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402 - Tanz auf dem Vulkan  

 

 

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Welchen Eindruck gewinnt man, wenn der rätselhafte Vorgang des Zur-Welt-Kommens einen für eine kosmische Nanosekunde zum Augenzeugen eines Ausschnitts aus einer Jahrmilliarden umspannenden Geschichte hat werden lassen? Es kommt auf den Standort an, den man wählt. Aus nächster Nähe ist der Eindruck nicht übel, wenn auch keineswegs ungetrübt. Aus der biographischen Perspektive habe ich - es war schon davon die Rede - keine ernstlichen Beschwerden vorzubringen.

Ganz anders fällt das Urteil aus, wenn man gewissermaßen einige Schritte zurücktritt und das Gesichtsfeld auf eine historische Perspektive erweitert. Sobald man die Gegenwart vor dem Hintergrund der menschlichen Geschichte mustert, verdüstert sich das Bild beträchtlich. Extrapoliert man, was unserer Art in ihrer nächsten Zukunft bevorsteht, aus dem bisherigen Verlauf ihrer Geschichte, kann einem wahrlich angst und bange werden. 

Die Menschheit hat schon viele Krisen durchgemacht und viele Katastrophen überlebt. Die Bedrohungen aber, die ihr in den kommenden Jahrzehnten bevor­stehen (und die sie sich in diesem Augenblick selbst auf den Hals zu ziehen im Begriff steht), werden alles in den Schatten stellen, was Eiszeiten, chronische Kriege und alle Pestilenzen der Vergangenheit ihr zugemutet haben. 

Ich habe die wichtigsten Formen dieser Bedrohungen und ihre Ursachen in meinem letzten Buch* eingehend beschrieben und analysiert und will mich hier auf einige Stichworte beschränken.

Das ist mir um so leichter möglich, als die Gefahren, die ich - wie so viele andere Warner zuvor - 1985 einer breiteren Öffentlichkeit vor Augen zu führen mich bemühte, heute in vielerlei Facetten schon jedem Zeitungs­leser als alltägliche Nachrichtenkost begegnen:

Meldungen über eine fortschreitende Umwelt­vergiftung (Rückstände in Lebensmitteln, Boden, Wasser und Atemluft, zunehmendes Risiko einer radioaktiven Verseuchung), eine zivilisatorisch ausgelöste Klimaveränderung (Treibhauseffekt durch Kohlendioxidanstieg, Ozonlöcher) und, als primäre Wurzel dieser und aller anderen Symptome einer globalen Störung des lebenserhaltenden ökologischen Systems, die immer spürbarer werdende Überlastung unseres Planeten, weil eine einzige Art ihn für sich in Anspruch nimmt — unsere eigene, die begonnen hat, sich in einer allen biologischen Überlebensbedingungen hohnsprechenden, exponentiellen (»explosions­artigen«) Weise zu vermehren.

* <So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen - Es ist soweit> (1985). Ich habe darin eingehend auch die Gefahren beschrieben und dokumentiert, die aus dem Vernichtungs­potential der wissenschaftlich perfektionierten Waffentechnik und den psychologischen Fallgruben der offiziellen »Sicherheitspolitik« erwachsen. So mancher Zeitungs­leser hält diese infolge der neuesten, vom sowjetischen Parteichef Gorbatschow in Gang gebrachten politischen Entwicklungen heute allerdings schon für ausgestanden. Dieser Ansicht kann ich mich nicht anschließen. Die bisherigen Abrüstungsmaßnahmen betreffen nur wenige Prozent des vorliegenden Vernichtungs­potentials, mit dem sich die Menschheit folglich nach wie vor (theoretisch) bis zu sechsmal hintereinander ausrotten könnte. Und auch die »Proliferation« (die Ausbreitung des Besitzes) nuklearer und nicht zuletzt chemischer »Völkervertilgungsmittel« (Ivan Illich) schreitet global weiter fort.

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Ich weiß, so mancher kann das heute schon nicht mehr hören. Das bedenklichste an der Sache ist es eben, daß wir viel zu lange die Augen vor der Entwicklung verschlossen haben und daß die meisten jetzt, da sie von Fakten und hellhörig gewordenen Experten mit der Nase auf sie gestoßen werden, allenfalls kurz irritiert sind, um sich schon im nächsten Augenblick wieder den Tagesgeschäften zu widmen. Als ob sie sich davor fürchteten, der Wahrheit ins Auge zu sehen, wenden sie sich rasch wieder dem Gewohnten zu. Das beruhigt und schont die Nerven, ganz ohne Frage. Aber es ändert nichts an den Tatsachen. 

Es gehört Mut dazu, sich einer Angst zu stellen und sie auszuhalten, und den bringen die wenigsten auf. Das ist schlimm, denn nur eine dem Ausmaß unserer Bedrohung angemessene Angst könnte uns heute vielleicht noch so beflügeln, daß wir die Kraft aufbrächten, von einem Kurs abzulassen, der unweigerlich in den Abgrund führen wird.

Man bedenke: Wer mir vor dreißig Jahren (ich war damals Privatdozent an der Würzburger Nervenklinik) gesagt hätte, daß ich noch eine Welt erleben würde, in der man in den meisten Flüssen und Seen nicht mehr würde baden können, ohne seine Gesundheit zu gefährden. Eine Zeit, in der davor gewarnt werden müsse, das aus unseren Leitungen fließende Wasser zur Aufbereitung von Babynahrung zu verwenden, weil sein übergroßer Nitratgehalt das Leben Neugeborener durch eine »Blausucht« genannte innere Atemstörung gefährde. 

In der die Atmosphäre so sehr mit den toxischen Abfallprodukten unserer technischen Zivilisation angereichert sein werde, daß unsere Wälder unter ihrem Einfluß abzusterben begännen und unsere Lungen durch den natürlichen Vorgang der Atmung zu erkranken drohten. Eine Welt, in der unsere tägliche Nahrung zunehmend gesundheitsschädliche chemische »Rückstände« enthalten werde. In der die komplizierte Ausgewogenheit des Klimagleichgewichts durch unsere zivilisatorischen Aktivitäten aus den Fugen zu geraten beginne und in der wir aus dem gleichen Grunde nachweislich angefangen hätten, die stratosphärische Ozonschicht zu ruinieren, die die lebensbedrohenden Anteile der Sonnenstrahlung in aller der unseren vorangegangenen Zeit von der Erdoberfläche abgehalten habe.

Wer mir das vor dreißig Jahren prophezeit hätte, dem hätte ich nicht geglaubt. Ich hätte das alles für unmöglich gehalten. Und wenn ich es geglaubt hätte, dann hätte ich sicher entsetzt erklärt, daß ich in einer solchen Welt nicht würde leben wollen. Aber schon heute ist es soweit.

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Wir alle leben in einer sichtlich von uns beschädigten Welt, und jeder Blick in die Zeitung kann einen darüber belehren, daß die Reise in der Richtung auf den Abgrund mit zunehmender Geschwindigkeit fortgesetzt wird. 

Daher wundere ich mich oft, warum die Menschen nicht schreiend auf die Straße laufen. Und da wundere ich mich überhaupt nicht, wenn in manchen von ihnen die schiere Wut hochkocht und sie in ihrer Ohnmacht keinen anderen Ausweg mehr sehen, als das »kaputtzumachen, was uns kaputtmacht«.

Ich habe größtes Verständnis für diesen Zorn. Obwohl seine Umsetzung in gewalttätige Aktion alles nur viel schlimmer macht: weil nicht blinde Wut gefragt ist, sondern allein die hartnäckige Geduld kühler Argumentation. Und weil Gewalttätigkeit (zu allem sonstigen Übel) noch so gewichtige Argumente in den Augen der Öffentlichkeit, die es wachzurütteln gilt, unvermeidlich unglaubwürdig werden läßt. Aber ich sehe ein, daß die Geduld, die da verlangt wird, fast übermenschlich ist. Denn immer noch entdeckt fast niemand einen Grund zur Beunruhigung. 

Die verantwortlichen Politiker schon gar nicht. In ihren Augen scheint »eine Gefahr für die Bevölkerung« grundsätzlich aus keinem Anlaß und zu keiner Zeit zu bestehen. Es ist so, als hätte der Kapitän der »Titanic« nach dem Zusammenstoß mit dem Eisberg den Befehl ausgegeben weiterzufeiern, als ob sich nichts geändert hätte — und alle, die behaupteten, daß das Schiff sinke, als Miesmacher anzuschwärzen und ihnen die Megaphone wegzunehmen.

Wir feiern weiter. 

Vierzig Millionen Menschen sterben jährlich auf der Erde an Hunger und Hungerfolgen (meist in Gestalt von Darmerkrankungen). 40.000 Kinder allein sind es an jedem Tag, den Gott werden läßt. Aber unsere Gesellschaft feiert unberührt davon weiterhin jedes einzelne gottverdammte Prozent ihres Bruttosozialprodukts, obwohl dessen Anstieg angesichts des Lebensstandards in dem »entwickelten« Teil der Welt nichts anderes signalisiert als fortschreitende Verschwendung, deutlicher ausgedrückt: nichts anderes als eine Verschleuderung unersetzlicher Reserven an Rohstoffen und natürlichen, ökologischen Regenerations­potenzen und nichts anderes als eine ebenfalls mit selbstmörderischer Indolenz hingenommene galoppierende Verpestung von Luft, Wasser und Boden mit Zivilisationsmüll.

Wir feiern. Am Rande des Vulkans. 

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Die ersten medizinstatistischen Erhebungen weisen bereits auf einen Anstieg der Rate an Hautkrebserkrankungen hin. Niemand zweifelt mehr daran, daß die seit über zwei Jahrzehnten in diesem Zusammenhang als »Ozonkiller« verdächtigten Fluorchlor­kohlenwasserstoffe (unter anderem als Treibgase, Kühlflüssigkeit und zur Herstellung von Schaumstoffen in Gebrauch) zumindest partiell eine ursächliche Rolle spielen. Die Reaktion? Nach endlosem Hin und Her wird eine Vereinbarung mit den Herstellern getroffen, derzufolge die Produktion dieser die Lebensfreundlichkeit unserer irdischen Umwelt gefährdenden Substanzen bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts um die Hälfte reduziert werden soll. (Ein Verbot, diese keineswegs lebensnotwendigen, sondern lediglich unserer Bequem­lichkeit dienenden Stoffe zu produzieren, könnte ja »das Investitionsklima verschlechtern«.) 

Ein außerirdischer Beobachter würde angesichts dieser Entscheidung an unserer Zurechnungsfähigkeit zweifeln. Unser Umweltminister aber verkündet sie dem Publikum als Erfolg.

Unsere blinde Entschlossenheit, uns bei unserem Konsumfestival durch nichts und niemanden stören zu lassen, ist jedoch nicht nur selbstmörderisch, ihr fallen auch vierzig Millionen Unbeteiligte zum Opfer. Denn in unserer kurzsichtigen Festesfreude finden wir uns gerade noch zu milden Alibigaben für Wohltätigkeits­organisationen bereit. Es stört uns nicht, daß sie allenfalls der Betäubung unseres Gewissens dienen können, keineswegs jedoch einer Lösung des Problems. Denn wenn sonst alles so bleibt, wie es ist, vergrößern wir mit dieser Art der Hilfe nur das Elend, weil dann morgen fünf verhungernde Kinder den Platz des einen einnehmen werden, das wir heute vor dem Hungertod bewahren.

Solange wir nur Brot anbieten (und medizinische Versorgung und technische Mittel zum Brunnenbohren und Kunstdünger und womöglich auch noch Geld und dazu noch Beratung durch Entwicklungshelfer), so lange bleiben die Verhältnisse unverändert bestehen, welche die Not der Unterprivilegierten in den Ländern der sogenannten Dritten Welt verewigen werden. So lange doktern wir mit scheinheiligem Eifer lediglich an Symptomen herum, anstatt uns auf die einzig sinnvolle Therapie für das Grundleiden zu besinnen. Wenn es uns wirklich ernstlich darauf ankäme, das Elend der Verdammten dieser Erde an der Wurzel zu packen, dann müßten wir die Weltwirtschaftsordnung ändern, die uns alle Vorteile und jenen fast alle Nachteile bei der Verteilung der Güter dieser Erde zuspielt. Wir müßten folglich unsere Vorzugsstellung preisgeben, aus freien Stücken, und das ist mehr, als wir für zumutbar halten.

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Wir verstehen uns zwar als eine christliche Gesellschaft, aber da nehmen wir denn doch lieber vierzig Millionen Tote jährlich in Kauf — fast so viele, wie alle Jahre des Zweiten Weltkrieges vom Atlantik bis zum Pazifik zusammen gefordert haben. Unser lärmendes Konsumfest ist aber nicht nur mörderisch und selbstmörderisch zugleich. Es kommt noch eine Tötungsvariante hinzu, die historisch neuartig ist: Wir entziehen mit unserer Feier auch kommenden Generationen die Lebensgrundlage. Wir sind dabei, »unsere Enkel zu ermorden«, wie ein französischer Biologe es treffend formuliert hat. Das aber hat in aller Geschichte bisher noch niemand fertiggebracht.

Es ist ja richtig und wird zum Zwecke der Beschwichtigung immer wieder vorgebracht, daß auch zurückliegende historische Epochen ihre selbst­verschuldeten Umweltprobleme hatten. Deren Spuren sind in der Tat bis heute nicht beseitigt. Zu ihnen gehört, oft zitiert, das heutige Aussehen der Küsten des Mittelmeeres. Die nicht wieder behebbare Nacktheit des noch zu römischer Zeit bewaldeten Atlasgebirges. Der Wüstencharakter der Sahara, die, wie gelegentlich entdeckte Ruinenstädte bezeugen, einst als fruchtbares Land von Menschen besiedelt war. Zu diesen Spuren gehört auch die Verkarstung der kleinasiatischen, griechischen, italienischen und spanischen Mittelgebirge, deren Aussehen wir romantisch verklären, weil wir es mit Urlaubserinnerungen assoziieren. Tatsächlich haben wir keinen Grund, uns von dieser Hinterlassenschaft unserer europäischen Vorfahren bedroht zu fühlen.

Hier wie in anderen zurückliegenden Fällen handelte es sich um die Folgen übermäßigen Holzeinschlags, um Raubbau an den Wäldern. Die Landschaft hat sich nie vollständig davon erholt. Die Baumlosigkeit Siziliens und die Verkarstung der gegenüberliegenden nordafrikanischen Küste sind Folgen des gewaltigen Holzbedarfs des Römischen Imperiums. Seine Herrscher benötigten das Holz vor allem als Baumaterial, nicht zuletzt für ihre Flotten, auf die das Riesenreich zu seinem Schutz und seiner Versorgung angewiesen war. Während zum Beispiel die Bäume der großen norddeutschen Rodungsfläche, die wir heute als Lüneburger Heide kennen, bei der Salzgewinnung in der ehemaligen Hansestadt verfeuert wurden, die dem Gebiet ihren Namen gab. In den letzten tausend Jahren ist die Waldbedeckung Mitteleuropas von neunzig auf zwanzig Prozent zurückgegangen.

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Anlaß waren Rodungen zum Gewinn neuer Siedlungsflächen für die wachsende Bevölkerung.* An Umweltprobleme dachte während all dieser Jahrhunderte niemand. (Auch wir kennen den Begriff ja erst seit wenigen Jahrzehnten.) Unsere Vorfahren hielten die Quellen der Natur für unerschöpflich. Dabei verschätzten sie sich jedoch auch schon vor 200 Jahren gelegentlich nicht unbeträchtlich. Mitte des 18. Jahr­hunderts fragte die königlich-preußische Kammer bei der Menzer Oberförsterei an, wie lange die — 24.000 Morgen groß den sagenumwobenen »Großen Stechlin« umgebende — Menzer Forst aushalten werde, wenn die rasch wachsende Großstadt Berlin aus ihr zu heizen anfinge. Die stolze Antwort lautete: »Die Menzer Forst hält alles aus.« Das sei ein schönes Wort gewesen, fügt Theodor Fontane hinzu, der über die Episode in seinen »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« berichtet, »aber doch schöner, als sich mit der Wirklichkeit vertrug«. Denn: »Siehe da, ehe dreißig Jahre um waren, war die ganze Menzer Forst durch die Berliner Schornsteine geflogen.«**

In allen diesen vergangenen Fällen aber hat es sich stets um regionale Schäden gehandelt, um lokal begrenzte Zerstörungen einer in Jahrhunderten gewachsenen natürlichen Ordnung, von denen das globale Gleichgewicht nicht berührt wurde. Dadurch unterscheidet sich unsere gegenwärtige Lage prinzipiell von allen Szenarios der Vergangenheit. Heute ist die Zahl der Menschen bis zu einer Größenordnung angewachsen, welche die natürliche Tragfähigkeit des von ihnen bewohnten Planeten mit Sicherheit bereits übersteigt. Noch vor 300 Jahren lebten nur 500 Millionen Menschen auf der Erde; um 1900 war ihre Zahl schon auf 1,5 Milliarden angewachsen, und von da ab stieg sie in zunehmendem Tempo: 1960 gab es bereits drei Milliarden Erdenbürger, 1985 war die fünfte Milliarde erreicht, und im Jahre 2000 werden es mehr als sechs Milliarden sein.

Der von dieser Menschenfülle ausgehenden Belastung wäre die irdische Biosphäre mit absoluter Sicherheit schon heute nicht mehr gewachsen, wenn wir, was unsere moralische Pflicht wäre, uns eines Tages dazu aufraffen sollten, auch der bisher nur unter erbärmlichen Umständen vegetierenden Menschheits­hälfte zu einem menschenwürdigen Dasein zu verhelfen. 

 

* Viele Orte, vor allem in der norddeutschen Tiefebene, erinnern mit ihren Namen an diese Art ihrer Entstehung: Walsrode, Osterholz, Osterrode, Altenwalde usw.
** Theodor Fontane, Von Rheinsberg bis zum Müggelsee, Berlin (Ost) 1971, S. 93.

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Die Belastung wird gegenüber der Vergangenheit auch dadurch beträchtlich erhöht, daß der Rohstoff- und Energiebedarf des heutigen Zivilisationsmenschen ebenso wie seine Abfallproduktion (in Gestalt von Müll, Emissionen, von nicht oder nur unvollständig abbaubaren Chemikalien sowie nicht mehr rückführbarer Wärme) das, was seine Vorfahren ihrer Umwelt entnahmen oder aufhalsten, um ein Mehrfaches übertreffen.

Es ist daher verfehlt, vergangene Umweltsünden als Beweis dafür anzuführen, daß ökologische Schäden (»die es schon immer gegeben hat«) vielleicht bedauerlich seien, aber keine wirkliche Gefahr darstellten. So hat mir kürzlich ein alteingesessener Badener versichert, daß ein totales Absterben des Schwarzwalds diesem doch eigentlich nur das Aussehen des Apeninns oder anderer mediterraner Mittelgebirge verleihen würde, »und da fahren die Leute doch im Urlaub extra hin«. Diese Melodie zu pfeifen kann man höchstens einem Kind durchgehen lassen, das sich damit seine Angst vertreiben will.

Die Menschen waren früher gewiß nicht vernünftiger, als wir es heute sind. Aber die Schäden, die wir heute mit unserer Unvernunft anrichten, sind ungleich größer, als sie es in der Vergangenheit waren. Denn zwar hat die menschliche Unvernunft nicht zugenommen. Ruinös angestiegen ist jedoch die Zahl der Unvernünftigen. Und in einem noch vor kurzem unvorstellbar erscheinenden Ausmaß haben technische Hilfsmittel diesen die Macht in die Hände gegeben, die Folgen ihrer Unvernunft zu multiplizieren.

Wir ruinieren daher heute mit unserer Ausbeutungsmentalität nicht mehr einzelne, begrenzte Regionen, sondern gleich den ganzen Globus. Den Verlust des Schwarzwaldes allein könnten wir zur Not verschmerzen. So, wie die Italiener es schon seit 2000 Jahren gelernt haben, auf größere zusammen­hängende Waldgebiete weitgehend zu verzichten. Aber wenn die Waldvernichtung sich zu einem weltweiten Prozeß auswächst, wie es heute der Fall ist (in dem das Absterben des Schwarzwaldes nur noch ein Einzelsymptom darstellt), dann handelt es sich nicht mehr nur um ein ästhetisches oder sentimentales Problem. Dann geht es um die Gefahr eines Zusammenbruchs der irdischen Ökosphäre. Dann steht die Bewohnbarkeit der Erde insgesamt auf dem Spiel.

Daß diese auf irgendeine geheimnisvolle Weise von der Existenz der tropischen Regenwälder abhängen soll, hat jeder schon bis zum Überdruß gehört. Die Zusammenhänge aber dürften noch immer den wenigsten geläufig sein.

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Um sie zu verstehen, ist es notwendig, sich klar darüber zu werden, daß es gar nicht die tropischen Regen­wälder sind, denen eine für unser Schicksal so entscheidende Rolle zukommt. Anders gesagt: Weder die Tatsache, daß sie in den Tropen stehen, noch die klimatischen Besonderheiten, die sie zu Regenwäldern machen, sind dafür verantwortlich. Ihre Bedeutung ergibt sich vielmehr allein aus der alarmierenden Tatsache, daß es sich bei ihnen um die letzten auf der Erde noch erhaltenen naturbelassenen Wälder kontinentalen Ausmaßes handelt. Allerdings: Im Amazonasbecken, dem größten Regenwaldgebiet der Erde, wurde in den letzten 25 Jahren nicht weniger als ein Drittel des Bestandes vernichtet. In allen anderen Weltregionen sind die Wälder, die einst den größeren Teil der Erde vom Äquator bis zu den gemäßigten Zonen bedeckten, vom Menschen im Laufe der Jahrhunderte vernichtet und die Reste zu forstwirtschaftlich kultivierten »Baumplantagen« denaturiert worden.

 

Ohne die Existenz hinlänglich großer Waldflächen aber würden sich die Bedingungen auf der Erdoberfläche (in der Biosphäre) grundlegend ändern, und zwar in einer Weise, die mit unserem Überleben, zumindest aber mit dem Überleben unserer Zivilisation, nicht länger vereinbar wäre. Die Lebensnotwendigkeit der Wälder ergibt sich aus ihrer Eigenschaft als unverzichtbarer Kohlenstoffspeicher. Das vor allem durch die industrielle und private Verbrennung von Kohle, Öl und Holz, aber auch durch Vegetationsbrände und biologische Verbrennungsvorgänge (Atmung!) freigesetzte Kohlendioxid (CO2) würde sich in der Atmosphäre rasch konzentrieren, wenn es nicht irgendwo wieder verbraucht würde. Bekanntlich fällt den Pflanzen der Löwenanteil an dieser Aufgabe zu. Sie nehmen das CO2 auf und bauen aus ihm Bodenmineralien und Wasser (das sie mit Hilfe ihrer Wurzeln aus dem Erdreich holen) komplexer gebaute organische Moleküle auf, Stärke vor allem, aber auch Zucker und Fette. Als Energiequelle für deren Aufbau dient ihnen das Sonnenlicht. Bei diesem daher Photosynthese (»Lichtsynthese«) genannten Prozeß wird Sauerstoff frei und in die Atmosphäre abgegeben, die so für uns und alle Tiere im Laufe der Erdgeschichte zur Atemluft geworden ist.

Die grünen Pflanzen sind aus diesen beiden Gründen das biologische Fundament allen tierischen (und menschlichen) Lebens auf der Erde: Sie allein können aus anorganischen Bausteinen energiereiche organische Moleküle aufbauen, auf die alle übrigen Lebewesen als Nahrung (und Baumaterial) angewiesen sind. Und sie allein produzieren den Sauerstoff, mit dessen Hilfe wir und alle Tiere diese Nahrungsmoleküle in unseren Körpern wieder zerlegen, um die in ihnen steckende Bindungsenergie zum Betreiben des eigenen Stoffwechsels verwenden zu können.

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Die spezielle Bedeutung der Wälder für die Bewohnbarkeit der Erde hängt nun allerdings mit einem anderen Aspekt der für alle Pflanzen charakteristischen photosynthetischen Aktivität zusammen, der schon kurz erwähnt wurde. Zwar stammt praktisch aller Sauerstoff in der Atmosphäre aus dieser einen unverzichtbaren Quelle. Und zwar haben selbstredend auch die unzähligen grünen Blätter der Wälder daran ihren Anteil. Ihr Beitrag als Sauerstoff­produzenten fällt jedoch im Ensemble der irdischen Vegetation nicht entscheidend ins Gewicht. Er wird zum Beispiel von dem des Phytoplanktons (mikroskopisch kleiner pflanzlicher Einzeller) in den Weltmeeren weit übertroffen.

Die Gewichte kehren sich jedoch um, wenn man nicht die Rolle der Pflanzen als Sauerstoffspender ins Auge faßt, sondern ihre Bedeutung als Kohlenstoffspeicher. Der in der Atmosphäre als gasförmiges CO2 enthaltene Kohlenstoff wird von den Pflanzen, wie erwähnt, in die eigene Körpersubstanz eingebaut und damit von ihnen gebunden. Diese »Speicherung« erfolgt natürlich immer nur vorübergehend. Sobald die betreffende Pflanze abstirbt oder von Mensch oder Tier verspeist wird, sobald sie also durch Verwesung oder Verdauung wieder in ihre Bausteine zerlegt wird, gelangt der in ihr enthaltene Kohlenstoff erneut, an Sauerstoff gebunden, als CO2 in die freie Atmosphäre.

Es ist nun ohne weiteres einzusehen, daß das Ausmaß, in dem Kohlendioxid auf diese Weise der Atmosphäre entzogen wird, entscheidend von der Dauer seiner Speicherung in der Pflanzenmasse abhängt. Und deshalb übertrifft die Bedeutung von Wäldern als »biologischer Kohlenstoffspeicher« die aller anderen Pflanzengesellschaften um ein Vielfaches. Man bedenke aus dieser Perspektive einmal, was der Mensch von jeher angerichtet hat, wann immer er ein Waldstück rodete, um auf der so gewonnenen Fläche »Nutzpflanzen« (Getreide, Gemüse, Früchte) für seinen Bedarf anzubauen. Während er mit seiner Hände Arbeit ein Stück »unnützer Natur« in »wertvolles Kulturland« verwandelte — eine zweifellos einseitig-egozentrische Betrachtungsweise, an der andererseits auch nachträglich vorerst nichts auszusetzen war —, vernichtete er jedesmal zugleich auch ein kleines Stück des natürlichen Kohlenstoffspeichers der Erde.

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Das fiel nicht ins Gewicht, solange die Zahl der Menschen, die das taten, klein blieb im Vergleich zu den fruchtbaren Regionen der Erdoberfläche. In unserer Gegenwart jedoch, infolge des etwa seit der letzten Jahrhundertwende zu verzeichnenden »explosionsartigen« Wachstums der Erdbevölkerung, beginnt der Vernichtungsprozeß spürbare Konsequenzen nach sich zu ziehen. Denn die auf den freigerodeten Flächen angebauten Nutzpflanzen können die Rolle des verschwundenen Waldes nicht annähernd übernehmen. Schuld daran ist nicht einmal so sehr ihre pro Flächeneinheit geringere Masse. Viel gravierender in diesem Zusammenhang ist ihre im Vergleich zu einem Baum lächerlich kurze Lebensdauer.

Kulturpflanzen werden zum Zwecke des Verbrauchs, in aller Regel: des Verzehrs durch den Menschen, angebaut. Das setzt ihrer Lebenserwartung naturgemäß sehr enge Grenzen. Eine Kartoffel »lebt« nur wenige Monate. Danach wird sie verspeist — und der in ihr enthaltene Kohlenstoff mit der Atemluft des Essers als CO2 wieder an die Atmosphäre zurückgegeben. Nicht anders ist es bei Getreide, Gemüse oder Obst (oder auch bei Weidegras). Selbstverständlich sind auch Nutzpflanzen (wie grundsätzlich alle Pflanzen) Kohlenstoffspeicher. Die von ihnen geleistete Speicherung ist aber extrem kurzfristig und wird dazu noch von Generation zu Generation von langen Monaten einer jahreszeitlich wiederkehrenden Vegetationspause unterbrochen. Im Unterschied dazu lebt ein Baum in einem im Naturzustand belassenen Wald Jahrhunderte. Daraus erklärt es sich, daß in den Wäldern der Erde fast neunzig Prozent allen biologisch gespeicherten Kohlenstoffs festgelegt sind. Entsprechend schwer sind die Folgen, wenn man diesen Speicher antastet.

Das ist sehr lange gutgegangen. Heute aber haben wir jene Grenze erreicht, wenn nicht gar schon über­schritten, von der ab die von den Wäldern bisher geleistete Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre unter eine kritische Schwelle abzusinken droht. Das Molekül reichert sich in der Atmosphäre an. Absolut genommen, sind die Mengen zwar winzig. Der Kohlendioxidgehalt unserer Atemluft beträgt nur rund 0,03 Prozent. (Das entspricht immerhin einer Kohlenstoffmenge in der gesamten Atmosphäre von etwa 700 Milliarden Tonnen.) Etwa seit 1850 regelmäßig durchgeführte genaue Messungen haben nun jedoch ergeben, daß die Konzentration stetig angestiegen ist. 1850 betrug sie noch 290 ppm (»parts per million«), also erst 0,029 Prozent. Seitdem ist sie um fast 15 Prozent auf 330 ppm (oder 0,033 Prozent) gestiegen.

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Ob nun einige ppm mehr oder weniger, an der Tatsache des Anstiegs gibt es nichts zu rütteln. Verständlicher­weise glaubten auch die Experten bis vor kurzem, daß das ausschließlich eine Folge des »Kohlezeitalters« sei, also zunehmender industrieller und privater Verbrennungsprozesse. Daher plädiert so mancher bis auf den heutigen Tag noch für den weiteren Ausbau der Atomenergieerzeugung, mit der so einleuchtend erscheinenden Begründung, daß nur auf diese Weise der mit der Verbrennung von Öl und Kohle einhergehende CO2-Ausstoß in die Atmosphäre reduziert werden könne.

Das Argument steht in Wirklichkeit jedoch auf schwachen Beinen. Denn der atmosphärische CO2-Gehalt beruht auf einem »Fließgleichgewicht«. Und bei ihren Messungen und Computersimulationen wurden die Atmosphärenchemiker an die alte Binsenwahrheit erinnert, daß man ein Fließgleichgewicht nicht nur durch vermehrten Zufluß (in unserem Falle: durch vermehrte Verbrennung) aus den Fugen bringen kann, sondern genauso wirksam auch durch eine Verstopfung des Abflusses (in unserem Falle also durch die Verringerung der biologischen Speicherkapazität). Ihre Rechnungen ergaben sogar (und das schon Ende der siebziger Jahre) den alarmierenden Befund, daß die ungeachtet aller Proteste und Warnungen munter voranschreitende Waldzerstörung heute bereits mehr zum Anstieg des Spurengases Kohlendioxid in der Atmosphäre beiträgt als alle auf der Erde ablaufenden Verbrennungsvorgänge.

Natürlich müßten wir dazu übergehen, unseren fossilen Energieverbrauch endlich einzuschränken (anstatt davon nur zu reden). Möglichkeiten dazu gibt es genug, vom Tempolimit auf den Straßen bis hin zu einer radikalen Neuordnung der Energiepolitik. Das allein würde uns heute aber schon nicht mehr aus der Patsche helfen. Anstatt unbelehrbar »weiterzufeiern«, müßten wir längst anfangen, auf die Verwendung tropischer Hölzer zu verzichten, und dafür sorgen, daß die Bewohner der Regenwaldgebiete auch ohne ständige Brandrodungen überleben können. Denn die sich in diesem Augenblick abspielende Zerstörung der letzten biologischen Speicherreserven setzt Mengen frei, die den atmosphärischen Kohlenstoffkreislauf endgültig aus dem Gleichgewicht zu bringen beginnen.

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Was ist daran eigentlich so furchtbar schlimm? Wen braucht es schon zu bekümmern, ob unserer Atmosphäre die winzige Menge von 330 ppm des unsichtbaren und geruchlosen Gases CO2 beigemengt ist oder ein noch winzigerer Bruchteil davon mehr? Der »winzige Bruchteil mehr« droht heute deshalb zu einer tödlichen Gefahr für unsere Zivilisation zu werden, weil gasförmiges Kohlendioxid in seinen physikalischen Eigenschaften einer Fensterscheibe ähnelt. Beide verhalten sich elektromagnetischen Wellen gegenüber je nach deren Frequenz in gleicher Weise unterschiedlich. Glas wie CO2 lassen die kurzwellige Lichtstrahlung fast ungehindert passieren: Sie sind für Licht durchlässig. Für die im langwelligeren Infrarotbereich des Spektrums gelegene Wärmestrahlung dagegen stellen sie eine wirksame Barriere dar. Wir machen uns diesen Unterschied zunutze, seit es Glasfenster gibt. Mit ihnen können wir uns gegen winterliche Kälte oder sommerliche Hitze schützen, ohne gleichzeitig unsere Zimmer zu verdunkeln. (Allerdings wird hierbei wie auch im Falle des Treibhauses der Effekt dadurch noch erheblich verstärkt, daß die erwärmte Luft am Entweichen und die kalte Luft am Eindringen gehindert wird, was in der Atmosphäre naturgemäß nicht der Fall ist.)

Die gleiche Funktion übt nun das Kohlendioxid in der irdischen Lufthülle aus. Es läßt das Sonnenlicht ungehindert hindurch. Dieses heizt die Erdoberfläche auf, wobei die kurzwellige Lichteinstrahlung sich in längerwellige Wärmestrahlung verwandelt. Diese wird vom Erdboden dann wieder zurückgestrahlt, kann aber, ihres veränderten physikalischen Charakters wegen, auf ihrem Rückweg die kohlendioxidhaltige Atmosphäre nicht mehr mit der gleichen Leichtigkeit passieren wie auf dem Hinweg (auf dem sie noch als kurzwellige Lichtwelle eintraf). Die Wärme wird daher zu einem nennenswerten Teil zurückgehalten. Sie bleibt in der Atmosphäre »gefangen«.

Wir würden auf der Erde erfrieren, wenn das nicht so wäre und wenn sich statt dessen alle einfallende Sonnenenergie sogleich wieder in den kalten Weltraum verflüchtigte. So, wie auch tropische Blumen in der Kühle unseres gemäßigten Klimas zugrunde gehen müßten, wenn der Gärtner ihnen nicht den Schutz eines Treibhauses angedeihen ließe (dessen Glasscheiben ebenfalls das Sonnenlicht hinein-, die von diesem im Inneren erzeugte Wärme aber nicht so ohne weiteres wieder herauslassen). Wie die empfindlichen Blumen durch die Gläser des Treibhauses vor der Kühle ihrer Umgebung, so werden wir durch unsere kohlendioxidhaltige Atmosphäre vor der Kälte des gleich über unseren Köpfen beginnenden Weltraums geschützt. Das ist der heute vielzitierte »Treibhauseffekt« des Kohlendioxids. Wie man sieht, grundsätzlich eine gute Sache. Ein lebensnotwendiger Effekt sogar.

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Man muß sich nun des weiteren aber auch vor Augen halten, daß wir und alles andere Leben auf dieser Erde in kürzester Zeit zugrunde gingen, wenn sich die von der Sonne auf die Erde einfallende Strahlungs­energie nicht per saldo exakt die Waage hielte mit der von der Erde in den Weltraum zurück­gestrahlten Energiemenge. Das ist letztlich nur eine Binsenwahrheit. Wenn der abgestrahlte Energiebetrag permanent ein noch so kleines bißchen größer wäre als die aufgenommene Energie, würde die Erde sich abkühlen und früher oder später unweigerlich vereisen. Umgekehrt würde die Erde sich über kurz oder lang in einen nicht minder lebensfeindlichen Wüstenplaneten verwandeln, wenn der auf ihr eintreffende Anteil der Sonnenstrahlung den wiederabgestrahlten Betrag, und sei es um einen noch so kleinen Bruchteil, konstant überstiege. Die »Strahlungsbilanz« der Erde muß, mit anderen Worten, präzise ausgeglichen sein, damit wir überleben können. Offensichtlich ist ein CO2-Gehalt der Atmosphäre von zirka 0,03 Prozent dafür gerade die richtige Dosis. Ohne ihn (und die Mitwirkung einiger anderer Spurengase) würde die Durchschnittstemperatur der Erde -18 Grad Celsius betragen und nicht +15 Grad, wie es der Fall ist. Die zwischen diesen beiden Werten liegende Differenz von 33 Grad stellt mithin den planetarischen Effekt der Treibhausgase dar.

Welche Faktoren die CO2-Beimengung auf den lebenswichtigen Wert von 0,03 Prozent eingepegelt und dafür gesorgt haben, daß er innerhalb einer mit dem irdischen Leben zu vereinbarenden Schwankungsbreite eingehalten worden ist, weiß kein Mensch. Teilzusammenhänge sind aufgedeckt worden, und Hypothesen gibt es en masse. Die Ausgeglichenheit der Temperaturbilanz der Erde ist letztlich aber auch heute noch ein undurchschaubares Wunder. Dies gilt um so mehr, als das CO2 keineswegs der einzige Faktor ist, von dem das planetare Strahlungsgleichgewicht abhängt.

Nicht weniger wichtig ist die sogenannte »Albedo« der Erde: das Rückstrahlungsvermögen ihrer Oberfläche. Zusätzlich kompliziert wird die Angelegenheit dadurch, daß auch ihr Wert variablen Faktoren unterliegt. Weiträumig geschlossene Wolkendecken und Schneefelder reflektieren einen größeren Anteil des einfallenden Sonnenlichts als Vegetationsflächen und offene Meere.

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Auch deren Wechsel aber wird offenbar durch uns weitgehend unbekannte Rückkopplungsmechanismen kompensiert. Für wichtig (und in unserer jetzigen Situation unter Umständen besonders bedrohlich) halten die Klimaforscher noch die Möglichkeit sogenannter »Run-away-Effekte«, Situationen, in denen die Abweichung von einem eingependelten Gleichgewicht ihrerseits Faktoren produziert, welche den Abweichungstrend zusätzlich verstärken und beschleunigen.

So würden sich zum Beispiel beim Einsetzen einer Vereisung die Polkappen vergrößern. Dies wäre gleichbedeutend mit einer Vergrößerung der Albedo der Erde. Infolge der dadurch vermehrten Abstrahlung aber würde die Erde zusätzlich Wärme an den Weltraum verlieren. Die dadurch bewirkte Abkühlung würde die Polkappen noch mehr wachsen lassen und so fort in einem sich selbsttätig aufschaukelnden Prozeß der Verstärkung der anfänglichen Abkühlungstendenz. (Wegen dieses speziellen »Run-away-Effektes« tappen die Experten heute bei der Frage, wie die Erde aus den zurückliegenden Eiszeiten eigentlich wieder herausgekommen ist, noch mehr im dunklen als angesichts der Probleme ihrer Entstehung.)

Zu einer ähnlichen Selbstverstärkung könnte es bei einer Erhöhung des Kohlendioxidgehalts der Atmosphäre mit nachfolgender Erwärmung durch die Vergrößerung des Treibhauseffekts kommen. Denn neben dem biologischen Speicher der Wälder spielen auch die Weltmeere als nichtbiologische Kohlenstoffspeicher eine bedeutsame Rolle. Deren Speicherfähigkeit ist nun aber temperaturabhängig: Ein kaltes Meer vermag mehr Kohlenstoff zu speichern als ein warmes Meer. Daher steht zu befürchten, daß die Meere, wenn die Aufheizung der Erde erst einmal eingesetzt hat, zusätzlich große Mengen an Kohlenstoff freisetzen könnten, die den Treibhauseffekt weiter verstärken würden. Niemand weiß andererseits, bei welchem Grad der Abweichung in diesem Falle ein »Run-away-Effekt« in Gang kommen würde.

Weitere Faktoren komplizieren die Verhältnisse noch. Auch der in der Atmosphäre enthaltene Wasser­dampf beeinflußt die Temperaturbilanz. Auch dessen Konzentration nimmt neuerdings in den tropischen Regionen rasch zu. (Über dem Pazifik um zwanzig Prozent in den letzten zwanzig Jahren.) Die Ursache ist, soweit heute bekannt, in einer Erhöhung der Durchschnittstemperatur der Ozeane um etwas mehr als ein halbes Grad Celsius zu sehen. Über deren Gründe wird im Kreise der Experten noch diskutiert, bisher ohne Ergebnis.

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Zum Treibhauseffekt tragen des weiteren — wegen der zunehmenden Emissionen unserer technischen Zivilisation — auch noch Ozon, Methan, Stickoxide und ein halbes Dutzend anderer Moleküle bei, die sich ebenfalls als »Spurengase« in unserer Atmosphäre anzureichern beginnen, jede dieser Verbindungen aber hat ihre besondere Entstehungsgeschichte. Jede von ihnen also stellt das Ende einer anderen Ursachenkette dar, die eine jeweils eigene Analyse erforderte, wenn man versuchen wollte, die jeweilige Quelle zu verstopfen. 

Und, wie um das Verwirrspiel um eine weitere Größenordnung zu komplizieren: Fast alle diese Ketten hängen untereinander (und mit fraglos sehr vielen anderen von uns überhaupt noch nicht entdeckten ursächlichen Faktoren und Kreisläufen) in einem für uns unentwirrbaren Netz von gegenseitigen — verstärkenden oder auch bremsenden — Rückkopplungen zusammen.

Die natürliche Ausgewogenheit der Strahlungsbilanz unseres im Lichte der Sonne rotierenden Planeten ist mit anderen Worten das Resultat eines Wunderwerks ursächlicher Verflechtungen, die wir nicht annähernd durchschauen. Mit den kurz skizzierten Einzelheiten des atmosphärischen Kohlenstoffkreislaufs haben wir nur ein winziges Zipfelchen des ganzen Netzes zu Gesicht bekommen. Die Aussichtslosigkeit des Versuchs, seine einzelnen Fäden zu verfolgen und aufzudröseln, vermittelt eine Ahnung von der über alle Maßen komplizierten Struktur der Zusammenhänge, die sich hinter diesem von uns gedankenlos als selbstverständlich hingenommenen Gleichgewicht verbergen. 

Wobei wir schließlich auch noch zu bedenken haben, daß die irdische Strahlungsbilanz ihrerseits wieder nur einen vergleichsweise winzigen Ausschnitt aus dem Gesamtsystem darstellt, das wir meinen, wenn wir von Ökosphäre (oder Biosphäre) reden. Wir haben dieses System gerade eben erst entdeckt sowie die Tatsache, daß wir von seiner kunstvoll aufrechterhaltenen Stabilität existentiell abhängen. Darüber hinaus aber wissen wir von ihm so gut wie nichts.

Es liegt jedoch in unserer Möglichkeit, die subtile Ordnung dieses Systems aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das, was wir nicht verstehen, können wir immerhin stören. Und wir tun das seit einiger Zeit auch, seltsamerweise ohne viele Gedanken an die Tatsache zu verschwenden, daß wir damit an dem Ast zu sägen anfangen, auf dem wir sitzen.

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Durch unsere schiere Zahl und mit den technisch multiplizierten Kräften, die wir heute zur Durchsetzung unserer Ansprüche einzusetzen vermögen, überspielen wir seit einiger Zeit die uns unbekannten Mechanismen, die das ökologische Gleichgewicht bisher geregelt haben: Der Kohlendioxid-Gehalt der Atmosphäre hat begonnen anzusteigen. (Es ist das nicht etwa das einzige Alarmsymptom der einsetzenden globalen Störung, aber bleiben wir bei diesem einen Beispiel.)

Physikalische Gesetze machen es unausweichlich, daß damit der atmosphärische Treibhauseffekt zunimmt, die Erde folglich beginnt, sich zu erwärmen. Um welchen Betrag? Darüber geben die Computermodelle keine eindeutige Auskunft. Die Komplexität der beteiligten Faktoren läßt selbst die Elektronenrechner an ihre Grenzen stoßen. Die gelegentlich von den Medien verbreiteten Horrorszenarios (Abschmelzen der Polkappen, Ansteigen des Meeresspiegels um mehrere Meter und Überschwemmung aller Küstengebiete) malen einen Schrecken aus, der zum Glück — unsere Nachfahren werden das wahrscheinlich etwas anders sehen — noch mindestens ein bis zwei Jahrhunderte in der Zukunft liegt. Unsere Gesellschaft dürfte allerdings schon sehr viel früher ernsten Bedrohungen gegenüberstehen, wenn die gegenwärtige Tendenz sich nicht stoppen läßt. Denn schon ganz geringfügig erscheinende Steigerungen der jährlichen Durchschnittstemperatur können katastrophale Folgen hervorrufen.

Ein einziger ungewöhnlich heißer und trockener Sommer genügte 1988, wie erinnerlich, um die amerikanische Weizenproduktion um fast ein Viertel zu verringern. Die USA konnten ihrer für viele Länder lebenswichtigen Rolle als größter Getreideexporteur der Welt in diesem Jahre nur deshalb noch nachkommen, weil entsprechende Vorräte als Reserven zur Verfügung standen. Schon zwei oder drei aufeinanderfolgende derartige Sommer, so erklärten damals Agrarexperten, würden genügen, um die Getreideversorgung vieler Entwicklungsländer zusammenbrechen zu lassen und Hungerkatastrophen auszulösen. 

Auch in dem auf der Südhalbkugel gelegenen Argentinien war der Sommer 1988/89 ungewöhnlich heiß und trocken. Die Folge: In ganzen Provinzen brach die Trinkwasser- und, soweit sie auf Wasserkraft basiert, die Energieversorgung zusammen, so daß der nationale Notstand erklärt werden mußte und ein Hilfeersuchen an die USA erging, Notstromaggregate zu liefern.

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Man kann sich leicht ausmalen, was die Folgen wären, wenn derartige extreme Sommer sich häuften oder gar zur Regel würden. Dazu aber genügt bereits eine um nur einige zehntel Grad erhöhte jährliche Durchschnittstemperatur. Die Getreideproduktion in allen Anbaugebieten würde spürbar zurückgehen. (Die Preise würden kräftig steigen, die Zahl der Hungertoten in den Entwicklungsländern ebenfalls.) Die Gefahr der Bodenerosion würde auf allen Kontinenten zunehmen. Und auch bei uns würde der Grundwasserspiegel langsam, aber sicher absinken mit der Folge, daß unsere heute schon durch ein Übermaß chemischer Belastung des Bodens problematisch gewordene Trinkwassersituation endgültig in eine Sackgasse geriete.

Aber darum schert sich bei uns niemand. Es wird weitergefeiert. 

Alle Jahre wieder wird im Tone des Triumphs eine weitere Million neuer Autos auf unsere Straßen losgelassen, obwohl jedermann weiß, daß (von allen anderen negativen Folgen unseres Autofetischismus ganz abgesehen) die von ihnen produzierten Emissionen allen Katalysatoren zum Trotz das Klima — das Erdklima! — weiter aufheizen werden. Während wir im eigenen Interesse dringend gehalten wären, Energie in jeder Form einzusparen, wo immer es geht (und es ginge heute noch an unzähligen Ecken und Enden), wurde Anfang 1989 in Stuttgart der Ausbau der energiepolitisch längst als unsinnig erkannten elektrischen Heizsysteme in allen Behördenbauten und Schulen beschlossen. Von Amts wegen und mit der pikanten Begründung, daß der im Übermaß vorhandene Atomstrom verbraucht werden müsse.

Wir werden uns auf diesem Wege unfehlbar zugrunde richten, und manchmal fällt es schwer, den Gedanken abzuweisen, daß das, nehmt alles nur in allem, vielleicht nicht einmal die schlechteste Lösung wäre. Alle übrige Kreatur auf diesem Planeten und dieser selbst wären ohne jede Frage besser dran, wenn der globale Störenfried sich selbst aus dem Verkehr zöge. Dann würde, endlich, wieder Friede herrschen können auf Erden. Das Problem besteht bloß darin, daß wir nicht nur für uns allein Verantwortung tragen. Unsere moralische Pflicht wäre es, damit aufzuhören, unsere Enkel zu ermorden.

Aber auch für diesen Teil unserer Verantwortung sind wir blind. Der wissenschaftliche Direktor am Bundesumweltamt, Lutz Wicke, CDU-Mitglied, bezifferte kürzlich die von unserer Wachstumsgesellschaft an Luft, Wasser und Böden, an der Gesundheit ihrer Mitglieder und den Fassaden ihres architektonischen kulturellen Erbes insgesamt angerichteten Umweltschäden auf »mindestens 100 Milliarden Mark«.

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Jährlich, wohlgemerkt, und allein in der Bundesrepublik. Das also ist die sich von Jahr zu Jahr um den gleichen Betrag vergrößernde Riesensumme, die wir ohne Deckung verpulvern, um unser Konsumfest und unser Wirtschaftswachstum fortzusetzen. Blind dafür, daß unbegrenztes Wachstum auf die Dauer naturnotwendig in einer Katastrophe enden muß (wie das blindwütige Wachstum einer jeden Krebszelle uns lehren kann). Das ist der ungedeckte Wechsel, den wir — nach uns die Sintflut! — den uns nachfolgenden Generationen ohne Gewissensregung weiterzureichen gedenken. Sollen die doch sehen, wie sie mit der Hypothek zurechtkommen.

Die Hypothek aber wird tödlich sein, denn schon in wenigen Jahrzehnten wird es nicht mehr um Luxus und Bequemlichkeit gehen. Dann geht es bloß noch um das nackte Überleben in einer Welt, deren lebenserhaltende Potenzen wir, den Blick unbeirrt auf Wirtschaftswachstumsraten, Exportquoten und Bundes­bank­überschüsse gerichtet, schlicht verpraßt haben. Daß die für eine Änderung des tödlichen Kurses unbedingt notwendigen gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Strukturreformen ungeheure Probleme und Schwierigkeiten mit sich brächten, bezweifelt niemand. Nur übersieht, wer angesichts der Herausforderung untätig bleibt, daß man auch mit glänzenden Wachstumsraten und Vollbeschäftigung ökologisch zur Hölle fahren kann.

Ich wiederhole, was ich zu diesem Thema schon vor vier Jahren in meinem letzten Buch schrieb: Zwar stehen die Notausgänge, die uns alsbald aus aller Gefahr führen könnten, sperrangelweit offen. Natürlich liegt es allein in unserer Hand, Gesetze, Strukturen und Wertmaßstäbe so zu ändern, daß wir auch jetzt, zu später Stunde, noch einmal davonkommen könnten. Aber wir tun es nicht und schließen lieber die Augen vor den Konsequenzen.

Der Kurs, den wir weiterzuverfolgen entschlossen sind, ist in den vergangenen Jahrhunderten erfolgreich gewesen. Niemand kann es bestreiten. Aber eben das hat uns infolge eines von den Verhaltenswissen­schaftlern »Verstärkung« genannten psychischen Mechanismus so sehr auf diesen Kurs eingeschworen, daß unsere Lernfähigkeit darunter gelitten hat. Wir erweisen uns als unfähig zu begreifen, daß er eben seines Erfolges wegen zu einem Kurs geworden ist, dessen Fortsetzung von jetzt ab ins Verderben führen muß. Unsere Kalamität beruht nicht darauf, daß wir bisher alles falsch gemacht hätten. Ganz im Gegenteil.

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Wir waren höchst erfolgreich. Zu erfolgreich. Unsere Zahl auf der Erde ist weit über das Maß hinaus­geschossen, das die Erde tragen kann, und unsere technischen Machtmittel vergrößern jede unserer Maßnahmen zu Gewaltakten, denen alles weichen muß, was uns aus der kurzsichtigen Perspektive unseres Gewinnstrebens im Wege zu stehen scheint.

Deshalb müßten wir, in der abenteuerlich kurzen Frist der Lebenszeit einer einzigen Generation, lernen, daß es ratsam, ja überlebensnotwendig wäre, den bisherigen Erfolgskurs zu verlassen und nach neuen Wegen zu suchen, so schwer die auch zu finden sein mögen. Das aber bringen wir offensichtlich nicht fertig. Wir fürchten die unbekannten Wege, das Abgehen vom Gewohnten, mehr als die reale Gefahr. Unsere Reaktion ähnelt der jener Pferde, die beim Brand ihres Stalles mit Gewalt davon abgehalten werden müssen, in ihre brennenden Boxen zurückzuflüchten, obwohl ihre Chancen überall woanders ungleich größer wären. Aber in der Panik neigt die unvernünftige Kreatur unbelehrbar dazu, sich an das Gewohnte zu klammern. Wie es um unsere menschliche Vernunft wirklich steht, ergibt sich daraus, daß wir da keine Ausnahme machen.

Deshalb verstehe ich auch den Einwand mancher Kritiker nicht, die mir vorhalten, ich widerspräche mir selbst, wenn ich einerseits von »sperrangelweit offenstehenden Notausgängen« redete und andererseits behauptete, daß unsere Zivilisation keine Chance habe, die nächsten drei oder vier Jahrzehnte heil zu überstehen. Die sehr einfache Antwort auf diesen Vorhalt lautet: Wir werden von diesen uns offenstehenden Notausgängen keinen Gebrauch machen. Daß sich das auf eine groteske Weise paradox ausnimmt, weiß ich. Letztlich ist es aber nicht widersprüchlicher als die menschliche Natur selbst. Die Tatsache, daß wir nicht immer fähig sind, das zu tun, was unsere Einsicht uns zu tun empfiehlt, kommt an dieser Stelle ja nicht zum erstenmal zur Sprache.

Ausführlich die Rede war auch schon von dem stammesgeschichtlichen Hintergrund der Entstehung und der aus ihm sich ergebenden Beschränkungen unserer Weltsicht. Unserem in den langen Zeiträumen dieser evolutiven Entstehungsgeschichte an ein Leben unter »natürlichen« Umständen angepaßten Gehirn mangelt es allem Anschein nach an jenen Fähigkeiten, deren es bedürfte, um sich auch in der durch den zivilisatorischen Fortschritt der letzten 200 Jahre grundlegend veränderten Umwelt noch verläßlich zurecht­finden zu können.

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Die Komplexität der von uns selbst — eben nicht in bewußter Planung oder überhaupt gewollt, sondern in einem überindividuell sich abspielenden kulturellen Prozeß — hervorgebrachten Zivilisationsstrukturen überfordern heute offenbar die analytische Kapazität unserer Vernunft. Die Analogie zu dem Verhalten des in Panik geratenen Pferdes spiegelt daher mehr als eine bloß äußerliche Ähnlichkeit wider. Auch wir dürfen uns noch immer nicht als eine schon uneingeschränkt rationale Lebensform betrachten.

Wie man sieht, sind unsere Aussichten düster. Wer die gegenwärtigen Symptome der ökologischen Bedrohung unvoreingenommen zur Kenntnis nimmt und ihre laufende Entwicklung ohne Illusionen verfolgt, kommt nicht um die Schlußfolgerung herum, daß der seit der »Aufklärung« von uns eingeschlagene Weg sich als ruinös herausgestellt hat. Kant ist zu optimistisch gewesen. Der Mensch hat sich damals zwar aus »selbstverschuldeter Unmündigkeit« gelöst, indem er den weltlichen und kirchlichen Autoritäten der absolutistischen Gesellschaft den Gehorsam aufkündigte. Aber nur, um fast im gleichen Augenblick schon wieder in die nächste ideologische Fallgrube zu stolpern.

Jetzt glaubte er zwar nicht mehr an seine Pflicht zur Unterwerfung unter die Willkür »von Gottes Gnaden« eingesetzter Potentaten. Dafür aber verfiel er von Stund' an um so unbeirrbarer dem Wahn seiner Allmächtigkeit. Auf die historische Epoche devoter Unterordnung folgte die Epoche der irrationalen Gewißheit, daß alles, das Schicksal der Welt und auch das eigene Glück, dem Menschen in die Hand gelegt sei. Daß der von keiner diesseitigen oder jenseitigen Autorität behelligte Gebrauch seiner Vernunft den Menschen dazu befähige, die Welt seinen Wünschen gemäß umzubauen und eine leidensfreie und gerechte menschliche Gesellschaft planend zu organisieren.

Wir wissen, was dabei herausgekommen ist. Und wir beginnen einzusehen, daß der größere Teil unseres Elends auf den Irrglauben zurückzuführen ist, daß es für alle Probleme des Menschen ein — und nur ein einziges, jeweils »richtiges« — Lösungsrezept geben müsse, das sich bei gutem Willen und hinreichender Anspannung der Verstandeskräfte finden lasse. »Schließlich hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß der Mensch ihn zu seinem Himmel machen wollte«, stellte Hölderlin schon vor über hundert Jahren resigniert fest.

Es darf uns nicht wundern, daß der Versuch mißlungen ist. Daß er uns in die Lage manövriert hat, vor der wir heute stehen. Denn der Gedanke an die Existenz rationaler Rezepte zur Lösung aller menschlichen und gesellschaftlichen Probleme kann im Kopfe eines Lebewesens, dessen Gehirn ihm die Erkenntnis der Welt in ihrer objektiven Beschaffenheit noch immer vorenthält, nur als gefährliche Illusion spuken. Wem lediglich ein unvollständiges, unscharfes, grundsätzlich nur am Gesichtspunkt biologischer Überlebensfähigkeit unter natürlichen Umständen orientiertes Abbild der Welt zur Verfügung steht, sollte mit seinen Ansprüchen viel kürzertreten, als wir es getan haben. Andernfalls werden ihm, wie es uns heute geschieht, die Folgen seiner Selbst­überschätzung früher oder später schonungslos präsentiert.

Die Chancen unserer Gesellschaft, die von der nunmehr entstandenen Situation verlangten Veränderungen ohne krisenhafte, katastrophale Umbrüche zu überstehen, sind folglich denkbar gering. Das ist keine pessimistische Behauptung, wie viele meiner Kritiker es zu ihrer und ihrer Leser Beruhigung haben hinstellen wollen. (Wozu wiederum anzumerken wäre, daß Beruhigung nun wahrhaftig die letzte Seelenverfassung ist, die uns heute not tut.) Die hier kurz zusammengefaßten Schlußfolgerungen geben vielmehr die einzig realistische Sicht der Dinge wieder. 

Hat folglich jemand, den der Zufall seiner Geburt ausgerechnet in diesen Augenblick der Geschichte verschlug, sich mit dem Gedanken abzufinden, daß seine Lebenszeit nun einmal in eine der vielen historischen Epochen gefallen ist, die sich im Rückblick als sinnlose Sackgasse erweisen? Muß er dazu bereit sein, auch die eigene individuelle Existenz unter dem Aspekt dieser historischen Sinnlosigkeit zu beurteilen? 

So trostlos ist die Lage glücklicherweise nicht. Sobald man nämlich die Perspektive erweitert und die Frage nach dem Sinn der eigenen Lebenszeit nicht aus dem relativ engen Blickwinkel seiner Biographie und des sie zufällig begleitenden historischen Augenblicks stellt, fällt die Antwort sehr viel positiver aus.

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