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1. Ursprung und Ende des neuzeitlichen Fortschrittsbegriffs

Fetscher-1985

 

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Glück würde - unter anderem - auch bedeuten: in der Gegenwart zu leben, am Dasein sich zu freuen, weder zurückblicken zu müssen noch voraus. Nach solchem Glück sehnen sich Menschen gerade in unserer Welt, deren Vorstellung von Glück und Lebenssinn seit Jahrhunderten — ja vielleicht seit der Rezeption des Christentums — nach vorwärts, auf das Jenseits — zumindest auf ein Jenseits der bestehenden gesellschaftlichen oder persönlichen Verhältnisse — gerichtet ist.

Psychologisch gesehen ist es doch wohl so, daß nur der sein »Glück«, seinen »Lebenssinn« in der mehr oder minder fernen, erhofften, ersehnten, erwarteten Zukunft sucht, der es in der Gegenwart nicht finden kann. Die große Erwartung des Neuen, Anderen, Besseren durchzieht vor allem unglückliche Zeiten und leidende Bevölkerungsschichten. Sie bildet die Grundstimmung der Spätantike, auf deren Hintergrund der Siegeszug des Christentums und seiner Parusie-Erwartung verständlich wird.

Der klassische Polisbürger — freilich nicht die Unterschicht mit ihren Sklaven und Metöken — erfuhr Lebenssinn, Daseinserfüllung und Glück in seiner Existenz als Polites, der mithandelnd, -redend und -entscheidend das Schicksal seiner Stadt bestimmt. Eingebettet in eine Ordnung, die zwar durch Wechsel und Kreisläufe bestimmt wird, deren letzter und höchster am Himmel sich vollzieht, deren Fundamente aber fest sind wie der Fixsternhimmel und die — in allem Wechsel — Dauer und Beständigkeit verheißt.

Dauer und Beständigkeit der Kreisläufe werden als Garantie gegenwärtigen Glücks oder doch erfüllten Lebens verstanden — nicht, wie am Ende der Antike es Augustinus aussprechen wird, als »trostlos«. Nur dem müssen die Kreisläufe des irdischen und himmlischen Geschehens als trostlos erscheinen, der Trost von der andersartigen Zukunft erwartet, weil er in diesem Kreislauf stets leidend und unten blieb.

Fortschrittshoffnung und Zukunftsgerichtetheit sind aus dem Leiden geboren, aus der Unzufriedenheit, der bewußt gewordenen Hinfälligkeit und Armut des Daseins. — Vielleicht wäre es auch richtig, von einer Demokratisierung der Stimmung zu sprechen, die dem Einbruch von chiliastischen Heilserwartungen in die Welt der Spätantike voraus- oder die mit ihr einherging.

Etablierte Eliten an der Spitze festgefügter Gesellschaften vermögen in der Gegenwart und mit der Gegenwart sich abzufinden. Für sie kann Sinnerfüllung in der Wahrung des Erbes und der Überlieferung liegen. Aufsteigende Schichten werden an diesem fixierten Weltbild rütteln, es problematisieren — wie die Sophistik. Unterdrückte und leidende Bevölkerungsteile aber können weder jenen Konservatismus noch jene kämpferische Skepsis teilen. Zu dem einen fehlt es ihnen an Ursache, zur anderen an Kraft. Sie wenden sich voll dumpfer Sehnsucht religiöser Verheißung zu.

Diese Verheißung vermochten die alten — höchst menschlichen — Götter nicht mehr zu geben. Orientalische Kulte boten sie an. Unter ihnen die menschlichste der großen Religionen, das Christentum. Der »neue Himmel und die neue Erde«, von denen die christlichen Prediger sprachen: Das »Himmelreich ist nahe herbeigekommen«, die Großen und Mächtigen der Erde werden dem Gericht des allmächtigen Gottes überliefert, und »die Mühseligen und Beladenen, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten, die Leidenden werden die Herrlichkeit Gottes schauen«. All das mußte diejenigen ansprechen, die aus ihrer erdrückenden Gegenwart und ihrer Not sich heraussehnten und die keinen Weg sahen, auf dem sie selbst aktiv die Wirklichkeit verändern konnten.

Veränderung hatte es auch schon im antiken Denken gegeben. Heraklits Philosophie war der erste geniale Versuch, Wandel im Denken zu fassen. Der Fluß, der in jedem Augenblick ein anderer und doch derselbe ist, in den man nicht zum zweiten Male steigen kann, veranschaulicht ein Verständnis vom Werden und Vergehen. Aber in diesem Werden und Vergehen gibt es keinen Fortschritt. Die Dauer — wie sie der Kreislauf symbolisiert — bleibt als Hintergrund erhalten. Das Bild stammt wohl aus der Natur mit ihrem Wechsel der Jahreszeiten.

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Aber es wird auch auf die menschlichen Angelegenheiten übertragen: auf den Wechsel der Verfassungen etwa oder das Auf und Ab der Schicksale einer Polis. Dieses Bild vom Kreislauf der Verfassungen beherrscht das politische Denken des Abendlandes noch bis ins 18. Jahrhundert hinein. David Hume kennt es noch, und im Grunde macht erst die Französische Revolution ihm definitiv ein Ende.

Das eschatologische Bewußtsein des Christentums bringt zwar den Gedanken des »Vorwärts« in die Weltanschauung der Menschen der Spätantike, aber damit noch lange nicht unser neuzeitliches »Fortschrittsdenken«. Vielmehr gelingt es zunächst noch einmal, für viele Jahrhunderte Jenseitssehnsucht und statische Diesseitskonzeption in der mittelalterlichen Synthese zu verbinden. Die stabilisierte Sozialordnung mit ihren Hierarchien war zwar nicht überall — wie in Byzanz — unmittelbar als Abbild der festen Ordnung des Fixsternhimmels legitimiert, aber die elaborierte Hierarchie himmlischer Ordnung mit ihren Erzengeln, Thronen und Herrschaften entsprach doch ziemlich genau der feudalen Sozialpyramide und verlieh jener den Anschein ewiger Gültigkeit und unerschütterlicher Dauer.

Die massenhafte Sehnsucht der Unterschichten in der spätantiken und frühmittelalterlichen Gesellschaft wurde schließlich durch die zahlreichen Mönchsorden kanalisiert und in die Gesellschaft als stabilisierender Faktor integriert. Ich will nicht den Versuch machen, in dieses Bild auch noch die Kreuzzüge einzufügen, die dann gleichsam ein Ventil für die auf Umwälzung drängenden Kräfte im Abendland dargestellt haben könnten, ein Ventil, das ihnen Tätigkeitsfelder anbot, die die überlieferte Ordnung nicht beeinträchtigten.

Ganz gewiß jedenfalls kann man die Reformation auch als einen Ausbruch aus der mittelalterlichen Synthese deuten, der dadurch verursacht wurde, daß die Kanalisierung der eschatologischen Hoffnungen in den Mönchsorden nicht mehr wirkte, daß gerade von der tiefsten Frömmigkeit her die etablierte Odnung — zunächst der Kirche als der höchsten geistlichen Macht — in Frage gestellt wurde. Mochten aber auch Zeitgenossen die Reformation als »Fortschritt« begrüßen, die eigentliche Deutung dieses Ereignisses durch seine Träger war gerade nicht, daß sie »Neues« bringe, sondern daß sie das Alte wiederherstelle: zurück zur Reinheit des ursprünglichen christlichen Glaubens.

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Das hieß freilich auch Neubelebung jenes eschatologischen Aspektes, der während der vorausgehenden Jahrhunderte allmählich an den Rand gedrängt, ritualisiert und an einige Orden »delegiert« worden war. Übrigens hatten fast während der gesamten Kirchengeschichte immer wieder eschatologische Sekten den Ausbruch gewagt. Hussiten, Wiedertäufer, religiös argumentierende Anwälte der aufständischen Bauern — sie alle versuchten die christliche Heilserwartung und das christliche Heilsversprechen aufs neue mit einer im Grunde politischen Forderung und Tätigkeit zu kombinieren.

Der neue Himmel und die neue Erde sollten hier und jetzt heraufgeführt werden. Jedenfalls schienen sie schlechthin unvereinbar mit der Fortdauer der bäuerlichen Leibeigenschaft und Ausbeutung. Während es den großen Reformatoren lediglich darum ging, die Menschen für die göttliche Gnade durch den Glauben würdig zu machen, glaubten jene radikalen chiliastischen Revolutionäre an die Möglichkeit und Notwendigkeit der Heraufführung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung, die den christlichen Idealen von persönlicher Freiheit und Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Liebe entsprechen würde.

Aber auch von jenen Chiliasten kam noch nicht der »Fortschrittsbegriff«, auch nicht von den Humanisten der Renaissance. Ihnen ging es ja im Grunde — wie den Reformatoren — nur um eine »Erneuerung«, eine Wiederherstellung, eine Neu-Geburt, wie das erst später geprägte Wort besagt, nicht um einen Fortschritt über alles zuvor Existierende hinaus. Die Gegenwart wurde als ein »Wiedererwachen«, als Verjüngung erfahren, aber nicht als absolutes Novum. Giambattista Vico erneuert für die Geschichte antikes Kreislaufdenken, und noch die frühe französische Klassik des 17. Jahrhunderts knüpft an die als unübertrefflich angesehenen Muster der dramatischen Dichtkunst der Antike an. Erst die »Querelle des Anciens et des Modernes« läßt zum ersten Male — auf diesem Gebiet — den Gedanken eines möglichen Hinausgehens über das antike Muster erkennen.

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Der eigentliche Ansatz oder richtiger der zweite Ursprung für den Fortschrittsbegriff, wie ihn das 19. und 20. Jahrhundert in Europa und Nordamerika kennt, findet sich bei den Naturwissenschaften und ihrer philosophischen Fundierung. Galilei, Descartes, Bacon mögen ihre wichtigsten Pioniere gewesen sein. Galilei (nach Kopernikus) macht die Entdeckung, daß der große Aristoteles, der Inbegriff vorchristlicher, antiker Weisheit, auf dem Gebiet der Astronomie irrte.

Descartes vollzieht entschlossen den Schritt von einer philosophischen Weltdeutung auf der Grundlage überlieferter Weisheit zu einer »anderen Philosophie«, die vor allem dazu berufen sei, »die Menschen gleichsam zu Herren und Eigentümern der Natur zu machen«. Bacon beschreibt konkret die Vorteile, die der englischen Nation aus der Förderung der zur Naturbeherrschung dienenden neuen, naturwissenschaftlichen Denkweise erwachsen können. — Hier, auf dem Gebiet der Naturwissenschaft, zeigt es sich auch bald, daß es ein Fortschreiten der Erkenntnis von Generation zu Generation gibt. Daß nicht nur das Alte, längst Erkannte immer besser gewußt werden kann, sondern daß neue, vergangene Erkenntnisse widerlegende und verdrängende Erkenntnisse möglich sind. Daß es — mit anderen Worten — Fortschritte in der Naturerkenntnis gibt, die sich unter anderem auch in Fortschritten der Naturbeherrschung handgreiflich niederschlagen.

Indem er die Natur und ihre Gesetze immer besser kennt, wird der neuzeitliche Mensch auch immer mehr imstande, sie zu beherrschen. »Wissen ist Macht« — so lautet Bacons berühmter Wahlspruch. Je mehr also die Menschheit — d. h. die europäische — weiß, desto größer wird ihre Macht. Indem wir die Gesetze der Natur erkennen und ihnen gehorchen, gewinnen wir Macht über sie. Die Erkenntnis wird nicht mehr — wie bei Aristoteles — die höchste Form menschlicher Aktivität, sondern die Beherrschung und Indienstnahme der Natur auf der Grundlage von auf diesen Zweck gerichteter Erkenntnis. Die Aktivität der anschauenden Weisheit (des Nous) wird abgelöst durch die Aktivität des experimentierenden Naturforschers und des auf der Basis seiner Erkenntnisse Produzierenden. Die Technik beherrscht das Denken zwar nicht aller, aber doch der meisten Philosophen von Descartes bis Auguste Comte. Die Vernunft wird auf die instrumentelle Vernunft eingeschränkt.

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Es gibt aber noch eine dritte »Wurzel« des neuzeitlichen Fortschrittsbegriffs, die gelegentlich übersehen wird.

Neben die zunächst marginale Erneuerung des christlichen Chiliasmus und die Entdeckung der Bedeutung der Naturwissenschaften für die Herrschaft des Menschen über die Natur tritt der Aufstieg des bürgerlichen Menschen, des homo oeconomicus, des Anwalts des »Systeme naturel«. Ich will hier nicht den komplizierten Zusammenhang zwischen Reformation, Aufstieg des Bürgertums und Geist des Kapitalismus aufrollen. Es kommt mir weniger auf die möglichen Kausalverhältnisse als auf die Parallelen der Entwicklung an, die im Fortschrittsbegriff konvergieren. In der Feudalgesellschaft sind die Beziehungen zwischen den Individuen durch deren Standeszugehörigkeit und die der Stände durch eine traditionelle Ordnung geregelt, die Kleidung, Wohnung, Nahrung, kurz die gesamte Lebensweise normiert.

Zunächst lösen sich in den Städten und an deren Peripherie einzelne Berufsgruppen allmählich von dieser Ständeordnung los. Mit dem Aufkommen von Fernhandel, Manufakturwesen und Geldverkehr steigert sich auch die soziale Mobilität. Aus einem Geldhändler wird schließlich der mächtige Bankier und der Fürst aus dem Hause der Medici oder der Fugger. Die Ständeordnung wird durchlässiger, und sie wird — prinzipiell zumindest — von der Geldordnung in Frage gestellt. Geldmacht steht gegen Ständehierarchie. Vor allem aber entwickelt sich jetzt auch — aufgrund des engeren und sichtbaren Zusammenhangs von individueller Leistung und Aufstieg sowie aufgrund der über den Markt vermittelten Beziehungen der einzelnen (Produzenten und Konsumenten) — das Gefühl für die Einmaligkeit und Besonderheit der eigenen Individualität. Damit hängt unter anderem auch die Forderung nach Respektierung der individuellen Liebe zusammen.

Nicht zufällig spielt das Drama von Romeo und Julia in dieser Epoche. Was kümmert es die individuell Liebenden, zu welchem Familienclan die Geliebte oder der Geliebte gehört? Sie streben zueinander als Individuen, als Monaden, die sich losgelöst haben von ihrem Clan. Nicht nur die Warenproduktion und das Geld, auch das individualisierte Gefühl stellen die Hierarchie in Frage. Und für Jahrhunderte noch (bis zur Emilia Galotti und darüber hinaus) wird der Zusammenstoß von individueller Liebe und Ständeordnung zu einem beliebten bürgerlichen Roman- und Dramenvorwurf.

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Auch diese Herauslösung der einzelnen aus der normierenden — und jetzt als einengend empfundenen — Ordnung der Großfamilie und des Standes wird — vor allem von den unteren Ständen — als Befreiung, als Fortschritt erfahren. Diese Befreiung bedeutet aber nicht nur die Herauslösung des Individuums, sondern schließlich auch die der neuen Wirtschaftsweise, die sich im Schöße der alten, feudalen entwickelt hat, aus deren Fesseln. Der von Quesnay, Mirabeau d. Ä., Dupont de Nemours usw. entdeckte »ordre naturel« der Wirtschaft verlange, so ihre Argumentation, die Befreiung von allen hindernden und störenden Eingriffen durch den Staat.

Der von dem Arzt Quesnay entworfene »Tableau« des ökonomischen Kreislaufs war nach der Analogie des von Harvey entdeckten Blutkreislaufs strukturiert. Und wie im Interesse der Gesundheit des Einzelmenschen alle den Blutkreislauf hemmenden Faktoren ausgeschaltet werden müßten, so auch alle Maßnahmen, die den wirtschaftlichen Kreislauf behindern. Damit war ein weiterer Begriff des Fortschritts eingeführt: Fortschritt als Befreiung des »natürlichen« Wirtschaftssystems von den unnatürlichen Behinderungen des Ancien Regime. Im Grunde handelte es sich um eine weitere Form der »Emanzipation«. Hier nicht um die des Individuums von Familie, Clan und Stand, sondern um die der Wirtschaft von politischer oder religiöser Regulierung. Anfänge zu dieser »Emanzipation« liegen natürlich schon weit früher — etwa bei der ersten Lockerung des mittelalterlichen Zinsverbots.

Damit haben wir vier Formen oder Ansätze für den Fortschrittsbegriff unterschieden, die — in mannigfacher Weise miteinander verschränkt und unterschiedlich stark — in den Begriff des linearen, quantitativen Fortschritts eingegangen sind, wie wir ihn seit dem 19. Jahrhundert kennen:

1. Der vom Christentum in die Welt gebrachte Gedanke des Fortschritts von diesem Äon in einen anderen, vom irdischen Jammertal zum neuen Jerusalem oder, verdiesseitigt, zum neuen Himmel und der neuen Erde — hier.

2. Der Fortschritt, der in der wachsenden Beherrschung der Natur durch die Verbesserung der Erkenntnisse der kausalen Struktur des Naturgeschehens besteht. Fortschritt also in Rich-

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tung auf immer mehr Herrschaft über die Natur — freilich damit stets auch über Mitmenschen.

3. Fortschritt im Sinne der Emanzipation des autonomen Individuums aus den Bindungen von Familie, Clan und Stand. Befreiung von bindenden Vorschriften, die das Fühlen und Denken einschränken.

4. Fortschritt als Befreiung des »ordre naturel« der Wirtschaft aus den behindernden Fesseln traditioneller religiöser und politischer Regulierungen.

Zu diesen vier Formen oder Ansätzen des Fortschrittsgedankens bringt die Französische Revolution einen fünften hinzu, in dem — in einem gewissen Umfang — alle vier mitenthalten sind. Es handelt sich um den Fortschritt in Richtung auf eine freie, von den autonomen Bürgern (Individuen) gewollte und verabschiedete Verfassung. Fortschritt in Richtung auf die (moderne) Demokratie. Freilich spielen auch hier — für das Selbstverständnis der Agierenden — noch immer antike Muster mit herein. Die Citoyens der jungen Republik empfinden sich als römische Bürger, als neugeborene Brutusse, und Napoleon wird — je nachdem —mit Cäsar oder Augustus verglichen. So stark war — wenigstens noch auf politischem Gebiet — das ältere Denkmodell des Kreislaufs, daß neben den Gedanken des Fortschritts, ja der Einmaligkeit des eschatologischen Ereignisses (Walter Benjamin hat darauf hingewiesen, daß während der Julirevolution überall auf die Turmuhren geschossen und damit eine Art Stillstand der linearen Zeit symbolisiert worden sei) noch immer der der Wiedergeburt, der Erneuerung treten konnte.

Der Emanzipationskampf des »vierten Standes« — des späteren Industrieproletariats — schließt sich in seinem Selbstverständnis an den der bürgerlichen Revolution an. Nur daß jetzt — im Unterschied zum bürgerlichen »ordre naturel« — ein anderer, erst durch die gemeinsame Anstrengung der assoziierten Produzenten zu schaffender »ordre« als legitim angesehen wird. Eine bewußte Regelung des Wirtschaftslebens, die die vereinigten Individuen selbst in ihre Hand nehmen, statt durch objektive Gesetzmäßigkeiten bestimmt zu werden, die oft schmerzlich genug ins Schicksal der einzelnen und ganzer Bevölkerungsteile eingreifen.

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Beide Fortschrittskonzeptionen nun, sowohl die kapitalistisch-industrielle als auch die sozialistische, wurden im Laufe des letzten Jahrhunderts vereinfacht und verflacht. Der Gesichtspunkt der Befreiung der Menschheit durch Naturbeherrschung wurde mit beiden in der Weise kombiniert, daß die Steigerung der Produktion und namentlich der Produktivität schließlich als einziges oder zumindest ausschlaggebendes Kriterium des »Fortschritts« angesehen wurde. In der weltweiten »Systemkonkurrenz«, wie sie dem Konzept der »friedlichen Koexistenz« von Ost und West insgeheim zugrunde liegt, gilt —noch immer weithin — die Steigerung des Bruttosozialprodukts als Gradmesser des jeweiligen Erfolgs. Gewiß sind komplementär von beiden Seiten unterschiedliche Gesichtspunkte hinzugefügt worden. So von Seiten des Westens — neuerdings insbesondere der USA — der Gesichtspunkt der Respektierung der traditionellen Menschenrechte auf Freiheit, Freizügigkeit, freie Religionsausübung, Auswanderungsfreiheit usw. Von seiten der Sowjetunion hingegen die Betonung der »sozialen Grundrechte« — der Rechte auf Leben, Arbeit und Gesundheit. Einigkeit besteht jedoch darüber, daß das Wachstum des BSP ein »objektiver Maßstab« ist, auch wenn die Statistiker der Sowjetunion versuchen mögen, ihn im Detail zu korrigieren.

Industrielles Wachstum spielt zur inneren Legitimierung der beiden unterschiedlichen Sozialsysteme und ihrer Eliten heute eine entscheidende Rolle. In den westlichen Marktökonomien ist die durch das industrielle Wachstum am Leben erhaltene Hoffnung auf künftige eigene Konsumchancen und Aufstiegsmöglichkeiten ein schwer in seiner Bedeutung zu überschätzendes soziales Quietiv. Soziale Disparitäten werden erträglich, wenn man eine ständige Hebung des eigenen Lebensstandards registrieren und darüber hinaus für die eigenen Kinder voraussehen kann. Für den Absatz einer durch ständig erweiterte Reinvestition wachsenden Produktion der auf Wachstum angelegten Wirtschaft wird ununterbrochen mit enormem Aufwand geworben. Und in der Krise rufen sogar Politiker zu »freudigem Konsumieren« auf. Die Hochdruckwerbung stellt ein spezifisches Informationssystem dar, auf das die Wirtschaft ebenso angewiesen sein dürfte wie die bürokratisch-sozialistischen Eliten auf ihre Ideologie.

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Für die Eliten der bürokratisch-sozialistischen Länder gilt, daß sie seit 1956 (abgesehen von China bis 1976) zunehmend ihre eigene Führungsposition immer stärker durch die Einlösung des Versprechens steigenden Wohlstands für die Bevölkerung zu legitimieren suchen. Die überlieferte marxistisch-leninistische Ideologie spielt faktisch demgegenüber eine ständig schwindende Rolle. Sie kann freilich so lange nicht entbehrt werden, wie es innerhalb dieser Systeme die Konkurrenz von politisch-bürokratischen und technokratischen Führungsgruppen gibt, wobei die ersteren keine andere als die traditionelle ideologische Legitimation für sich in Anspruch nehmen können.

Ohne Übertreibung kann man jedenfalls behaupten, daß im Augenblick noch immer die meisten politischen Führungsgruppen an einem Begriff des Fortschritts festhalten, dessen wesentlicher Gradmesser im Bruttosozialprodukt besteht. Symbole derartigen Wachstums waren und sind: die Stahlproduktion, die Energieerzeugung und der Energieverbrauch (»technische Sklaven« pro Kopf der arbeitenden Bevölkerung), der Prozentsatz der in der primären Produktion tätigen Bevölkerung (der mit dem Grad der Industrialisierung zurückgeht) usw. Auch die Verstädterung (die Zahl der Millionenstädte) spielte — bis vor nicht allzu langer Zeit — eine Rolle beim Vergleich der Staaten (insbesondere der USA und der Sowjetunion) untereinander.

Nicht der Fortschritt schlechthin, sondern diese Auffassung des Fortschritts, diese Art des Fortschritts ist durch die Ölkrise, die Studien des Club of Rome und andere Überlegungen zunehmend fragwürdig geworden. Die Argumente für diese Problematisierung brauche ich hier nicht ausführlich zu erörtern. Zum Teil sind sie übrigens schon alt, ziemlich genauso alt wie die moderne individualistische, kapitalistische, industrielle Gesellschaft. Rousseaus Problematisierung der moralischen Folgen des »retablissement des sciences et des arts« (1750) ist über 225 Jahre alt, und auch er war nicht der erste. Andere Argumente konnten in ihrer heutigen Schärfe nicht eher auftauchen, unter anderem weil erst heute die Erschöpfung der aus gespeicherter Sonnenenergie stammenden fossilen Brennstoffe voraussehbar geworden ist.

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In der Reflexion auf die Krise des quantitativen Fortschritts, dessen lineare Fortsetzung zu lebensbedrohenden Konsequenzen führen müßte, sollte nun meines Erachtens zwischen der Erwartungshaltung, die ständig gesteigertes Wachstum als Voraussetzung für Zufriedenheit und Daseinsglück unterstellt, und dem technisch-ökonomischen Mittelsystem unterschieden werden, das diese Haltung zum Teil (unbewußt) mitproduziert hat und das in seiner augenblicklichen Gestalt auf ihre Fixierung angewiesen sein dürfte. Was meiner Überzeugung nach geändert werden muß und sich zum Teil schon hie und da spontan zu ändern beginnt, ist die Erwartungshaltung der Menschen in den hochindustrialisierten Gesellschaften.

Die Verwechslung von Glück mit Konsumsteigerung, von Lebenssinn mit »quantitativem Fortschreiten«, diese Erwartungshaltung wird vielfach geändert. Ohne daß es dazu einer bewußten Askese bedürfte — wie Carl Friedrich von Weizsäcker meint —, breitet sich unter jungen Menschen eine Einstellung zu den materiellen Bedingungen des Lebens aus, die nicht mehr »bigger« mit »better«, »more« mit »better« identifiziert. So spielt bei der Berufswahl oft genug die erwartete oder erhoffte Befriedigung bei der ausgeübten Tätigkeit eine größere Rolle als der »materielle Anreiz«. Die Bereitschaft, tieferliegende Bedürfnisse — nach sinnvollem Tun, nach menschlichen Beziehungen — um höheren Einkommens willen zu opfern, sinkt. Die Werbung erweist sich vielfach als minder mächtig, als ihre Lobredner und ihre Kritiker unterstellen.

Die Technik ist ein Mittelsystem, das hinsichtlich der ihm gesetzten Ziele sich neutral verhält. Insofern ist eine pauschale Anklage der Technik sicher fehl am Platze. Im übrigen sind auch zur Beseitigung der Schäden, die die Technik angerichtet hat, unter anderem technische Reflexionen und Maßnahmen notwendig. Aber die Technik, wie sie in den vergangenen zwei Jahrhunderten sich entwickelt hat, stand ihrerseits unter bestimmten Systemzwängen, die die Richtung des technischen Fortschritts einseitig kanalisierten. Diese Systemzwänge bedürften einer genaueren Darlegung. Für diesen Argumentations­zusammenhang mögen ein paar Stichworte dazu genügen:

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Der Konkurrenzmechanismus zwang die einzelnen Unternehmer, durch Verbilligung von Produkten den Markt zu erweitern und Konkurrenten zu verdrängen. Verbilligung ließ sich durch Einsatz von arbeitssparenden Maschinen und Massenproduktion erzielen. Damit wurde nicht nur die Freisetzung von Arbeitskäften, sondern auch die Entqualifizierung von Arbeit möglich. Nichtqualifizierte Arbeit aber ließ sich — auf einem Wege, der schließlich bei der Automation endet — immer weiter eliminieren. Das Resultat waren immer billigere, immer massenhaftere Waren und die Notwendigkeit, immer neue Bedürfnisse nach mehr (und dann auch anderen) Waren zu produzieren. Der Verlust der Selbständigkeit und das Zurückgehen der Lust an der arbeitenden Tätigkeit (Arbeitsleid) führten zu einer Verlagerung des Schwergewichts des Daseins aus dem Bereich der Arbeit in den der Freizeit. Der während der Arbeit passivierte, entmotivierte, lediglich durch die Erwartung des Lohns zur Arbeit angehaltene Arbeiter verliert damit jedoch weithin die Fähigkeit, die vergrößerte Freizeit kreativ zu nutzen. Die Entmotivierung und Passivierung durch den Arbeitspozeß strahlt auf seine Freizeit aus. Der jugendliche Arbeiter mag noch den harten Rhythmus der industriellen Arbeitswelt in seine lärmende Freizeittätigkeit imitierend übernehmen, der ältere wird sich schließlich nur noch zum passiven Aufnehmen von Unterhaltung imstande finden. Fernsehen wird zu einer geradezu unentbehrlichen Droge, die die Leere der Freizeit erträglich macht (früher war es vor allem der Alkoholkonsum, der übrigens deshalb keineswegs nachgelassen hat).

Die Technik als wertfreies Mittelsystem hätte durchaus auch eine andere Art von Maschinen entwickeln können. Statt immer massenhaftere Ware zu erzeugen, hätte man sie auch primär (und nicht nur komplementär) zur Annehmlichmachung der Arbeit und Schaffung von Arbeitsplätzen verwenden können, die interessante, kreative, intelligente Arbeitsweisen ermöglichen, wobei qualitativ bessere, statt immer mehr und immer kurzlebigere Gebrauchsartikel erzeugt werden könnten. Mir scheint, daß bei Marx selbst jedenfalls auch diese Erwartung an den Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Produktionsweise geknüpft war. Im gängigen Parteimarxismus ist das Unterscheidungskriterium für die Gesellschaftssysteme je-

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doch in Richtung auf die »Befreiung der Produktivkräfte« von ihrer Fesselung durch die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse verschoben worden. Eine Befreiung, die Stalin sich nur noch als Entfesselung im quantitativen Sinne vorstellen konnte. Nicht Art und Richtung, sondern allein das Tempo der Entwicklung sollte durch die sozialistische Planökonomie geändert werden. An die Stelle der unterstellten Stagnation im Kapitalismus sollte der unbegrenzte quantitative Fortschritt im Sozialismus treten. Immerhin beginnen heute auch sowjetische Naturwissenschaftler an dem Sinn eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums Zweifel anzumelden und die Berücksichtigung ökologischer Gesichtspunkte zu fordern. Einstweilen hat aber der Wachstumsfetischismus der Planer und Parteiideologen noch eindeutig den Primat.

Der — meiner Überzeugung nach dringend notwendige —Übergang zu einer neuen Phase der Entwicklung der Menschheit verlangt einmal eine Änderung der Erwartungshaltungen und Glücksvorstellungen der Menschen, zum anderen eine Überwindung der Systemzwänge, die diesen Übergang einstweilen noch verhindern oder doch ungemein erschweren.

Zur allmählichen Veränderung der Erwartungshaltungen und Glücksvorstellungen der Menschen — in den Industriegesellschaften — könnten Wissenschaft wie Theologie wichtige Beiträge leisten. Die Wissenschaft, indem sie unerbittlich und klar die Grenzen des Wachstums aufzeigt, wobei die Inexaktheit der genauen Zeitbestimmungen die Dringlichkeit der Diagnose nicht abschwächen sollte. Die Theologie, indem sie auf den Zusammenhang von religiösen Haltungen und moderner Wirtschaftsweise und Einstellung gegenüber der Natur reflektiert. Ich habe an anderer Stelle auf diesen Zusammenhang — im Anschluß an Lynn White, William Coleman und andere — hingewiesen. Auch wenn es vornehmlich evangelische Theologen waren, die im England des 17. Jahrhunderts die Anpassung des Christentums an den expansiv-dynamischen Geist des Kapitalismus und der Naturbeherrschung vollzogen, ist doch auch die katholische Welt von diesem Prozeß nicht unberührt geblieben. Das biblische Gebot »Macht euch die Erde Untertan« sollte im Sinne von Rene Dubos durch die Erinnerung an die Betrauung des ersten

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Menschenpaares mit der Sorge für den »Garten Eden« korrigiert werden. Wenn wir die Erde als einen der Menschheit zur Pflege überantworteten Garten begreifen, werden wir Naturbeherrschung nicht mehr im Sinne des unbegrenzten Rechts auf Naturausbeutung mißverstehen.

Rene Dubos hat in seinem faszinierenden Buch »A God within« (New York 1972) auf den heiligen Benedikt als ein mögliches Vorbild für eine solche veränderte Einstellung des Menschen gegenüber der Natur verwiesen. »Benedikt von Nursia«, sagt er, »kann als ein Schutzpatron jener angesehen werden, welche überzeugt sind, daß Konservierung nicht nur den Schutz der Natur gegen menschliches Fehlverhalten verlangt, sondern ebensosehr die Entwicklung menschlicher Tätigkeitsformen, die kreative, harmonische Beziehungen zwischen Mensch und Natur fördern« (S. 16). Zu solcher Tätigkeit sind die meisten Menschen unter den Bedingungen der heutigen Industriezivilisation außerstande. Aus diesem Grunde suchen sie in ihrer Mehrzahl noch immer kompensatorische Weisen der Befriedigung im Konsum, im Prestigekonsum und im Genuß von betäubenden oder berauschenden Mitteln. Sie fliehen aus der Gegenwart, und da ihnen religiöse Zukunftserwartungen meist fremd geworden sind, kann diese Flucht nur in eine imaginäre Zukunft oder eine illusionäre andere Welt führen. Mir scheint, daß angesichts dieser emotionalen Disposition an einen Übergang zu einer anderen, nicht mehr auf grenzenloses Wachstum und ständig gesteigerte Konsumerwartung orientierten Zivilisation noch nicht zu denken ist. Diese alternative Zivilisation selbst aber kann ziemlich plausibel vorgestellt und ausgedacht werden: In ihr würde die Befriedigung der Menschen wieder in erster Linie durch ihr Tun, ihre humane Praxis bestimmt werden, wie es zur Zeit vielleicht nur bei wenigen Künstlern, Wissenschaftlern, Dichtern der Fall ist, die aber inmitten des allgemeinen Unglücks selbst auch nur unglücklich sein können. Befriedigende Tätigkeit wäre solches Tun, das als sinnvoll für uns selbst und für die Mitmenschen erfahren werden kann und in dem wir unsere Fähigkeiten zu entfalten vermögen. Befriedigendes Tun wäre u. a. auch eine Tätigkeit, die nicht — jedenfalls nicht primär und ausschließlich — auf den eigenen Vorteil (oder die ei-

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gene Überlegenheit über andere) abzielt, sondern sich positiv auf die Bedürfnisse der Mitmenschen bezieht. Jede Form von Hilfe für den Mitmenschen kann derartige Befriedigung verschaffen. Güte, Freundlichkeit, liebevolles Eingehen auf den anderen würden auch dort, wo materielle Gegenstände hergestellt werden, mit hereinspielen. An die Stelle von Ellbogengebrauch und Konkurrenzkampf würden Solidarität und Verbundenheit treten. Eine solche befriedigte und befriedete Menschheit ist denkbar, wenn wir unterstellen, daß der Wunsch nach höherem Einkommen, gesteigertem Komfort, mehr Prestigekonsum in erster Linie aus der Unbefriedigtheit in der Welt der Arbeit resultiert. Was immer an individuellem Wettbewerbsstreben »angeboten« sein sollte, könnte sich aber sehr wohl auch im Streben nach möglichst gutem und nützlichem Helfen für den Mitmenschen und nach Anerkennung wegen solcher Hilfe ausdrücken. Auch Wettbewerb muß ja wohl nicht unbedingt in Konkurrenz um Herrschaft über die Mitmenschen und um die Gelegenheit zur Ausbeutung von Mitmenschen bestehen.

Unter der vorgestellten Bedingung von befriedigenden Formen der Tätigkeit — zu denen viele gehören, die es auch heute schon gibt, die aber infolge der einseitigen Bewertung aufgrund des Einkommens abschätzig beurteilt werden: wie die Sorge der Mutter für ihr Kind, der Kinder für ihre gebrechlich gewordenen Eltern usw. — könnte das Streben nach gesteigerter Produktion aufhören. An die Stelle von immer mehr Waren würde das Bemühen um immer schönere, dauerhaftere und sinnvollere Güter treten. Die Hingespanntheit auf die Zukunft würde ihren verkrampften Charakter verlieren. Die Menschen könnten auch — freilich nie allein — in der Gegenwart leben. Das Moment des »ganz anderen« würde wieder auf ein Jenseits ihres irdischen Daseins sich beschränken. Die Grenzen, Mängel, Schwächen unserer Existenz würden von jener letzten Transzendenz her in ihrer Bedeutung gemindert und damit zugleich erträglich gemacht. Der Widersinn des unendlichen Fortschritts auf einem endlichen Planeten könnte verschwinden, die problematische Kombination von Eschatologie und linearem Fortschritt der Produktion aufgelöst werden. 

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Wenn man sich eine derart befriedigte und damit zugleich befriedete Gesellschaft vorstellt, dann könnte man annehmen, daß ihre Lebensform sich allmählich auf die ganze Erde ausdehnen würde, weil sie der bisherigen instabilen, wenngleich ungemein dynamischen und erfolgreichen Lebensform der Industriezivilisation überlegen wäre, zwar nicht im Sinne von größerer Macht, wohl aber aufgrund ihrer tieferen und dauerhafteren Humanität.

Heißt das aber nicht, daß ich den utopischen Vorschlag mache, eine verbrauchte und fragwürdig gewordene Utopie (die des grenzenlosen quantitativen Fortschritts) durch eine andere zu ersetzen? 

Wie stelle ich mir den Übergang von der noch so lebendigen industriezivilisatorischen zu jener anderen Kultur vor, die vom Zwang zur quantitativen Steigerung entlastet ist und auf Herrschaft, Ausbeutung und Konkurrenz zum Prestige aufgrund von Macht und Reichtum verzichtet?

Eine neue Utopie? Vielleicht. Allerdings eine meiner Überzeugung nach weit realistischere als die Annahme, durch unendliches Wachstum der Produktion schließlich zu einer allgemeinen Zufriedenheit in einer Welt gelangen zu können, die nach wie vor durch Konkurrenz um Prestigekonsum, Neid, Arbeitsleid und individualistischen Egoismus charakterisiert wird.

Der Übergang kann offenbar nicht in einer vorausgehenden strukturellen Veränderung der Gesellschaft bestehen. Er ließe sich eher einer »Kulturrevolution« vergleichen, durch die Haltungen, Wünsche und Erwartungen immer massenhafter werden, die dem gegenwärtigen System der Produktion und Verteilung der Güter widersprechen. Indem immer mehr Menschen mehr Wert auf die Qualität ihrer Tätigkeit als auf die Höhe der Bezahlung legen, indem immer weniger Menschen sich auf den sinnlos gewordenen Wettlauf um Prestigekonsum einlassen, indem ganze Gruppen aus der etablierten Gesellschaft ausscheren und alternative Lebensformen probieren, könnte sehr wohl allmählich ein kulturelles Klima entstehen, das zu einer strukturellen Veränderung zwingt. Die Einsicht der Ökologen und ihr Wille zur Erhaltung der natürlichen Lebensbedingungen für kommende Generationen könnten dieser Wende zur theoretischen Grundlage dienen. 

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Wenn wir nicht wollen, daß die dringend notwendige Respektierung der ökologischen Notwendigkeit auf dem Weg technokratischer Expertendiktaturen der Menschheit aufoktroyiert wird, dann sehe ich keinen anderen Ausweg als die Entwicklung einer Alternativzivilisation, die durch eine Art Kulturrevolution heraufgeführt wird und die die Menschen dazu veranlaßt, auf ihre sinnlose Jagd nach Konsumsteigerung zu verzichten, weil sie realere und solidere Formen der Befriedigung in ihrem alltäglichen Tun gefunden haben.

Ich habe die großen internationalen Konflikte und die Bedrohung der Menschheit durch den atomaren Suizid hier ganz ausgespart. Nicht weil ich diese Gefahr nicht sehe, sondern weil ich glaube, daß auch sie letztlich mit der hier geschilderten Konzeption des Fortschritts zusammenhängt. Wenn wir am linearen Fortschritt in Richtung auf immer bessere Naturbeherrschung (und -ausbeutung) und damit auf immer größere Macht festhalten, dann folgt daraus so gut wie unvermeidlich der Wille zur Nutzung dieser Macht zum Zwecke der Weltbeherrschung. Gelänge es einer der heutigen Supermächte (oder einer anderen Macht), dieses Ziel zu erreichen, dann würde sie die »Ökodiktatur« errichten müssen und die Menschen zur Annahme der Reglementierung der Produktion zwingen oder manipulieren. In meiner alternativen Utopie sind Elemente älterer Zukunftsvorstellungen enthalten. Eliminiert ist jedoch der Gedanke des »unendlichen Fortschritts«, und aufgegeben ist auch die Annahme, daß das Streben nach Prestigekonsum eine anthropologische Konstante sei.

Dieser Utopie liegt die Annahme zugrunde, daß das Elend der Menschen in den hochindustrialisierten Ländern heute nicht mehr auf einem Mangel an Waren beruht, sondern auf unzulänglichen Arbeitsverhältnissen und einer von der Wirtschaft produzierten Orientierung auf den Konsum als eigentlichen Lebensinhalt. Fred Hirsch hat in seinem Buch »The Social Limits to Growth« (Harvard Univ. Press 1976) gezeigt, daß das Glücksversprechen der industriellen Wohlstandsgesellschaft mit Notwendigkeit frustriert, weil es die gegebenen Versprechen nie einlösen kann. Das von der jeweils niedrigeren Einkommensgruppe erstrebte Gut hat, wenn sie es endlich erhält, bereits seinen Wert (durch seine Massenhaftigkeit) verloren, oder sie bekommt von vornherein nur einen schalen Ersatz.

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Die Produktivität der Arbeit reichte aber längst aus, um allen Menschen - zunächst in diesen Ländern - ausreichende und befriedigende Lebensumstände zu verschaffen, wenn jene eingebaute Dynamik, die den Wunsch nach »mehr« erzeugen muß, verschwände. Veränderung der Arbeit in Richtung auf befriedigendere Arbeitsweisen, Verkürzung der Arbeitszeit und Befähigung zur Nutzung der gewonnenen Freizeit zu kreativem Tun, das in sich selbst als befriedigend erfahren wird -, bis hin zur Wissenschaft, Kunst und Philosophie - diese Tätigkeiten, als höchste Formen humaner Existenz begriffen und erfahren, könnten zugleich die Voraussetzungen für friedliches Zusammenleben innerhalb der verschiedenen Gesellschaften und zwischen ihnen ermöglichen.

Die Wissenschaft könnte dann u. a. auch als »reine Wissenschaft« wieder stärker der Freude an der Erkenntnis dienen, statt allein Mittel für die erweiterte Naturbeherrschung zu sein. Die Kunst als »Freude, die der Mensch sich selber verschafft«, könnte - weil sie aufgehört hätte, dem Kommerz dienstbar zu sein - wirklich verallgemeinert werden. Philosophie könnte, wenn nicht Allgemeingut, so doch weit mehr Menschen zugänglich gemacht werden.

Tätigkeiten, die in sich selbst ihren Sinn finden, galten Aristoteles als die höchsten. Für ihn war das neben der Philosophie das politische Handeln, die Tätigkeit des Polites (Prattein). Vielleicht wäre auch das - auf allen Stufen menschlicher Vergesellschaftung - in einer befriedigten und befriedeten Menschheit möglich. Politik nicht als Beruf innerhalb einer immer weiter spezialisierten Arbeitsteilung, sondern als eine Form der Betätigung, die allen Menschen offensteht und ihrem Dasein Sinn zu geben vermag.

Nach einer vielschichtigen Problematisierung des Fortschrittsbegriffs kehre ich damit zu einer neuen Fortschrittshoffnung zurück. Doch scheint mir in diesem womöglich utopischen Zukunftsbild insofern kein Widerspruch zu meinem Ausgangspunkt zu liegen, als in ihm - nur verallgemeinert und ergänzt - jene Vorstellung von Eudaimonia, von Glück, wieder auftaucht, die schon vor mehr als 2000 Jahren einmal europäisches Denken geprägt hat.

Carl Friedrich von Weizsäcker hat sich unlängst die Frage gestellt, ob es möglich sei, die aristokratische Haltung der Askese zu demokratisieren, und er beantwortete seine Frage mit skeptischer Hoffnung. Ähnlich möchte auch ich meine Frage nach der Möglichkeit einer Verallgemeinerung jenes Glücks, das Aristoteles beschrieb, mit skeptischer Hoffnung beantworten.

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