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  Teil 4   Wir und die anderen: Territorialität, Gruppenbildung, Xenophobie und Ethnizität  

 

 

 

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Abgrenzung beobachten wir auf allen Ebenen des Lebendigen. Jede Zelle grenzt sich ab, und ein höherer Organismus reagiert bekanntlich mit Immunreaktion selbst auf Gewebe der eigenen Art, was Organ­trans­plantationen erschwert. Organismen grenzen sich ebenfalls voneinander ab. Oft verfügen sie für diesen Zweck über besondere Verhaltensweisen der Kommunikation. Der Reviergesang vieler männlicher Singvögel signalisiert Rivalen in unermüdlicher Wiederholung: »Das Gebiet ist besetzt!« Dies erspart das Kämpfen. 

Territoriale Säuger setzen als chemische Hausschilder »Duftmarken« ab. Der Dachs drückt dazu die Öffnung seiner unter der Schwanzwurzel befindlichen Drüsentasche »stempelnd« auf markante Punkte wie Steine oder Baumstümpfe in seinem Gelände. Territoriales Verhalten ist unter den Wirbeltieren von den Fischen bis hinauf zu den Säugern eine weitverbreitete Methode, mit deren Hilfe sich Tiere ihre Subsistenzbasis sichern: Konkurrenten um die gleichen begrenzten Ressourcen werden so auf Abstand gehalten.

Tiere können ein Revier als Einzelgänger verteidigen, als Junge betreuendes Elternpaar, wie das viele Vögel tun, und schließlich auch als Gruppe. Bei Hausmäusen bleiben die Nachkommen einer Familie unter günstigen Bedingungen beisammen und verteidigen ein gemeinsames Revier. In einem solchen Fall müssen die in einer Gruppe Zusammenlebenden sich auch erkennen. Hausmäuse markieren einander dazu mit ihrem Harn und schaffen so als Gruppenabzeichen einen Gruppengeruch. Auch ihr Gebiet markieren sie so21).

Die höheren in Gruppen lebenden Primaten sind in der Lage, Gruppenmitglieder individuell an persönlichen Merkmalen zu erkennen und benötigen daher keine Gruppenabzeichen. Die braucht der Mensch erst sekundär wieder, wenn seine Gemeinschaft über die seiner Natur gemäßen Kleinverbände zur anonymen Großgesellschaft heranwächst.

Bei Vögeln beschränken sich die Wir-Gruppen in der Regel auf Familien, die sich meist mit dem Selbständig­werden der Jungen auflösen. Bei monogamen Vögeln leben die verpaarten Eltern oft über mehrere Brüten miteinander, und gelegentlich, wie bei der Graugans, bleiben die Jungtiere auch längere Zeit bei den Eltern und ziehen mit diesen in die Winterquartiere. Sie lernen so den Zugweg. Aber erst bei den Säugern finden wir größere Wir-Gruppen. 

Bei den uns verwandtschaftlich näherstehenden Schimpansen zählen diese Gruppen 30-70 erwachsene Tiere, die ein gemeinsam verteidigtes Territorium besetzen. Weibchen können bei ihrer ersten Brunst in andere Territorien abwandern, was einen genetischen Austausch zwischen den Gruppen ermöglicht, doch nützen keineswegs alle heranwachsenden Weibchen diese Möglichkeit. Den Männchen sind die Möglichkeiten des Abwanderns verwehrt. Die männliche Nachkommenschaft einer Gruppe bleibt daher in ein und demselben Gebiet, und weil somit alle miteinander nahe verwandt sind, ist die Konkurrenz zwischen ihnen gemildert. Die Männergruppe bildet eine übergeordnete Solidargemeinschaft. Männliche Schimpansen patrouillieren in Gruppen ihre Reviergrenzen und verteidigen das Gebiet gemeinsam in kollektiver Aggression gegen Gruppenfremde51.

 

       Territorialität des Menschen     

 

Menschen besetzen und verteidigen ebenfalls Territorien, und zwar bereits auf der Stufe der Jäger und Sammler. Das Heim einer Familie ist bereits auf dieser Stufe ein von anderen als Eigentum respektierter und notfalls auch gegen sie verteidigter Privatbezirk. Ferner gibt es Gewohnheitsrechte auf Jagd- und Sammelgebiete einer Familie oder Sippe. Darüber hinaus besitzen Jäger und Sammler auch Gruppenterritorien.

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Die verschiedenen Lokalgruppen beanspruchen Rechte auf das Land, von dem sie leben, und verteidigen diese auch. Oft wird der territoriale Anspruch allein über symbolische Marker kundgetan. Verbinden sich diese mit einer Drohung, dann können sie sehr wirksam sein. So führen viele australische Lokalgruppen ihren Anspruch auf ein bestimmtes Gebiet auf Totemahnen zurück, die ihnen das Gebiet übergeben haben und es auch weiterhin schützen. Die sogenannten heiligen Stätten, die durch auffällige Landmarken gekennzeichnet sind und die man als Spuren des Totemahnen deutet, sind symbolisches Zentrum der Territorien und für fremde Männer absolut tabu. Ihnen würde Unheil zustoßen, wagten sie es, diese heiligen Stätten zu betreten.

Über die Fremde abhaltende Drohung hinaus entwickelten die Australier in diesem Zusammenhang zusätzlich ein kooperatives Konzept. Die Totemahnen werden oft als Tiermenschen gedacht, wobei der Tierahn eines Klans eine für das Überleben der Betreffenden wichtige Tierart darstellt. Durch ihre Rituale an den heiligen Stätten fördern Angehörige eines Klans das Gedeihen dieser Tiere, und zwar nicht nur in ihrem Gebiet, sondern auch im Gebiet ihrer Nachbarn: Der Emu-Klan fördert das Gedeihen der Emus, der Honigameisen-Klan das der Honigameisen und so fort. Es wäre daher höchst unzweckmäßig, würde ein Klan einen anderen ausrotten, denn dann würde auch eine geschätzte Nahrungsquelle versiegen. Andere Totemahnen verfügen als Regenmacher über Zauberkräfte, und sicher wäre es selbstmörderisch, den Regenklan zu vernichten. (Wichtig für das Funktionieren solcher symbolischer Regelungen ist natürlich, daß alle daran glauben.)

Menschen zeigen über die Territorialität hinaus auch einen deutlichen Wir-Gruppen-Zusammenhalt. Die Distanzhaltung zu den nicht zur Wir-Gruppe gehörenden Personen wird oft mit Territorialität verwechselt, so wenn verschiedene Autoren von »mobilen Territorien« sprechen, weil wandernde Familien oder größere Gruppen »Individualdistanzen« zu anderen einhalten.

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Im Laufe der Geschichte wuchsen die Kleinverbände zu größeren Gemeinschaften heran. Grund für diese Entwicklung war wohl die Tatsache, daß eine Gruppe in Konkurrenz mit anderen Vorteile hat, wenn sie mehr Personen als der Gegner zur Verteidigung oder für Eroberungskriege rekrutieren kann. Wir können diese Prozesse noch heute in Neuguinea und Südamerika verfolgen.

So gibt es in der Sprechergruppe der Eipo, die im Bergland von West-Neuguinea als neusteinzeitliche Pflanzer leben, Täler, in denen die einzelnen Dörfer in wechselnder Allianz oder auch allein auf sich gestellt einander bekriegen, und Täler wie im Eipomek-Tal, in denen das Bestreben deutlich ist, solche Kriege zu verhindern, um Feinden, die in anderen Tälern leben, geschlossener als Talgemeinschaft gegenübertreten zu können.

Zum Aufbau einer Talgemeinschaft bedienen sich die Eipo zunächst des familialen Appells der gemeinsamen Abstammung. Sie betonen, daß ein gemeinsamer Vorfahr als Kulturbringer durch Einfügen der Steine in den morastigen Grund das Land befestigt und bewohnbar gemacht habe. Und immer wenn sie ein Männerhaus bauen und danach die sakrale Pflanze, den Schopfbaum (Cordyline), pflanzen, tanzt einer mit einer Pflanze auch einen Stein heran, den er in den Grund einfügt. Er wiederholt so symbolisch die Tat des Ahnen und singt dabei auch die Geschichte. Der Hinweis auf den gemeinsamen Ahnen bekräftigt ideologisch das Gemeinsamkeitsgefühl, so wie wir es ja auch im Wort Nation betonen*. Des weiteren bemühen sich die Eipo um eine Vernetzung über ein Klansystem. Über ein Dutzend Klane führen sich jeweils auf einen fingierten Vorfahren zurück. Besucht nun einer vom unteren Talende ein Dorf im oberen Talende, wo er niemanden kennt, dann kann er bei seinem Klan Aufnahme und Hilfe finden, denn dazu sind sie als seine Verwandten verpflichtet.

* Nation von lat. natio: »das Geborenwerden; das Geschlecht; der Stamm, das Volk«; gehört zu lat. nasci - geboren werden. Das Wort Nation bezeichnet »also eigentlich den natürlichen Verband der durch die >Geburt< im gleichen Lebensraum zusammengewachsenen und zusammengehörenden Menschen« (Duden, Etymologie, Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, 1i<)%t)).

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Schließlich pflegen die Eipo des Eipomek-Tales mehrere Jahrgänge junger Männer des ganzen Tales gemeinsam in einer großen Zeremonie zu initiieren. Das schafft Verbundenheit, die gemeinsam Initiierten betrachten sich als »Brüder«. Wie bei uns ist man auch hier bemüht, das familiale Wir-Gruppen-Gefühl auf eine größere Gruppe zu übertragen. Da solche Tälergemeinschaften zunächst aus kleineren Gruppen Nahverwandter hervorgingen und da man ja innerhalb eines Tales bevorzugt heiratet, sind hier in der Tat näher Verwandte zusammengefaßt.

Häuptlinge, die eine über die Lokalgruppe oder Sippe hinausgehende Autorität besitzen, gibt es auf dieser Stufe noch nicht. Selbst den weiter avancierten Papua-Stämmen der Dani, Medlpa oder Enga fehlen solche. Die dort als Big Men auftretenden Personen vertreten ebenfalls nur Lokalgruppen, als deren Sprecher sie die Beziehungen zu anderen regeln.

 

Ohne besondere kulturell entwickelte Sozialtechniken der Führung können Menschen nur in begrenzter Zahl miteinander auskommen. Die Lokalgruppen der Naturvölker umfassen selten mehr als 100 Personen, dann teilen sich die Gruppen wegen innerer Reibereien. Die Hutteriten (Hutterer) in Nordamerika, die nach einem christlich-marxistischen Ethos mit kollektivem Besitz leben, wissen, daß für diese Art Leben eine Gruppengröße von 150 Personen nicht überschritten werden sollte. Nur in einer kleinen Gruppe funktioniert die persönliche Normenkontrolle. Wird sie größer, dann nimmt die Zahl der die Zusammenarbeit Verweigernden und Abtrünnigen zu. Außerdem ist die kollektive Meinungsbildung erschwert. All dies stört die soziale Gemeinschaft. Dieser Gefahr begegnen die Hutteriten durch Teilung, sobald eine Gruppe auf etwa 150 Personen herangewachsen ist. Ähnlich halten es die Lokalgruppen der Yanomami (in Venezuela), Eipo und andere auf dieser Kulturstufe stehende Völker.

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Eine Schlüsselerfindung in der kulturellen Entwicklung ist sicher die Führungshierarchie. Erst durch sie wird es möglich, größere Gemeinschaften auf der Basis persönlicher Verbundenheit zu regieren75). Die Anführer mehrerer Lokalgruppen, zum Beispiel etwa eines Tales, können einer ihnen übergeordneten Hauptperson unterstehen. Die Hauptmänner der Lokalgruppen kennen die Mitglieder ihrer kleinen Gemeinden, sie kennen sich ferner untereinander, und sie kennen die ihnen übergeordnete Person. Diese kennt als Haupt der mehrere Lokalgruppen umfassenden größeren Gemeinschaft zwar nicht mehr deren Mitglieder persönlich, wohl aber deren Vertreter. Die Hauptmänner solcher Lokalgruppengemeinschaften können ihrerseits mit mehreren ihresgleichen unter einem Oberhauptmann zusammengefaßt sein, der dann zum Beispiel als Stammeshäuptling die größere Gemeinschaft führt. Nach dem gleichen Prinzip können mehrere Stammesgemeinschaften zu noch größeren Gemeinschaften zusammengefaßt werden. Im Prinzip funktioniert das auch in den modernen Staaten so.

Die Zwischengruppenkonkurrenz einerseits, aber auch wirtschaftliche Fortschritte wie die Einführung von ertragreichen Kulturpflanzen brachten es mit sich, daß die sich von anderen abgrenzenden Solidargemeinschaften im Laufe der Geschichte immer volkreicher wurden. Da sie sich von anderen Gemeinschaften über Sprache und Brauchtum abgrenzten und bevorzugt innerhalb der Sprechergruppe heirateten, wurden in ihnen in der Regel näher miteinander Verwandte vereint. Bei zunehmender Größe solcher Gemeinschaften lockerte sich allerdings der innere Zusammenhalt und die Abgrenzung. Der Bevölkerungsaustausch nahm zu, auch weil unterjochte Bevölkerungsgruppen oft in den Verband der Eroberer aufgenommen wurden. Das führte in vielen Fällen zu einem Bevölkerungswandel.

Die heutigen Nationalstaaten Europas sind sprachlich und kulturell noch relativ homogen, biologisch-anthropologisch jedoch heterogen. Allerdings handelt es sich im wesentlichen um Mischungen von Bevölkerungen europäischen Ursprungs, und meist dominiert in den Nationalstaaten eine von ihnen. Dadurch hat jede Nation in Europa ihren eigenen Charakter und trägt damit zur Vielfalt bei.

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Antinationale Eiferer argumentieren oft mit dem Hinweis auf die verschiedenen Wurzeln der europäischen Kulturnationen, daß wir schon immer multikulturell gewesen seien, das Konzept der Nation daher ein künstliches sei, dem keine Realität entspreche, und man sie daher ebensogut in einer multikulturellen Immigrationsgesellschaft auflösen oder überwinden könne. Ganz abgesehen davon, daß die Wurzeln der europäischen Nationalstaaten so verschieden nicht sind — die Kelten, Germanen, Slawen, Römer und anderen Mittelmeervölker des Altertums standen einander kulturell und anthropologisch recht nahe , gibt es nun einmal Menschen, die sich als Basken, Türken, Kurden, Serben, Armenier, Deutsche oder Franzosen bezeichnen und die das auch von anderen respektiert sehen wollen. Die ihr Leben frei tunlichst in ihrem eigenen Staat zu gestalten wünschen und die sich gegen Fremdherrschaft, wie die Geschichte bis in die Gegenwart lehrt, erbittert zur Wehr setzen. Der Hinweis auf die verschiedenen Wurzeln schafft die Nation nicht aus der Welt.

Die Methoden, mit denen die Angehörigen einer Nation zu einer Solidargemeinschaft zusammengefaßt werden, ähneln auch in den modernen Staaten im Prinzip den bereits für Stammeskulturen geschilderten. Das familiale Wir-Gruppen-Gefühl wird dabei auf die größere Gemeinschaft übertragen. Man spricht von den anderen Angehörigen der Nation als seinen Brüdern und Schwestern und betont die Ähnlichkeit, die ja Ausdruck einer Verwandtschaft ist, in Kleidung, Brauchtum, Sprache und durch Berufung auf die gemeinsame Geschichte und Abstammung. Darüber hinaus wird oft in der Religion eine verbindende Ideologie geschaffen, und das Staatsoberhaupt, früher auch als »Landesvater« bezeichnet, wirkt als Identifikationsfigur und symbolische Vaterfigur. Loyalität zu dieser Symbolfigur, vormals dem Fürsten, gilt als besondere Tugend, aber auf sie muß man eingeschworen werden, vor allem wenn im Kriegsfall die Forderung besteht, diese Loyalität höher als jene zur eigenen Familie einzustufen.

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Wir wissen, daß der Mensch in der indoktrinierbaren Phase sogar zu extremen nationalistischen Solidaritäts­bekundungen in der größeren Gemeinschaft fähig ist, vor allem wenn die Mechanismen der Gruppenverteidigung angesprochen werden. Dieser solidarisierende Effekt kollektiver Aggression* wird von Demagogen häufig dazu genutzt, eine durch innere Unruhen gefährdete Gemeinschaft hinter sich zu »scharen«.

 

Die Fremdenscheu  (Xenophobie)  

 

Für die Wir-Gruppen-Bildung sind die Menschen durch stammesgeschichtliche Anpassungen vorbereitet. Die im Dienste der Gruppenbindung entwickelten prosozialen Anlagen besprachen wir bereits (S. 71). Sehr früh im Säuglingsalter beobachten wir Abgrenzung über die agonistischen Verhaltensmuster Flucht und Abwehr. Während sich Säuglinge in den ersten Monaten nach der Geburt jedem, der sich ihnen nähert, freundlich zuwenden, ändern sie im Alter von sechs bis acht Monaten ihr Verhalten in oft geradezu dramatischer Weise. Sie unterscheiden nunmehr zwischen ihnen bekannten und ihnen fremden Personen. Bekannten wenden sie sich weiterhin vertrauensvoll zu. Fremde Personen lösen dagegen deutlich ambivalentes Verhalten aus. Das Kind pendelt zwischen Verhaltensweisen freundlicher Zuwendung und angstinduzierter Abkehr. Es lächelt beispielsweise den Fremden an und birgt sich danach scheu an der Brust der Mutter. Die Scheu schlägt in Furcht und Abwehr um, wenn sich die fremde Person in freundlicher Absicht um engeren Kontakt bemüht.

* Ihre Wurzeln sind familial. Mit der Brutpflege entwickelte sich auch die Bereitschaft, die Familie zu verteidigen.

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Zur Entwicklung der Fremdenscheu bedarf es keinerlei schlechter Erfahrungen mit Fremden. Auch Kinder, die nie Böses von Fremden erfahren haben, verhalten sich so, und zwar in allen daraufhin untersuchten Kulturen, offenbar aufgrund stammesgeschichtlicher Programmierung. Wohl verursacht durch Reifungs­prozesse im Wahrnehmungsbereich, sprechen Kinder ab einem bestimmten Alter auf Merkmale ihrer Mitmenschen an, die Angst auslösen26). Der Blickkontakt spielt dabei eine wichtige Rolle, aber nicht allein taub und blind geborene Kinder unterscheiden fremde Personen von ihnen bekannten geruchlich und zeigen aufgrund dieser Unterscheidung ebenfalls Fremdenscheu

Säuglinge verhalten sich also einem Fremden gegenüber so, als wäre dieser potentiell gefährlich, eine Annahme, die sich offenbar in der Phylogenese bewährt hat. Sie sind allerdings bereit, sich mit dem Fremden anzufreunden. Dazu bedarf es aber einer Zeit der Angewöhnung, die durch das Vorbild der Eltern und anderer Bezugspersonen abgekürzt werden kann. Die Stärke der Fremdenscheu hängt ferner offenbar davon ab, wie ähnlich der Fremde den Bezugspersonen des Kindes ist. Nach Untersuchungen des amerikanischen Psychologen Saul Feinman38) fürchten sich Kinder von Schwarzafrikanern mehr vor fremden Weißen als vor Fremden der eigenen Rasse. Analog verhält es sich mit der Fremdenscheu weißer Kinder.

Über persönliches Kennenlernen wird die Scheu des Kindes vor Mitmenschen abgebaut, und das Verhalten des Kindes verschiebt sich mit dem Grad der Bekanntheit auf einer gleitenden Skala von Mißtrauen zu Vertrauen. Über ein solches Bekanntwerden entwickelt der Mensch im Laufe seines Lebens Vertrauensbeziehungen zu vielen Mitmenschen. In traditionellen Kulturen sind dies die Mitglieder einer Lokalgruppe oder kleinen Dorfgemeinschaft. Die Vertrauensbeziehungen sind nach Nähe abgestuft. Die Bindungen zu Familie und Sippe sind in derartigen Gesellschaften enger als die zu anderen Gruppenmitgliedern, und wir beobachten eine gewisse Abgrenzung der Familie als engster Solidargemeinschaft. Darüber hinaus grenzt sich aber die Lokalgruppe territorial und über den quasi-familialen Zusammenhalt von Mitgliedern anderer Gruppen ab, denen sie weniger vertrauensvoll begegnet. Die Fremdenscheu oder Xenophobie wirkt auch auf dieser höheren Ebene abgrenzend.

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Abb. 8:  Prozentsatz der Passanten, die mit einem männlichen Experimentator vor einem Postamt oder vor einem Geschäft in verschieden großen Städten Augenkontakt aufnahmen. Philadelphia ist die viertgrößte Stadt der USA mit 2 Mio. Einwohnern. Bryn Mawr ist ein Vorort von Philadelphia. In der Kleinstadt Parksburg leben 2700 Menschen. Nach J. Newman und C. McCauley (1977) ,0°.

 

In der anonymen Großgesellschaft wird die Scheu des Menschen vor dem Mitmenschen in verschiedenen Situationen offenkundig. Jeder, der in einer Stadt Menschen in einem Hotelaufzug beobachtet, kann feststellen, daß sie den Blickkontakt meiden. Ervin Goffman50) beschrieb dieses Phänomen als »polite inattention«. In der Öffentlichkeit maskieren Menschen ihren Ausdruck. Vor allem Anzeichen von Schwäche werden gemieden, denn Menschen neigen dazu, Schwächen ihnen unbekannter Mitmenschen auszunützen (S. 78). 

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Die geringere Kontakt- und Hilfsbereitschaft Fremden gegenüber hat man auch experimentell erforscht. Die amerikanischen Psychologen J. Newman und C. McCauley100) postierten in Philadelphia, in einem Vorort von Philadelphia und in einer Kleinstadt vor einem Postamt und einem Supermarkt männliche und weibliche Versuchspersonen und zählten aus, wie oft sie mit den vorbeigehenden, ihnen fremden Personen Blickkontakt erhielten. In der Kleinstadt war dies in rund 80 % der Begegnungen der Fall, im Vorort von Philadelphia sank der Prozentsatz auf 40% und in der Zweimillionenstadt Philadelphia auf rund 20% (Abb. 8). Selbst in der Solidargemeinschaft einer Nation ist also die Scheu der Menschen vor den Mitmenschen an Äußerungen des Mißtrauens und der Kontaktmeidung offensichtlich. Menschen, die in traditionellen Kleingruppen leben, zeigen ebenfalls ausgeprägte Fremdenscheu, nur brauchen sie nicht mit Fremden in enger Gemeinschaft zu leben. Die IKung-Buschleute bezeichnen Fremde und eine schlechte Sache mit dem gleichen Ausdruck »dole«.

In der individuellen Entwicklung der Fremdenscheu ist keine Diskontinuität festzustellen, die auf eine getrennte Neuentwicklung der Xenophobie des Erwachsenen hinweisen würde. Die Annahme, daß es sich um eine Weiterentwicklung des persistierenden kindlichen Urmißtrauens handelt, das zunächst der Absicherung der Mutter(Eltern)-Kind-Bindung diente und mit der Evolution der individualisierten quasi-familialen Gruppe nun in den Dienst der Gruppenabgrenzung gestellt wurde, wird durch die Tatsache gestützt, daß auch andere in der Eltern-Kind-Beziehung entwickelte Verhaltensweisen und Motivationen in das Leben des Erwachsenen übernommen wurden (S. 71), z.B. die Motivation, zu betreuen.

Auch die Fähigkeit, persönliche Bindungen über Bekanntwerden einzugehen und anderen zu vertrauen, gehört zu den zunächst in der Eltern-Kind-Beziehung entwickelten Fähigkeiten. Die Engländer kennen für Bekanntwerden den Begriff familiarization, der auf den familialen Ursprung dieser Fähigkeit hinweist.

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       Ist Fremdenhaß angeboren?       

 

Der Bekanntenkreis erweitert sich. Der heranwachsende Mensch erfährt seine Einbettung in eine größere Gemeinschaft, er entwickelt abgestufte Loyalitäten und faßt schließlich auch Zutrauen zu Menschen, die er nicht kennt - aber eben abgestuft. Schon das Du und Sie in unserer Kultur spiegelt das abgestufte Vertrauen wider. Bemerkenswert bleibt das Mißtrauen, das zunächst unser Verhalten gegenüber Fremden kennzeichnet. Dieses Vorurteil schafft die Bereitschaft, vom Fremden vor allem das Negative wahrzunehmen, gewissermaßen als Bestätigung des Vorurteils. Die Bereitschaft, ein Negativbild aufzubauen, muß man kennen, wenn man ihr entgegenwirken will; einfach zu leugnen, daß es so ist, hilft nicht weiter. Es handelt sich bei der Xenophobie der Erwachsenen um ein anthropologisches Merkmal des Menschen, das stammesgeschichtlich fundiert ist110).

Im übrigen beeinflussen individuelle Erfahrungen und kulturelle Traditionen die Angst des Menschen vor dem Mitmenschen in ganz entscheidendem Ausmaß. Eltern benützen diese Angst vor dem Fremden oft erzieherisch, um ihre Kinder zu disziplinieren, und das nicht nur in unserer Kultur. »Wenn du nicht..., dann wird dich dieser Fremde mitnehmen«, habe ich bei den Eipo im Bergland Neuguineas sinngemäß ebenso gehört wie bei den Yanomami, den Buschleuten, den Himba oder Balinesen. Auf diese Weise kann die Fremdenscheu verstärkt und bis zum Fremdenhaß weiterentwickelt werden, der dann das Ergebnis einer Indoktrination ist. Ich betone dies immer, um dem Mißverständnis vorzubeugen, Fremdenhaß sei uns angeboren. Das ist nicht der Fall.

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Fremdenhaß ist vielmehr unter anderem das Ergebnis einer Feindbilder aufbauenden Erziehung. Die aggressive Ablehnung von Immigranten aus uns fernerstehenden Kulturen, die bis zur Gewalt gegen Fremde eskalieren kann, erwächst ferner aus der Tatsache, daß die Fremden oft als Eindringlinge in das eigene Territorium wahrgenommen werden und damit archaische territoriale Abwehrmechanismen zum Ansprechen bringen. Schließlich ergeben sich Konkurrenzsituationen verschiedener Art, und dazu kommt noch die Angst vor Identitätsbedrohung. Der Fremdenhaß speist sich also aus vielen Wurzeln. Die Fremdenscheu dagegen ist ein Mechanismus der Abgrenzung. Man gibt sich dem Fremden gegenüber reserviert, zurückhaltend, aber nicht feindlich, sondern abwartend.

Gegen meine Ableitung der Fremdenscheu der Erwachsenen aus der Fremdenscheu des Kindes führten Kritiker ins Feld, daß dann ja die Schüchternen zugleich auch die am stärksten Xenophoben sein müßten, was offenbar nicht der Fall sei, denn in Wirklichkeit wären das ja die ganz und gar Unschüchternen139). Hier wird nach meinem Dafürhalten Fremdenscheu die Neigung zur Abgrenzung mit Fremdenfeindlichkeit verwechselt, die sich, wie gesagt, aus verschiedenen Quellen speist.

Eine gewisse Abgrenzung zur Bewahrung der Identität und damit zur Selbsterhaltung ist eine Voraussetzung zur Erhaltung und Weiterentwicklung ethnischer Vielfalt, die als Wert heute ja international anerkannt wird (S. 126). Das bedeutet keineswegs grundsätzliche Ablehnung des Fremden. Kulturen standen stets in einem gegenseitigen Austausch, von denen jede dann profitierte, wenn er so ausgewogen war, daß keine Kultur über die andere dominierte und einen ethnozidalen Kulturabriß herbeiführte. Ethnien mit gestörtem Selbstbewußtsein ließen sich in der Geschichte wiederholt, durch fundamentalistische Missionen, zur kulturellen Selbstaufgabe überreden, und das führte im weiteren Verlauf gelegentlich auch zu einem genetischen Bevölkerungswandel, ja zur genetischen Verdrängung, und zwar auf »friedliche« Weise.

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        Anstoß nehmen: ein Mittel der Normerhaltung        

 

Zu den Mechanismen, die der Erhaltung der Gruppenidentität dienen, gehören des weiteren Formen der erzieherischen Aggression, die Konformität erzwingen und damit der Erhaltung der jeweiligen kulturellen Gruppennormen dienen. Mitglieder von traditionellen Kleinverbänden, die einander gut kennen, nehmen Anstoß am deutlich abweichenden Aussehen oder Verhalten eines Gruppenmitgliedes. Individualität ist nur innerhalb einer bestimmten Schwankungsbreite erlaubt. Wer von ihr abweicht, wird Objekt kollektiver Aggressionen. Der Außenseiter wird ausgelacht, verspottet, ja sogar angegriffen. Das veranlaßt ihn, sein Verhalten wieder nach der Gruppennorm auszurichten. Vermag er das nicht, dann droht ihm der Ausschluß. Dieses Anstoßnehmen ist als »Außenseiterreaktion« wohlbekannt. Es hat mit der Normangleichung auch eine egalisierende Wirkung. Interessanterweise finden wir vergleichbare Aggressionen im Tierreich. Bereits Hühner bekämpfen Mitglieder ihrer Schar, deren Aussehen man experimentell änderte. Bei Schimpansen löst abweichendes Verhalten von Gruppenmitgliedern Ausstoßreaktionen aus. Durch Kinderlähmung in ihrer Fortbewegung auffällig behinderte Schimpansen des Gombe-Reservats in Tansania lösten bei den gesunden Gruppenmitgliedern Angst und bei Annäherungsversuchen Abwehr aus51).

Zweierlei Gründe können für die Auslese der konformitäts-erhaltenden Aggression verantwortlich sein. Zunächst einmal ist Ähnlichkeit Zeichen von Verwandtschaft, und wir wissen aus soziobiologischen Untersuchungen zur Sippenselektion, daß verwandte Tiere einander z.B. an gemeinsamen Geruchsmerkmalen erkennen und abweichend riechende, aber auch anders aussehende Artgenossen angreifen. Daß sich abweichend Verhaltende Angriffe auslösen, mag außerdem damit zu tun haben, daß ihr Verhalten für die anderen schwer voraussagbar ist und damit Angst auslöst. Voraussagbarkeit ist eine Voraussetzung für verläßliche Kommunikation und Kooperation75.

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Weitere Phänomene, die bei der Diskussion der Ethnizität zur Kenntnis genommen werden sollten, sind die Kontrastbetonung, mit der sich Ethnien an den Kontaktzonen voneinander absetzen und zu der es Parallelen im Tierreich gibt. Der Mensch betont den Kontrast zu anderen vor allem kulturell durch Tracht und Sprache. Noch einmal hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Bereitschaft, negative Stereotypen von Nachbarn zu entwickeln, die man fürchtet eine Disposition, auf die uns die schon besprochene Fremdenscheu vorbereitet. Hier wie bei der Außenseiterreaktion kommt auch der solidarisierende Effekt kollektiver Aggression zum Tragen.

 

              Zusammenfassung          

 

Der Mensch lebte über die längste Zeit seiner Geschichte in territorialen Kleingruppen, die sich gegen ihresgleichen abgrenzten. Das geschah sowohl symbolisch über gebietsmarkierende Artefakte als auch durch die Verteidigung des jeweiligen Gebietes. Da Gruppengröße einen Konkurrenzvorteil bedeutet, wuchsen die individualisierten Kleinverbände im Laufe der Geschichte zu Großverbänden, die anders als die Lokalgruppen nicht mehr auf der Basis persönlicher Bekanntheit verbunden waren. 

Die verschiedenen Stufen dieser kulturellen Entwicklung lassen sich durch den Vergleich mit noch lebenden traditionellen Kulturen, wie jener Neuguineas, verfolgen. Um solche größeren anonymen Gesellschaften zu einer Solidargemeinschaft zu verbinden und damit innerlich zu befrieden, bedarf es besonderer Sozialtechniken. Sie knüpfen interessanterweise in allen uns bekannten Eällen am familialen Kleingruppenethos an, indem sie sich auf Abstammung von gemeinsamen Ahnen berufen, ferner z.B. über Klane fingierte Verwandtschaftsbeziehungen stiften und Jahrgänge von Initianten als Gruppe der Gleichen verbrüdern. Die Methoden wechseln, das Prinzip bleibt dasselbe. 

Eine Schlüsselerfindung in der soziokulturellen Entwicklung des Menschen stellt die Ausbildung von Führungshierarchien dar, die ein persönliches Verbundsystem repräsentieren, das die Führung großer anonymer Gesellschaften erst möglich macht.

Da die Verbundenheit der Gruppenmitglieder mit der zunehmenden Größe der Gruppe und der sozialen Distanz der einzelnen voneinander abnimmt, bedarf es einer dauernden Bekräftigung durch die verbindende Ideologie, um die innere Gemeinschaft einer Großgruppe zu erhalten. Das gilt insbesondere für die großen anonymen Solidargemeinschaften der Völker (Ethnien, Nationen), die, durch Sprache, Brauchtum und gemeinsame Geschichte verbunden, in der Regel auch einander genetisch näher Verwandte vereinen. Innerhalb der Großgruppen sind die Bindungen nach Nähe abgestuft.

Die Angst des Menschen vor dem ihm unbekannten Mitmenschen die Fremdenscheu oder Xenophobie belastet das Leben in der anonymen Massengesellschaft, die man heute als »Mißtrauensgesellschaft« charakterisieren kann. Die Fremdenscheu dient der Abgrenzung, ist aber nicht mit Fremdenhaß gleichzusetzen. Während wir für erstere genetisch programmiert sind, ist letzterer ein Ergebnis der Indoktrination. Fremdenfeindlichkeit kann ferner durch territoriale Invasion aktiviert werden. Man muß beim Menschen außerdem mit archaischen Reaktionen des Anstoßnehmens rechnen, einer Form der erzieherischen Aggression, die die Angleichung aller Gruppenmitglieder an die Gruppennorm erzwingt.

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