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20. Ökologische Zukunftsforschung

Ferst-2002

 

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Bei unserem Ausflug in die Zukunft setzten wir viele Dinge als feststehende Tatsachen voraus. Für jede aufgeführte neue Entwicklung mußte eine Entscheid­ung getroffen werden, die in manchem Fall mehrere andere Optionen ausschließt, und die eine oder andere hätte vielleicht verdient, diskutiert zu werden. Aber hier konnte es auch nur um einen ersten Einblick in die ökotopianische Gesellschaft gehen, der manche Seiten des neuen Lebens­gefüges erst einmal im Dunkeln läßt.

So muß man z.B. sehr genau hinterfragen, welche Probleme die neue politökonomische Ordnung in sich mitführen kann. Wie werden Ungleichmäßigkeiten zwischen den Betrieben bei den finanziellen Gewinnen ausgeglichen, die nicht aus geringerer oder höherer Leistung der Beschäftigten herrühren, sondern die gewollt, aus ökologischen Prämissen verschieden sind? Weitere Fragen könnten sicher aufgezeigt werden. Oder auf welche Schwierigkeiten trifft das neue Schul­system?

Gewiß ist in der aufgezeigten Perspektive nicht alles berücksichtigt. Wir werden uns also damit auseinandersetzen müssen, wie wir die ökotopianische Zukunft präziser fassen können. Die Schwachstellen dieses Entwurfs werden genauer zu beleuchten sein, nicht, um festzustellen, was alles nicht geht und damit die Sache bewenden zu lassen, sondern um unsere Möglichkeiten, die wir haben, umfassender auszuloten.

Jeder wird erst einmal zugeben müssen, die Situationsfelder, in denen unser übliches Leben abläuft, sind herzlich wenig dafür geeignet, die Kreativität für einen neuen Kulturaufbruch anzusammeln, zu sehen, wie das Neue aussehen könnte. Praktisch leben wir in einem Denkkäfig, unsere Alltags­strukturen umstellen uns, lassen eigentlich nur die Kapitulation vor dem Seienden zu. Da den eigenen Bühnenvorhang zu öffnen, neuen Ideen einen Raum zu geben, den gesellschaftlichen Austausch darüber öffentlich herzustellen, wäre ein sehr entscheidender Schritt.

So will ich hier die gleiche Bitte wie einst Robert Havemann äußern, nämlich mitzuhelfen, daß aus diesem notdürftig skizzenhaften Bild von einer sozialen Utopie ein vielfarbigeres Ensemble wird. Aber vielleicht sollte man noch einen Schritt weitergehen. Immerhin wäre es doch denkbar, daß der eine oder die andere in einem speziellen Bereich Vorschläge dafür hätte, wie dieses oder jenes in der ökotopianischen Zukunft gestaltet sein könnte?155

Möglicherweise beschäftigt sich jemand intensiv mit ökologischem Landbau oder alternativen Technologien und kann darüber vielleicht auch einiges zu Papier bringen. Ein anderer hat sich intensiv mit Spiritualität und Mystik auseinandergesetzt und vermag uns etwas mehr darüber sagen, welche Formen und Gestalten als Möglichkeit uns offen stünden, jenseits althergebrachter religiöser Bekenntnisse. Und so mag ein vielfältiges Geflecht aus Ideen zusammen­kommen.

Nicht alle Mosaiksteine werden zunächst zusammenpassen, aber ein Diskussionskreis würde die Möglichkeit eines Gedankenaustauschs darüber bieten. Dabei könnte man auch die Idee der Zukunftswerkstätten einbeziehen, wie sie von Robert Jungk und Norbert Müllert formuliert wurde. Solche Werkstätten sind ein Forum, bei dem wenig erkundeten Visionen mehr Leben eingehaucht werden kann, wo auch ganz neue gedankliche Verknüpfungen entstehen können.

In der ersten Phase der Zukunftswerkstatt, auch Kritikphase genannt, sollen die Einwände und Fragen gegenüber den bisherigen Vorstellungen einer zukünftigen Gesellschaft artikuliert werden. Das kann dann auch ein neu vorgestellter Text sein. Die zweite Phase baut auf den Kritikergebnissen auf und stellt spontane Lösungseinfälle, die in der Teilnehmerrunde gesammelt werden, in den Mittelpunkt. Bei diesem erfinderischen Abschnitt geht es nicht darum, seine Äußerungen an politische Realitäten etc. anzupassen, sondern der Phantasie freien Lauf zu geben. Selbst auf den ersten Blick weithergeholte oder phantastisch anmutende Dinge dürfen zur Sprache kommen. Eine Zensur ist verboten.

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Viel hängt hier von der spontanen Kreativität der Teilnehmer ab. Bewertung und Kritik an den neuen Gedanken sind erst in der Verwirklichungsphase zugelassen, in der Lösungen konkretisiert werden und über die verschiedenen Möglichkeiten debattiert wird. Vorab wird geheim abgestimmt, welche Punkte weiter behandelt werden.

Der eben erläuterte Dreierzyklus kann dann zu spezifischen Fragestellungen wiederholt werden. Es geht nicht darum, dieses Vorgehen engbemessen festzuschreiben, sondern mit diesen Formen differenziert zu modellieren. Experimentierfreudigkeit dürfte in der Regel nicht schaden. Bereichert werden sollte die Werkstatt durch verschiedene Übungen, die die gar nicht so selten streßanziehende, menschlich kalte Atmosphäre bei theoretischem Disput auflösen helfen und den wahrhaftigen Kontakt zum eigenen Selbst fördern.

In der vierten und letzten Phase wird darüber zu befinden sein, wie die gewonnenen Überlegungen genutzt werden können. Mit den gefundenen Urteilen wird frau und mann sich nicht zufrieden geben dürfen, erreichte Antworten provozieren geradezu neue Fragen. Zur Debatte steht dann auch: Ist der gewählte Rahmen der Zukunftswerkstatt produktiv genug, was könnte wie verbessert werden etc.

Auf dem Auftakt-Umweltfestival 1993 in Magdeburg nahm ich an einer Zukunftswerkstatt unter dem Titel "Ökologisch leben in der Industriegesellschaft" teil. Sie entwickelte sich thematisch unverzüglich dahin, wie jenseits der heute gewohnten materiell-technischen Ausstattung Alternativen gelebt werden könnten. Trotz der engen Begrenzung auf vier Stunden war die Kreativität der ausschließlich jungen Leute bemerkenswert. 

Beim Münsteraner Jugendumweltkongreß 1997 beteiligte ich mich an einer Kurzwerkstatt, moderiert durch Norbert R. Müllert. Zudem veranstaltete ich auch selbst Zukunfts­werkstätten, und meine Erfahrung aus dem Ganzen ist: Will man den Schwerpunkt auf gesellschaftliche Zukunftsmodelle richten, ist es günstig, von vornherein diesen Horizont zu setzen. Ein gewisses Vorwissen ist jedenfalls sehr förderlich für die Ergebnisse einer derartigen Zukunfts­werkstatt.

So wie ich es einschätze, wird der Bruch zwischen dem jetzt vorherrschenden Diskurs, wie er in der medialen und politischen Öffentlichkeit zum Ausdruck kommt, und der ökotopianischen Werteordnung, wie sie angestrebt werden muß, so gravierend ausfallen, wie Robert Jungk es beispielhaft am allgemeinen Paradigmen­wechsel erläutert:

"Nach meiner Definition gibt sich schöpferische Imagination nicht damit zufrieden, bereits bestehende Trends auszuweiten, zu kombinieren oder zu negieren. Indem sie aus den existierenden Systemen (oder Gegensystemen) ausbricht, versucht sie einen vollständig neuen Kurs einzuschlagen und mit den vorherrschenden Konzepten radikal zu brechen. Schöpferische Imagination gebiert ein neues Zeitalter, wann und wo immer sie auftaucht. Sie markiert eine Epoche. Und sehr oft siedelt sie das neue Bewußtsein jenseits der Kontroversen an, die für die Vergangenheit charakteristisch und unausweichlich schienen." 156) 

* (d-2015:)  R.Jungk bei detopia 

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Gewiß nicht in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wird es auf solche Aufbrüche ankommen, dort aber, wo sich die Sackgassen überdeutlich abzeichnen, werden sie unvermeidlich sein. Mitunter reicht es aus, bislang getrennt gedachte Wissensstränge miteinander integral zu verbinden und damit eine neue Qualitätsstufe zu gewinnen. Aber kommen wir zu einem praktischen und unmittelbar umsetzbaren Schritt: Es gäbe in jedem Falle die Möglichkeit, eine Zukunftswerkstatt durchzuführen, wie ich sie eingangs skizziert habe, es käme nur darauf an, daß genügend Menschen ihr ernsthaftes Interesse daran bekunden und sie mit organisieren. Wer dazu weitere Ideen hätte, sollte sie aufschreiben und einbringen. Gesammelt und aufbewahrt wird selbstverständlich auch jeder Zukunftsbericht, der bei mir eingeht.

Doch rücken wir den Gedanken der ökologischen Zukunftsforschung stärker in den Rahmen perspektivischer Notwendigkeiten für die Gesellschaft. Zunächst ein naheliegender Schritt in diese Richtung. So wie das Wuppertaler Institut im Auftrag von BUND und Misereor respektable Schrittfolgen in eine zukunftsfähige Entwicklung aufgezeigt hat — die Kritik an der Studie mag hinzugenommen sein — wäre gleichermaßen darüber zu forschen, wie eine dauerhafte Weltordnung, eine dauerhafte Gesellschaft als erreichter Zustand im Ganzen gegründet sein könnte. Dies leistet die Studie, wie auch die meisten anderen Arbeiten nicht.

Von diesem Ziel wären dann aber auch die einzelnen Umgestaltungsschritte von heute her zu benennen. Sie werden zwangsläufig in erheblichem Konflikt mit den realpolitischen Gegebenheiten liegen, würden uns in besonderer Weise auf unser heutiges Staats- und Gesellschaftsversagen aufmerksam machen. Entlang dieser Problemstellung müßte ökologische Zukunftsforschung heute etabliert werden, also ein eigenes Institut mit weitreichenden Arbeits­möglichkeiten. 

Es ginge nicht darum, ein paar hochgelehrte Professoren möglichst elfenbeinturmartig an unserer Zukunftsperspektive herumdoktern zu lassen, aber auch nicht darum, sich alles kompatibel zurechtzuforschen, so daß das Wünschbare immer mehr in den für gangbar gehaltenen Wegen versackt. Solch ein Institut müßte sowohl an Zukunftsforschung interessierte Menschen als auch die aufgeschlossene Wissenschaft versuchen einzubeziehen.

Die Struktursysteme der menschlichen Lebenswelt wären in ihrer Gänze zu untersuchen. Die geschichtlichen Wurzeln der Weltkultur, ihre gewordene Tektonik, gehören umfassend mit in diese Analyse. Von dieser Panoramasicht auf die menschliche Entwicklung her wäre der Sprung nach Ökotopia zu unternehmen und dann zu fragen, wie aus dieser Sicht die Neugestaltung unserer heutigen Gesellschaft in ihren einzelnen Schritten beschaffen sein müßte.

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In solcher Logik hätte sich ökologische Zukunfts­forschung zu bewegen, wie es die Zeichnung noch mal zusammenfaßt. Gewiß ist es unsinnig, alles in diese Bahnen pressen zu wollen, erfinderische Kreativität sucht sich ihre zuweilen auch völlig abwegig scheinenden Schleichwege. Dennoch kann es vorteilhaft sein, auf Ordnungs­prinzipien nicht zu verzichten. Es gibt Gründe dafür, warum man heute höchst selten auf ausgereifte Vorstellungen für eine zukunfts­fähige Gesellschaft trifft, und ich meine schon, dies hat auch mit dieser Frage zu tun.

 

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Nun erhält man für so ein Plädoyer, das dazu motivieren will, sich zukünftige Gesell-schaftszustände vorzustellen oder sie gar zu erforschen, nicht nur Beifall. 

So schreibt z.B. Christina Thürmer-Rohr"Wir sollten leben lernen in der Gegenwart. Unsere Situation zwingt uns zu erkennen, daß wir unsere Ansprüche an uns selbst und andere nicht aufschieben und vertagen können. Wir können es uns nicht leisten, das, was wir tun und sein könnten, auf eine Zukunft zu verlagern. Die Bewährungsprobe findet jetzt statt. Alles, was wir zu tun haben, haben wir jetzt zu tun."

Das ist gewiß so. Daran setze ich zunächst nichts aus. Wenn es dann heißt, Hoffnungen halten bei der Stange und helfen die Unzumutbarkeiten irgendwie überbrücken, sie lassen durchhalten, auch wenn die Gegenwart schwer erträglich sei, so ist der Kern dieser Aussage auch erst mal nicht falsch. 

An anderer Stelle schreibt sie: "Wir sollten die Paradiese auf sich beruhen lassen. Es sind keine Zufluchtsstätten."157

Auch dies würde ich ganz ähnlich sehen, wenngleich mir fernliegt, die ökotopianische Zukunftsgesellschaft als paradiesischen Zustand zu verklären. Sie kann nur ein wohlausgewogener Kompromiß mit den uns auferlegten Naturschranken sein und die gesellschaftlichen Strukturen so beeinflussen, daß die freie emanzipatorische Entwicklung aller Individuen das innere und soziale Maß des Lebens wird. Dies darf selbstverständlich nicht länger von einem anthropo­zentrischem Weltbild durchwirkt bleiben.

Allerdings steckt — sagen wir spiegelverkehrt — in den Aussagen von Christina Thürmer-Rohr der Gedanke, wir brauchten gar keine Vorstellungen für eine soziale Utopie. 

Dem würde ich vehement widersprechen. Wer keine Ideen für die Zukunft hat, kann sie auch nicht gestalten. Wir sind dann dem unheilvollen Lauf der gegebenen Zustände ausgeliefert. Da hilft auch nicht der Verweis auf die Vergangenheit. 

Man wird erst mal zugeben müssen: 

Das <Neue Testament> ist kaum dafür geeignet, die Architektur für Zukünftiges abzugeben. Die innere Dimension des Menschen wird im Blick bleiben müssen, aber die bisherigen Formen dieser sehr alten Utopie haben sich überlebt. Jesus war ein Vorbote für einen neuen Geist, und die menschliche Substanz, die um diese Figur herum angesammelt wurde, wird bleibend sein. Doch für eine ökologisch-kulturelle Neugestaltung der Gesellschaft kann das in keiner Weise hinreichend sein. 

Ganz analog verhält es sich mit dem kommunistischen Anlauf.

Erich Fromm zeigte in mehreren Büchern sehr klar die Leistungen und Grenzen des Marxschen Entwurfs auf,158 und wir werden auch in anderer Lektüre wichtige Hinweise dazu finden. 

Wenn wir aber danach fragen, welche Hinweise wir auf den strukturellen Aufbau einer besseren Gesellschafts­formation bekommen, so gehen die Aussagen (bei Marx; d) kaum über erste Ansätze hinaus. 

Wer von Lenin <Staat und Revolution> oder <Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht> bzw. auch andere Schriften gelesen hat, der wird wissen: Es gab im Grunde höchst wenig konkrete Vorstellungen darüber, wie das sozialistische Gemeinwesen beschaffen sein könnte.

Jedenfalls sind die Auskünfte über die strukturelle Neugestaltung der Gesellschaft recht unbefriedigend. Diese Konstellation und die sozial-psychologische Situation des damaligen Rußland begünstigten den totalitären Weg dieses Experiments ganz maßgeblich, neben der mangelnden demokratischen Einbettung und den damit verbundenen Verwerfungen.

Der Kardinalfehler aller bisherigen gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen liegt darin, daß sie nicht mit konkreten Plänen für die einzelnen Sphären des menschlichen Daseins verbunden wurden, von der Wirtschaft bis zum geistigen Klima.

Es wird in Zukunft viele Modelle und Entwürfe geben müssen, wie wir die Dinge angehen wollen, und es muß dafür Sorge getragen werden, daß die klügsten Optionen politisch zum Zuge kommen. Das wird ganz gewiß nicht einfach, und es gibt keine hohe Wahrscheinlichkeit, daß dies gelingt. Aber jeder Mensch, der sich innerlich neu ausrichtet, zählt, ist ein Lichtblick.

Die Frage an Christina Thürmer wäre also: Wird unsere Sicht nicht genauso unscharf, ist sie nicht ebenso eine Flucht aus der Gegenwart, wenn wir uns nur auf die unmittelbare Realität beziehen? Ist unsere ganze Jetztzeit nicht ein Sprung ins Irrationale, ein gespenstisches Projekt? Kann es wirklich reichen, mit zu großen Anteilen antiquierter bzw. weitgehend unzureichender Utopie gegen eine lebensfähige Alternative zu argumentieren? Können wir uns überhaupt noch leisten, so heranzugehen, wo wir uns täglich mehr den Boden unter den Füßen wegziehen? 

Ich glaube kaum. Festhalten an Althergebrachtem bedeutet, den Menschen als evolutionäre Möglichkeit preiszugeben. Wir haben aber die Einwände, die ange­zeichnet wurden, im Auge zu behalten. 

Jedoch finden wir in der öffentlichen Debatte immer wieder Argumente, die gegen das utopischen Element sprechen, um die angeblich bewährte Ordnung zu erhalten. Dieser Art von Anpassung an die bestehende Unrechtsordnung sollte man schon äußerst kritisch gegenüberstehen.

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*detopia-2015:  Christina Thürmer Google      wikipedia  Feminismus     Strasser bei detopia über den Sinn von Utopie 

 

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 Marko Ferst - Wege zur ökologischen Zeitenwende