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Psychologie und Staatssicherheit

Ein Gespräch, Jürgen Fuchs mit der Journalistin Ingrid Tourneau

Vom RIAS gesendet am 14.1.1990 - in Auszügen

 

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T: Vor kurzem erschien ein Buch mit dem Titel "Aufbruch in eine andere DDR", in dem Sie mit einem Aufsatz, vertreten sind. Bevor wir über Ihre persönlichen Erfahrungen mit der Staatssicherheit sprechen, Herr Fuchs, über Ihre analysierenden Gedanken und die Folgerungen, die Sie daraus ziehen, möchte ich aus diesem Buch zitieren. Sie schreiben dort: 

"Es wird für viele Menschen lange dauern, bis dieses Leben in der Angst vor allem innen, ganz innen, vorbei ist. Für sie möchte ich ein Gedicht zitieren, das ich im Januar 1978 in West-Berlin schrieb, nur wenige Monate nach der Haft und der Abschiebung:

Jetzt bin ich raus — jetzt 
Kann ich erzählen 
Wie es war
Aber das 
Läßt sich nicht erzählen
Und wenn 
Müßte ich sagen 
Was ich verschweige
Zum Beispiel
Daß ich am 17.12.1976 in meiner Zelle saß
Mit dem Rücken zur Tür
Und weinte
Weil ich am Vormittag das Angebot abgelehnt hatte
Mit ihnen zusammenzuarbeiten
Und du weißt
Was es heißt, mit ihnen zusammenzuarbeiten." 

 

Fuchs: Ja, dieses Gedicht — im Artikel für das Buch habe ich noch die Zeilen darunter gesetzt: "Das ist mein letzter Vorschlag zum Umgang mit der Stasi: Daß wir weinen, klagen, trauern, um aufzuatmen, um darüber hinwegzukommen, <auch wenn wir nicht geweint haben vor ihnen>, wie es Jewgenia Ginsburg in einem ihrer wunderbaren Bücher schrieb." 

 

T: Sie haben sehr früh eigene Erfahrungen mit der Stasi gemacht. Läßt sich dafür ein genaues Datum finden, oder welches fällt Ihnen jetzt spontan ein?

Fuchs: Also, spontan fällt mir ein, daß Stasi, Staatssicherheit — wir sagten in unserem kleinen Provinznest, wo ich aufwuchs, "Cunsdorf", das war die Straße, wo die wohnten — spontan fällt mir ein, daß wir Kürzel verwendeten, ausgesprochen mit großer Angst. Das ist meine erste Erinnerung daran. Da ist eine helle, kindliche Angst, ja, ich möchte sagen Todesangst. Hier war das heimliche, zivile Wegschaffen, aus besagtem "heiteren Himmel". 

Und die zweite Erinnerung, die ich jetzt habe, ist Schule, das Jahr '68. Ein Deutschlehrer, den ich noch dazu sehr gern hatte, wollte nicht mitmachen beim Verteufeln des Prager Frühlings, er begrüßte die demokratische Entwicklung dort ... es gab im Umfeld noch andere Probleme für ihn, politische durchweg, man wollte ihn fachlich erwischen, er war hochqualifiziert, bei Bloch und Mayer studiert in Leipzig ... er verließ dann die Schule, wurde gegangen, hat das nicht mehr mitmachen wollen. 

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Und dann kam kurze Zeit später eine Vorladung oder ein Hinweis: Kommen Sie mal ins Sekretariat. Da saß im Zimmer des Direktors ein fremder Mann, jung, klappte den Ausweis auf, hatte noch so ein komisches Grinsen — ich sehe dieses Grinsen noch — und sagte mir: "Ministerium für Staats­sicherheit". Daran erinnere ich mich besonders, daß jemand sagte, als Einzelperson: Ministerium für Staatssicherheit. Allein das sagt sehr viel aus. Und da war eine Angst da, aber gleichzeitig auch eine gewisse Art von ... wie soll ich es sagen ... von Kampfbereitschaft bei mir.

Schon sehr früh?

Das möchte ich sagen. Als einer, der als Arbeiterkind in so letzten Dreckvierteln da unten rumgerobbt ist im Vogtland und von zu Hause das Lachen der Eltern kannte, wenn gesagt wurde, wir sind die Besitzenden im Staat, Arbeiterklasse ist die führende Klasse. Da wurde ja eigentlich nur gelacht. Also der hatte dann an diesem Punkt eine gewisse Bereitschaft, in den Clinch zu gehen.

Und ich habe früh gelesen. Ich habe Dostojewski gelesen, Böll, Borchert, kannte eben auch dank des Deutschlehrers schon die Veröffentlichungen über Stalinismus, "Wiener Tagebuch", Ernst Fischer ...

Wie alt waren Sie da?

Fünfzehn, sechzehn. Das ging nicht spurlos vorbei. Reiner Kunze wohnte in Greiz, den kannte ich da auch schon persönlich. Dann wurde immerhin schon Solschenizyn besprochen, "Iwan Denissowitsch" ... und eben auch Biermann, Havemann, als diejenigen, die vorangegangen sind. Die widersprochen haben.

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Und das alles in diesem Provinznest, wie Sie sagen.

Das würde ich sagen. Da kamen die fünften, sechsten Durchschläge an. Aber auch, ich will das nicht verwischen, habe es im Gedicht angedeutet: Schwankungen, Anpassungs­versuche, tiefe Zweifel. Auch an den eigenen Möglichkeiten und Kräften, Wege zu finden außerhalb von Lüge und Druck. Wer lebt schon gern in solchen Spannungen. Außerdem wollte ich studieren, brauchte eine einigermaßen Beurteilung. Das ging ja so bis vor kurzem. Die Gefahr der frühen Ausgrenzung bestand.

 

Sie sind 1950 geboren als Sohn eines Arbeiters, haben Abitur gemacht, Psychologie studiert — das klingt jetzt alles sehr fließend. So fließend ist es aber nicht verlaufen. Und dennoch sagen Sie heute, daß Ihre Herkunft geholfen hat, relativ unbeschadet die Zeit in der DDR zu überstehen. Warum?

Aus psychologischer Sicht ist anzumerken: Was im Alter bis sechs, sieben geschieht, ist sehr wichtig. Ist keineswegs nur Idylle oder vorbewußtes Leben, "Kleinsein" und so weiter. Ist sehr wichtig. Ich habe eine Familie gehabt, die behütete.

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Zum Beispiel auch die Großmütter waren sehr wichtig, die doch eine Distanz hatten zum Dritten Reich und der "neuen, ganze anderen Zeit" nicht unbedingt angstvoll begegneten. Sie waren alt, hatten viel erlebt, erzählten davon. Sehr wichtig, ich könnte Einzelheiten erzählen, das prägt einen. Und dann: Wie hoch ist der Angstpegel in der Gesamtfamilie. Und auch: Ist da eine Gleichschaltung, sagen wir, zwischen Schule, Gesellschaft, Staat, Partei und Familie. Und wenn keine Gleichschaltung, also ein Widerspruch da ist — wie bei mir — wird dann dieser Widerspruch ausgehalten ... Oder gibt man das Kind weg, in die Krippe, den Kindergarten, den Hort. Das Weggeben des Kindes unter diesen Umständen, da nehme ich Einzelpersonen und christliche Einrichtungen aus, war immer tendenziell mit einem Aufgeben des Kindes verbunden. Es gibt ja inzwischen Untersuchungen und Resultate. Erschreckende Fakten.

 

Hatten Sie Geschwister?

Eine Schwester, sieben Jahre älter. Sie ist Lehrerin geworden ... ist sehr früh in diesen Konflikt reingekommen, als Lehrer in diesem Spannungsfeld zu stehen. Zerreißproben. Also mit diesen Konflikten wurde ich groß, es kam eine frühe Herausforderung und eine Hilfe hinzu. Die Herausforderung: Ich fing an, etwas aufzuschreiben und bildete mir ein, ich müßte selbst bestimmen, was richtig war, was ich aufschreibe. Gedichte, kurze Prosa. Recht rigoros fing ich an, verlogen war das nicht. Gefühle, Situations­beschreibungen, Realität.

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Meine Eltern waren erschrocken, als sie Kostproben fanden in meinem Zimmer. Ich packte dann die Hefte weg. So war das. Auch gewisse Größenideen kamen hinzu, Schriftsteller werden, ein eigenes Buch machen ... Aber das war vielleicht auch notwendig, eine Art Selbstermutigung, Selbstverstärkung. Dieses Milieu drückte ja eher runter, das politische, meine ich. Und die Hilfe: Ich war Leser, einige Namen nannte ich schon. Borchert, "Wir werden nie mehr antreten auf einen Pfiff hin", dieser Satz hat mein Leben bestimmt und verändert, mich zutiefst herausgefordert. 

Diese Haltung nach dem Krieg, den Militarismus in Frage stellen, das Befehlen und Gehorchen. Bücher, Autoren wurden zu "Freunden", zu Gesprächspartnern. Welche hatten dann diese Lektüre auch empfohlen, ich müßte noch meinen Schwager nennen. Kriegt man die Angst weg, ist das Gehorchen ganz und gar drin — oder nicht. Das ist wichtig aus meiner Sicht. Wenn man im Gehorchen, auch familiär, drin ist, dann heißt es auch politisch: Unterwerfung. 

Selbst wenn das Elternhaus "anti" ist — falls das Kind oder der Jugendliche gewöhnt ist an Befehle und ihre Ausführung, da wird dann mitgemacht. Das habe ich immer wieder bemerkt. Und wenn, zum Beispiel von geschätzten Autoren her, eine Haltung kommt, nicht mitmachen, verweigern, eigene Gedanken machen ... wie Borchert, der im Straf­bataillon neunneunund­neunzig gelandet war vor 45 ... hatte politische Witze erzählt ... ja dann entstehen eben andere Haltungen. 

Borchert, Böll, die haben mir gefallen. Ich wollte auch so sein oder werden. Dann probiert man es. Dann kommen die Konflikte. Und dann ist die Frage, was man durchhält, aushält. Ob man allein ist usw., also das Schwierige beginnt dann.

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Sie haben das Schreiben schon erwähnt, Lyrik ... Sie haben aber vor allen Dingen auch Alltagsprosa geschrieben, nicht? Alltag in der DDR ...

Ich komme von der Lyrik, habe immer die Realität als Zubringer der Musen verstanden. Die sind ja sehr launisch. Literatur muß vor allem frei sein. Sie kann keine Befehle akzeptieren. Ich persönlich finde das Weggehen in andere, eigene Sprachen der Poesie nicht so günstig. Alles ist möglich, aber jeder muß seinen Ton finden. Das, was er sagen will. Die größte Vielfalt ja, aber dazu das vertrauensvolle Wenden an die Wirklichkeit. Zeuge der eigenen Zeit zu sein ... andere Menschen auch sprechen lassen ... beschreiben ... Das habe ich getan, dann tauchen eben Themen auf. Und wir sind wieder beim Thema. 

Also zum Beispiel Kasernenhof. Mit achtzehn bin ich als Wehrpflichtiger da reingeschickt worden ... auch die Zweifel und inneren Konflikte, doch hingegangen zu sein ... mit der Lektüre von Böll und Borchert im Hinterkopf — durfte ich das, ja oder nein. Verweigern, aber wie? Bausoldaten, wie geht das? Und es tauchte natürlich auch auf: Macht, der Einzelne ... wenn Ausweise aufgeklappt werden, was ist das eigentlich? Oder Uniformen anzuziehen sind. Ist der Einzelne ein Funktionierer, ein Teil, ein Objekt? Wo bleibt das Individuelle?

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Ist es zu retten in diesen Anstalten und Kasernenhöfen? Ich habe kurze, lyrische Prosa gemacht, habe auch die sprachliche Form gesucht, die Distanz zum beschriebenen Alltag. Das war eigentlich der Weg, den ich eingeschlagen habe.

 

Was Sie schrieben, wurde kaum gedruckt. Und dennoch waren Sie eine Gefahr. 
Wie kommt das? Wie entdeckte man, daß Sie eine Gefahr sind?

Ich lebte relativ früh in diesem Spannungsverhältnis. Vorhin habe ich es skizziert. Und ich selbst in einer Gesellschaft, die neurotisiert war in jeder Hinsicht gegenüber Abweichungen. Also, wenn dann jemand anfing, sowas zu machen, sich was Eigenes vorzunehmen, der war dann schon zeitig auf diesem Sucher. Es gibt eine Untersuchung, die ich sehr interessant finde, sie wurde im Bezirk Dresden gemacht, glaube ich. Von Leuten des Bürgerkomitees dort. Über die Stasi haben sie geforscht und einiges aus den Direktiven zitiert. Im Basis-Verlag in Ostberlin wurden die Mielke-Direktiven verlegt ... auch die genauen Hinweise, Anders­denkende zu "destabilisieren", sie "am Arbeitsplatz zu entmutigen" usw. ... 

Also in diesem Zusammenhang hörte ich die Sätze, ich habe sie mir notiert, weil ich sie so aussagekräftig fand: "Jeder ist ein Sicherheitsrisiko", dachte das Ministerium. "Um sicher zu sein, muß man alles wissen. Sicherheit geht vor Recht." Und da haben Sie alles zusammengefaßt, was auch dem jungen Mann, nach dem Sie hier fragen, begegnet ist. 

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Ja, und wenn da eben ein Schüler anfängt, sich mit so einem Lehrer zu verbünden und dann irgendwas aufschreibt in schwarze Hefte, dann ging es eben los. Das ist natürlich auch paradox, abwegig, ja irre, wenn besagte "staatliche Organe", so nannten sie sich ja, diese Totalüberwachung anfangen ... Aber wenn man solche Maximen hat, solch eine polizistische Philosophie, dann ist das schon folgerichtig.

Sie haben von 1971 bis 1975 Psychologie studiert in Jena. Und Sie hatten unter Ihren Kommilitonen Mitglieder der Staats­sicherheit. War das klar erkennbar?

Das war sehr klar erkennbar. Sie müssen sich dazu die Ausgangssituation vergegenwärtigen. Da geht jemand rein in diese achtzehn Monate Grundwehrdienst Armee. Dann kommt er raus — das will ich jetzt aussparen —, hat politische Schwierigkeiten, das Studium zu beginnen, weil die "Zuverlässigkeit" nicht gewährleistet schien, und kommt dann hinein in ein Studenten­wohnheim in Jena-Zwätzen, in Baracken. Dann wird Bettwäsche ausgegeben, die er farblich von der Armee kennt. Da zuckt er zusammen. Und dann sind die Zimmer mit Viereraufteilung, das hat also vorher jemand festgelegt mit Namen und Adresse, der mit dem da rein und so weiter. Doppelstockbetten aus Eisen, dünne Wände. Und in jedem Zimmer plaziert, das hat man nach wenigen Tagen herausgefunden ... zuerst mit dem Gefühl: je ein Mitglied der Armee, in Zivil natürlich, der sagt dann "MdI", Ministerium des Inneren. Da geht das also wieder los ...

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Einer sagt "Ministerium" ...

Genau. Und je einer pro Zimmer, das muß man sich mal vorstellen. Einige kannten sich untereinander, diese Aufteilung. MdI . . . das mußte nach späterer Kenntnis ein bißchen modifiziert werden. Sicherlich gab es auch Einsatzbereiche im Ministerium des Inneren, aber das war ja dann doch die Staatssicherheit. Und es waren Kommilitonen, Studenten über mehrere Jahre hinweg. Man bekam im Laufe der Zeit mit, daß ihre Offiziers­gehälter weiterliefen, sie hatten mehr Geld, wir zweihundert Mark, sie sechshundert oder tausend. Oder mehr, es wird Unterschiede gegeben haben ... Der jetzt hier spricht und das beantwortet, hat sich dann geflüchtet in ein Einzelzimmer, um da rauszukommen.

Das war sehr schwer zu finden, ich habe über ein Jahr gebraucht dazu. Aber diese Begegnung, dieses Aufeinandertreffen muß man sich vorstellen. Und das war auch in anderen Fakultäten so, das ist überhaupt kein Einzelfall. Sie waren da. Das machte natürlich eine Atmosphäre aus. Verunsicherung einerseits, aber eben auch: das sind sie. Ich kenne die jetzt. Es sind Menschen wie wir. Wenn sie sich aufspielen "im Dienst", hat das eigentlich keine echte Begründung, keine Berechtigung. Auch dieser Aspekt war dabei. Das Interessante für unser Thema: Daß es eben in der Human­wissenschaft passierte, in der Psychologie, wo ja Diagnostik und Therapie unterrichtet werden. Wo es um Heilen und Helfen geht.

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Richtig. Also, die waren nicht da, um zu schnüffeln, sondern um zu lernen.

Um zu lernen, um Student zu sein. Sie hatten am Anfang Orientierungsschwierigkeiten wie wir alle. Es waren teilweise auch ältere Semester dabei, auch ganz unterschiedliche Bildungswege. Der eine hatte das Abitur im Abendstudium gemacht, den anderen haben sie vom Abi weggeholt. Alle waren aber schon bei der Armee gewesen, unterschiedlich lange. Es gibt da bestimmt Abläufe, Rituale, Praxisphasen ... Es war zum Beispiel auch einer dabei, wo ich nicht sicher bin, was der für eine Aufgabe hatte, der kam von der Armee, hatte zwölf Jahre hinter sich, schimpfte viel. Vielleicht hatte er sich wirklich zum Studium gemeldet, um beruflich nochmal was anderes zu machen. Es blieb auch unklar, wer auf wen achtete.

Ich beschreibe ein Klima. Wenn man sie fragte, sagt mal, wofür macht ihr das eigentlich, wozu braucht ihr die Psychologie ... da zuckten sie mit den Achseln. Waren vielleicht wütend über solche Fragen. Wir kannten ja auch noch nicht die Arbeitsstellen, sie taten also ahnungslos. Vielleicht wußten sie es wirklich nicht. Die Geheimniskrämerei, wie wir jetzt wissen, die Parteidisziplin usw., das ging ja extrem weit bei denen. "Wird sich zeigen im Einsatz", dann fragte man nicht weiter. Ob sie geschnüffelt haben? Gewiß, Berichte wird es gegeben haben. Schon, um nicht aus der Übung zu kommen. Vielleicht waren auch einige Offizier der Volksarmee und nicht Stasi.

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Es gab anderer­seits Querverbindungen, "V-Offiziere", die hatten auf die Menschen, die Seelen, die Feinheiten zu achten. "V" von "Verbindung". Dazu braucht man auch Psychologie. Die Grenztruppen trugen Armeeuniformen und waren Stasi-Einheiten. Das Geheimnisvolle, Unsichere war da. Aber auch die Erkenntnis ihrer Schwächen, über "Allgemeinmenschliches" sozusagen. Sie mußten ja an allen Seminaren teilnehmen, auch Fachrussisch und Fachenglisch, mußten sich richtig rumquälen. Da gab es auch Zensuren. Manchmal waren da gar nicht die besten Zensuren für sie zu kriegen. 

Als es im zweiten Studienjahr die obligatorische Militärausbildung gab, sechs bzw. acht Wochen, da traten uns plötzlich diese Kommilitonen als Major oder Oberleutnant entgegen oder Feldwebel. Sie hatten Dienstgrade und Weisungsbefugnisse. Das war dann noch einmal eine Klarstellung. Man sitzt also in der Mensa oder in Seminaren, ist gleich, dann das. Man mußte strammstehen vor ihnen. Ich habe das beschrieben im zweiten Teil der Armeeprosa, im Buch "Das Ende einer Feigheit". Die Verwandlung in Dienstpersonen, das Herstellen der Hierarchie, das war dann die militärisch-absurde, auch ein wenig witzige Zugabe. Eben eine Komödie, ein Verkleiden. Freilich mit ernsten Folgen. Das Sortieren begann, wirkte sich aus, wurde offenbar.

Herr Fuchs, jetzt frage ich Sie mal, welche Methoden, die auf Erkenntnissen im Psychologiestudium beruhten und die später in der Psychotherapie zur Heilung eingesetzt werden, kann man in der Vernehmung anwenden? Ich bitte Sie mal, eine Situation zu schildern.

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Ja, ich möchte Ihnen das schildern. Ich habe also ein Studium erlebt in Jena, das hatte von der Ausbildung her zwei Teile, eine sozial­psychologische Ausrichtung, sehr nahe der Soziologie, aber gleichzeitig im Studium ganz gut installiert und mit guten Dozenten besetzt, auch eine klinische Ausbildung. Der klinischen will ich mich jetzt zuwenden. Da gab es also diagnostische und therapeutische Teile der Ausbildung. 

Da erfährt man eine ganze Menge in den Seminaren, über einige Semester erstreckt sich das, was Gesprächstherapie ist, Lerntheorien werden erläutert, es werden genügend Amerikaner durchgenommen. Input, Output, das gefiel sehr. Weniger das kritische Ich und das vielleicht warnende Über-Ich, mehr Verhaltensstudien, "abrechenbare Ergebnisse", die man "einsetzen, trainieren kann" . . . Aber auch individual-psychologische Wissenschaft, meine Frau, die mit mir zusammen studierte, hatte zum Beispiel eine Vordiplomarbeit zu schreiben über die Psychologie von Adler. Da kam auch Manès Sperber vor. Sie ging nach Leipzig, hatte eine Erlaubnis vom Institut, las in der Deutschen Bibliothek, bekam alle Bücher, die zum Thema vorhanden waren. Dann gab es ausgedehnte Praktika, zum Beispiel in Polikliniken, Krankenhäusern und Beratungs­stellen. Dabei sind wir immerzu mit Patienten zusammengekommen. Der Aspekt des Vertrauens, der Schweigepflicht stellte sich. Wir wurden belehrt, hatte eine Unterschrift zu leisten. Wenn man sich das einmal vergegenwärtigt, dann sind also diese Stasi-Kommilitonen, die ich vorher charakterisiert habe, mit in den Fächern drin ... den Vorlesungen und Seminaren, auch als Praktikanten. 

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Wenn Gesprächstherapie geübt wird: Wärme, Wertschätzung, Echtheit, wo auf den anderen eingegangen wird; wo versucht wird, durch ein Verstehen, durch ein Hinhören und Nachhören und Eingehen über mehrere Sitzungen hinweg, ja, eine Blockade zu lockern, eine Selbstisolation aufzuheben, eine Gesprächsfähigkeit wieder herzustellen, Beziehungserkrankungen aufzuspüren und zu lockern und zu lösen. Und das stellen Sie sich bitte vor im praktischen Einsatz, im Gefängnis z.B. bei einer Vernehmung, wo das Wissen benutzt wird, um jemanden zu destabilisieren im Psychischen, weich zu kriegen, sage ich mal. Und dort werden eben die Methoden der Therapie umgekehrt in Tricks von Vernehmern, in Methoden zum Neurotisieren und teilweise auch, um die Konstellation für Psychosen herzustellen, also tiefe seelische Störungen, Verwundungen, Kränkungen. Das allerdings ist natürlich ein Punkt, über den für mich viel zu wenig gesprochen wird. Und der gerade von denen, die es jetzt getroffen hat oder die es ausgeführt haben, erläutert werden müßte.

 

Sie haben mir eine Situation geschildert mit zwei Vernehmern, von denen jeder eine andere Technik anwandte

Ja. Also kommen wir mal zu den Möglichkeiten, wie psychischer Druck ausgeübt wird. Das ist ja eine Anwendung von psychischem Druck z.B. in der Anwerbesituation (die immer auch ein Angriff ist, weil Ablehnen sehr schwer möglich ist), in der Verhörsituation.

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Das kann sowohl im sogenannten "zivilen Bereich" geschehen, wenn jemand in eine Wohnung bestellt wird von denen und dann so hergenommen wird ... das kann natürlich auch im Gefängnis oder bei Vorladungen mit "Zuführungscharakter" geschehen, wo gleich zugeriegelt wird. Ich habe es in der U-Haft neun Monate erlebt, intensiv erlebt, als Betroffener. Nicht nur als einer, der darüber spricht und schreibt, wie ich es jetzt tue oder als Autor getan habe. Ich konnte das live studieren. Man muß sich diese Interventionen, diese Druckanwendung vorsätzlich vorstellen. Auch in einem Team, das vor- und nachbespricht, auch mithört jeweils oder Videotechnik verwendet. Sie waren ja sehr gut technisch ausgerüstet, japanische Importe ... Ein Vernehmungsführer, ein Leiter einer Abteilung, ein Vorgesetzter, der ruft dann auch mal an und sagt, mach' es so und so. Oder kommt herein. Oder denkt sich eine andere Überraschung aus, ein "Bonbon", wie sie sagten. Ja, gehen wir mal in diese Situation hinein, stellen sie uns vor. Also, da ist ein Gefangener, der in einer Einzelzelle unter­gebracht ist, in einem "Verwahrraum" im Gefängnistrakt. Der wird dann verhört, wird eine Treppe hochgeführt, durch eine Eisentür, dann ist er im Vernehmertrakt. So dicht ist alles gebaut. Gehen wir mal zwei Möglichkeiten durch. 

Eine Möglichkeit ist, daß derjenige, der ihn verhört oder "vernimmt", einmal besonders freundlich zu ihm ist, Zigaretten anbietet usw., möglicherweise auch der Träger von guten Nachrichten ist: "bald raus" oder "es wird nicht so schlimm" oder "viele Grüße von Ihren Eltern", oder ihm Briefe von zu Hause zu lesen gibt, "ach so, Post ist gekommen". 

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Das ist jetzt der gesprächsstrategische Teil, den man durchaus in der Psychologie studieren kann. Derselbe Mensch, möglichst noch ohne Übergang, sagt dann die schlechten Nachrichten: "Es steht schlecht, es geht alles schief" oder wird selbst grob. Ist also ganz und gar nicht mehr sympathisch wie an den vorangegangenen Tagen. Alles war Maske, Spiel, Strategie. Und wenn man sich dann ein wenig eingelassen hat, erleichtert war über den freundlichen Ton vorher, etwas gehofft hatte und so weiter, dann bricht vieles zusammen. Es verwandelt sich also ein Mensch, der sich als Mitmensch gab, zum Gegenmenschen, innerhalb einer Situation. Das ist dann oft eine schwere traumatische, eine schockierende Situation für den, dem es begegnet. Das ist eine Variante, der ich im Gefängnis öfters begegnet bin. Es gibt viele Berichte, auch von Amnesty, daß sie in anderen Ländern angewandt wird. Wir sind hier also im Bereich der vorsätzlichen, der organisierten, der hergestellten psychischen Druckanwendung

Kann man auch sagen, der psychischen Folter?

Ja, der psychischen Folter. Es gibt diese UNO-Definition, auf die Amnesty immer wieder hinweist. Wobei der vorsätzliche Charakter betont wird, körperliche und — in unserem Falle — seelisch/psychische Schmerzen zuzufügen, um etwas zu erreichen. 

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Ein "Geständnis", eine Distanzierung, eine erpreßte Einwilligung, etwas nicht mehr zu tun, zu denken, zu fühlen. Eine Vergewaltigung wird vollzogen, körperlich oder/und psychisch. Unter starken Schmerzen. Das ist der Definitionsinhalt der UNO-Definition. Der ist in unserem Stasi-Fall übererfüllt. 

Ich will noch eine zweite Situation schildern. Verhörraum. Ein Vernehmer kommt rein, ist freundlich, sagen wir mal, Typ Markus Wolf, so ganz verständnisvoll, väterlich ... er spricht alles behutsam an, sagt durchaus Richtiges, zeigt z.B. Sympathien für Wolf Biermann, sagt, wir müssen eine unabhängige Presse haben, und vielleicht ist die Sicherheitspolitik wirklich falsch. Das kann er ganz überzeugt sagen, vielleicht ist er auch davon überzeugt. Und die besondere — ja, Raffinesse, der ich mehrfach begegnet bin, ist, wenn ein anderer hereinkommt, auch wieder verabredet und dann zeitgleich oder zeitversetzt, brüllt, beschimpft, runtermacht: "Havemann, der größte Philosoph aller Zeiten, auch ein Schwein" und so weiter. Also primitiv wird, verbal gewalttätig. Manchmal auch bis zur physischen Bedrohung; also ein Stuhl dann weggezogen wird. Oder eine Leibesvisitation besonders hämisch vollzogen wird. Oder es gibt Schilderungen, wo dann ein Lineal auf den Tisch geschlagen wird, knapp am Kopf oder den Händen vorbei. "Kriegt er Angst, zuckt er zusammen" oder gelingt die Provokation, kommt es zum Zurückschlagen? Das ist ihre Absicht dabei. Dann kommt das "Räumkommando". 

Oder auch, wenn die Provokation mißlingt, der Gefangene also die Nerven behält und nicht reagiert, kommen

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plötzlich mehrere Vernehmer in den Raum, füllen ihn ganz, ein körperlicher Druck entsteht, eine Enge. 

Der freundliche Plauderer steht dabei oder macht mit. Oder schüttelt den Kopf, warum und gegen wen gerichtet, bleibt unklar. Er schützt aber nicht, ist kein wirklich humaner Mensch, sondern er spielt mit, ist ein Teil der Vorstellung. Und das in einer Streßsituation, mit hohem psychoenergetischem Verbrauch. Es geht um Existenzfragen, tiefe Ängste und Mechanismen der Flucht, der Verteidigung, auch der möglichen Anpassung werden berührt. Das selbstbewußte und selbstbestimmte Ich des Gefangenen hat alle Hände voll zu tun. Es ist unklar, ob man die Orientierung behält. Kommt man ins Agieren, ins Flattern — was sehr nahe liegt und bezweckt wird —, ist der Zusammenbruch nahe. Das ist eine typische Situation für doppelte Bindung, doublebind, wo also eine positive und eine negative Information gekoppelt wird, um die Irritationen im Menschen herzustellen. Und verschiedene Leute benutzen verschiedene Rollen. Wieder vorsätzlich. Die Stasi hat ja Routine, denken Sie an die Zahl der politischen Gefangenen, an das Rumspitzeln in der Gesellschaft. Auch die Erfahrungen von GPU und Gestapo, die man — zumindest theoretisch — studieren konnte. Das sind also Interview-Techniken, Gesprächstechniken, das sind Interaktionstechniken, Kommunikationsstrukturen, über die es lange Aufsätze und Fachbücher gibt. Und die hier praktisch im Feld des Destruktiven, Aggressiven eingesetzt werden.

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Können Sie bitte nochmal schildern, was sich in dem Menschen tut, der vernommen wird?

Das ist für mich eine sehr wichtige Seite. Auch wenn ich daran denke, was zum Beispiel am Runden Tisch diskutiert wurde oder danach, wenn es um diesen Geheimdienst ging . . . verschiedene Abkürzungen tauchen auf, MfS und dann AfN . . . immer soll das "Dienst" heißen oder "Amt". Oder wenn ich mich erinnere, was Herr Modrow sagte, wie er über Vergütung sprach, über Renten und Gewerkschaft, über den "Beruf" dieser Stasimitarbeiter. Wie jetzt alles sachlich wird und bemüht durchgerechnet wird. Tarife und so weiter. Sie haben Millionen gequält, in Angst gehalten, auch keine freie Gewerkschaft zugelassen. Und jetzt das. Na gut, lassen wir uns darauf ein. Recht soll da sein, Gerechtigkeit. Aber auch kein faules oder verlegenes Einfach-Weitermachen. Auch nicht bei SED oder PDS oder sonstwem, ein wenig das Dissidentendeutsch annehmen und dann loslegen, das genügt nicht. Es gibt eine Geschichte, es gibt Fakten. Ich polemisiere vor allem gegen den mehr technischen Umgang mit dem Ganzen. Das ist auch ein vermeidender Umgang. "Ausgebürgert, abgeschoben? Na, dann stellen Sie wieder einen Antrag auf Staatsbürgerschaft, der wird dann geprüft", so hörte ich. Wir sollen einen Antrag stellen, der geprüft wird! Von wem denn, von denen, die uns rausgeekelt haben, von den alten Justiztätern, von Herrn Wünsche zum Beispiel? 

Versetzen wir uns nur mal ein paar Sekunden hinein in den, der da auf dem

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Stuhl hockte bei Vernehmungen, der "vernommen" wurde. 

Das kann ja Herr Modrow nicht leisten. Oder Herr Gysi. Auf diesem Stuhl saßen andere, nicht sie. Ich will nicht sagen, daß Modrow am Vernehmertisch saß. Aber er saß zum Beispiel in der Parteizentrale, welche den Druckknopf hatte in Richtung Staatssicherheit, Schwert der Partei nannte sie sich. Und darum hat er alles mitzuverantworten. Diese Herren in ihren gepflegten Anzügen mit dem Abzeichen. Sie sind nicht raus, sie waren nicht auf unserer Seite. Vielleicht wurden sie selbst auch bespitzelt vom "Schwert der Partei", möglich. Aber sie waren auf der anderen Seite. Wie sie jetzt sprechen, haben sie vorher nicht gesprochen. Sie haben anders gesprochen, sie gingen mit der Macht. Und jetzt versetzen wir uns einmal ein paar Sekunden in diesen Menschen auf dem Stuhl des Beschuldigten.

Wenn er ihre Tricks, ihre Techniken erlebt, dann entsteht Druck, Angst. Eine große Angst, teilweise un gerichtet. Ich habe von Schock gesprochen, von Trauma. Stellen Sie sich bitte vor, wenn der Vernehmer den Hörer des Telefons abnimmt, es hat geklingelt, und in die Muschel hineinsagt "aha, die Eltern auch". Ja, dann denkt der Häftling, die eigenen Eltern wurden verhaftet. Fragt er nach, bekommt er keine oder eine unklare Antwort. Damit geht er dann zurück in die Zelle. Dann wird er tagelang nicht geholt, er soll grübeln. 

Wenn sich herausstellt, die Eltern sind frei, könnte der Vernehmer lächelnd sagen: "Was Sie immer denken, nur das Schlechte ... es ging um einen Sprecher, man wollte Sie sehen, hat leider nicht geklappt ..." Infor-

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mationssperre, Haft, Isolation, dann, genau dosiert, solche Brocken. 

Das ist natürlich pervers, sadistisch. Ein Teil der Psycho­folter. Es gibt sehr viele Varianten. Man muß nicht prügeln, verstehen Sie. Psychologie eignet sich dazu glänzend. Und die Frage läßt sich dann zynisch stellen "War etwas?". Die Spuren sind ja "nur" innen, es wurde ja "nur" geredet usw. Wer andere Menschen so behandelt, wird natürlich dadurch geprägt. Es sollen sich ja "Erfolge" einstellen, dann kommt dieser Druck hinzu, sozusagen hausintern. Begegnet bin ich auch dem "anständigen" Vernehmer, der nach seiner Ansicht "nur im Dienst ist". Er wirkt abgeklärt, spart diese offen und emotional vorgetragen destruktiven Attacken aus oder überläßt sie anderen. Zusammen­fassend kann man sagen: Das ist ein Angst- und Schockfeld und hat Folgen.

Welche Folgen?

Ich konnte diese Folgen als Psychologe an Menschen sehen, die nach Westberlin kamen. Versuchte manchen von ihnen zu helfen, wenn ich darum gebeten wurde. Also sprechen, erst einmal mitteilen, das ist ein Bedürfnis, wenn man "raus" ist. Zuhörer finden, die wirklich zuhören, die Anteil nehmen, das Thema auch aushalten emotional. Da sieht man, was passiert ist, was angetan wurde. Auch an mir selbst konnte ich die Folgen sehen, also war das eine Selbsterfahrung. 

Es ist also immer mit einer Angst umzugehen, mit einer Restangst, Tag- und Nachtträume können kommen, wo die Gesichter wie-

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derkommen, wo die Situationen wiederkommen. 

Es gibt viele psychosomatische Erscheinungen, ungerichtetes Aufgeregt-Sein, Situationen, die einen irgendwie erinnern, wo dann diese gesamte Traumatisierung wieder hochkommt. Und eben die große chronische Gefahr, der chronische Alltag der Depression. Wenn man sich das vorstellt, die hier nur angetippten Symptome bedenkt — das strahlt in die Familien, die Gesellschaft hinein, der und der wurde abgeholt, da unten stehen die Stasi-PKWs und so weiter ... dann wird das Ausmaß klarer. Diese Macht, diese Gewalt, die im Geheimen tätig war, wurde natürlich auch manifest, wurde öffentlich vollzogen, fast möchte ich sagen: vorgeführt. Also ein Hausarrest bei Havemann wurde ja öffentlich vollzogen, da bittet man ja regelrecht die westlichen Kameras hinzu. Oder Menschen, die zum Beispiel aus der furchtbaren Frauen­haftanstalt Hoheneck herauskommen, die sind natürlich alle Träger einer Botschaft: Das machen die mit Menschen, heute, im 20. Jahrhundert, trotz aller KSZE-Vereinbarungen . . . Und das ist das, was die Untersuchungsausschüsse das Parlament, auch die Bürgerkomitees, unbedingt mitbesprechen müssen. Die Versorgung der Täter darf nicht an erster Stelle stehen. Am Runden Tisch sorgten die Bürgerinitiativen für die Nachfragen, ich denke an Ingrid Koppe. Auch wie sie es tat, was sie sagte, sehr beeindruckend. Natürlich sind die Täter, die wir hier so ansprechen müssen, in einer gewissen Hinsicht auch Opfer. Irgendwann wurden sie angeworben, irgendwann sind sie hineingekommen in diese Maschine. 

Einige von ihnen

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wollten vielleicht auch mal kritische Gedichte schreiben und sind dann eingekauft worden oder erschreckt worden und dann zur Mitarbeit bereit gemacht worden — ich habe es im Gedicht gezeigt. Da ist der Unterschied gar nicht so groß, das könnte man auch selbst sein.

Warum wird es der eine, der andere nicht?

Das ist natürlich eine Frage, die man überhaupt nicht flott beantworten kann. Also ich habe angedeutet in wenigen Sätzen, daß die humane Orientierung verlorenging. Dies kann aus unterschiedlichen Gründen erfolgen. Die Umstände spielen eine große Rolle. Mielkes Sohn kann einen zivilen Beruf ergreifen, ich glaube Arzt, er fuhr auch Autorennen mit dem Trabbi, und dann landet er doch bei seinem Verein, denunziert möglicherweise Kollegen, hat Privilegien und all das. "Hineingeboren" also. Immer auch gute Gründe obenauf: der Vater war Antifaschist und so weiter. An guten Gründen für böse Taten war nie Mangel. Und dann habe ich noch gesagt, wie es auch gehen kann, über Anwerbung, Erpressung, Vorteile, dann ist man "drin", kommt nie mehr raus. Man müßte auch mal über Alkohol sprechen, über Suizidrate, was die Ehefrauen sagten, Herzinfarkte und so weiter, das liegt ja noch im Dunkeln. Aber da deutet es sich schon an, das ist meine erste Antwort: Es handelt sich um Menschen, weder um Bestien noch um Supermänner oder Gerechte ganz und gar. Um Menschen. Wenn ich also die eigene humane Orientierung praktizieren will, dann

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ohne Zeigefinger. Wir lebte alle in der Nähe zu diesen Menschen, teilweise hätten wir sie selbst sein können. Also stellen Sie sich doch bitte die Situation mit dem Lehrer vor, die ich schilderte. Irgendeine andere Konstellation, vielleicht das Elternhaus ein bißchen anders, oder die Angst noch etwas schriller, oder der Mann hätte geschickter gesprochen oder die Bedrohung brutaler ... Und dann wird eröffnet: "Naja, dann müssen Sie vielleicht nicht zur Armee, das Studium bekommen Sie gleich, wenn Sie ab und zu mit uns kooperieren. Oder nach dem Studium wenigstens bereit sind, mit uns Gespräche zu führen." Das kann man sich auch in technischen Berufen vorstellen. Sehen Sie, dann ist der Unterschied gar nicht groß, die Verführungsmöglichkeit ist real da. Es lockt mitunter auch Macht, Geheimnis, Elite. Klare, sichere Erfolgswege, die Angst vor etwas ist weg, man gehört dazu. Oder schnelle Wagen, Westwaren, Überlegenheit. All das. Wir müssen ganz reale Aspekte berücksichtigen, nicht mal direkt unmoralische, halt sogenannte "menschliche". Wir sind keine Helden. Das beginnt das Rumschweigen, das bedeutungsvolle Kucken, all das Abtrennen und Verdeckt-Tun. Manchen gefällt das, James Bond und so weiter, Dr. Richard Sorge, diese Richtung ... Es gibt auch bei Solschenizyn, im "Archipel Gulag", Teil l, eine Stelle, wo er spricht von den Männern mit den blauen Litzen, die ihn aufsuchten, und ich glaube, er sagt sogar, nur zufällig bin ich nicht einer von ihnen geworden. Oder, fügt er hinzu, vielleicht war es doch die christliche Großmutter oder das andere, Sich-Wehrende, was einen dann doch bewahrte vor dieser Täterhaftigkeit.

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Die Beziehung Täter-Opfer, die Sie eben angesprochen haben — Sie würden nicht hart urteilen?

Wir müssen eine Situation der Wahrheit herstellen, des Ehrlich-Machens. Das ist für mich das Wichtige. Das betrifft beide Seiten, wenn das geht. Hier beginnt ja ein Betroffener zu sprechen und einer, der darüber nachgedacht hat. Der eine fachliche Beurteilung vornimmt, der auch einen fachlichen Vorwurf erhebt, den Mißbrauch der Psychologie. Wenn ich Kernphysiker wäre, müßte ich den Mißbrauch der Kernphysik in den Händen der Militärs als äußerst menschheitsgefährdend problematisieren. So problematisiere ich, als Betroffener und Psychologe, als Schriftsteller auch, der Öffentlichkeit herstellen will und muß, den Mißbrauch der Psychologie in den Händen der Geheimdienste — ich wähle bewußt den Plural. Nach meiner Ansicht müßte das viel intensiver besprochen werden. In welche psychische Verfassung Menschen gebracht wurden. Auch die "IM", die "inoffiziellen Mitarbeiter" der Stasi, Hunderttausende waren das ja. Stellen Sie sich diese soziale Problematik vor, dieses Anwerben, "Führen" durch Offiziere, bei der Stange halten, auf andere ansetzen, diese massenhafte Unaufrichtigkeit, das entstandene Mißtrauen, die Paranoia dazu, die Gründe hatte ... das Zerstören von Vertrauen, das Zersägen von Gruppen, von Freundschaften und Familien. Was für ein Vorgang! — Sie sagen "hart urteilen". In diesen modernen Diktaturen — wieder Plural — geht die Täter-Opfer-Relation ein wenig durcheinander. 

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Also immer ist jeder auch ein bißchen Täter mit. Sehen Sie sich diese DDR-Gesellschaft an. Wer hat denn da nicht auch geschwiegen, irgendwie mitgemacht? Ich möchte das für mich voll in Anspruch nehmen. Das ist ein Kernteil meiner Bücher, wie konnte das kommen? Wie kamst du in eine Uniform der Nationalen Volksarmee und was hat sich damit verbunden? Nun gut, ich habe dann rebelliert. Ich habe einiges dagegen getan. Aber die Fragestellung, was ist mit einem selber . . . das ist für mich die erste versuchte Antwort und Annäherung ans Thema. Das ist ein Teil der humanen Orientierung, diese Fragestellung, auf sich selbst bezogen, auszuhalten. Und dann erst nach den anderen fragen.

Das Zweite, was ich sagen würde: Wir sind immer partiell im Irrtum, d. h. wir haben nicht die Wahrheit gepachtet. Wir begegnen also an dieser Stelle einer ganz großen, sagen wir, historischen Aufgabe: das Erinnern brauchen wir. Wir brauchen es in Bezug auf die Nazizeit, und wir brauchen es in Bezug auf den Stalinismus. Beides wird jetzt fast nochmal vermischt und kommt zusammen. Und die Zugabe, die ich sehen würde, wir haben vorhin von Markus Wolf gesprochen, ich müßte auch Herrn Mielke ansprechen, Erich Honecker: Wir müssen die Auseinandersetzung führen mit dieser Väter-Generation, dieser Minderheit, die gegen die Nazis gekämpft hat. Sie bauten auf den neuen Staat und haben ihn stalinistisch organisiert. Sie waren Opfer und wurden Täter. Und das mit, ihre Reden dazu: Wir sind Antifaschisten, wir haben recht, wir saßen im Knast, nicht Filbinger und Globke. 

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Folgt uns, ihr jungen Deutschen. Und das ist natürlich eine ungeheure Problematik, wenn gerade diese Menschen, also teilweise Leitfiguren, ins Verbrechen führen. Das haben wir also nochmal zu besprechen am Ende dieses Jahrhunderts, nochmal im deutschen, europäischen Raum. Und das macht das Ganze nochmal so historisch kompliziert. Aber das war ja nur zum Teil unser Thema.

 

Wir haben einen sehr großen Bogen geschlagen. Ich möchte nochmal auf Ihre Verhaftung zurückkommen. Neun Monate U-Haft, von November '76 bis August '77. Sie haben auch gesagt, daß Sie diese Techniken selbst zu spüren bekommen haben. Hat es Ihnen geholfen, zu wissen, was da vorsichgeht?

Was mir half in dieser Situation des 19. November '76, als ich aus dem Wagen meines Freundes Havemann herausgeholt wurde ... wir wollten gerade nach Berlin reinfahren und helfen, für Wolf Biermann Solidarität herzustellen nach seiner Ausbürgerung . . . was mir geholfen hat, das waren schon Kenntnisse. Eigene negative Erfahrungen. In Jena Relegierung von der Uni, die Stasi vor dem Haus, auch die Armee-Zeit, das Leben als Rekrut, man kam nicht aus einer Idylle.

Warum wurden Sie überhaupt verhaftet?

Ich wurde verhaftet, "festgenommen" zuerst, "zur Klärung eines Sachverhalts". Dann sagte die Stasi "eine Anzeige liegt vor". Welche und von wem, wurde nicht

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gesagt. Dann war es "Staatsverleumdung". Man sagte: "Ihre Gedichte, Ihre Sachen da, diese Machwerke, das ist Staatsverleumdung". Der Vorwurf der "Gruppenbildung" wurde indirekt erhoben, man war sich wohl noch nicht ganz klar über die politische Richtung, wie der Prozeß laufen sollte . . . Also "Staatsverleumdung" war es zuerst, dann liefen die Verhöre für sie wohl nicht so gut, da wurde der Paragraph gewechselt, es war dann "staatsfeindliche Hetze", ein höheres Strafmaß also, dann Hetze im verschärften Falle, nochmal 'ne Steigerung. Das sind Druckformen, wenn sich der "Beschuldigte" nicht unterwirft. Bis zu zehn Jahren Knast, da waren wir angelangt. Als ich verhaftet wurde, kam ich nicht aus der guten Stube, wir hatten ja wirklich oppositionell gearbeitet, man mußte mit einigem rechnen. Wenn es passiert, ist dennoch ein Schock da. Etwas bäumt sich innen auf, will nicht gepackt werden. Dann das Zuriegeln, der Gedanke an das Kind, an die Frau, das ist schrecklich. Immer und für jeden. Da gibt es keine schnelle "Bewältigung". Das ist eben Leid, Terror, das tut sehr weh. Noch etwas: Ich hatte Armee hinter mir, den Druck dort, das Herumkommandieren. Es werden dann Methoden entwickelt, irgendwie durchzukommen. Man ist fähig zu einer Schutzmauer innen. Die hatte ich. Die hat mir geholfen bei der Verhaftung. Später in der therapeutischen Arbeit konnte ich merken, daß gerade bei Männern eine gewisse Rolle spielte, ob sie Kasernenhof kennenlernten oder nicht. Wohlgemerkt die untere Ebene, nicht Offizierskantinen oder sowas. Schütze Arsch im letzten Glied, zum Grundwehrdienst einberufen. 

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Wenn sie das nicht kannten und dann kam der Knast, da gerieten viele in hohe psychische Not. Man verkraftet die Kränkungen nicht, besonders am Anfang. Man ist verwundbarer, wenn man brutal, auch über Worte, attackiert wird.

Das andere: Ich habe nun eine längere Freundschaft gehabt mit Robert Havemann, der in der Todeszelle saß in Brandenburg bei den Nazis, und der noch wenige Wochen vor meiner Verhaftung, als wir die Ereignisse doch so fühlten, mehrfach mit mir gesprochen hat. Und der mir einen Rat gegeben hat, der mir sehr geholfen hat: Die Dinge ganz "von hinten" zu sehen, vom möglichen Ende her, aus der letzten Ebene.

Er sagte brutal: "Warum soll ich der einzige gewesen sein, der in der Todeszelle saß. Stell Dir vor, daß es also auch zu Ende sein kann. Und wenn Du Dich mit diesem letzten Gedanken vertraut machst und diese Angst überwindest, kommst Du umso schneller raus. Und vor allem rede nicht so viel mit ihnen." 

Gut, Sie können sich das Erschrecken vorstellen, wenn man solche Sätze hört. Aber in der Ernstsituation fühlte man dann, noch dazu, wenn man ein wenig Solschenizyn gelesen hatte, doch eine gewisse Fähigkeit, standzuhalten.

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Sie haben es dann aufgeschrieben in den "Vernehmungsprotokollen" — das Schreiben hat Ihnen geholfen?

Ja. Vor allem: In der Situation der Isolation, der Erniedrigung eine Distanz herzustellen. Ich bin im Gefängnis dann weiter meinem Beruf nachgegangen. Habe mir gesagt: Das ist ein wichtiger Bereich der Realität, den mußt du beschreiben. Du bist hier richtig. Das war natürlich eine Verschiebung, auch ein wenig ein Trick. Aber es war auch ernst gemeint. So habe ich die Lage angenommen, nicht hingenommen. Und hatte das Gefühl, etwas dagegen zu tun mit meinen Mitteln. Ihr Geheimnis kennenzulernen. Da war so ein Tisch. Ich hatte keine Schreiberlaubnis all die Monate, kein Papier, nix. Der Tisch hatte Kunststoffbelag, da konnte man mit Silberpapier Spuren hinterlassen, Schreibspuren. Da habe ich die "Vernehmungsprotokolle", die später bei Rowohlt kamen, im Gefängnis konzipiert und auswendig gelernt. Das hat funktioniert, nach der Haft habe ich sie innerhalb von wenigen Tagen aufgeschrieben. Es geschieht mit mir, aber ich bin nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt der Betrachtung. Das war eine recht produktive und rettende Haltung. Das, was dir geschieht, sagte ich mir, stößt vielen zu. Zeitgleich mit dir. Und in den Gefängnissen und Lagern vor deiner Zeit saßen Millionen. So überwand ich in guten Minuten das allzu große Mitleid mit mir selbst. Das kann einen ja umhauen, wenn man nichts entgegensetzt. Da ist dann auch Verrat nicht weit, wenn man um sich winselt und die Lage schnell — auf Rechnung anderer meist — verbessern will. Naja, und bei diesen Beobachtungen, beim Analysieren der Lage, auch bei der Selbstbeobachtung, da denkt man dann intensiv nach über die Methoden, die sie verwenden. Auch über die Psychowaffen. Das ist dann unser Thema.

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Herr Fuchs, aus Ihrer psychologischen Praxis heute — wie schwer haben es die Opfer, mit ihren seelischen Verletzungen fertigzuwerden? Gibt es eigentlich Unterschiede bei den Geschlechtern? Können die Männer es besser oder schlechter als die Frauen verkraften . . . oder ist das viel zu simpel gesehen?

Nein. Man müßte über jeden Teil Ihrer Frage nochmal länger gesondert sprechen. Ich will es erstmal mehr allgemein beantworten. In der Reaktion auf traumatische Situationen, auf Extremsituationen — so hat sie Bettelheim genannt — gibt es verschiedene Verhaltensweisen. Traumatisch kann ein Unfall sein, der Tod eines nahen Angehörigen, aber eben auch diese Art von Gefängnis, Haft, Verhör, Druckanwendung bis hin zur physischen oder psychischen Folter. Auf Extremsituationen treten allgemein bezeichnet drei Reaktionen auf. Die eine:

Menschen tun so, als sei nichts geschehen. Eine Abwehr. Ein Versuch, Realität, auch Gedanken und Gefühle, außer Kraft zu setzen. Die zweite Reaktion: Sehr große Niedergeschlagenheit, möglicherweise lange anhaltend, chronisch. Man "kommt nicht mehr heran" an diese Betroffenen, sie sind und bleiben — sagen wir vorerst, denn Rettung ist ja möglich — "fix und fertig", die Angst ist da, die Starre. Das wird ausgelebt, gefühlt ganz und gar. Ein Zerstört-Sein, ein Nie-wieder-wird-es-besser. Diese Reaktion, das vorgetragene und ausgetragene Leiden. Ja, und die dritte Reaktion wäre eigentlich dann die schwierige, anstrengende. 

Wo ich von einer gewissen Synthese sprechen würde: Das Leiden

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zulassen, das, was einem angetan wurde. Ehrlich-machen, darüber sprechen. 

Aber eben auch verbunden mit dem, wie es weitergehen könnte. Wo auch wieder ein Kontakt aufgenommen wird zur Umwelt. Vorausgesetzt natürlich, diese Umwelt ist mitfühlend, ist human, will diesen Kontakt auch aus eigenen Gründen. Wo also wieder eine Planung gemacht wird, wo Zukunft vorkommt, nicht nur traumatische, sondern auch selbstbestimmte, hellere Farben dazu . . . Man sieht nach hinten, bewahrt das, was passiert ist, flüchtet nicht vor der Vergangenheit, sieht aber auch in die Zukunft. Etwas Bewegung kommt hinein. Auch das wirkliche Präsent-Sein in der Gegenwart, wirklich "da" sein. Das gehört dazu. Es sagt sich so leicht. Vieles muß integriert werden. Auch ein Sinn, eine Aufgabe muß hinzukommen:

Ich möchte es anderen erklären, möchte Zeuge sein. Menschen, denen es ähnlich erging, möchte ich helfen. Die Täter dürfen nicht einfach davonkommen, die Ursachen und Strukturen, zum Beispiel der Stasi, müssen aufgedeckt werden. Dürfen nicht wiederkommen. Im Deutschen das Schreckliche: Nach der Gestapo die Stasi ... Reaktionsweisen habe ich genannt ...

Wenn Sie sie bewerten, dann ist die dritte .....

... ist sie die anzustrebende, ja. Es gibt ein sehr gutes Buch, einen sehr guten Aufsatz von Bruno Bettelheim, dem Kinderpsychologen. Bettelheim war selbst als Häftling in Buchenwald, emigrierte dann in die USA, arbeitete dort weiter mit emotional gestörten Kindern.

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Er hat auf dem Hintergrund seiner Erlebnisse und seiner psychologischen Arbeit das sehr gut analysiert. Für mich die tiefste Arbeit in diesem Zusammenhang. "Erziehung zum Überleben — Zur Psychologie der Extremsituation" bei DVA. Und als Taschenbuch bei Kindler "Aufstand gegen die Masse". Das Erlebte zu integrieren in die eigene Persönlichkeit, so schwer dies auch ist, dieser Weg. Weiterleben, wenn man die äußerste Grenze erlebt hat ... Viele DDR-Bürger haben die äußerste Grenze erlebt, berührt, ohne dies zu wissen. Ohne eine Klarheit, eine Reflektion darüber zu haben. Man mußte sich bloß diese Mauer ansehen in Berlin. Es wird ja viel beschwichtigt. Aber die Seele, das in uns, innen, dieses komische, zickige Ding, das läßt sich nicht beschwichtigen, das weiß schon Bescheid . . . Die äußerste Grenze und dann kommt der Alltag, auch das Banale, Entwertende, all das Gerede und Relativieren . . . Und die Grenze kann man als Betroffener, als Opfer und als Täter berühren bzw. ziehen. Das ist dann nochmal ein Unterschied. Und die Mischformen . . . Sich über all das klarzuwerden, ist schwer. Wenn auch notwendig, psychisch über-lebenswichtig.

Kann man das allein? Braucht man Hilfe?

Ich glaube, daß man doch immer auch andere Menschen erleben muß, die wenigstens zuhören oder darauf eingehen. Und eine gewisse Atmosphäre gehört dazu, wo Angst reduziert wird, wo weniger Angst ist. Man muß das nicht therapeutisch nennen. Stellen Sie sich

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bitte Bettelheim vor, als er nach Amerika kam, Anfang der vierziger Jahre, es war Krieg. Als er von Buchenwald sprach, glaubte man ihm nicht. Man dachte wahrscheinlich, der spinnt, übertreibt. Eine sehr große Situation der Einsamkeit. Stellen Sie sich bitte eine junge Frau vor, die aus Hoheneck kommt, dem berüchtigten Frauengefängnis. In Westberlin landet, in dieser Großstadt mit ihren ganz anderen Problemen. Die ist ja vollkommen allein. Gar nicht, weil die anderen bösartig sind, sondern es gibt eben diese getrennten Wirklichkeiten. Das ist ein Teil des Problems.

Sie fragten Männer — Frauen. Ich glaube, nach den Beobachtungen, die ich gemacht habe, daß Frauen doch mehr Leiden zeigen. Vielleicht auch leidensfähiger sind, aber das ist eine Hypothese. Bei Männern und Jungen — wir müßten auch die Familien einbeziehen, wo ja die Kinder immer ebenfalls traumatisiert wurden, wenn den Eltern etwas zustieß — habe ich häufiger die Reaktion gesehen: Es ist gar nichts, "ist was?" — dieser Ton. Dahinter stand natürlich meist noch etwas anderes. Diese Haltung ist nicht besonders stabil. Eine Krise kommt bestimmt. Aber das muß man sich alles richtig vergegenwärtigen, daß hier Langzeitfolgen da sind. Die Menschen, die sagen, ich habe Psychologie studiert, ich gehe jetzt hinein in solche Dienste, ich mache da mit, um "Erkenntnisse" zu gewinnen, um "rein helfend" tätig zu werden, andere machen das auch so in anderen Ländern. Sie müssen wissen: Getroffen werden Menschen an ihrer Gesundheit, an der Seele, am Körper. Und mit verheerender Langzeitwirkung. 

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Und es existiert auch ein Intergenerationseffekt, also die Traumatisierung wird weitergegeben an Kinder, die dann diese Symptome tragen und an die Gesellschaft weitergeben. Also in der deutschen Verrechnung haben wir nun diese beiden Kriege drin, wir haben die Täteranteile in Bezug auf die KZ's und die Vernichtung auch von anderen Menschen drin, in den Biografien, in den Seelen, in den Taten. Und das Heutige, die jüngere Vergangenheit: Ein- und Ausgrenzung, diese Grenze, Mauer, Einheitspartei, Lüge, Protzerei, Stasi ..... das ist eine ganze Menge.

 

Haben Sie denn auch einmal Stasi-Mitglieder, ehemalige muß man jetzt sagen, als Patienten erlebt, als Leidende?

Ja, ich habe welche erlebt. Als Menschen, die sich anvertrauten, übrigens schon in der DDR. Also Leute, die sagen, "sie haben mich angeworben", die zusammenbrachen, "ich will kein Spitzel sein, ich will das nicht aushalten" usw. Die vollkommen dekompensierten. 

Für die Umwelt ist es ja schwer, auf sie einzugehen. Die Frage taucht auf, ist das gespielt, ist es ein Trick. Das Vertrauen ist ja unter diesen Umständen beinahe umfassend zusammengebrochen zu Mitmenschen. Selbst im engsten Freundeskreis tauchen immer wieder Unsicherheiten auf. Die Stasi arbeitete ja "flächendeckend" als organisierter Vertrauens-Killer. Das ist auch eine sehr, sehr wichtige Seite: wenn in einer Gesellschaft massenhaft das Vertrauen zusammen­bricht. 

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Und Vertrauen ist das Kernstück der menschlichen Gesellschaft, der Beziehungen untereinander, der seelischen Gesundheit. Mißtrauen entsteht, von der anderen Seite betrachtet. Eine Atmosphäre der Ungewißheit, der Unsicherheit. Damit der Gewalt, der Willkürlichkeit. Familien und politische Freundeskreise haben da gegengesteuert, ja. Aber sie wissen selbst, wie mühsam das war. Deshalb müssen jetzt die Fakten heraus, die Akten. Nicht als Lynchjustiz, sondern als milde, human organisierte Vergewisserung, Klärung. Danach erst ist Verzeihen möglich, irgendeine Form der Normalität. Und wenn dann, ich kehre zurück, so ein Mitarbeiter kommt, ein "IM" vielleicht, ein "inoffizieller Mitarbeiter", die anderen kommen ja nicht, die haben Gehälter, die sind eine Sekte, die springen höchstens leise vom Balkon oder verschwinden auf die andere Seite, wieder in einen "Dienst" . . . Aber wenn solch ein Mensch kommt, dann ist fast immer großes Leid im Spiel, Erpressung, Schuldgefühle. Wir müssen uns durchaus Schicksale vorstellen. Ich plädiere jetzt nicht für verordnetes Mitleid, das wäre auch oberflächlich, in gewissem Sinne auch hochmütig. Und voreilig, denn einige Strukturen existieren bestimmt noch. Worauf ich hinweisen möchte: Das sind ja Leute, die neben uns auf der Schulbank saßen und an irgendwelchen Punkten erwischt wurden und hineingingen und dann diese Rollen annahmen. Manche kamen sich bestimmt nicht gut vor, das wird vorgekommen sein, andere wie der Liebe Gott. Sie konnten Schicksal spielen. Gehörten zu einem geheimen, recht mächtigen Orden. Vergünstigungen und so weiter. Überlegenheitsgefühle. 

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Was geht jetzt in ihnen vor? Wer gibt von denen schon freiwillig diese Heimlichkeit auf? Das war ja ihr Trumpf, mehrere Gesichter, nicht sagen, was man denkt. Da ist ja der ehrliche Mitbürger ein Tölpel, ein Wicht. "Du darfst nicht lügen, nicht falsch Zeugnis ablegen", die Bibel ist da out, wird verlacht. Wir machen, was wir wollen, diese Haltung liegt vor. Ändern auch die Realität. Nun erleben sie eine Enttäuschung, so geht es auch dem Neurotiker: Die Realität läßt sich auf Dauer nicht beherrschen. Andere Menschen mucken auf, wollen nicht bespitzelt werden immerzu. Dann entsteht ein Schrecken, vielleicht auch Schuldgefühle melden sich. Und dahinter wartet die Aggressivität. "Wartet nur". Rachephantasien wird es geben, Wut, Ohnmacht. Das sieht man auch gut in der ehemaligen Einheitspartei, dieses Hin und Her, keiner will sie mehr, Gysi als Guru, als Therapeut, um einen Restsinn zu bewahren, fährt er im Lande rum. Bilder der Ersten Sekretäre werden abgehängt, im ZK-Gebäude, in diesen langen, endlosen, langweiligen Gängen, rennen Leute vom Neuen Forum rum, sehen die unterschiedlichen Teppichböden und Gardinen, bei den "gewöhnlichen" Mitarbeitern so, bei den Fürsten in der 2. Etage besonders fein. Sehr, sehr peinlich alles. Wie soll das besprochen werden einigermaßen ausführlich? Jahrelang müßte man es benennen, die Gefühle dazu, die Fakten. Vierzig Jahre, was für eine lange Zeit! Aber wie schwierig auch immer: Äußerst dringlich brauchen wir eine Atmosphäre des Aussprechen-Könnens, es geht nicht nur technisch, Rentenansprüche, Paragraphen, einstellen oder rausschmeißen.

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Möglicherweise müssen sich hier auch Menschen begegnen. Es muß deutlich werden, worum es sich gehandelt hat. Öffentlich, möglichst ehrlich, mit Namen und Adresse. Diese Lüge muß weg, dieses Schummeln und Tricksen. Das wurde ja lange gelernt und praktiziert von fast allen, auch von den "Betroffenen". Kommt der Direktor ins Lehrerzimmer, werden die Gespräche belanglos weitergeführt von den Lehrerkollegen. Was dann die Schüler machen, kann man sich denken. Oder die Markus-Wolf-Argumentation: Es war eine falsche Sicherheitspolitik, meine Leute haben aber saubere Hände. So geht das nicht. Das ist das Persilscheingetue, der recht gewichtig vorgetragene Vorschlag, das Erinnern zu vermeiden, auch Gut und Böse, das es ja gibt, zu verwischen. Auch wenn, ich sprach darüber schon, tatsächlich öfters die Konturen verschwimmen. So war das Ganze ja angelegt. Und man hatte Zeit, das darf man nicht vergessen, Zeit und eine geschlossene Grenze. Ein ideales Terrain für Quälerei. Die Schuldfrage muß besprochen werden, es darf kein Ausweichen mehr geben. Wolf war stellvertretender Stasiminister!

Sehen Sie denn eine Chance für Ehrlichkeit?

Ich sehe einmal eine große Chance bei uns Betroffenen, daß wir das Schweigen überwinden. Daß wir auch ankommen gegen das ausweichende oder beschwichtigende Reden. Sehen Sie, wir haben von Angst gesprochen, man müßte in diesem Zusammenhang auch fragen: Wo sind die vielen politischen Gefangenen? 

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Zehntausende von politischen Gefangenen — wo sind sie? Viele sind im Westen, erst eingesperrt, dann abgeschoben oder rausgekauft. Es gibt Aufrufe, daß man jetzt gemeinsame Schritte unternimmt, z.B. um das politische Strafrecht sofort außer Kraft zu setzen. Um Zeugnis abzulegen, was geschehen ist, wie die Fakten der Repression waren. Es melden sich ganz wenige. Woran liegt das? Hier ist eine Atmosphäre der Angst, vielleicht der Vergeblichkeit. Oder des Mißtrauens. Oder des Wegdrückens in Private, Nicht-Öffentliche. 

Es könnte sein, daß diese Aufrufe nur wenige erreichen, z.B. weil nicht viele der Betroffenen Bücher von rororo-aktuell lesen, könnte sein. Aber da liegt ein weiteres Problem. Die Grenze ist offen, Begegnung ist möglich. Sie wird stattfinden. Voraussetzung ist eine völlige Entmachtung der Täter, es darf keine Schleichwege für heimliche Offiziere geben mit Biedermänner-Gesichtern, vielleicht noch an Schaltstellen oder im frisch gebackenen Management. Dazu noch eine vernünftige Verfassung, die Bundesrepublik hat ein gutes Grundgesetz . . . Da hätten wir die Grundlage, die Erfahrungen der DDR-Zeit dazu, vielleicht Paragraph 1 "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden". Günter Kunert schlug dies im Jahre '88 vor, als diese Luxemburg-Losung kriminalisiert wurde von Honecker, es gab häßliche, entlarvende Szenen ... Also Grundlagen müssen her, garantierte Bürgerrechte! Schwarz auf weiß und gültig in der Praxis, gültig, einklagbar! Aber ja nicht wieder anfangen mit "Diensten", vielleicht noch besetzt von Leuten, die vorher schon dabei waren beim "Schwert der Partei". Davon wird es abhängen. Ich war in der DDR, habe miterlebt, wie die Berichte aufgenommen wurden, die im Fernsehen kamen .....

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Sie waren in Gera, nicht?

Ja, in Gera, Saalfeld, im Süden meist. Da kam im Januar '90 die "Kontraste"-Sendung über die Stasi-Zentrale in Gera, wo zum Beispiel eine Frau gezeigt wurde, die aus dem militärischen Tor herauskam. Dann wurde gefragt: "Haben Sie irgendwie ein schlechtes Gewissen?" Und sie sagte lächelnd, forsch, im Vorbeigehen: "Nö, nö, ich habe kein schlechtes Gewissen, warum auch?" So redete sie. 

Der Ton dazu, das Schnippische, Überlegene . . . Und dann die Bilder, wo man sah, die sind noch da, die machen weiter, Autos stehen da rum. Da geraten die Menschen natürlich wieder in Panik. Das habe ich sehr intensiv vor Ort erlebt. Die Leute kamen teilweise aus den Häusern und sagten, hast du das gesehen, jetzt müssen wir uns irgendwie in Sicherheit bringen, die sind ja immer noch da ... Allein an diesen Reaktionen kann man sich mal vergegenwärtigen, was sich innen abspielt. Es gab dann Demonstrationen, sie bleiben gewaltfrei. Das muß man sich vorstellen, keine Provokation gelang, kein Durchdrehen kam vor! Eine enorme Leistung des gewaltfreien Widerstandes! Und erfolgreich, wie man sieht.

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Es gibt ja doch die erschreckende Meldung, daß in der ersten Woche des neuen Jahres 1990 vierzehntausend Übersiedler gekommen sind. Das sind täglich weit über eintausend Bürger, die ihre Heimat verlassen. Also, von Vertrauen kann ja wohl keine Rede sein.

Nein. Ich würde diese Nachrichten, diese Phase so bewerten: Viel ist aufgestaut, man will weg, hat es sich vielleicht lange vorgenommen, jetzt kann man es. Dann diese Stasi-Bilder, Koffer packen. Und noch etwas, die vierzig Jahre stecken drin, diese Betonzeit, fast nichts regt sich, immer wieder Rückschläge, fast immer sind "sie" stärker. Jetzt entscheide ich, sagt der Flüchtling, und geht weg. Außerdem liegt das Problem auch bei anderen Ländern an, Rumänien, Polen, Tschechoslowakei, es gibt dort auch viele Menschen, die aufbrechen, ihren Wohnort wechseln ...

Auch soviele — im Vergleich?

Nicht so viele. Man kann leichter wechseln als DDRler in die Bundesrepublik. Es gibt kein Sprachproblem, keinen Ärger mit Paß und Visum. Ich bin für offene Grenzen, verstehen Sie, keine neue Grenze nach Osten, vielleicht gegenüber Polen, das wäre schrecklich. Die DDR und Westdeutschland zusammen, die anderen sind raus: Wie soll ich meinen polnischen Freunden in die Augen sehen? Sie haben die Revolution in der DDR unterstützt, Solidarnosc hatte Vorbild-Charakter... Jetzt diese nationalen Stimmungen, "Polen kaufen zuviel bei Aldi" und so weiter... Was ist wirklich wichtig, das wäre zu bedenken: Freundschaft mit ande-

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ren Staaten, willkommen sollen sie sein. Und wenn es Probleme gibt, müssen sie gütlich gelöst werden, über Verhandlungen . . . Nach diesem Zuriegeln, dieser Mauer, da werden eben Menschen kommen, wenn es freier zugeht. Andere werden gehen. Mauer auf, Probleme weg? Nein, so bestimmt nicht. Es ist gut, daß die Grenze aufgemacht werden mußte im November. Das Neue Forum hat einen Schreck bekommen, einiges ging durcheinander. Sie hatten sich zu stark auf die vermeintlich eigene Region konzentriert und Pläne gemacht. So geht es nicht. Über ein, zwei Jahre wird es dieses Hin- und Hergehen geben, dieses Ausschwingen. Sonnenklar. Nur ja nicht wieder repressiv werden an dieser Stelle. Man kommt aus einer Internierung, im gewissen Sinne aus dem Knast. Ich kann das vergleichen, habe es erlebt, habe Inhaftierung erlebt und Westankunft. Nach Öffnung der Mauer, da fuhren ganze Brigaden, wahrscheinlich von der Arbeit weg ... die fuhren los nach Westberlin, mal kucken, mal probieren, ob es geht. Es ging! Da ist so eine Gruppe, eine junge Frau, die sagt: "Mensch, das ist alles so wunderbar, so unvorstellbar, jetzt fahre ich hier 'rum ..." Und dann sagt sie und kuckt die Kollegen an: "Wann kommt denn der Hammer?" Diese Reaktion, wann kommt denn der Hammer, das ist eigentlich ein ganz typisches Zeichen für Traumatisierung. Sicherheit — im Sinne von Schutz — ist noch nicht da, Staatssicherheit im Sinne von repressiver Übermacht war da. Tatsächlicher Schutz, Freiwilligkeit, Aufatmen, Vertrauen können erst durch eine neue Praxis kommen. 

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Auch durch Wiederholung. Heilpädagogisches Prinzip Wiederholung, ich möchte nicht pädagogisch werden, das war ja auch eine Krankheit, überall Belehrung ..... aber ich möchte es so nennen. Aus der DDR rauskommen, das heißt ja auch, in einem gewissen Sinne ein Irrenhaus verlassen, in dem sich Wärter und Direktoren schlimm verhielten. Und jetzt, wie in der U-Bahn, muß es mehrfach, wiederholt, immer wieder gut gehen, der Hammer darf nicht kommen, das Packen und Wegschaffen, das Erneut-Zuriegeln, das darf nicht passieren. Konflikte müssen sich als bewältigbar herausstellen außerhalb von Zugriff und Gewalt. Auch Sucht, Drogen und AIDS herrschen nicht total über uns, wir können etwas tun, können uns wehren. Das finde ich wichtig. Im Stasi-Trauma, ich wiederhole das, dürfen diese Dienste ihre Macht nicht behalten, ihr Geheimnis muß völlig gelüftet werden. Da kommt natürlich auch raus, was die vielfach gar nicht so unschuldige Bevölkerung beigetragen hat zum Wahnsinn. Sie hat eben mitgespitzelt, mitgespielt in einer gewissen Weise. Nicht alle, aber viele. Das prägt, das kompliziert das Ganze. Auch die lange Zeitdauer, vierzig Jahre! Dann noch der Terror ab 33, eine Lebenszeit. Generationen sind nötig, das aufzulösen, zu lockern. Viel demokratisches Bemühen muß es geben, auch ein erneutes Besprechen der Nazizeit. Denn es könnte ja auch sein, daß die älteren Deutschen jetzt eine völlige Bestätigung erhalten: Im Osten Mißwirtschaft, der deutsche Manager muß kommen, ohne ihn geht es nicht. Auch sehr peinlich, eine erneute und echte Verführungssituation. Die Wirtschaft ging ja mit Hitler. Jetzt kann der wirtschaftliche Erfolg nicht besprochen werden, ohne diese Seite zumindest im Gedächtnis zu behalten ...

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Wo sehen Sie derzeit die größte Gefahr für die DDR, auch mit Blick auf eine Wiedervereinigung? Würden Sie immer noch die DDR als Ihr Land bezeichnen?

Diese Landschaft, an der ich hänge, hat für mich einen besonderen Stellenwert, ja. Ich meine auch die Menschenlandschaft und das, was politisch umkämpft war. Wir wollten ja Demokratie erreichen, wir wollten die Diktatur niederkämpfen. Von innen, mit kulturellen, mit gewaltfreien, mit öffentlichen Mitteln. Als ich die ideologische Sperrlinie überschritt als Autor, wurde ich ausgegrenzt. Aber der Bezug blieb, die Freunde, der Arbeitszusammenhang. Dieser Teil des deutschen Volkes dort mußte auf eine andere Herausforderung antworten. Zuerst täterhaft verstrickt ins Dritte Reich, dann die Folgen des Krieges, die Teilung, die Erfahrung von Stalinismus, von Einheitspartei. Jetzt eine Revolution — und sie hat in diesem Teil stattgefunden! Die Westdeutschen waren ganz gut dabei, verfolgten alles, halfen auch, gaben Informationen, die Medien waren sehr wichtig. Aber doch war man etwas draußen, etwas Statist. Das aber, was wir besprechen, betrifft natürlich uns alle. Es gab eine gemeinsame Vergangenheit, dann getrennte Wege, es wird eine gemeinsame Zukunft geben. Aber der ganz persönliche Bezug, auch bei mir, bleibt bestehen. Nicht provinziell, nicht abwin-

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kend gegenüber anderen. Im Deutschen liegt ja allerhand drin: Jawoll und Zubefehl, dieses männliche Wehrmachtsdeutsch, es ist immer noch gut zu hören, und auch Lyrik von Sarah Kirsch, auch das. Ich spiele jetzt auf Deutsche Demokratische Republik an. Also deutsch traf zu. Aber es war schon eine Frechheit, sich "demokratische Republik" zu nennen und Stalinismus zu praktizieren. Die Bundesrepublik hat einen Vorsprung in demokratischer Praxis, das ist gar nicht schlecht. Hier können sich dann Dinge verrechnen, Defizite, wenn es nicht allzu selbstgerecht und nicht allzu bequem zurückgelehnt zugeht von westlicher Seite. Und nicht allzu devot oder fordernd von östlicher.

Wie kommt man zusammen?

Ich will jetzt nicht die staatliche, vertragliche Seite ansprechen, Verhandlungen mit den Großmächten und so weiter. Ich möchte die soziale, psychische Dimension ansprechen. Auf DDR-Seite Entmachtung der Diktatur, nicht wieder neue Schilder anmontieren, "Amt für Nationale Sicherheit" und so weiter. Wenn man den aggressiven Willen des Beharrens sieht, auch bei Leuten wie Wünsche, der ausgerechnet noch Justizminister ist . . . Vertrauen muß entstehen, auch durch erinnern, was habe ich gemacht, nicht nur die oben. Sicher, sie gaben die Befehle. Aber es waren eben nicht nur paar Einzelne, die jetzt im Rollstuhl herumgefahren werden wie Erich Honecker. Das ist auch eine unglaubliche Art des Abspaltens. Schnell Vertragsgemeinschaft machen, hinwegflippen ins Aktive.

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Herr Modrow hat diese sonnige, jungenhafte, eher unschuldige Ausstrahlung, das ist natürlich auch irreführend. Die Leute spüren das und sie haben Ängste. Und sie denken, ja, wenn es so flott geht, dann kann es auch flott wieder in eine andere — alte — Richtung gehen. Dann kommt der Hammer wieder. Wir benötigen also eine langfristige, demokratische Entwicklung, Freiwilligkeit, Reise- und Arbeitsmöglichkeiten. Leute an der Spitze, die gewählt sind. Es müssen keine idealen Exemplare sein, aber etwas ehrlicher, bescheidener dürfte es schon zugehen, wenn die nächste Wahl Änderungen bringen kann. Und viel Initiative von unten, Bürgerinitiativen! Als Regulativ, als Partner in Augenhöhe, auch als Gegner, falls dies nötig ist. Zusammen kann man nur kommen, wenn Streit möglich ist, der gute Folgen hat. Wenn ein Recht für alle gilt. Wenn Überlegenheit, zum Beispiel ökonomische, nicht ausgenutzt wird. Der im besseren Wagen ist nicht deshalb der bessere Mensch. Leistung ist viel, aber nicht alles. Es darf keine Einteilung der Menschen danach geben, die ihr Leben bestimmt, ganz und gar. Oder Haarschnitt oder Schuhgröße oder Hautfarbe, das sind keine Kriterien in einer Demokratie. Oder die Himmelsrichtung: Der oder die aus 'm Osten. Also streiten könne, Interessen vertreten, andere akzeptieren, Konflikte gemeinsam bewältigen: So kommt man zusammen. Natürlich bleibt es schwierig genug.

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Und Ihre Tendenz, Ihre Stimmungstendenz, Ihre persönliche?

Optimismus wäre ein falsches Wort ... Was mich enorm freut: Die Zeit dieses mechanischen, brutalen Stalinismus ist zu Ende. Neue Varianten von Gewaltpolitik können wieder auftreten, auch von rechts. Versuche kann es geben. Aber dieses monolithische "System" wurde zum Glück endlich überwunden. Über die sozialpsychische Misere haben wir gesprochen. Was ist alles ökologisch zu tun, was für eine Vernachlässigung! Das funktioniert natürlich nur mit einer Ökonomie, die nicht ins Leere läuft und die Umweltfragen aufgreift, das Decken der Dächer, das sinnvolle Beschäftigen von Arbeitnehmern zu gut ausgehandelten Tarifen ... Es ist ungeheuer viel zu tun, auch in den anderen Ländern des Warschauer Pakts. Einiges läßt sich gar nicht mehr retten. Ich denke an die Sowjetunion, was da ökologisch gesündigt wurde, Polen, die Ostsee ... Bitterfeld ... über das Ruhrgebiet müßten wir ebenfalls sprechen. Aber da wurde wenigstens schon etwas getan.

Haben Sie Hoffnung?

Ich habe Hoffnung. Ein- und Ausgrenzung wurde von unten, gewaltfrei, überwunden. Die stalinistische Tyrannis ist im Abgang ...

Sie haben von den zwei ungleichen Wirklichkeiten gesprochen, von der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Wenn die deutsche Einheit da ist, oder schon heute: Was geschieht, wenn diese ungleichen Wirklichkeiten aufeinandertreffen ?

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Es geschieht das, was jetzt zu beobachten war: Die Grenze ist auf, ein massenhaftes Zueinanderströmen setzt ein. Wir haben es in Berlin erlebt, wo sich Straßen wieder aufsuchten, wo ja die Bordsteine noch vorhanden waren . . . Wo die Menschen rannten, um dahinter zu kucken, um die Vollständigkeit der Wahrnehmung zusammenzubekommen. Das war ja ein krankmachender Umstand, Mauern, dahinter ein sehr naher versperrter Lebensbereich. Der noch dazu vorher zugänglich war. Und die Eingrenzung nicht bloß kurz, sondern über Jahrzehnte. Das ist ja kaum zu fassen. Und einer dieser verrannten Mauerbauer spricht dann noch von weiteren hundert Jahren! Und dieser Mensch saß selbst leidvoll hinter Gittern viele Jahre. Das ist vielleicht ein Teil der Erklärung. Die Vorstellung, Probleme, Konflikte werden eben so gelöst. Und zu merken war auch, daß dieses Zueinanderwollen nicht nur ein Phänomen von Ost nach West war, sondern Westberliner waren sehr sauer, als sie mitbekamen im November, wir können gar nicht so leicht rein wie die rüberkommen können. Es wurde immer noch eine Antragstellung verlangt, man mußte in die verhaßten Besucherbüros gehen und so weiter, was da hochkam, bei Ärmeren besonders. Dazu noch der Zwangsumtausch. Da konnte man merken, wie diese westberliner Bevölkerung unter Druck stand seit '61. Sicher, es gab Gewöhnung. Aber an diese Lage konnte man sich nicht gewöhnen. 

Und in diesen Augenblicken der Grenzöffnung: Was für ein Aufeinander-Zugehen, ein fast körperliches Nahekommen auch. In Westdeutschland ist es nochmal etwas an-

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ders, da sind die Grenzregionen nochmal anders, nicht eine zerschnittene Großstadt. 

Und dann die zweite Reaktion, die Katerstimmung. Wenn man sich sehr gefreut hat, ist der Kater nicht weit. Also wenn der Alltag wiederkommt, wenn das Hochgefühl schwindet, wenn sich nicht alles sofort geändert hat. Dann merkt man, daß sehr viel geschehen ist, daß es innen noch gar nicht gefaßt wurde. Daß es noch keine Normalität gibt, keinen Mittelpunkt. Deutsche Einheit, vorher das gemeinsame Geld, keine Kontrollen mehr, das wird ähnlich gehen. Himmelhochjauchzend, dann wieder Ernüchterung. Bei manchen auch Angst, Haß, weil Vertrautes verlorengeht. Weil der Wechsel der Zeiten und der Umstände immer auch Frustrationen mit sich bringt, erzwungene Orientierungsreaktionen. Auch den Zwang zu einer gewissen Anpassung. Das meine ich nicht politisch, da bin ich sehr für Opposition, für nicht angepaßtes Verhalten. Ich meine es jetzt vor allem psychosozial. Sehen Sie, wir mußten auch eine Adaption machen, als wir '77 rausgeschmissen wurden. Welche Wahl hatten wir. Dann etwas suchen, was Zusammenhang bewahrt, Kontinuität, bei mir war es das Fortsetzen der literarischen Arbeit. Oder das Rauskommen aus dem Knast, hier all das Bunte, den Alltag. Da wird man fast verrückt. Das ist nicht nur schön. Auch nicht für den, der mit solchen "Entsprungenen" zusammentrifft, die sind auch nervig.

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Arme Wessis...

... Ich meine das jetzt fast scherzhaft. Aber der Kern: Der eine war in Griechenland im Urlaub, der andere kommt aus Bautzen zwo. Die treffen aufeinander. Die müssen sich nicht verstehen. Das meine ich. Es gibt natürlich ganz viele Begegnungen, die harmonisch ausfallen, wo das Gefühl der Befreiung, der Nähe da ist. Aber nehmen wir mal noch ein Beispiel, das viele betrifft: Der eine fährt mit so einer kleinen Klapperkiste auf der Autobahn, er gibt Vollgas, will die 90 halten, unwahrscheinliche Motorgeräusche innen ... Und der andere fährt mit einem schönen, bequemen Wagen vorbei, gut gefedert, muß die 100 halten, könnte viel schneller sein. Das sind alltägliche Begegnungen auf den Transitautobahnen. Ich durfte bis '89 nicht Transit fahren, da fiel es mir dann sehr auf. Eine Alltagserfahrung. Der Westwagen fährt dann noch tolerant, überholt nicht zu rasant, fühlt mit, aber ich frage: Welche Gefühle entstehen da? Die kommen auch irgendwann hoch. Die Versorgungslage ist noch nicht gleich, der Verdienst. Die Erlebnisse sind ungleich, man saß in verschiedenen Wagen ...

... die Ansprüche ungleich ...

Ja, es werden höhere Ansprüche formuliert. Sofort einen Westwagen und alle immerzu überholen, das könnte eine Reaktion sein ...

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... Unfallgefahr ...

Ja, eben. Aber sehr verständlich. Dazu noch eine Verschuldung, es werden für diesen Kauf Kredite genommen ... Ganz schnell ein Defizit ausgleichen. Polen und andere leben schlechter ... Es ist ein Durchstarten. Verständlich, eine Verbesserung des Lebens wahrscheinlich, aber auch ein wenig traurig. Ein Riß entsteht zu denen, die vorher im gleichen Boot saßen, im gleichen Lager, nur in einer anderen Baracke. An sie muß ich jetzt denken. Daß auch bei ihnen demokratische Umwälzungen stattfinden bzw. stattgefunden haben, das tröstet mich ein wenig. Ich möchte diese Trennung nicht.

Gibt es Streit?

Ja, auch Streit. Auch Vorwurf. Es könnte gefragt werden von DDRlern: Wir hockten drin, hinter der Mauer. Oder drin im Trabbi, auf den wir jahrelang warten mußten. Jetzt kommen wir hier an. Euch geht es gut. Was habt ihr eigentlich gemacht, als es uns schlechter ging, als wir drinhockten? Dieses Hin-Her. Dabei kann völlig ausgeblendet werden, daß "im Westen" auch ein Alltag ist. Daß es Geburt und Tod, daß es Liebe und Haß, daß es Krankheiten gibt, Scheidungen, Sorge, Erfolg, Depressionen. Nicht nur allgemein "Probleme" oder negative soziale Fakten — neben positiven —, nein, daß das alles im einzelnen Menschen­leben existiert. Wo auch immer man lebt. Wie die Währung auch beschaffen sein mag. Das extreme Verhungern in der 3. Welt klammere ich bei dieser Argumentation einmal aus. Da leben wir hier alle im Paradies ... In den vielen Begegnungen, da wird all das eine Rolle spielen.

Ist es nicht für beide auch eine Chance, für beide?

Auf jeden Fall. Probleme, diesen Streit zu haben, das Euphorische und das Bittere dabei — das ist in jedem Fall besser als die Sicherheits­verwahrung, als dieses polizistische Regulieren des Umgangs miteinander. Mauer, Diktatur, Staatssicherheit, natürlich ist das auch eine Ordnungsvorstellung. Einige haben darin sicher auch Ruhe und Halt gefunden. Und nicht nur die Oberen. Aber was ist das für eine Ruhe, was für ein Halt? Dieser europäische Wind jetzt, diese Lebendigkeit, die kann uns natürlich nur gut tun. Nur, man darf sich nicht vorstellen, daß alles ganz schnell gut wird. Leben, auch psychisches Überleben in dieser Zeit, hat immer Anteile von Leid, von Trauer, von Schmerz. Nichts läßt sich davon trennen, auch nicht das Gute, das Offene. Aber der Terror muß nicht sein, die Gewalt, die Lüge in den menschlichen Beziehungen, von einem "System" hineingetragen und lange ausagiert. Das muß nicht sein. Davon kann man sich befreien.

 

Das Gespräch mit der Journalistin Ingrid Tourneau wurde in Auszügen vom RIAS gesendet am 14.1.1990

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