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Spengler

 

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Mit großer Bewunderung muß zum Schluß noch der Name Oswald Spenglers genannt werden, vielleicht des stärksten und farbigsten Denkers, der seit Nietzsche auf deutschem Boden erschienen ist. Man muß in der Weltliteratur schon sehr hoch hinaufsteigen, um Werke von einer so funkelnden und gefüllten Geistigkeit, einer so sieghaften psychologischen Hellsichtigkeit und einem so persönlichen und suggestiven Rhythmus des Tonfalls zu finden wie den "Untergang des Abendlandes". 

Was Spengler in seinen beiden Bänden gibt, sind die "Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte". Er sieht "statt des monotonen Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte" "das Phänomen einer Vielzahl mächtiger Kulturen". "Jede Kultur hat ihre eigenen Möglichkeiten des Ausdrucks, die erscheinen, reifen, verwelken und nie wiederkehren. Es gibt viele, im tiefsten Wesen völlig voneinander verschiedene Plastiken, Malereien, Mathematiken, Physiken, jede von begrenzter Lebensdauer, jede in sich selbst geschlossen, wie jede Pflanzenart ihre eigenen Blüten und Früchte, ihren eigenen Typus von Wachstum und Niedergang hat. Diese Kulturen, Lebewesen höchsten Ranges, wachsen in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf, wie die Blumen auf dem Felde." Kulturen sind Organismen; Kulturgeschichte ist ihre Biographie. 

Spengler konstatiert neun solche Kulturen: die babylonische, die ägyptische, die indische, die chinesische, die antike, die arabische, die mexikanische, die abendländische, die russische, die er abwechselnd beleuchtet, natürlich nicht mit gleichmäßiger Schärfe und Vollständigkeit, da wir ja über sie in sehr ungleichem Maße unterrichtet sind.

In dem Entwicklungsgang aller dieser Kulturen herrschen aber gewisse Parallelismen, und dies veranlaßt Spengler zur Einführung des Begriffs der "gleichzeitigen" Phänomene, worunter er geschichtliche Fakta versteht, "die, jedes in seiner Kultur, in genau derselben – relativen – Lage eintreten und also eine genau entsprechende Bedeutung haben". "Gleichzeitig" vollzieht sich zum Beispiel die Entstehung der Ionik und des Barock. Polygnot und Rembrandt, Polyklet und Bach, Sokrates und Voltaire sind "Zeitgenossen". 

Selbstverständlich herrscht aber auch innerhalb derselben Kultur auf jeder ihrer Entwicklungsstufen eine völlige Kongruenz aller ihrer Lebensäußerungen. So besteht zum Beispiel ein tiefer Zusammenhang der Form zwischen der Differentialrechnung und dem dynastischen Staatsprinzip Ludwigs des Vierzehnten, zwischen der antiken Polis und der euklidischen Geometrie, zwischen der Raumperspektive der abend­länd­ischen Ölmalerei und der Überwindung des Raumes durch Bahnen, Fernsprecher und Fernwaffen. An der Hand dieser und ähnlicher Leitprinzipien gelangt nun Spengler zu den geistvollsten und überraschendsten Entdeckungen. 

Das "protestantische Braun" der Holländer und das "atheistische Freilicht" der Manetschule, der "Weg" als das Ursymbol der ägyptischen Seele und die "Ebene" als das Leitmotiv des russischen Weltgefühls, die "magische" Kultur der Araber und die "faustische" Kultur des Abendlandes, die "zweite Religiosität", in der späte Kulturen ihre Jugendvorstellungen wiederbeleben, und die "Fellachen­religiosität", in der der Mensch wieder geschichtslos wird: das und noch vieles andere sind unvergeßliche Genieblitze, die für Augenblicke eine weite Nacht erhellen, unvergleichliche Funde und Treffer eines Geistes, der einen wahrhaft schöpferischen Blick für Analogien besitzt. Daß diesem Werk von den "Fachkreisen" mit einem läppischen Dünkel begegnet worden ist, der nur noch von der tauben Ahnungslosigkeit übertreffen wurde, mit der sie allen seinen Fragen und Antworten gegenüberstanden, wird niemand verwundern, der mit den Sitten und Denkweisen der Gelehrtenrepublik vertraut ist.

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Zivilisationshistorik 

 

Die Kulturgeschichtsschreibung ist selbst ein kulturgeschichtliches Phänomen, das die einzelnen von Spengler konstatierten Lebens­phasen der Kindheit, der Jugend, der Männlichkeit und des Greisentums durchzumachen hat.

In der Kindheit lebt der Mensch vegetativ, denkt nur an sich und seine nächsten Objekte, und deshalb schreibt er auf dieser Stufe noch gar keine Geschichte; im Jünglingsalter sieht er die Welt poetisch und konzipiert daher Geschichte in der Form der Dichtung; in der Reife der Männlichkeit erblickt er im Handeln Ziel und Sinn alles Daseins und schreibt politische Geschichte; und im Greisenalter beginnt er endlich zu verstehen: aber auf eine sehr lebensmüde und resignierte Art. Darum ist Spenglers Werk schon einfach durch seine Existenz der bündigste Beweis für die Richtigkeit seiner Geschichts­konstruktion. 

Das Endziel der abendländischen Entwicklung, wie Spengler sie sieht, ist die nervöse und disziplinierte Geistigkeit des Zivilisations­menschen, ist die illusionslose Tatsachenphilosophie, der Skeptizismus und Historizismus des Weltstädters, ist, mit einem Wort: Spengler. Dies ohne jeden bösen Nebensinn gesagt. Es ist zu allen Zeiten das gute Recht des Denkers gewesen, sich selbst zu beweisen; und je größer der Denker ist, desto gegründeter, selbstverständlicher, unentrinnbarer ist dieses sein Recht.

Aber: Spengler ist eben darin das Produkt seiner Zeit, daß er Atheist, Agnostiker, verkappter Materialist ist. Er fußt auf der Biologie, der Experimentalpsychologie, der feineren Statistik, ja der Mechanik. Er glaubt nicht an den Sinn des Universums, an das immanente Göttliche. 

Der "Untergang des Abendlandes" ist die hinreißende Fiktion eines Zivilisationsdenkers, der nicht mehr an Aufstieg glauben kann. Spengler ist der letzte, feinste, vergeistigtste Erbe des technischen Zeitalters und au fond der geistreichste Schüler Darwins und des gesamten englischen Sensualismus, bis in seine Umkehrungen dieser Lehren hinein, ja vielleicht gerade dort am stärksten. Deshalb sind nur seine historischen Schlüsse absolut zwingend, keineswegs seine philosophischen. 

Wenn sich zum Beispiel auf der letzten Seite seines Werks die Worte finden: "Die Zeit ist es, deren unerbittlicher Gang den flüchtigen Zufall Kultur auf diesem Planeten in den Zufall Mensch einbettet, eine Form, in welcher der Zufall Leben eine Zeitlang dahinströmt", so sind solche Behauptungen wahr und nicht wahr; wahr nämlich nur als Lebens­äußerungen einer bestimmten historischen Menschenvarietät:

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der heurigen, die Spengler als eines ihrer Exemplare, und zwar als eines ihrer leuchtendsten Exemplare vertritt; genau so wahr wie der Fetischismus der Naturvölker oder das ptolemäische Weltsystem der Antike.

 

Die fruchtbaren neuen Ideen stammen nie von einem Einzelnen, sondern immer von der Zeit. Es ist geradezu der Prüfstein ihres Wertes, daß sie von vielen gleichzeitig gedacht werden. Dies erkennt auch Spengler an, wenn er in der Vorrede seines Werkes sagt: "Ein Gedanke von historischer Notwendigkeit, ein Gedanke also, der nicht in eine Epoche fällt, sondern Epoche macht, ist nur in beschränktem Sinne das Eigentum dessen, dem seine Urheberschaft zuteil wird. Er gehört der ganzen Zeit; er ist im Denken aller unbewußt wirksam." 

Und in der Tat erschien fast an demselben Tag wie Spenglers erster Band ein merkwürdiges Buch des Schweizers C. H. Meray, das von der Feststellung ausging, daß jede Zivilisation ein in sich abgeschlossenes Ganzes, ein Lebewesen darstellt, ähnlich den vielzelligen Organismen. Und zwar finden wir das Gesetz: so viel Religionen, so viel Zivilisationen; die Religionen sind gleichsam die Nervenzentren der einzelnen Kulturen, die deren Lebenstätigkeit vereinheitlichen und regulieren. Ferner hat jede Zivilisation ihren eigenen Stil; auch dies hat seine Parallelerscheinung in der Zellenwelt, wo das Protoplasma ebenfalls immer eine spezifische Zusammensetzung hat: seine chemische Struktur, aus der man die Gattung jedes einzelnen Lebewesens sofort bestimmen kann.

An allen diesen Zivilisationen läßt sich nun beobachten, daß sie nach einer bestimmten Zeit, nämlich nach etwa zwei bis drei Jahrtausenden, sterben. Die ägyptische, die sumerische, die babylonische, die mykenische, die erst jüngst entdeckte minoische Kultur: alle diese sehr hohen und eigenartigen Kulturen brachten es nicht über diese Zeitspanne. Die Zivilisationen besitzen also, ganz wie die Organismen, eine bestimmte Lebensdauer, die sich wohl durch gewaltsame äußere Eingriffe verkürzen, aber auf keine Weise verlängern läßt. In einem solchen Zustand des Absterbens befindet sich unsere gegenwärtige Kultur. Mit Hilfe dieser sozusagen kulturphysiologischen Methode unternahm es der Verfasser Anfang 1918, nicht nur die Ursachen und den bisherigen Verlauf des Weltkriegs zu erklären, sondern auch seinen Ausgang und seine Folgen vorauszubestimmen, was ihm vollkommen gelang.

Selbstverständlich hat Spengler nicht bloß aus dem Zeitbewußtsein geschöpft, sondern sich auch seine Vorgänger: Hegel, Nietzsche, Taine, Lamprecht, Breysig zunutze gemacht. Dasselbe Recht nimmt auch die nachfolgende Darstellung für sich in Anspruch, nur daß sie in der beneidenswerten Lage war, auch schon Spengler mit abschreiben zu können.

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Pro domo 

Damit sind wir im Gange unserer historischen Skizze zu dem jüngsten kulturhistorischen Versuch gelangt, nämlich zu unserem eigenen. Hier mögen nun noch einige kurze allgemeine Bemerkungen gestattet sein.

Will in Deutschland jemand etwas öffentlich sagen, so entwickelt sich im Publikum sogleich Mißtrauen in mehrfacher Richtung : zunächst, ob dieser Mensch überhaupt das Recht habe, mitzureden, ob er "kompetent" sei, sodann, ob seine Darlegungen nicht Widersprüche und Ungereimtheiten enthalten, und schließlich, ob es nicht etwa schon ein anderer vor ihm gesagt habe. Es handelt sich, mit drei Worten, um die Frage des Dilettantismus, der Paradoxie und des Plagiats.

 

Der berufene Dilettant

Was den Dilettantismus anlangt, so muß man sich klarmachen, daß allen menschlichen Betätigungen nur so lange eine wirkliche Lebenskraft innewohnt, als sie von Dilettanten ausgeübt werden. Nur der Dilettant, der mit Recht auch Liebhaber, Amateur genannt wird, hat eine wirklich menschliche Beziehung zu seinen Gegenständen, nur beim Dilettanten decken sich Mensch und Beruf; und darum strömt bei ihm der ganze Mensch in seine Tätigkeit und sättigt sie mit seinem ganzen Wesen, während umgekehrt allen Dingen, die berufsmäßig betrieben werden, etwas im übeln Sinne Dilettantisches anhaftet: irgendeine Einseitigkeit, Beschränktheit, Subjektivität, ein zu enger Gesichtswinkel. Der Fachmann steht immer zu sehr in seinem Berufskreise, er ist daher fast nie in der Lage, eine wirkliche Revolution hervorzurufen: er kennt die Tradition zu genau und hat daher, ob er will oder nicht, zu viel Respekt vor ihr.

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Auch weiß er zu viel Einzelheiten, um die Dinge noch einfach genug sehen zu können, und gerade damit fehlt ihm die erste Bedingung fruchtbaren Denkens. Die ganze Geschichte der Wissenschaften ist daher ein fortlaufendes Beispiel für den Wert des Dilettantismus. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie verdanken wir einem Bierbrauer namens Joule. Fraunhofer war Glasschleifer, Faraday Buchbinder. Goethe entdeckte den Zwischenknochen, Pfarrer Mendel sein grundlegendes Bastardierungsgesetz. Der Herzog von Meiningen, ein in der Regiekunst dilettierender Fürst, ist der Schöpfer eines neuen Theaterstils, und Prießnitz, ein in der Heilkunst dilettierender Bauer, der Schöpfer einer neuen Therapie. Dies sind bloß Beispiele aus dem neunzehnten Jahrhundert, und gewiß nur ein kleiner Bruchteil.

Der Mut, über Zusammenhänge zu reden, die man nicht vollständig kennt, über Tatsachen zu berichten, die man nicht genau beobachtet hat, Vorgänge zu schildern, über die man nichts ganz Zuverlässiges wissen kann, kurz: Dinge zu sagen, von denen sich höchstens beweisen läßt, daß sie falsch sind, dieser Mut ist die Voraussetzung aller Produktivität, vor allem jeder philo­sophischen und künstlerischen oder auch nur mit Kunst und Philosophie entfernt verwandten.

Was aber im Speziellen die Kulturgeschichte betrifft, so ist es schlechterdings unmöglich, sie anders als dilettantisch zu behandeln. Denn man hat als Historiker offenbar nur die Wahl, entweder über ein Gebiet seriös, maßgebend und authentisch zu schreiben, zum Beispiel über die württembergischen Stadtfehden in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts oder über den Stammbaum der Margareta Maultasch oder, wie der Staatsstipendiat der Kulturgeschichte Doktor Jörgen Tesman, über die brabantische Hausindustrie im Mittelalter, oder mehrere, womöglich alle Gebiete vergleichend zusammenzufassen, aber auf eine sehr leichtfertige, ungenaue und dubiose Weise. Eine Universalgeschichte läßt sich nur zusammensetzen aus einer möglichst großen Anzahl von dilettantischen Untersuchungen, inkompetenten Urteilen, mangelhaften Informationen.

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Die unvermeidliche Paradoxie

Über die Frage der Paradoxie können wir uns ebenso kurz fassen. Zunächst liegt es im Schicksal jeder sogenannten "Wahrheit", daß sie den Weg zurücklegen muß, der von der Paradoxie zum Gemeinplatz führt. Sie war gestern noch absurd und wird morgen trivial sein. Man steht also vor der traurigen Alternative, entweder die kommenden Wahrheiten verkünden zu müssen und für eine Art Scharlatan und Halbnarr zu gelten, oder die arrivierten Wahrheiten wiederholen zu müssen und für einen langweiligen Breittreter von Selbstverständlichkeiten gehalten zu werden, sich entweder lästig oder überflüssig zu machen. Ein Drittes gibt es offenbar nicht.

Ferner wird man bemerken, daß gerade die größten Menschen gezwungen sind, sich fortwährend zu widersprechen. Sie sind ein Nährboden für mehr als eine Wahrheit; alles Lebendige findet in ihnen seinen Humus. Daher sind die Gewächse, die sie hervorbringen, vielartig, verschiedenfach und bisweilen ganz entgegengesetzter Natur. Sie sind zu objektiv, zu reich, zu verständig, um nur eine Ansicht über dieselbe Sache zu haben. Aber nicht bloß das Säkulargehirn, sondern jeder denkende Mensch ist genötigt, sich gelegentlich selbst zu widerlegen. Deshalb hat Emerson gesagt:

"Sprich heute aus, was du heute denkst, und verkünde morgen ebenso unbekümmert, was du morgen denkst, auch wenn es dem, was du am Tage vorher gesagt hast, in jedem Punkte widerspricht. Konsequenz ist ein Kobold, der in engen Köpfen spukt."

Dasselbe meinte Goethe, als er zu Eckermann sagte, die Wahrheit sei einem Diamanten zu vergleichen, dessen Strahlen nicht nach einer Seite gehen, sondern nach vielen, und Baudelaire, als er an Philoxene Royer schrieb: »Unter den Rechten, von denen man in der letzten Zeit gesprochen hat, hat man eines vergessen, an dessen Nachweis jedermann interessiert ist: das Recht, sich zu widersprechen."

Die Sache geht aber noch tiefer. Der Widerspruch ist nämlich ganz einfach die Form, und zwar die notwendige Form, in der sich unser ganzes Denken bewegt. Das, was man die "Wahrheit" über irgendeine Sache nennen könnte, ist nämlich weder die Behauptung A noch die kontradiktorische Behauptung non-A, sondern die zusammenfassende und gewissermaßen auf einer höheren geistigen Spiralebene gelegene Einheit aus diesen beiden einander widersprechenden Urteilen.

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Die ganze geistige Entwicklungsgeschichte der Menschheit ist ein solches Ringen um jene wahren Mittel­begriffe, in denen zwei einseitige und daher falsche Betrachtungsarten der Wirklichkeit ihre harmonische Lösung finden. Bekanntlich hat Hegel auf dieser Erkenntnis ein weitläufiges Philosophiegebäude errichtet, in dem er an alles und jegliches mit seinem ebenso einfachen wie fruchtbaren Schema: These – Antithese – Synthese herantrat, und es ist der bezwingenden Macht dieser weisen und tiefsinnigen Entdeckung zuzuschreiben, daß das hegelsche System ein halbes Jahrhundert lang eine fast absolutistische Herrschaft über alle Kulturgebiete ausübte und alle geistig Schaffenden, ob es Physiker oder Metaphysiker, Künstler oder Juristen, Hofprediger oder Arbeiterführer waren, sozusagen im hegelschen Dialekt sprachen.

Und in einer populäreren, aber nicht minder treffenden Form findet sich der Extrakt dieser Philosophie in einer Anekdote ausgesprochen, die von Ibsen erzählt wird. Dieser sprach einmal in einer Gesellschaft begeistert von Bismarck, als einer der Anwesenden ihn fragte, wie ein so fanatischer Vorkämpfer der Freiheit des Individuums sich für einen Mann erwärmen könne, der doch seiner ganzen Weltanschauung nach ein Konservativer, also ein Anhänger der Unterdrückung fremder Individualitäten sei. Daraufhin blickte Ibsen dem Frager lächelnd ins Gesicht und antwortete: "Ja, haben Sie denn noch nie bemerkt, daß bei jedem Gedanken, wenn man ihn zu Ende denkt, das Gegenteil herauskommt?"

 

Der legitime Plagiator 

Was nun zum Schluß noch die Frage des Plagiats anlangt, so ist das Geschrei über geistige Entwendungen eines der über­flüssigsten Geschäfte von der Welt. Jedes Plagiat richtet sich nämlich von selbst. Auf ihm ruht der Fluch, der jedes gestohlene Gut zu einem freudlosen Besitz macht, sei es nun geistiger oder materieller Natur. Es erfüllt den Dieb mit einer Unsicherheit und Befangenheit, die man ihm auf hundert Schritte anmerkt. Die Natur gestattet keine unehrlichen Geschäfte. Wir können immer nur unsere eigenen Gedanken wirklich in Bewegung setzen, weil nur diese unsere Organe sind. 

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Eine Idee, die nicht uns, sondern einem andern gehört, können wir nicht handhaben, sie wird uns abwerfen, wie das Pferd den fremden Reiter, sie ist wie eine Schmuckkassette, deren Vexierschloß man nicht kennt, wie ein Paß, der fremde Länder öffnet, aber nur dem, dessen Bild und Namenszug er trägt. Man lasse daher die Menschen an geistigem Eigentum nur ruhig zusammenstehlen, was sie erwischen können, denn niemand anders wird den Schaden davon haben als sie selbst, die ihre schöne Zeit an etwas völlig Hoffnungsloses vergeudet haben.

Es gibt aber auch unbewußte Plagiate oder richtiger gesagt: Plagiate, die mit gutem Gewissen begangen werden, so wie man etwa jeden Händler einen Dieb mit gutem Gewissen nennen könnte. Es läßt sich bezweifeln, ob der Proudhonsche Satz "La propriete c'est le vol" auf wirtschaftlichem Gebiet so ganz richtig ist; auf geistigem Gebiet gilt er aber ganz zweifellos. Denn, genau genommen, besteht die ganze Weltliteratur aus lauter Plagiaten. Das Aufspüren von Quellen, sagt Goethe zu Eckermann, sei "sehr lächerlich". 

"Man könnte ebensogut einen wohlgenährten Mann nach den Ochsen, Schafen und Schweinen fragen, die er gegessen und die ihm Kräfte gegeben. Wir bringen wohl Fähigkeiten mit, aber unsere Entwicklung verdanken wir tausend Einwirkungen einer großen Welt, aus der wir uns aneignen, was wir können und was uns gemäß ist ... Die Hauptsache ist, daß man eine Seele habe, die das Wahre hebt und die es aufnimmt, wo sie es findet. Überhaupt ist die Welt jetzt so alt, und es haben seit Jahrtausenden so viele bedeutende Menschen gelebt und gedacht, daß wenig Neues mehr zu finden und zu sagen ist. Meine Farbenlehre ist auch nicht durchaus neu. Plato, Lionardo da Vinci und viele andere Treffliche haben im einzelnen vor mir dasselbige gefunden und gedacht; aber daß ich es auch fand, daß ich es wieder sagte und daß ich dafür strebte, in einer konfusen Welt dem Wahren wieder Eingang zu verschaffen, das ist mein Verdienst." 

Und das war von Goethe sicher ein besonders großes Zugeständnis, denn er war bekanntlich auf nichts stolzer als auf seine Farbenlehre.

Die ganze Geistesgeschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Diebstählen. Alexander bestiehlt Philipp, Augustinus bestiehlt Paulus, Giotto bestiehlt Cimabue, Schiller bestiehlt Shakespeare, Schopen­hauer bestiehlt Kant. Und wenn einmal eine Stagnation eintritt, so liegt der Grund immer darin, daß zu wenig gestohlen wird.

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Im Mittelalter wurden nur die Kirchenväter und Aristoteles bestohlen: das war zu wenig. In der Renaissance wurde alles zusammengestohlen, was an Literaturresten vorhanden war: daher der ungeheure geistige Auftrieb, der damals die europäische Menschheit erfaßte. Und wenn ein großer Künstler oder Denker sich nicht durchsetzen kann, so liegt das immer daran, daß er zu wenig Diebe findet. Sokrates hatte das seltene Glück, in Plato einen ganz skrupellosen Dieb zu finden, der sein Handwerk von Grund aus verstand: ohne Plato wäre er unbekannt. Die Frage der Priorität ist von großem Interesse bei Luftreinigern, Schnellkochern und Taschenfeuerzeugen, aber auf geistigem Gebiet ist sie ohne jede Bedeutung. Denn, wie wir schon bei Spengler hervorhoben, die guten Gedanken, die lebensfähigen und fruchtbaren, sind niemals von einem Einzelnen ausgeheckt, sondern immer das Werk des Kollektivbewußtseins eines ganzen Zeitalters. Es handelt sich darum, wer sie am schärfsten formuliert, am klarsten durchleuchtet, am weitesten in ihren möglichen Anwendungen verfolgt hat.

"Im Grunde", sagt Goethe, "sind wir alle Kollektivwesen, wir mögen uns stellen, wie wir wollen. Denn wie weniges haben und sind wir, das wir im reinsten Sinne unser Eigentum nennen! ... Ich verdanke meine Werke keineswegs meiner eigenen Weisheit allein, sondern Tausenden von Dingen und Personen außer mir, die mir dazu das Material boten. Es kamen Narren und Weise, helle Köpfe und bornierte, Kindheit und Jugend wie das reife Alter: alle sagten mir, wie es ihnen zu Sinn sei, was sie dachten, wie sie lebten und wirkten und welche Erfahrungen sie sich gesammelt, und ich hatte weiter nichts zu tun als zuzugreifen und das zu ernten, was andere für mich gesäet hatten."

Bekanntlich hat ja auch Shakespeare im "Julius Cäsar" den Plutarch wörtlich abgeschrieben. Manche bedauern, daß dadurch ein häßlicher Fleck auf den großen Dichter falle. Andere sind toleranter und sagen: ein Shakespeare durfte sich das erlauben! Beiden ist jedoch zu erwidern: wenn man von Shakespeare nichts wüßte als dies, so würde dies allein ihn schon als echten Dichter kennzeichnen. Es ist wahr: große Dichter sind oft originell; aber nur, wenn sie müssen.

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Sie haben nie den Willen zur Originalität: den haben die Literaten. Ein Dichter ist ein Mensch, der sieht und sehen kann, weiter nichts. Und er freut sich, wenn er einmal ganz ohne Einschränkung seinem eigentlichen Beruf obliegen kann:  dem des Abschreibens. Wenn Shakespeare den Plutarch abschrieb, so tat er es nicht, obgleich er ein Dichter war, sondern weil er ein Dichter war. Das Genie hat eine leidenschaftliche Liebe zum Guten, Wertvollen; es sucht nichts als dieses. Hat schon ein anderer die Wahrheit, zum Beispiel Plutarch, wozu sich auch nur einen Schritt weit von ihm entfernen? Was könnte dabei herauskommen? Es bestünde die Gefahr, eine Wahrheit, die minder groß und wahr wäre, an die Stelle der alten zu setzen, und diese Gefahr fürchtet das Genie mehr als den Verlust seiner Originalität. Lieber schreibt es ab. Lieber ist es ein Plagiator.

 

Pathologische und physiologische Originalität

Pascal sagt einmal in den Pensées

"Gewisse Schriftsteller sagen von ihren Werken immer: <Mein Buch, mein Kommentar, meine Geschichte>. Das erinnert an jene braven Spießer, die bei jeder Gelegenheit <mein Haus> sagen. Es wäre besser, wenn sie sagten: unser Buch, unser Kommentar, unsere Geschichte; wenn man bedenkt, daß das Gute darin mehr von andern ist als von ihnen."

Wir sind schließlich alle nur Plagiatoren des Weltgeists, Sekretäre, die sein Diktat niederschreiben; die einen passen besser auf, die anderen schlechter: das ist vielleicht der ganze Unterschied. Aber Pascal ergänzt seine Bemerkung durch eine andere: 

"Manche Leser wollen, daß ein Autor niemals über Dinge spreche, von denen schon andere gesprochen haben. Tut er es, so werfen sie ihm vor, er sage nichts Neues. Beim Ballspielen benutzt der eine genau denselben Ball wie der andere; aber der eine wirft ihn besser. Man könnte einem Autor gerade so gut vorwerfen, daß er sich der alten Worte bediene: als ob dieselben Gedanken in veränderter Anordnung nicht einen andern geistigen Organismus bildeten, genau so, wie die Worte in veränderter Anordnung andere Gedanken bilden." 

Die Unoriginalität liegt eben meistens im Leser. Die Bemerkung: "Das ist mir nichts Neues, das habe ich schon irgendwo gehört", wird man am häufigsten im Munde untalentierter, unkünstlerischer, unproduktiver Menschen hören.

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Der begabte Mensch hingegen weiß, daß er nichts "schon irgendwo gehört hat" und daß alles neu ist. Der Europäer glaubt, daß alle Neger dieselben Gesichter hätten, weil er von Negergesichtern nichts versteht. Und der Philister glaubt, daß alle Menschen dieselbe geistige Physiognomie hätten, weil er von geistigen Physiognomien nichts versteht. "Die, so niemals selbst denken", sagt Kant in seinen 'Prolegomena', "besitzen dennoch die Scharfsichtigkeit, alles, nachdem es ihnen gezeigt worden, in demjenigen, was sonst schon gesagt worden, aufzuspähen, wo es doch vorher niemand sehen konnte."

Materiell neu ist im Grunde nichts; neu ist immer nur das Wechselspiel der geistigen Kräfte. Ja man kann den letzten Schritt tun und sagen: jeder Vollsinnige ist ununterbrochen gezwungen, zu plagiieren. Das wohlgeordnete, wohlabgegrenzte Reich der Wahrheit ist klein. Unermeßlich und bodenlos ist nur die Wildnis der Torheiten und Irrtümer, der Schrullen und Idiotismen. Gegen Leute, die etwas ganz Neues sagen, soll man mißtrauisch sein; denn es ist fast immer eine Lüge. Es gibt eine doppelte Originalität: eine gute und eine schlechte. Originell ist jeder neue Organismus: diese physiologische Originalität ist wertvoll und fruchtbar. Daneben existiert aber auch noch eine pathologische Originalität, und die hat gar keinen Wert und gar keine Lebensfähigkeit, obgleich sie vielfach als die einzige und echte Originalität gilt. Es ist die Originalität des Riesenfettkinds und des Kalbs mit zwei Köpfen.

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Kurz nachdem ich diese kleine Schlußbetrachtung aufgezeichnet hatte, fiel mir ein alter Band der Wochenschrift "Die Zeit" in die Hand, worin ich einen Aufsatz von Hermann Bahr über "Plagiate" vorfand, der mit dem Satz schließt: 

"Nehmen wir dem Künstler das Recht, das Schöne darzustellen, wie er es fühlt, unbekümmert, ob es schon einmal dargestellt worden ist oder nicht, und dem Kenner das Recht, nach dem Wahren zu trachten, ob es nun alt oder neu ist, und lassen wir bloß das gelten, was noch nicht dagewesen ist, dann machen wir allen Extravaganzen die Türe auf und der größte Narr wird uns der liebste Autor sein." 

Man könnte hier an irgendeinen zufälligen "Parallelismus" denken; so aber verhält es sich nicht. Sondern ich habe, als leidenschaftlicher Leser Hermann Bahrs, der ich schon immer war, diesen Satz offenbar als Gymnasiast in der "Zeit" gelesen und jetzt ist er wieder aus meinem Unterbewußtsein nach oben gestiegen. Woraus erhellt, daß man selbst über Plagiate nichts anderes sagen kann als Plagiate.

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Ende der Einleitung

 

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