträume, sie »gehorchen« einem sozialen Auftrag, einer unterdrückten oder erst sich anbahnenden Tendenz der bevorstehenden gesellschaftlichen Stufe (556). Sie entsprechen also einer in der Realität angelegten Tendenz, die sich jedoch keineswegs in der Zukunft durchsetzen muß. 

So kann denn auch die tatsächliche Verwirklichung — wie es Karl Mannheim in seiner Schrift von 1928/29, Ideologie und Utopie, bestimmt — nicht das Kriterium der Utopie sein. Gegen die beste Möglichkeit, die die Staatsutopie in Rückkoppelung mit den realen Tendenzen entwirft, kann eine schlechte Wirklichkeit gewinnen. Da sich Geschichte nicht gleichsam >organisch< als evolutionärer Prozeß nach inhärenten Gesetzen vollzieht, das Miteinander bzw. Gegeneinander von objektiven Möglichkeiten und Geschichte gestaltendem Subjekt viele Wege offen hält, kann die Einlösung utopischer Vorstellungen durch die spätere Geschichte nicht Maßstab ihrer Vernünftigkeit oder ihrer Realitätsbezogenheit sein.

Fortschritt als linearer Prozeß zeigt sich in der Geschichte am augenfälligsten in der Entwicklung natur­wissen­schaftlichen Denkens und seiner Anwendung in der Technik. Da bietet sich die Konzeption an, den Realitätsgehalt utopischen Entwerfens an »spezifisch wissenschaftlich-technische Denkweisen« (Schwenke, 1957, 118) zu binden, so Martin Schwenke in seiner 1957 erschienenen Schrift »Vom Staatsroman zur Science Fiction«. 

Doch auch wenn der Mensch sich nur durch Beherrschung der Natur vom Zufall der Verhältnisse befreit, er jene durch Einsicht in ihre Gesetze für seine Lebensverbesserung einsetzen kann, technologischer Fortschritt muß keineswegs eine Verbesserung der sozialen Lebensverhältnisse mit sich führen. Utopien, die in kühnem Vorgriff technische Möglichkeiten ersinnen, zeigen sich oft in diesen Erfinderträumen gerade nicht von einer konkret utopischen Seite, entwerfen keineswegs Bilder freundlicheren menschlichen Zusammenlebens.


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So kritisiert Michael Butor in seinem Essay »Die Krise der Science-Fiction« den Realitätsschwund der meisten Science-fiction-Romane, deren planetenstürmende Phantasie zwar den Kosmos erobert, sich aber als recht einfallslos erweist in der Darstellung gesellschaftlicher Möglichkeiten. Er resümiert, [...] daß die Flucht in den Planetenraum und in Epochen von überweiter Entfernung, die sich zunächst wie eine Errungenschaft ausnimmt, in Wirklichkeit die Unfähigkeit der Autoren maskiert, die näheren Zeiträume in Einklang mit der Wissenschaft als ein in sich zusammenhängendes Phantasieprodukt vorzustellen. (Butor, 1965, 228)

Ebenso wie diese Flut von Science-fiction-Romanen im 20. Jahrhundert, die ihre technischen Wunderwelten in immer ferneren Galaxien ansiedeln, in Fernstzeiträumen, zeugen z.B. auch Bacons flugkundige Menschen eher von einem phantastischen Wunschtrieb, der die Schranken der Realität zu überfliegen sucht. Mondlandungen, U-Boote, fliegende Menschen, Zeitmaschinen, die in die Vergangenheit oder Zukunft führen, computergesteuerte Retortenmenschen oder körperlichem Verfall trotzende <Supermen>, all die Vorstellungen, die vom technologischen Genie des Menschen ausgehen, aber zu ihrer Zeit jeder wissenschaftlichen Denkmöglichkeit entbehren, gehören eben in den Bereich der Schimäre und nicht in den des utopischen, d.h. auf Realität bezogenen und sie überschreitenden Denkens.

Doch schimärenhaft wie die Landung auf dem Mond zu einer Zeit, die noch nicht einmal den Fesselballon kennt, bleiben auch die sozialen Fern-Antizipationen, wenn sie die Realität in ihren Tendenzen in kühnem Flug weit hinter sich lassen, ihrem Wünschen keine objektive Tendenz entspricht. 


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Andererseits — darauf verweist Ernst Bloch in seinem 1965 gehaltenen Berliner Vortrag über »Antizipierte Realität — Wie geschieht und was leistet utopisches Denken« — birgt die Nah-Antizipation, die sich auf das unmittelbar Mögliche beschränkt, die Gefahr, daß »die Utopie krauchend-evolutionistisch« werde, nur noch auf eine »stufenweise Verbesserung der Gefängnisbetten« ziele (Bloch, 1980, 111). Wenn also das Zukunft entwerfende Subjekt seinen Veränderungswillen von der Maxime des jetzt oder bald Machbaren eingrenzen läßt, entsteht umgekehrt die Gefahr eines Pragmatismus, der sich nur mit Detail-Korrekturen eines in sich schlechten Systems beschäftigt. Insofern fordert Bloch:

Die Hauptsache wäre, Einheit zwischen Nah- und Fernzielen herzustellen, humane Einheit herzustellen, eine Realität, die zwei Forderungen entspricht: Sozialismus und Demokratie, die ohnehin sich nahe beistehen könnten, wenn es soweit wäre, daß der Sozialismus anfinge zu beginnen. (Ebd., 114 f.)

Das Prinzip des Sozialismus ist die Egalite, die Gleichheit, und das der Demokratie die Liberte, die Freiheit, Gleichheit, nicht nur verstanden als formale Rechtsgleichheit oder als Jenseits-Trost (»Vor Gott sind alle gleich«), bedeutet gleiche Existenzbedingungen aller Mitglieder eines gesellschaftlichen Systems; das setzt gleiche ökonomische Bedingungen voraus, also idealiter die Abschaffung des Privateigentums, da nur die Gleichheit der Eigentumsverhältnisse eine reale Chancengleichheit bedingte.

Andererseits birgt das Gleichheitsprinzip auch die Gefahr in sich, eine geometrische Ordnung auszubilden, die die Individuen der Uniformität unterwirft. Die vom besten Staat den Bürgern verordnete Gleichheit könnte leicht zu einem Prokrustes-Bett werden, das ihnen ihre individuellen Neigungen, Interessen, Möglichkeiten beschneidet. 


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Dann pervertierte das Gleichheitsprinzip, das ja im Sinne der sozialen Gerechtigkeit allen Bürgern ein glückliches Leben sichern soll, zu einem Staatsinstrument, das allen den Kuchen verweigert, keinem seine Entfaltungsmöglichkeiten gestattet. Wenn nicht das Freiheitsprinzip, das Recht auf Selbstbestimmung, mit dem Gleichheitsprinzip verknüpft wird, droht diese ein lebendiges gesellschaftliches Leben in Zwang zu ersticken.

Umgekehrt, auch der Freiheitsbegriff hat seine Ambivalenzen, kann in verschiedenster Weise interpretiert werden, zum Deckmantel privater oder klassenspezifischer Egoismen dienen. Ernst Bloch hat dieses Problem überzeugend formuliert: Der <Liberté-Ruf> reicht....

von freier Konkurrenz, wirtschaftlichem Manchestertum bis zum Kampf gegen eben diese liberalen Herren. Er reicht von dem bürgerlich-revolutionären Akt, der die freie Konkurrenz gegen Zunftschranken und feudale Bevormundung durchsetzte, bis zur freien revolutionären Tat des Proletariats, die genau wieder vom emanzipierten Bürgertum emanzipiert.  (Bloch, 1977, 615)

Deutlich wird, was in einer geschichtlichen Phase als Freiheit, Befreiung gelten konnte, kann in einer späteren Phase zum Sozialdarwinismus verkommen, der seinen Egoismus gegen andere Gruppen durchsetzt.

Erst die bürgerliche Philosophie Kants und des deutschen Idealismus entwarf am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Gedanken des freien Individuums, das sich seiner Freiheit und Individualität bewußt ist. Das freie, selbstbewußte Subjekt als Eckstein eines Staates der Freiheit — das war die zündende revolutionäre Idee, die die gottgegebene hierarchische Ordnung des Absolutismus, in der sich die Person durch Stand, Religion, Geschlecht definiert, radikal in Frage stellt. Freiheit, das war eine Farbe in der <Tricolore> der Französischen Revolution! 


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Doch wenn nun jedes Subjekt sich in seiner Subjektivität verwirklicht, es sich in der Individualität seiner Neigungen und Wünsche auslebt, verletzt es dann nicht die Bedürfnisse anderer Subjekte? Muß dann nicht das Chaos herrschen? 

Die bürgerliche Philosophie seit Kant suchte die Antinomie, den Widerspruch zwischen Freiheits- und Gleichheitsprinzip, die sich beide auf das Naturrecht berufen, dadurch zu lösen, daß sie ein Subjekt annimmt, das seine Natur frei dem Vernunftgesetz unterwirft, das es sich selbst gab. Wenn sich alle Subjekte dem Vernunftgesetz anpassen, dann sind alle zugleich frei und gleich, so die Konzeption des idealistischen Versöhnungsschemas. In dieser Synthese wird das Glück des Individuums mit dem Gemeinwohl aller zusammengedacht, eine faszinierende Idee, die ihre Widerhaken wohl erst in ihren ausgestalteten Entwürfen vom besten Staatswesen zeigt. Das Problem von Freiheit und Gleichheit, Individualität und Ordnung, das sich in allen Gesellschaftsentwürfen zeigt, wird ein Aspekt sein, unter dem die utopischen Staatsromane vorgestellt, analysiert werden.

Weitere Aspekte, die gerade vom heutigen Problembewußtsein her an Bedeutung gewinnen, werden Auswahl und Analyse bestimmen: Von einem heutigen Wissensstand her, von dem aus vieles technisch machbar, aber weder im Sinne des Gemeinwohls noch im Sinne des individuellen Glücksstrebens wünschbar ist, erscheint ein technologisch ausgerichtetes Utopiedenken sehr ambivalent. 

Insofern ist es reizvoll, vergangene Entwürfe einer idealen Gesellschaftsordnung gerade auf ihren technologischen Zukunftsoptimismus bzw. auf ihre Vorbehalte anzuschauen. Wie bei den wohlgemeinten Entwürfen einer besten Staatsordnung manche Strukturen sich von späterer Erfahrung her als rigide, glücksfeindlich herausstellen, so zeigen auch einige technologische Zukunftsphantasien gerade heute ihre problematische Kehrseite. Im Zusammenhang technologischer Zukunftsentwürfe, die den Menschen mehr Reichtum und weniger Plackerei bescheren wollen, ist für den heutigen Betrachter auch von Bedeutung, inwiefern auch ökologische Überlegungen mitspielen.


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Neben wichtigen Aspekten wie Bildung, Wohnkultur, das jeweilige Verhältnis von Freizeit und Arbeit, Sexualität, Rechtswesen usw. interessiert den heutigen Leser früherer Entwürfe vom besten Staat auch, welche Rolle die Frau im jeweiligen Utopia spielt. Wenn man bedenkt, daß die Französische Revolution, die die Freiheit und Gleichheit aller Bürger verkündete, doch wieder die Frau vom aktiven und passiven Wahlrecht ausschloß, ist man neugierig, welche Möglichkeiten nun die meist von Männern entworfenen Utopien für sie vorsehen.

Es liegt am Genre des utopischen Staatsromans, daß inhaltliche Fragen von besonderem Interesse sind.

Andererseits jedoch stellt es die Autoren auch vor schwierige ästhetische Probleme. 

Ihr Hauptproblem bleibt das der ästhetischen Langeweile. Bekanntlich ist das Inferno bei weitem farbiger, reizvoller darzustellen als das Paradiso. 

Und im Gegensatz zum Teufel bleibt der Engel eine langweilige Figur. 

Wenn nun im jeweils besten Staat alles zur Zufriedenheit seiner Bürger geordnet ist und der Hauptgrund allen Erzählens ist, eben das zu demonstrieren, geraten die Bürger, von denen der Roman berichtet, zu abstrakten Strichmännchen ohne das Fleisch einer Geschichte mit ihren Widersprüchen und Konflikten. Der Exempelcharakter bildet die Fluchtlinie, auf deren Zielpunkt alle Handlung zugeschnitten ist. Das gilt vor allem für die utopische Staatsprosa im strengen Sinn, die ihre Imagination auf den Entwurf eines besten Staates konzentriert und ihrer fabulierenden Phantasie die Flügel stutzt. Es wird sich zeigen, daß die Autoren utopischer Romane bestimmte Muster ästhetischer Erzählstrategien entwickeln, um ihr abstraktes Modell in die anschauliche Form der epischen Fiktion, der Geschichte zu überführen.

Die Utopien des 20. Jahrhunderts, die zum größten Teil das Gegenteil von dem sind, was Utopia zunächst zu sein beanspruchte, deren Welt einer Schreckens­vision entspringt, werden ihre Erzählstrategien ändern. 

Da Kritik an diesem Negativ-Staat nur möglich wird, wenn sich der einzelne nicht in Übereinstimmung mit dem Staatssystem empfindet, gewinnt hier die Geschichte des Individuums, seine Erfahrungen, seine Ängste, seine Wünsche, seine Widersprüche, an Bedeutung. Der einzelne wird zum Störfaktor im funktionierenden negativen Gesellschaftsmodell, die Erzählstruktur wandelt sich, Formen des Bewußtseinsromans prägen die Erzählperspektive.

Es mag auf den ersten Blick befremdlich sein, daß zu den utopischen Romanen auch die gerechnet werden, die gerade ein sehr düsteres Zukunftsbild entwerfen. Doch letztlich hat sich hier nur ein Akzent entschieden verlagert: So wie die Utopien vom besten Staatsmodell auch satirisch die eigene Zeit angreifen, sie gegenüber schlechten gesellschaftlichen Verhältnissen das Ideal ausmalen, so prangern die Negativutopien, Dystopien oder Warnutopien in satirischer Vergröberung die eigene Zeit von ihrem nicht ausgeführten Konzept einer besseren Welt her an. Daß aber im 20. Jahrhundert die Negativutopien gehäuft auftreten, hat konkrete geschichtliche Gründe, liegt auch an einem verstärkten Fortschrittsskeptizismus. 

Als erstes nun soll im folgenden Interpretationsteil Platons philosophischer Entwurf vom besten Staat vorgestellt werden, da sich spätere Utopien immer wieder auf ihn berufen.

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