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Rüstung als Sachzwang

 

   Friedenssehnsucht und Expertokratie  

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Nicht weniger als die Ökologiebewegung dürfte inzwischen eine neue Friedensbewegung alle die irritieren, für die Politik sich zunehmend darauf beschränkt, das Funktionieren der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen zu sichern.

Das Wort vom «neuen Pazifismus» macht die Runde, und im Verteidigungsministerium wird offenbar weniger darüber nachgedacht, auf welche Art von Politik junge Menschen mit pazifistischem Engagement antworten, als darüber, wie durch bessere Aufklärung in Schulen und Medien den jungen Leuten die richtige Gesinnung beizubringen sei. Es läßt sich heute schon absehen, daß diese Bemühungen — bei unveränderter Politik — genauso wenig nützen werden wie die Aufklärung, die Beamte von Wirtschaftsministerien den Atomkraftgegnern zuteil werden ließen.

Nachdem die Hoffnung von Millionen, die Friedenspolitik der frühen siebziger Jahre könne auch den Weg zur Abrüstung frei machen, getrogen hat, trauen immer weniger Menschen den — nicht einmal geheuchelten — Beteuerungen der Politiker, nichts wäre ihnen lieber als Abrüstung. Die Tatsachen sprechen schon zu lange und zu eindeutig gegen solche Reden. Was heute an Friedensbewegung sichtbar wird, ist der verzweifelte und daher sicher nicht immer rationale Versuch, den Frieden, der von oben nicht mehr zu erwarten ist, von der Basis her zu erzwingen.

Es gibt wohl kein anderes Gebiet, auf dem die Expertokratie noch so ungebrochen waltet wie im Bereich von Rüstung, Rüstungskontrolle und Rüstungs­begrenzung — von Abrüstung ist ohnehin kaum mehr die Rede.

Man wähnt sich auf verschiedenen Sternen, wenn man erst junge Menschen bei einer der unzähligen Friedenswochen erlebt, wo heute auf bewegende Weise Wege zum Frieden gesucht werden, und dann einer Diskussion von Rüstungsexperten zu folgen versucht, die in ihrer Geheimsprache jene Schachpartie nachvollziehen, die zwischen den beiden Supermächten mit der Logik von Computern abrollt. 

Da gibt es keine Brücken: Die einen versuchen, von bösen Ahnungen getrieben, etwas eigenes, und sei es noch so bescheiden, für den Frieden zu tun, sie fragen sich, wo sie — notfalls erst im ganz kleinen — Frieden stiften können, sie fordern Abrüstung, sie verweigern sich den militärischen Apparaten; die anderen rechnen, zählen, vergleichen, verwalten, und vor allem: sie wissen. Sie wissen, daß man Stärke, zumindest Gleichgewicht braucht, um Frieden zu erhalten. Sie wissen Bescheid in dem Dschungel von First Strike und Second Strike, Marschflugkörpern und raketentragenden U-Booten, von Warnzeiten und Zielgenauigkeiten, von vermirvten* Raketen und Anti-Raketen-Raketen.

*  (d-2008:)  vermirvten ? ....

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Sie billigen den jungen Friedenskämpfern — in der Regel wenigstens — guten Willen zu, aber was erreicht man auf einem solchen Feld schon mit gutem Willen? Manchmal erinnert die Reaktion der Experten auf Friedensaktivitäten an der Basis an jene Randbemerkung Kaiser Wilhelms II. auf eine Eingabe des Pastors Siegmund-Schultze im Jahr 1914: «Das ist wahres Christentum, leider zur Zeit nicht praktikabel.»

Weil die Kluft zwischen Friedenswollen und militärischem Expertentum unüberbrückbar erscheint, gibt es — anders als etwa in Holland — bei uns eine qualifizierte und gleichzeitig kontroverse militärpolitische Diskussion nicht im Zentrum, sondern allenfalls an den Rändern der Gesellschaft.

Wenn ein Verteidigungsminister sich von der Notwendigkeit einer neuen Rüstungsmaßnahme überzeugt hat — oder überzeugen ließ —, so sucht er, wenn er mit dem Kanzler, dem Außenminister und einem oder zwei Rüstungs­experten seiner Partei einig ist, erst einmal Zustimmung bei den Experten der Opposition, was einem sozialdemokratischen Verteidigungsminister meist nicht eben schwerfällt. Die öffentliche Diskussion wird er vermeiden, solange dies geht. Dann aber empfiehlt es sich, um die öffentliche Meinung auf Kurs zu bringen, die wenigen Militärexperten der großen Tages- oder Wochenzeitungen und der Rundfunkanstalten — man braucht keine zwei Hände, um sie an den Fingern abzuzählen — zu einem Hintergrundgespräch zu bitten. 

Hat der Minister für die kritischen Fragen dieser Fachleute plausible Antworten, gelingt es ihm, diese publizistischen Experten zu überzeugen oder wenigstens zu neutralisieren, so ist die wichtigste Arbeit geleistet. Haben diese — meist rechts von der Mitte angesiedelten — Spitzenjournalisten in unterschiedlicher Tonart und Begeisterung - der eine oder andere nicht ohne kritische Untertöne - einmal in ihren Medien klargemacht, hier sei etwas zu tun, was niemandem Freude mache, sicher unbequem und nicht ganz ohne Risiko, aber eben unvermeidbar und daher richtig sei, dann kann man damit rechnen, daß dies in den Medien voll durchschlägt. 

Welche Provinzzeitung, die sich keinen hochkarätigen Rüstungsexperten leisten kann, wollte da noch widersprechen? 

Und in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist der Spielraum auch begrenzt, wenn einmal alle staatstragenden Kräfte sich auf eine Maßnahme geeinigt haben.

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Wer nun noch widerspricht, muß befürchten, ex cathedra zum Außenseiter erklärt zu werden, und dies bedeutet unter der Herrschaft der Sachzwang-Ideologie, daß er nur abwarten kann, ob er, der den Sachzwang leugnen will, sich mehr in die Rubrik der Narren oder der Verfassungsfeinde eingeordnet sieht. Welcher psychische Druck in solchen Fällen entstehen kann, weiß jeder, der Diskussion und Abstimmung über den sogenannten Nachrüstungsbeschluß auf dem Berliner SPD-Parteitag nicht nur als Zuschauer verfolgt hat. Kaum einer der Delegierten hatte den Eindruck, sein Informationsstand reiche aus, um eine solche Entscheidung zu treffen. Schließlich sind Parteitagsdelegierte meist auf anderen Gebieten sachkundig als auf dem der Rüstungskontrolle. Sie mußten sich auf das verlassen, was die Experten ihnen sagten, und die meisten taten dies, weil sie Vertrauen zum Kanzler und zum Verteidigungsminister hatten und dies auch demonstrieren wollten, oder weil sie dem Anpassungsdruck nicht standhielten, der fast körperlich spürbar auf dem Kongreßzentrum lastete.

Auch von den wenigen, die, wie der Autor, mit Nein stimmten, kann kaum einer behaupten, sein Nein sei ausreichend fundiert gewesen. Es war eher Mißtrauen gegenüber der Expertokratie, Stutzigwerden durch einige Widersprüche in der Argumentation der Befürworter, vielleicht auch politischer Instinkt , was ihnen sagte: Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß wir über Aufrüstung zur Abrüstung kommen. Die gründliche Information fand erst nach der Entscheidung statt, falls man sich selbst darum bemühte und an ergiebige Informationsquellen herankam. 

Aber die Entscheidung war gefallen. Der Zuckerguß um die bittere Pille war die Versicherung, zwischen dem Beschluß zur Aufstellung der 572 neuen Raketen und ihrer «Dislozierung» vergingen Jahre, in denen über beiderseitige Abrüstung so verhandelt werden müsse, daß — bei entsprechenden sowjetischen Konzessionen — die Zahl der neuen Raketen «bis auf Null» reduziert werden könne. Wer von den Delegierten wußte schon, daß die Carter-Administration Verhandlungen mit diesem Ziel zu gar keinem Zeitpunkt wollte und daß ein neuer US-Präsident daran noch weniger interessiert sein könnte?

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   Die Ideologie vom Gleichgewicht   

 

Wie ökonomische Zwänge über den Begriff «Wachstum» erzeugt oder doch übertragen werden, so die militärischen über den des «Gleichgewichts». Ist es in der Ökonomie das Denken in Wachstumsraten, das jeden neuen Ansatz blockiert, so ist es in Fragen der Rüstung das Suchen nach einem — nie definierten und in der Praxis nicht definierbaren — Gleichgewicht. Wer in solchen Schlüsselbegriffen nur Transmissionsriemen dominierender Interessen sehen will — etwa des militärisch-industriellen Komplexes —, sollte dabei nicht übersehen, daß ohne Transmissionsriemen die Maschine nicht läuft. Es lohnt sich also, solchen Begriffen auf den Grund zu gehen.

«Abrüstung, natürlich, und ob wir sie wollen! Nur muß das Gleichgewicht gewahrt bleiben, genauer gesagt: wiederhergestellt werden, denn ohne Gleichgewicht gibt es keinen Frieden.» Wer wollte gegen solche Argumentation frontal angehen — es sei denn als radikaler Pazifist? Der Begriff des Gleichgewichts ist innenpolitisch zum Schlagstock geworden gegen alle, die sich nicht mit jenem niederschmetternden Fazit abfinden wollen, das Leslie Gelb, jahrelang für Koordination zwischen den USA und der Nato in Sachen Rüstungskontrolle verantwortlich, 1979 gezogen hat: «Die Rüstungskontrolle war im wesentlichen ein Fehlschlag. Drei Jahrzehnte amerikanisch-sowjetischer Verhandlungen haben wenig mehr erreicht, als den Rüstungswettlauf zu kodifizieren.»48 Dabei wären wir heute froh, wenn diese Art Rüstungskontrollpolitik noch funktionierte. Die Devise für die achtziger Jahre lautet eher: Aufrüsten, um abzurüsten, wobei dieselben Politiker — meist in den USA —, die nicht laut genug den Mangel an militärischem Gleichgewicht beklagen konnten, jetzt davon träumen, dieses Gleichgewicht durch eigene Überlegenheit abzulösen.

48)  Zitiert nach Hans Günter Brauch, Entspannungspolitik in Europa oder neuer Kalter Krieg?, in: Aufrüsten, um abzurüsten?, hg. von der Studiengruppe Militärpolitik, Reinbek 1980 (roak4717), S. 147

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Schon Präsident Carter hatte am 23. Januar 1980 — sechs Wochen nach dem «Nachrüstungsbeschluß» der Nato — in seiner Botschaft zur Lage der Nation schlicht verkündet: «Ich habe mich daher entschieden, daß die Vereinigten Staaten die stärkste aller Nationen bleiben.»49 Davon unterscheiden sich manche Töne, die von Präsident Reagan zu hören waren, nur wenig: Ihm schwebt offenbar der Versuch vor, die ökonomisch ungleich schwächere Sowjetunion zu Tode zu rüsten, und niemand kann sagen, inwieweit seine praktische Politik sich von solchen Vorstellungen leiten läßt.

 

Wo man wirklich Bescheid weiß, wird die magische Formel vom Gleichgewicht nicht übermäßig ernst genommen. Von Christian Hacke, Professor an der Hochschule der Bundeswehr in Hamburg, stammt der Satz: «In der Geschichte gibt es keine Phase, in der die Staatsmänner Gleichgewicht wirklich als Gleichgewicht verstanden haben. Gleichgewicht ist eine fragwürdige wissenschaftliche Kategorie — es ist politisch immer ein Kampfbegriff gewesen. Indem man Gleichgewicht forderte, suchte man stets die eigene Überlegenheit, den eigenen Vorteil. Diese Doppelbödigkeit gilt es zu berücksichtigen, wenn man über Gleichgewicht spricht.»50 

So gibt es nicht die geringste Chance, daß sich die beiden großen Kontrahenten in der Praxis darauf einigen könnten, was Gleichgewicht sei. Und die Experten wissen dies. Was heißt Gleichgewicht? Will man globales Gleichgewicht oder lokales? Sollen die beiden Blöcke insgesamt gleich stark sein, was notwendig dazu führt, daß der eine an einem Ort, der andere am anderen stärker ist, oder will man an jeder, auch der bisher schwächsten Stelle möglicher Konfrontation mindestens so stark sein wie der andere? Dann ist globales Gleichgewicht nicht denkbar. Wie soll die Volksrepublik China — vielleicht der eigentliche Alptraum vieler Sowjetbürger — in die Rechnung einbezogen werden, wie das rasch aufrüstende Japan? Wie soll die Nato unterscheiden, welcher Teil sowjetischer Rüstung China im Auge hat?

Will man ein Gesamtgleichgewicht oder eines in jeder einzelnen Waffenart? Will man ein nukleares Gesamtgleichgewicht — also unter Einschluß aller strategischen Langstreckenwaffen —, oder soll auch in Europa, bei den «eurostrategischen Waffen», ein eigenes Gleichgewicht hergestellt werden?

49)  Zitiert nach Hans Günter Brauch, a. a. O., S. 156
50)  Bergedorfer Gespräche, Protokoll Nr. 66/1980, S. 37

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Und wenn man dies will, geht es dann um das Gleichgewicht der Sprengköpfe oder um das der Optionen, der Handlungsmöglichkeiten? Reicht es, wenn der Gegner weiß, daß die Nato in jedem Fall, auch als Angegriffene, noch die Kraft zu einem vernichtenden zweiten Schlag hätte, oder müssen die Raketenkräfte, die sich in Europa gegenüberstehen, gleich stark sein?

Und wenn auch in Europa Gleichgewicht der Raketenrüstung walten soll, was ist dann wichtiger, die Zahl der Sprengköpfe oder ihre Zuverlässigkeit (reliability)? Die Explosionskraft der Sprengköpfe oder ihre Zielgenauigkeit (accuracy)? Ihre Überlebensfähigkeit nach einem gegnerischen Erstschlag (surviveability) oder ihre Fähigkeit, die gegnerische Abwehr zu durchstoßen (penetration)? Ihre Beweglichkeit (mobility) oder die Vielfalt ihrer Einsatzmöglichkeiten (flexibility)? Und wie addiert man alle diese Faktoren so, daß keiner den Eindruck hat, er solle übervorteilt werden?51

Und wie ist dies bei konventionellen Verbänden? Wertet man die sowjetischen Divisionen in der CSSR als Speerspitze gegen Bayern oder als notwendige, gebundene Besatzungstruppen? Was ist der Kampfwert der polnischen Armee für die Sowjetunion? Welches Maß an Sabotage hätten die Sowjettruppen bei einem Angriff nach Westen im osteuropäischen Hinterland zu erwarten?

Es gehört wenig Phantasie zu der Einsicht, daß es niemals Einigung darüber geben kann, was Gleichgewicht im konkreten Falle sei, und dies um so weniger, als beide Seiten gerne von «worst-case-Studien» ausgehen, also ihre Sicherheit nur dann für gegeben erachten, wenn sie auch im schlimmsten aller denkbaren Fälle noch verteidigungsfähig bleiben. Und sogar wenn man sich, allen Hindernissen und aller Erfahrung zum Trotz, doch einmal über Gleichgewicht einigen könnte, so wäre dies nur von kurzer Dauer. Denn dann käme ins Spiel, was Graf Baudissin zu bedenken gibt, «daß Parität, selbst wenn sie quantitativ meßbar wäre, bei den unterschiedlichen strategischen Anforderungen, dem dynamischen Charakter und den Phasenverschiebungen der Modernisierungsprozesse nicht festzuschreiben ist. Der Versuch muß unausbleiblich zur Beschleunigung des Wettrüstens auf allen Ebenen und allen Rüstungsgebieten führen, — insbesondere, wenn er noch mit dem Streben nach partieller Überlegenheit verbunden wird.»52)

51)  Siehe dazu Dieter S. Lutz, How Much is Enough?, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Heft 17, S. 3f

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Man könnte und kann sich schon darauf nicht einigen, welche neue Raketengeneration nur der normale Ersatz veralteter Typen, welche der Versuch sein soll, dem anderen eine Nasenlänge voraus zu sein, zumal beide Motive sich in der Regel verbinden. Wohin der Versuch — ernst gemeint oder nicht — führen muß, einem Gleichgewicht nachzujagen, das, sobald man es fassen will, in immer weitere Fernen entschwindet, haben im November 1980 einige Wissenschaftler unter Führung von Volker Rittberger in einer Denkschrift beschrieben:

«Das militärischen Kräftevergleichen eigentümliche worst-case-Denken, das bei der Verteidigungsplanung dem Potential der Gegenseite optimale Schlagkraft unterstellen muß, um auch für den schlimmsten aller denkbaren Fälle hinreichend gerüstet zu sein, programmiert die Überbewertung der militärischen Fähigkeiten des potentiellen Gegners vollends vor. Die militärpolitische Konsequenz solcher militärischer Lageanalysen drückt sich in dem Bemühen der sich unterlegen wähnenden Seite aus, durch «Nach»-Rüstungen militärische Parität oder Überlegenheit herzustellen. Da der Logik des Paritäts- und worst-case-Denkens zufolge die Gegenseite darin eine «Vor»-Rüstung, also den weiteren Ausbau eines bereits überlegenen Potentials sehen muß, wird sie ihrerseits zur Wahrung der «Parität» entsprechende Rüstungsschritte einleiten, die dem ursprünglich «nach»-rüstenden Akteur als Versuch erscheinen müssen, bestehende Disparitäten zu verstärken. Dieser wechselseitige rüstungsdynamische Prozeß läßt sich ad infinitum fortsetzen. Er mündet in ein sicherheitspolitisch perspektivloses und riskantes Wettrüsten, in dessen Kontext die — subjektiv plausibel mit dem angeblichen Überlegenheitsstreben der anderen Partei begründbaren — Feindbilder stets aufs neue bestätigt werden.»53)

52)  Wolf Graf von Baudissin, Sicherheit für Europa, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Heft 18, August 1980, S. 9
53)  Denkschrift. Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. — DGFK — PP, Nr. 26, S. 3

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Hinter den Reden von Gleichgewicht verbirgt sich also letztlich ein ziemlich simpler Sachverhalt, den Carl Friedrich von Weizsäcker so beschrieben hat:

«Das übliche Grundmißverständnis des Problems des Wettrüstens besteht darin, daß jede Seite der anderen ständig übermäßige, also offenbar aggressiv gemeinte Rüstung vorwirft. Dieser Vorwurf ist meist sogar aufrichtig. Wenn zwei Gegner einander mißtrauen, fühlt sich aber in Wahrheit jeder erst dann sicher, wenn er erheblich stärker ist als der andere. Die Bedingung, daß jeder stärker sei als der andere, ist unerfüllbar. So jagen beide einem vor ihre Nase gebundenen Köder nach, den sie nie erreichen; das nennt man Wettrüsten.» 54)

 

   Beispiel «Nachrüstung»   

 

Ein klassisches Beispiel für diesen Mechanismus ist der sogenannte Nachrüstungsbeschluß der Nato vom 12. 12.1979.

Schon der Name ist exemplarisch. Wenn jemand «nach»-rüstet, muß einanderer«vor»-gerüstet haben. Dies war zwar immer schon so, zumindest in den Augen von Militärexperten, aber jetzt mußte es auch ausdrücklich gesagt werden. Offenbar glaubte man, es jetzt doch nötig zu haben, das Drehen an der Rüstungsschraube ausdrücklich als Nachrüstung zu bagatellisieren.

Exemplarisch ist auch die schmale Grundlage großzügig interpretierter Information. Eines der wichtigsten Argumente für den Nato-Beschluß war die Behauptung, die neue, bewegliche, also schwer ausschaltbare SS 20-Rakete der Sowjets sei mit drei Gefechtsköpfen ausgestattet, die sich in drei verschiedene Ziele steuern ließen. Im Verteidigungsweißbuch 1979, dem man ungeprüfte Behauptungen nicht zutrauen sollte, heißt es:

54)  C. F. v. Weizsäcker, Zwölf Thesen zur Kernwaffenrüstung, in: Die Zeit, 16. 11. 1979, S. 14
55)  genau: Multiple Independently Targeted Reentry Vehicles

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«Für jede Abschußvorrichtung sind mehrere Raketen mit jeweils drei Sprengköpfen vorgesehen. Die SS 20-Rakete ist eine grundlegende Neuerung und keine Modernisierung im sowjetischen Raketenpotential. Sie ist mobil und deshalb fast unverwundbar, mit MIRV55 (Mehrfachsprengköpfen) hoher Treffsicherheit ausgerüstet und hat eine Reichweite bis zu 5000 km. Mit MIRV vervielfacht der Warschauer Pakt das Potential seiner gegen Westeuropa einsetzbaren nuklearen Sprengköpfe.»56) 

Einwände von Alfred Mechtersheimer, hier handle es sich mehr um «Mutmaßungen» als um gesicherte Analysen,57 wurden vom Tisch gewischt.

Inzwischen sind in der Nato selbst Zweifel aufgekommen, ob die SS-20-Rakete — entgegen den ursprünglichen Annahmen — nicht doch nur mit einem Gefechtskopf ausgerüstet sei.58 Schon damit reduzierte sich die ausgemachte Bedrohung «um zwei Drittel auf einen Rest, der zum Nachrüstungsbeschluß kaum Anlaß gegeben hätte».59)

Exemplarisch ist auch die innere Widersprüchlichkeit der Argumentation. Einerseits wurde vorgebracht, es gehe darum, ein eurostrategisches Gleichgewicht wiederherzustellen, das durch die — seit 1974 (!) vorhandene und seit 1977 aufgestellte — SS 20-Rakete gestört worden sei.

Im Weißbuch 1979 hatte es noch geheißen: «Die TNF (Theater Nuclear Forces) der Nato sind mit dem nuklear-strategischen Langstreckenpotential der USA konzeptionell und strukturell eng verkoppelt. Das nukleare Kräfteverhältnis in Europa ist keine isolierte Größe und kann nur im Zusammenhang des globalen nuklearen Kräfteverhältnisses gesehen und beurteilt werden.»60)  

Was gilt nun: Soll es auch in Europa ein eigenes nukleares Gleichgewicht geben — wie immer man es beschreiben will —, oder ist dies nicht nötig, weil die Mittelstreckenwaffen beider Seiten in Europa nur Teile eines globalen Gleichgewichts sind? Ursprünglich war von der Bundesregierung gefordert worden, die Sowjetunion müsse ihre SS 20-Raketen aus Osteuropa abziehen, wenn die Nato auf die Nachrüstung verzichten solle. Dann machte der Bundeskanzler den Vorschlag, beide Seiten sollten die Stationierung weiterer Mittelstreckenraketen unterlassen, was wohl nur so gedeutet werden kann, daß die bereits aufgestellten SS-20 das «Gleichgewicht» doch nicht so nachhaltig störten.

56)  Verteidigungsweißbuch 1979, S. 106  
57)  Alfred Mechtersheimer, Modernisierung gegen Sicherheit, in: Aufrüsten, um abzurüsten?, a. a. O., S. 57  
58)  Gerd Bastian, Bevor der Wettlauf außer Kontrolle gerät, Vorwärts, Nr. 52/1980, S. 17
59)  ebenda, S. 17  
60)  Verteidigungsweißbuch 1979, S. 105

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Wenn man schon so etwas wie Raketen-Gleichgewicht in Europa anstrebte, obwohl dieses doch «im Zusammenhang des globalen nuklearen Kräfte­verhältnisses gesehen und beurteilt werden» sollte, so wäre ja immerhin denkbar gewesen, daß man sich mit einem Gleichgewicht der Optionen, also der Handlungsmöglichkeiten, hätte zufriedengeben können. Daß dieses Gleichgewicht der Optionen auch ohne «Nachrüstung» bestanden hätte, hat Dieter S. Lutz im einzelnen nachgewiesen.61

Lutz geht von einem worst-case-Szenario aus, also vom denkbar ungünstigsten Fall:

«1. Die Nato führt als <Defensivsystem> keinen eurostrategischen Erstschlag aus; die <Prämie> des Erstschlages (first strike) fällt also nicht ihr, sondern der Warschauer Vertragsorganisation zu.

2. Die eurostrategischen Mittelstreckenraketen der Sowjetunion können bei einem <first strike> von der Nato nicht im Sinne eines Duells <abgedeckt> werden; eine <counter-force>-Maßnahme der Nato scheidet insofern aus.

3. Der gegnerische Angriff zerstört alle land-, luft- und über-wassergestützten Nuklearsysteme (inklusive Flugzeugträger) sowie alle im Hafen liegenden U-Boote der Nato in Westeuropa.»62

Sogar in einem solchen Fall wäre die Nato — und zwar unabhängig von den Langstreckenraketen in den USA — nicht hilflos. Auch wenn von den vier britischen, fünf französischen und zwei bis drei amerikanischen U-Booten, die dem europäischen Nato-Hauptquartier unterstellt sind, einige ausfielen, so bliebe doch noch eine Fähigkeit zum vernichtenden zweiten Schlag bestehen: «Zusammenfassend können wir also — auch nach einem nuklearen counter-force-Schlag der WVO — von einem relativ gesicherten mathematischen Bestand mit einer Sprengkopfmindestzahl in Höhe von 400 Mehrfachsprengköpfen auf zwei bis drei U-Booten Poseidon C-3, von 96 Mehrfachsprengköpfen auf zwei britischen Palaris A-3 und von 40 Sprengköpfen des Typs M-2/20 auf zwei bis drei französischen U-Booten ausgehen.»63

61)  Im folgenden wird nicht nach dem ursprünglichen Text des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Heft 17, zitiert, sondern aus der — leicht überarbeiteten — Fassung, die unter dem Titel «Wieviel an Vernichtung(skapazität) ist genug», in: Aufrüsten, um abzurüsten? S. 78ff, erschienen ist

62)  ebenda, S.82 f  

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Wenn man davon noch Abzüge vornimmt, weil vielleicht nicht alle Raketen fehlerlos funktionieren und ein bestimmter Teil nicht zum Ziel durchdringt, so bleiben nach Lutz noch 347 Sprengköpfe übrig. Aber sie haben immerhin noch eine Sprengwirkung vom Fünf- bis Sechstausendfachen der Hiroshima-Bombe. Auch im schlimmsten Fall könnten also noch die wichtigsten städtischen Zentren in der Sowjetunion ausgelöscht werden. Und dieser Rest der Sowjetunion stünde dann den (noch) intakten Weltmächten USA und China gegenüber.

Solche Rechnungen sind so makaber wie die Wirklichkeit, die sie aufzuzeichnen versuchen. Dahinter steht die Frage, was dann an Zerstörungskraft genug sei, um den anderen von Abenteuern — falls er sie überhaupt im Sinne haben sollte — abzuschrecken. Ist es nötig, an jeder wichtigen Stelle dieser Erde ein «Gleichgewicht» zu etablieren, das jedem erlaubt, in jedem denkbaren Fall den anderen mehrmals zu vernichten?

Daß es Vernichtungspotentiale gibt, deren Steigerung militärisch keinen Sinn mehr ergibt, scheint auch in Moskau nicht unbekannt zu sein. Walentin Falin sagte auf eine Frage des Spiegel: »Aber jemand muß doch fragen, wo endet das? Die Amerikaner und wir zusammen haben schon genügend Atomwaffen, um jedes Leben auf der Erde fünfzehnmal auszulöschen. Wozu fünfzehnmal? Genügt nicht zweimal?»64

Wo stecken hier die Zwänge, die sich schließlich selbständig machen? Daß sie vor allem in den Köpfen der Politiker stecken, hat schon Robert McNamara 1967 als Verteidigungsminister der USA vermutet, als er in Blick auf sich selbst meinte, ein Verteidigungsminister, der nur seinem unmittelbaren Auftrag folge, käme kaum umhin, mehr als notwendig zu rüsten, da er fürchte, angesichts der begonnenen oder bevorstehenden Rüstungen des Gegners seine Pflicht zu versäumen, wenn er sich nicht immer auf den schlimmsten Fall einrichte.65

63) ebenda, S.84  

64) Spiegel Nr.51, 1980, S.102  

65) Siehe Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, herausgegeben von C.Weizsäcker, München 1971, S.16

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Die Vermutung, daß die Zwänge nicht von außen kommen, wird verstärkt durch die Haltung des Bundeskanzlers, der, nachdem er den SPD-Parteitag in Berlin beschworen hatte, die Führungsmacht des Bündnisses nicht durch ein Nein zur «Nachrüstung» zu brüskieren und das Bündnis nicht zu gefährden, zehn Monate später, in der denkwürdigen letzten Fernsehsendung der Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl 1980, sich einiges darauf zugute tat, nicht die Amerikaner, er selbst habe zuerst die Notwendigkeit der Nachrüstung erkannt.

Und in der Tat: Die Geburtsstunde der Nachrüstung war der Vortrag von Helmut Schmidt am 28.10.1977 vor dem Londoner Institut für strategische Studien. Damals stellte er die These auf, nach Abschluß der Salt-Verträge zwischen den beiden Weltmächten müsse nun ein spezielles, regionales Gleichgewicht bei den eurostrategischen Waffen geschaffen werden.66

 

   Mehr Rüstung — weniger Sicherheit  

 

Zynisch ließe sich argumentieren, wenn nicht einzusehen sei, warum doppelter Tod weniger gefährlich sein solle als fünfzehnfacher, so spreche auch nichts dafür, daß dreißigfacher Tod gefährlicher sei als fünfzehnfacher. Also komme es auf die eine oder andere Drehung der Rüstungsspirale nur insofern an, als dadurch riesige Mengen an Geld, Rohstoffen und Energie verschleudert würden. Mit Sicherheit habe dies ohnehin — im Positiven wie im Negativen — nichts mehr zu tun.

Dies ist — darauf hat C.F.v.Weizsäcker schon 1971 aufmerksam gemacht — ein Irrtum: 

«Die technische Welt stabilisiert sich nicht von selbst. (...) Heute sind wenigstens zwei technische Entwicklungen im Gang, die geeignet sein können, diese Stabilität zu gefährden: Antiraketen (ABM = Anti-Ballistic Missiles) und Raketen mit mehrfachen Sprengköpfen. Erstere sollen anfliegende Raketen vor Erreichung des Ziels vernichten, letztere tragen mehrere Sprengköpfe nahe ans Ziel, die dann gesteuert mehrere verschiedene Punktziele treffen können; sie gestatten so zum Beispiel, von einer einzigen Basis aus eine Rakete abzuschießen, die mit ihren verschiedenen Sprengköpfen fünf verschiedene gegnerische Raketenbasen vernichten kann. Daß diese letztere Technik wieder eine Verstärkung des ersten Schlages gibt und die gegnerische Fähigkeit zum zweiten Schlag herabmindern oder auslöschen kann, ist leicht einzusehen.»67

66) Abrüstung und Rüstungskontrolle, Hg. Auswärtiges Amt, Bonn 1978, S. 124ff

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Dazu kommt eine technische Neuerung, die vielleicht noch eher dazu führen kann, die Fähigkeit zum zweiten Schlag und damit die gegenseitige Abschreckung in Frage zu stellen: die wachsende Zielgenauigkeit von Raketen. Je schärfer die Zielsicherheit, desto größer die Chance, Raketenstellungen des Gegners — soweit sie nicht beweglich sind — mit dem ersten Schlag auszuschalten. Dies führt dazu, daß Experten nun wieder darüber nachdenken, ob es nicht doch begrenzte Atomkriege geben könnte, bei denen mit großer Präzision die Raketenstellungen oder Befehlszentralen des anderen ausgeschaltet werden könnten , und dies ohne millionenfache — oder, wie es in der Fachsprache heißt, nicht mehr akzeptable — Verluste in der Zivilbevölkerung.

In diesem Zusammenhang gehört die Richtlinie Nr. 59 des Nationalen Sicherheitsrats der USA, von Präsident Carter Ende Juli 1980 unterzeichnet. Richard Burt berichtet am 13.8.1980 in der <New York Times>, die zuständigen Beamten hätten erklärt, 

«um die Fähigkeit der USA zu Nadelstichschlägen (pinpoint strikes) zu stärken, hätten Mr. Brown (Verteidigungsminister) und Mr. Brzezinski (Sicherheitsberater) in den ersten Monaten des Jahres 1979 den Präsidenten dazu überredet, den Vorschlag für eine neue bewegliche Rakete, die MX, zu billigen. Die Rakete, die gegen Ende der achtziger Jahre einsatzfähig sein soll, ist nicht nur dazu bestimmt, einem ersten Schlag zu entgehen, sie hat auch die Zielgenauigkeit, die man für solche Erstschläge braucht68

Hier wird also ein Raketensystem entwickelt, das den entwaffnenden — nicht unbedingt vernichtenden — Erstschlag führen kann — oder können soll —, ohne selbst einen ersten — oder zweiten — Schlag fürchten zu müssen.

Burt fährt fort: «Nachdem Mr. Carter sich im Mai 1979 für die MX entschieden hatte, drängte Mr. Brzezinski in verschiedenen Koordinierungssitzungen (interagency meetings) auf eine Richtlinie des Präsidenten, die diese neue Strategie einbezog.»69

67)  Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, S. 15    

68)  New York Times vom 13. 8. 1980

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Es geht also um eine neue counter-force-Strategie, eine Strategie, mit der die militärische Schlagkraft des Gegners getroffen und möglichst ausgelöscht werden soll.

Einen Tag nach Burt denkt Flora Lewis in der New York Times darüber nach, welche Ziele nach der Richtlinie Nr. 59 getroffen werden sollen. «... Wenn sie (die Ziele) <hart> sind — also die sowjetischen Raketenstellungen, die andere Waffen nicht sicher treffen könnten, die MX aber wahrscheinlich doch —, dann könnte man in Moskau das Gefühl haben, man hätte Grund, einen Erstschlag der USA zu befürchten und dem durch einen eigenen Erstschlag zuvorzukommen.»70)

Damit wären wir an dem Punkt, vor dem C.v.Weizsäcker Anfang der siebziger Jahre warnte. Wir wären am Ende jener Stabilität, die sich aus der Überzeugung beider Seiten ergibt, die jeweils andere werde aus Furcht vor dem nicht vermeidbaren, tödlichen zweiten Schlag auf keinen Fall losschlagen:

«Nur wenn die Amerikaner wissen, daß die Russen ruhig schlafen, können die Amerikaner ruhig schlafen und vice versa. Die Versuchung, in irgendeiner Phase der ständig wechselnden Kräfteverhältnisse doch zum Präventivschlag zu greifen, ist gerade für den objektiv schwächeren der beiden Partner groß. Diese Versuchung ist dann am kleinsten, wenn auch der Stärkere weiß, daß der Schwächere immerhin stark genug ist, den Stärkeren auch im zweiten Schlag noch vernichtend zu treffen; dann ist der Stärkere nicht in Versuchung, seine Überlegenheit erpresserisch auszunützen, und der Schwächere ist nicht in Versuchung, eine solche Erpressung zu fürchten und ihr kriegerisch zuvorzukommen. Der Verwirklichung dieses Gedankens verdanken wir zu einem erheblichen Teil die Entspannung zwischen den Weltmächten in den sechziger Jahren.»71

Genau dies könnte in den achtziger Jahren ins Wanken geraten. Hier liegt wohl auch einer der Gründe, warum Weizsäcker für dieses Jahrzehnt mit erhöhter Kriegsgefahr rechnet.

69)  ebenda  
70)  New York Times, vom 14.8.1980  
71)  C. F. v. Weizsäcker, a.a.O., S. 15  

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Es bedarf offenbar einer gewissen Distanz vom Alltag des inneren Machtkampfes, um offen von solcher Realität zu sprechen. In seiner Abschiedsbotschaft an die amerikanische Nation hat der scheidende Jimmy Carter die wachsende Gefahr des Nuklearkrieges beschworen: «Vielleicht ist es nur noch eine Frage der Zeit, bevor Wahnsinn, Verzweiflung, Neid oder Fehlurteile diese schreckliche Gewalt entfesseln.»72

Auf diesem Hintergrund ist auch der dramatische Appell der 30. Pugwash-Konferenz zu verstehen, die im August 1980 in Breukelen (Holland) erklärte: «Neue Entwicklungen, Raketen mit Mehrfachsprengköpfen, größerer Zielgenauigkeit und neue strategische Systeme führen zu vertieftem Argwohn und verminderter Stabilität...» 

Die Wissenschaftler der Pugwash-Konferenz warnen: 

«1. Es ist eine Täuschung zu glauben, daß ein Atomkrieg in Umfang und Qualität begrenzt werden kann, oder auch, daß ein Atomkrieg gewonnen werden kann.
2. Es ist eine Täuschung zu meinen, daß in einem Atomkrieg Zivilschutz eine Überlebenschance für die Gesellschaft bieten kann. 
3. Es ist eine Täuschung zu glauben, daß eine counter-force-Strategie die Vergeltungskapazität der anderen Seite vernichten kann.
4. Es ist eine Täuschung zu verlangen, daß bei Atomwaffen Parität nötig sei für wirksame Abschreckung. Wenn jede Seite ein Mindestmaß an Abschreckungskraft hat, also die Fähigkeit, unannehmbaren> Schaden anzurichten, und wenn keine Seite die Fähigkeit hat, die Vergeltungskraft des Gegners auszuschalten, gibt es keinen vernünftigen Grund, eine größere Zahl oder größere Vernichtungskraft der gegnerischen Waffen zu fürchten.»73

Was bedeutet in diesem militärstrategischen Umfeld der Nachrüstungsbeschluß? 

Auch wenn die Frage berechtigt ist, ob die Sowjetunion die Modernisierung ihrer Mittelstreckenraketen mit der SS 20 nicht doch überzogen hat, spricht vieles für die Analyse, die Gerd Bastian ein Jahr nach dem Beschluß vorlegt:

72)  In allen Tageszeitungen am 16.1.1981  
73)  Erklärung der 30. Pugwash-Konferenz von Breukelen (Niederlande) vom 20. bis 25. August 1980, eigene Übersetzung von S. 2 

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«Mit der vorgesehenen Nachrüstung würde der Westen denn auch nicht etwa <gleichziehen>, sondern zum einseitigen Vorteil der USA eine für die Sowjets neue und unangenehme Lage schaffen. Eine Lage nämlich, in der einzig die westliche Supermacht imstande wäre, mit landgestützten, nuklearen Mittelstreckenwaffen vom europäischen Festland aus tief in das Gebiet der östlichen Gegenmacht hineinzuwirken; und zwar mit Nuklearwaffen, die nicht den Beschränkungen unterliegen, welche in den Salt-Abkommen — ob ratifiziert oder nicht — hinsichtlich all jener Systeme ausdrücklich vereinbart worden sind, mit denen die Supermächte sich bisher gegenseitig bedrohen konnten.
   Nachdem die Sowjetunion über keine vergleichbare Möglichkeit verfügt, die westliche Gegenmacht mit Nuklearwaffen zu bedrohen, die außerhalb des in Salt II vereinbarten Höchstbestandes bereitgestellt werden könnten, ist einleuchtend, daß sie das Vorhaben der Nato als Verletzung des im gegenseitigen Abschreckungsverhalten stets beachteten Grundsatzes gleicher Gefährdung und damit als Provokation bewertet.»74

Vereinfacht heißt dies: Wenn eine Weltmacht das Zentrum der anderen vernichten kann, ohne die eigenen Langstreckenwaffen einsetzen und ohne damit eigenes Territorium unmittelbar gefährden zu müssen, so verstößt dies gegen die Spielregeln. Alfred Mechtersheimer erinnerte deshalb 1979 an die Formel, mit der Kennedy und Chruschtschow 1963 die Kuba-Krise beigelegt haben: «Seit über sechzehn Jahren gilt diese Absprache, wonach beide Supermächte außerhalb ihres Landes keine Raketen stationieren, die des anderen Territorium erreichen.»(75)

Mechtersheimer steht nicht allein mit der Schlußfolgerung, daß mit dem Nachrüstungsbeschluß die <Europäisierung eines Atomkriegs>(76) möglich werde.

Was soll die Sowjetführung im Ernstfall tun, wenn einmal 108 Pershing II-Raketen vom Boden der Bundesrepublik aus, dazu 464 Marschflugkörper (Cruise Missiles) von Großbritannien, Italien und der Bundesrepublik aus Moskau, Leningrad oder Kiew bedrohen können?

Wird die Versuchung nicht übergroß werden, in einem Fall dramatisch wachsender Spannung — und solche Fälle wird es geben, wenn die Supermächte immer wieder in Konflikte der Dritten Welt verwickelt werden — erst einmal mit der Bedrohung aus Westeuropa aufzuräumen?

Wie mehr Wachstum noch lange kein besseres Leben herbeizaubert, so mehr Rüstung noch lange keine bessere Sicherheit.

Es gibt Formen der Rüstung, die sogar den Frieden durch Abschreckung gefährden, also das einzige Gleichgewicht, das längst besteht, jenseits allen Raketenzählens: das Gleichgewicht des Schreckens. Es stimmt: Auch eine Politik der Abrüstung hätte darauf zu achten, daß die gegenseitige Abschreckung so lange erhalten bliebe, bis sie entbehrlich wäre. Daher wird auch eine Politik der Abrüstung nicht ohne Risiken sein. Die Arbeitsgruppe Abrüstungsplanung um Volker Rittberger hat recht:

«Natürlich ist auch eine Politik der Sicherheit durch Abrüstung nicht von Risiken frei. Gleichwohl gilt: Militärische Sicherheitspolitik ist mit ungleich höheren Risiken behaftet, die von jenen, die unermüdlich die Gefahren der Abrüstung beschwören, paradoxerweise in Kauf genommen werden. Die Risikobereitschaft zum Krieg muß durch die Risikobereitschaft zum Frieden ersetzt werden.»(77)  

Erst wenn sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß die Risiken eines Wettrüstens noch größer sind als die des Abrüstens, erst wenn niemand mehr glaubt, der Weg zur Abrüstung führe über Aufrüstung, erst wenn kein Politiker mehr in der Lage ist, mit dem Schlag-Wort vom Gleichgewicht Friedensinitiativen totzuschlagen, erst wenn die Sachzwänge der Rüstungspolitik in den Köpfen der Rüstungsexperten lokalisiert werden, hat Friedens­politik eine Chance, eine Chance auch gegen eine Rüstungslobby, die ihre Interessen dann ohne Umschweife und ohne den Transmissionsriemen einer Sachzwang-Ideologie vertreten müßte.

Es wäre eine Politik, die sich nicht mehr im Rechnen, Zählen und Vergleichen, also nicht mehr im Technokratischen erschöpft, sondern eine Politik, die wählt, eine Wahl trifft, wohl wissend, daß wir nur zwischen verschiedenen Risiken zu wählen haben.

94-95

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74)  Vorwärts Nr. 52/1980, S.17  

75)  Alfred Mechtersheimer, Modernisierung gegen Sicherheit, a.a.O., S.55  

76)  ebenda, S. 61

77)  Denkschrift - Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung e. V. — DGFK — PP, Nr. 26, S. 6

 

 

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Von Dr. Erhard Eppler