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209 - Die Paläontologie des Gehirns  

 210   Neandertaler

 

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In seiner ersten Phase war dieser Krieg jedoch noch so großherzig, mich zu übersehen. In Polen hatte man uns nicht eingesetzt (wir hatten die wenigen Wochen, die der Feldzug dauerte, im schlesischen Hinterland Munitions­lager bewachen müssen). Nach dem Ablauf der halbjährigen Dienstpflicht war ich pünktlich aus dem Arbeitsdienst entlassen und auf meinen Antrag — mit der Begründung, daß ich Medizin studieren wolle — bereitwillig bis zum ersten Examen (Physikum) vom Heeresdienst zurückgestellt worden. Ich war heilfroh über diese unerwartet frühe Rückkehr in die schon verloren geglaubte Welt des Zivils und genoß mein Dasein als Medizin­student in dem bis auf einige Versorgungsengpässe vom Krieg noch unberührten Berlin relativ unbeschwerten Herzens.

Eines Nachmittags im Oktober 1939 saß ich als frischgebackener Medizinstudent mit einem Kommilitonen in einem Cafe am Kurfürstendamm, als sich die Eingangstür öffnete und ein junger Leutnant den Gastraum betrat. Die ordensgeschmückte Feldbluse des Mannes stand offen, da sein linker Arm, dick weiß verbunden in der Schlinge, nicht in den Ärmel paßte. Es war der erste Verwundete, den ich zu sehen bekam. An den vollbesetzten Tischen verstummten die Gespräche. In ehrfürchtigem Schweigen wandten sich alle Gesichter zur Tür. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn die Anwesenden sich von ihren Plätzen erhoben hätten. Es war, als hätte Gott Ares höchstpersönlich die Szene betreten.

Der Mann an der Tür benahm sich, als bemerkte er die Bewunderung gar nicht, die er auf sich zog. Scheinbar selbstvergessen blieb er breitbeinig am Eingang stehen, während er den kühn erhobenen Kopf langsam von der einen Seite des Raumes zur anderen wendete, als ob er jemanden suchte. Offenbar ohne Erfolg, denn nach einigen Augenblicken machte er auf dem Absatz kehrt und verließ das Lokal schweigend, wie er gekommen war. Während an den übrigen Tischen halblautes Gemurmel einsetzte, zerstörte mein Tischnachbar die weihevolle Stimmung mit der trockenen Bemerkung: »So klappert der jetzt den ganzen Kudamm ab!«

Was hatte sich abgespielt? Was war das für eine Kraft, welche die Psyche einiger Dutzend vom Zufall zusammengewürfelter Kaffeehausgäste im Handumdrehen zu dem gemeinsamen Erlebnis weihevoller Andacht synchronisiert hatte? Was für eine Kraft, die auch den Auslöser der kurzen Episode einbezog, den jungen Offizier, der unter ihrem Einfluß der Versuchung erlag, die sich auf ihn konzentrierende Devotion durch eine Wanderung von Lokal zu Lokal auszukosten? 

Wie die meisten meiner Altersgenossen fürchtete ich mich vor dem Krieg (wenn wir das auch um keinen Preis zugegeben hätten, weil es ehrenrührig war). Ich war erschrocken darüber, daß es nun doch passiert war. Der rasche, siegreiche Verlauf des »Polenfeldzuges« hatte uns andererseits ein wenig beruhigt. England und Frankreich würden nun einsehen, daß der Anlaß ihres Kriegseintritts durch den »Blitzkrieg« im Osten sozusagen überholt war. Nachdem sie ihrer Bündnisverpflichtung Polen gegenüber durch ihre Kriegserklärung korrekt entsprochen hätten, gab es für sie, so meinten wir (und so suggerierte es uns die Propaganda) jetzt eigentlich keinen Grund und kein Motiv mehr, sich in einen ungewissen und für alle Beteiligten verlustreichen Krieg mit Großdeutschland einzulassen. 

Wenn wir Glück hatten, so stellten wir erleichtert fest, war der Krieg für uns also schon vorbei. Und dennoch: Als der verwundete junge Krieger das Berliner Cafe betrat, konnte auch ich mich der strahlenden Aura, die von ihm auszugehen schien, nicht entziehen. In meinem Kopf tauchten ganz von selbst Redewendungen und Sprachchiffren auf, die ich in meiner Kindheit gelernt hatte: Der Mann da vorn mit dem verbundenen Arm hatte »sein Blut für das Vaterland vergossen«, er hatte — im Gegensatz zu mir und den anderen Anwesenden — »dem Tod ins Auge gesehen«. Seine Bereitschaft, sein Leben »für uns zum Opfer zu bringen«, verpflichtete mich zu einer Dankesschuld, die niemals wirklich abgetragen werden konnte. Und während ich wahrhaftig alles andere ersehnte, als wieder in Uniform zu stecken, genierte ich mich jetzt plötzlich meiner Zivilkleider. Ja, ich beneidete den Mann da vorn an der Tür und hätte in diesem Augenblick liebend gern mit ihm getauscht.

Ich habe die gleiche Erfahrung wiederholt gemacht während der Anfangsjahre des Krieges — in dessen weiterem Verlauf ich dann ebenfalls eingezogen wurde, womit andere Empfindungen die Oberhand gewannen. Ich hatte nicht das geringste Interesse daran, früher als notwendig Soldat zu werden. Aber wenn ich, was in Potsdam immer wieder einmal vorkam, ehemaligen Schulkameraden in Uniform begegnete, die womöglich noch verwundet waren und mit Orden geschmückt, überfiel mich jedesmal ein erdrückendes Minderwertigkeitsgefühl. Ihr Anblick löste bei mir unweigerlich ein schlechtes Gewissen aus — so sehr sich meine Einsicht dagegen sträubte.

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Im ersten Augenblick könnte mancher das für leicht erklärlich halten. (»Während sie sich dem Vaterland zur Verfügung stellten, bist du weiter deinen privaten Berufsinteressen nachgegangen!«) Schon dem zweiten Blick aber hält die Begründung nicht mehr stand. Denn das Gefühl gesellschaftlicher Minderwertigkeit stellte sich auch dann mit der gleichen Intensität ein, wenn es sich um das Wiedersehen mit einem Bekannten handelte, der aktiver Offizier geworden war. Obwohl auch er in seiner Uniform doch nichts anderes tat, als seine berufliche Karriere zu befördern. *

Nein, die Sache mußte andere Gründe haben. Über diese habe ich mir damals weidlich den Kopf zerbrochen. Ohne jeden Erfolg übrigens, denn mangels ausreichender Kenntnisse über die angeborenen Grundlagen menschlicher Erfahrung suchte ich in der falschen Richtung. Ich erlag dem grundsätzlichen Irrtum, daß der Angelegenheit mit einer rationalen Selbstanalyse beizukommen sein müsse. Es handelt sich jedoch, wie ich heute einzusehen in der Lage bin, um eine ihrem Wesen nach ausgesprochen irrationale psychische Erfahrung, zu deren Verständnis eine noch so gewissenhafte Introspektion, so oft sie auch angestellt werden mag, nichts beitragen kann. 

Denn nicht nur der Hinweis auf die egoistische Natur des Verfolgens privater Interessen trifft nur einen Teil der Fälle (und also nicht den Kern der Sache). Auch die moralisch überlegene Rolle des opferbereiten »Vaterlandsverteidigers« läßt sich, wenn man sich nichts vormachen will, für den deutschen Soldaten des letzten Krieges nicht mit gutem Gewissen reklamieren. Opfer haben sie gebracht, im Übermaß sogar. Und weniger tapfer als ihre Väter im Ersten Weltkrieg haben sie ganz gewiß auch nicht gekämpft (wenn ihr oberster Kriegsherr Adolf Hitler ihnen das auch im letzten Augenblick noch hat absprechen wollen). Aber »Verteidiger« im klassischen Sinne des Wortes sind wir alle, die wir damals Militäruniform getragen haben, nicht gewesen. Wir spielten, von allem Anfang an, die Rolle des Angreifers. Nicht aus eigenem Entschluß, das ist richtig. Insofern wird die Feststellung hier auch ohne jegliche moralische Bewertung getroffen. Aber an der Tatsachenfeststellung selbst ist nicht zu rütteln.

* Schopenhauer hat das herausgehobene, auch seiner Ansicht nach rational nicht begründbare Ansehen des Militärstandes als die Folge eines in der feudalen Gesellschaft künstlich geschaffenen klassenspezifischen Ehrbegriffs erklärt. Da es dem Staat nicht möglich sei, die Bereitschaft seiner Offiziere, für ihn notfalls das eigene Leben hinzugeben, materiell zu kompensieren, entschädige er sie durch die Zuerkennung einer besonderen »Offiziersehre«. Was unter anderem dazu führe, daß ein Offizier diese Ehre unter besonderen Umständen auch zu verteidigen gezwungen sei. Mit dem ihm eigenen Sarkasmus folgert Schopenhauer daraus weiter, daß ein Offizier, der im Duell verwundet werde, mit seinem Blut daher letztlich das Defizit seines Gehaltes bezahle (»Parerga und Paralipomena I/2, Aphorismen zur Lebensweisheit«, Zürich 1977, S. 426).

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Auch die Berufung auf den respektheischenden Begriff des »Vaterlandsverteidigers« hilft daher nicht weiter, wenn man nach einer Erklärung dafür sucht, weshalb sich in der Brust eines Zivilisten damals beim Anblick soldatischer Uniformen ein »schlechtes Gewissen« rührte. Eine noch so energische Inanspruchnahme der zwölf Milliarden Hirnrindenzellen, mit deren Hilfe unser Gehirn uns das Erlebnis selbstbewußter Existenz verschafft, bleibt vergeblich, solange die Suche sich auf diesen obersten und jüngsten Hirnteil allein beschränkt. Die wahren Gründe liegen viel tiefer, und ihre Wurzeln reichen bis in eine Vergangenheit zurück, in der es noch keine vollentwickelte Großhirnrinde gab. Wir erleben die Welt nicht nur vermittels dieses jüngsten Teils unseres Denkapparats.

Wie alles, was die biologische Evolution im Ablauf der Stammesgeschichte hervorgebracht hat, ist auch das menschliche Gehirn das (vorläufige) Endprodukt einer Entwicklung, die Jahrmillionen umspannt. Von den Spuren dieser Geschichte ist unser Denkorgan bis auf den heutigen Tag geprägt. Um das erkennen und die konkreten Folgen dieses Umstandes ermessen zu können, muß man die speziellen Bedingungen berücksichtigen, denen alle biologischen Evolutionsprozesse unterliegen.

Zu nennen ist da an erster Stelle eine Aufgabe, vor der jeder menschliche Konstrukteur resigniert kapitulieren würde. Jeder Ingenieur, der ein bestimmtes Produkt weiterentwickelt und dabei zu verbessern sich bemüht, hält es für selbstverständlich, daß er die Chance hat, bei jedem Entwicklungsschritt von neuem anfangen zu können: Er verwirft das, was es bisher gab, und beginnt auf dem Boden der ihm vorliegenden Erfahrungen und gelenkt von dem ihm vorschwebenden geistigen Konzept mit einem neuen Ansatz. Diese Freiheit hat es für die Evolution nie gegeben. Sie durfte das jeweils Vorliegende zu keiner Zeit total abreißen. Ein Neuanfang ist ihr niemals möglich gewesen. Wenn uns mit der ersten lebendigen Urzelle nicht eine ununterbrochene Kette ineinander übergehender Entwicklungsschritte verbände, wäre das Leben auf der Erde erloschen, bevor wir hätten entstehen können. Während noch so fortschrittlicher Umbauten durften die lebensnotwendigen Funktionen der jeweils vorliegenden biologischen Konstruktion, um deren Verbesserung es ging, nie unterbrochen werden.

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Der geradezu unglaubliche Einfallsreichtum, mit dem die Evolution sich in dieser Zwangslage immer von neuem zu helfen wußte, ist über alle Maßen staunenswert.* Da wurde die dem notwendigen Auftrieb dienende Schwimmblase meeresbewohnender Vorfahren zu einer Lunge umgebaut, welche die Aufgabe übernahm, die auf dem trockenen Land lebenden Organismen mit Sauerstoff zu versorgen. Da wurden entbehrlich gewordene Kiemenöffnungen zu Eintrittspforten für akustische Umweltsignale (»Gehörgänge«) umfunktioniert. Da wurden aus Flossen tragfähige Extremitäten und aus Teilen des Unterkiefergelenks Gehörknöchelchen. 

In allen diesen und zahllosen vergleichbaren Fällen aber war das stets nur mit Hilfe anatomischer und physiologischer Kompromisse zu bewerkstelligen, denen unter einem rein funktionellen, quasi technischen Aspekt deutliche Mängel anhafteten. Der in Wien lehrende Evolutionsforscher Rupert Riedl hat einmal eine kleine Auswahl typischer Beispiele in einer Art »Mängelliste« zusammengestellt. In ihr monierte er unter anderem, daß die Geburt eines Menschen ausgerechnet durch den einzigen nicht erweiterbaren Knochenring des weiblichen Körpers erfolge, daß beim Manne Urin- und Samenwege zusammenliefen und daß wir alle ständig von der Gefahr bedroht seien, uns zu verschlucken, weil unser Nahrungsweg sich mit dem Atemweg überkreuze. 

Auch an der Grundkonzeption unseres Körperbaus fand Riedl Wesentliches auszusetzen. Auch sie krankt in der Tat an den Spuren des Entwicklungsweges, auf dem allein sie sich realisieren ließ: Sie leitet sich noch heute erkennbar von der Torpedoform des Meeresbewohners ab, die dann später auf dem Festland zunächst als bedenklich durchhängende Brücke von zwei Extremitätenpaaren zu tragen war, bis sie sich schließlich auf den Hinterbeinen turmartig zur Vertikalen aufrichtete.

Einem menschlichen Ingenieur, der auf diese Weise einen Turm zu bauen gedächte, würde man seine Pläne um die Ohren schlagen. Der Evolution jedoch blieb gar nichts anderes übrig als dieses Vorgehen, bei dem fortwährend obsolet gewordene Konstruktionsmerkmale mitgeschleppt werden.

* Darauf, daß es sich bei einer solchen Formulierung nicht um eine unzulässige »Personalisierung« der Evolution handelt (sondern nur um die angesichts bestimmter Eigentümlichkeiten der Struktur menschlicher Sprache relativ einfachste Zusammenfassung. des Sachverhalts), hat kein Geringerer als Kant hingewiesen: »Daher spricht man (...) ganz recht von der Weisheit, der Sparsamkeit, der Vorsorge (...) der Natur, ohne dadurch aus ihr ein verständiges Wesen zu machen« (»Kritik der Urteilskraft«, § 68).

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Die Folgen sind die jedermann bekannten »konstitutionellen Schwächen« des auf solche Weise zustande gekommenen biologischen Endprodukts, als da sind: die Neigung zu Plattfüßen, Krampfadern und Lendenwirbelsäulenbeschwerden, zu orthostatischen Schwindelzuständen und Blutdruckproblemen.

Hält man sich das vor Augen, so muß man es ungeachtet aller fraglos berechtigten Beanstandungen erstaunlich finden, daß die Evolution uns so schlau hat machen können, wie wir es immerhin geworden sind. Denn auch die stammesgeschichtliche Entwicklung unseres Gehirns — als eines körperlichen Organs — unterlag selbstverständlich allen diesen Erschwernissen. Auch bei seiner Entstehung hatte sich die Evolution opportunistisch von Kompromiß zu Kompromiß weiterzuhangeln. Und auch in seinem Falle sind die bei solchen Entwicklungsbedingungen unausbleiblichen Mängel nachzuweisen.

Daß es uns in aller Regel nicht ganz leichtfällt, sie zu entdecken und als Beschränkungen unserer Einsichts­fähigkeit anzuerkennen, liegt einfach daran, daß wir uns mangels alternativer Möglichkeiten der Weltwahrnehmung längst an sie gewöhnt haben. Auch ein farbenblinder Mensch erfährt von seinem Wahrnehmungsdefizit ja erst durch die ihm von seinen »normal« sehenden Mitmenschen mit einiger Mühe vermittelte Information, daß die Welt auf eine ihm unvorstellbar bleibende Weise anders aussehen muß, als sie sich ihm darbietet.

Die — aus stammesgeschichtlicher Perspektive — erste Aufgabe, die ein den Organismus eines Vielzellers zu einer funktionellen Einheit integrierendes Zentralnervensystem zu bewältigen hat, ist die Gewährleistung konstanter Binnenbedingungen bei wechselnden äußeren Einflüssen: also die Regulation der Stoffwechselbilanz, die Steuerung von Herzschlag und Atmung, beim Warmblüter die Konstanthaltung der Körpertemperatur bei wechselnden Umgebungstemperaturen und die Überwachung aller weiteren »vegetativen« Funktionen, welche zur Aufrechterhaltung der Lebensfähigkeit unerläßlich sind. Es liegt auf der Hand, daß insbesondere sie im Verlauf der weiteren Entwicklung ununterbrochen gewährleistet sein müssen. Ihnen dient auch in unserem Kopf noch der älteste, zuunterst gelegene Hirnteil, das sogenannte »Stammhirn«. (Ein Genickschuß ist — im Unterschied etwa zu einer Zerstörung des Stirnhirns — unbedingt tödlich, weil er diese elementaren Funktionen aufhebt.)

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Darüber, also zwischen der Großhirnrinde und dem Stammhirn, liegt das sogenannte Zwischenhirn, das uralte, angeborene Verhaltensstereotype (sogenannte »Instinkte«) als Standardantworten auf artspezifisch regelmäßig wiederkehrende Situationen bereitstellt: Sexualverhalten, Flucht- und Verteidigungs­dispositionen und andere Triebregungen, deren unterschiedliche Aktivierungszustände wir in der Regel als unsere wechselnden »Stimmungen« erleben. Das Zwischenhirn konnte logischerweise erst nach dem Stammhirn entstehen — etwa hundert Millionen Jahre später — und sitzt diesem auf. Darüber wölbt sich bei den höheren Tieren, mit Abstand am stärksten ausgedehnt beim Menschen, die Großhirnrinde als körperliche Grundlage bewußter Reflexion und Vorausplanung individuellen Verhaltens.*

Man kann diesen Aufbau unseres Zentralnervensystems in Gestalt einer Übereinanderschichtung dreier aus ganz unterschiedlich alten Epochen der Erdgeschichte stammender »Teilhirne« unter einem quasi stratigraphischen Aspekt betrachten, also so, wie ein Geologe oder Paläontologe es mit der obersten Erdkruste macht und ihren unterschiedlich alten »Horizonten«. Wie in der Erdkruste, so liegt auch in unserem Gehirn »Schicht auf Schicht« in einer Reihenfolge, die ihrem jeweiligen Alter entspricht: das Älteste zuunterst, das Jüngere jeweils darüber. Einen ganz entscheidenden Unterschied gibt es allerdings, wenn er auch von den wenigsten registriert wird: Im Gegensatz zu den Verhältnissen in der Paläontologie sind die in den älteren Schichten unseres Gehirns steckenden »Fossilien« alle noch am Leben. Da sie aus uralter Vergangenheit stammen, heißt das nichts anderes, als daß sie auch unser Verhalten und Urteilen nach Maßstäben zu lenken bestrebt sind, die ursprünglich zur Bewältigung der Lebensaufgaben entwickelt wurden, die sich unseren längst ausgestorbenen biologischen Urahnen einst stellten: Sie sind grundsätzlich anachronistisch.

Das ist nicht nur und nicht einmal in erster Linie als Handicap anzusehen. Vor allem anderen ist es ein Schutz, den uns die um ihre Geschöpfe und daher auch um uns besorgte Natur angedeihen läßt. Denn die von diesen in der Tiefe unseres Kopfes gelegenen archaischen Hirnteilen ohne unser Zutun ständig in uns wachgerufenen Empfindungen, Stimmungen und Antriebe legen die Welt in einer unserem Wohlergehen bekömmlichen Weise aus. 

* Wer sich für die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns und des von ihm ermöglichten psychischen Erlebens näher interessiert, sei auf mein Buch »Der Geist fiel nicht vom Himmel« (Hamburg 1976) verwiesen, das die Einzelheiten dieser Geschichte ausführlich und allgemeinverständlich wiedergibt. 

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Noch bevor wir die einschlägigen Erfahrungen in der konkreten Auseinandersetzung mit der Welt zu machen brauchen, werden wir durch sie in bestimmten, für unsere Überlebenschancen elementar wichtigen Bereichen durch angeborene (das heißt: von den uns vorangegangenen Generationen ererbte) Erfahrungen belehrt.

Was uns in dieser Welt frommt und was nicht, was uns guttut und was uns gefährden könnte, das wird vorsorglich nicht allein unserem Urteil überlassen. Darüber wird durch die erwähnten emotionalen Reaktionen vorab entschieden. Wir haben nicht die Freiheit, darüber zu befinden, was uns angenehm und was uns widerwärtig schmeckt, und ebensowenig darüber, was uns Anlaß zur Freude ist oder Anlaß zur Angst. Unsere intellektuelle Einsichtsfähigkeit hat uns hoch über das Niveau aller anderen irdischen Lebensformen emporgehoben. Aber zu wirklich freier Urteilsfähigkeit hat auch uns die Evolution noch nicht entlassen.

So präsentiert sich uns die Welt im ständigen Auf und Ab unserer Stimmungen nacheinander mit all ihren verschiedenen Gesichtern: als attraktives Spielfeld der Bewährung oder aber als beängstigende Quelle lauernder Risiken und Gefahren. Wir können solchen Stimmungen zwar zu widerstehen versuchen - oder uns ihnen bereitwillig überlassen. Sie absichtlich zu erzeugen oder nach Wunsch verschwinden zu lassen sind wir jedoch nicht in der Lage. Individuelle Freiheit gibt es nicht auf der Ebene, die von den archaischen Hirnteilen repräsentiert wird, die psychischen Erlebnissen solcher Art zugrunde liegen.

Nur aus Gewohnheit stoßen wir uns nicht an der Konsequenz, die unserer intellektuellen Einsicht doch als unüberbietbares Paradoxon erscheinen müßte: daß es nämlich ein und dieselbe Welt ist, die uns in unseren wechselnden Stimmungen — oft nur getrennt durch die Zeitspanne einer einzigen gut durchschlafenen Nacht — einen immer neuen Anblick bietet. Denn auch Identität, eine im wahren Wortsinn objektiv feststehende Wirklichkeit (»Realität«), gibt es nicht unter dem Einfluß dieser archaischen Hirnteile — und also nicht für uns Menschen auf der heutigen Stufe der Entwicklung unserer Spezies. 

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Aber die in Wahrheit folglich noch immer weit unterhalb der Möglichkeit wirklicher Erkenntnis (»Einsicht«) gelegene Art und Weise, in der wir der Welt auf dieser archaischen Ebene begegnen, vermittelt nicht nur jeweils die der eigenen Befindlichkeit entsprechende und mit ihr wechselnde Anmutungsqualitäten der Außenwelt. Sie erfaßt auch in dieser Welt konkret auftauchende physiognomische Signale. Auch sie erkennen und deuten wir kraft angeborener Erfahrung und keineswegs aufgrund individuell erworbenen Wissens. Niemand von uns braucht als Säugling erst zu lernen, was ein Lächeln im Gesicht der Mutter »bedeutet« oder, im späteren Leben, der Ausdruck von Skepsis, Wut oder Anteilnahme im Gesicht irgendeines anderen Mitglieds unserer Art. Wäre es anders, die menschliche Gesellschaft zerfiele schon im nächsten Augenblick.

Wir können in den Kopf keines uns noch so nahestehenden Menschen direkt hineinschauen. Gegenseitiges Vertrauen aber, Sympathie und das jegliche menschliche Gemeinschaft begründende Gefühl der Zusammengehörigkeit lassen sich auf dem blassen Wege sprachlicher Mitteilung über den eigenen psychischen Zustand allein nicht stiften, nicht durch bloße Verabredung oder durch die gegenseitige Beschreibung der eigenen inneren Einstellung. Ihr Fundament ist die Möglichkeit vorsprachlicher Verständigung mit einem Vokabular, einem Zeichen- oder Signalvorrat, der allen Menschen gemeinsam ist und der von jedem von uns von Geburt an verstanden wird. Neben der nuancenreichen Vielfalt mimischer Ausdrucksmöglichkeiten gehört dazu die Sprache der Gesten, der Klang der Stimme und schließlich auch — sehr viel später und nun allerdings individuell erlernt, wenn auch immer noch nicht individuell oder gar bewußt geschaffen! — der unerschöpfliche Reichtum komplexer Riten und Sitten und vergleichbarer kultureller Ausdrucksmittel, die nun freilich auch nicht frei im Raume schweben, sondern sich mit intuitiver Sicherheit des vorliegenden archaischen Vokabulars bedienen.

Die angeborene Fähigkeit, den jeweiligen Ausdruck zu verstehen, hat auf dieser archaischen Ebene nun ganz unvermeidlich immer auch Aufforderungs­charakter. Ich kann die »Stimmung« — eines anderen Menschen, einer Landschaft oder Situation — nicht verstehen, ohne mich von ihr, und sei es in noch so geringem Grade, »anstecken« zu lassen. Das Begreifen der Bedrohlichkeit einer Geste ist nur die eine Seite der Medaille. Ihre andere ist das Aufkeimen der Furcht, welche die angemessene Antwort auf die Gefahr darstellt. In dem gleichen Sinne »fordert« mich auch Freude — oder Panik — in meiner Umgebung zur Teilnahme auf, zum »Mitmachen«, dazu, mich anstecken und mitreißen zu lassen, um so unwiderstehlicher, je intensiver die Emotion ist, von der das Signal getragen wird.

Das alles ist völlig normal und darüber hinaus grundsätzlich positiv zu sehen. Es handelt sich zwar um Tatbestände, die unsere so häufig voller Stolz beschworene geistige Freiheit nicht unwesentlich und auf eine von vielen bis heute ignorierte Weise beschneiden. Weshalb die »Liebe zur Weisheit« bei vielen Philosophen traditioneller Observanz bis heute noch nicht so weit geht, das Faktum gefaßt zu akzeptieren.

Aber ob der Gedanke nun gefällt oder nicht (warum eigentlich sollte er uns stören?), ohne diese ihren Mitgliedern eigene Fähigkeit zu einer vor aller Sprache gelegenen Möglichkeit der Herstellung von Übereinstimmung mit Hilfe angeborener Signale würde die menschliche Gesellschaft sich in ein chaotisches Ensemble schizoider und von wechselseitigen phobischen Ängsten verfolgter Einzelgänger auflösen.

Jedoch hat auch dieser Nutzen seine Schattenseite. Die als elementares Bindemittel menschlicher Gemeinschaftsfähigkeit durch nichts zu ersetzende Möglichkeit einer »präverbalen Kommunikation« weist die Nachteile auf, die für einen archaischen Erbteil typisch sind: Sie funktioniert mit verführerischer Suggestivität vor allem bei urtümlichen (primitiven!) Formen sozialer Beziehungen, und sie ist selbst gänzlich unbelehrbar. Beides ist die Folge des Umstands, daß sie nicht eine Funktion der Großhirnrinde darstellt, sondern der älteren, darunter gelegenen Hirnteile. Für diese nämlich gelten grundsätzlich andere Regeln als jene, nach denen sich unser bewußtes, reflektierendes Denken vollzieht.

Damit aber sind wir wieder bei dem Ausgangspunkt dieses hirnphysiologisch-ethologischen (verhaltensphysiologischen) Exkurses angelangt: bei dem Auftritt des verwundeten Leutnants in dem Cafe am Kurfürstendamm.

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10. Der Neandertaler und der Demagoge 

 

 

Verstehen läßt sich das Erlebnis nur, wenn man weiß, wie lebendig unterhalb der menschlichen Großhirn­rinde noch immer die Erinnerungen unserer vormenschlichen Ahnenreihe herumgeistern. Ihr Einfluß bewirkte, daß der blessierte Uniformträger jenes Oktobernachmittags unseren Augen als verehrungs­würdiger Held erschien. Man tut dem Mann kein Unrecht, wenn man die ihm zuerkannte Rolle nachträglich als das Resultat eines archaischen Mißverständnisses durchschaut. Ganz im Gegenteil. Denn tatsächlich hätten wir ihm ja nur dann Gerechtigkeit zuteil werden lassen, wenn wir ihn bedauert hätten, weil er zum willfährigen, sich selbst verleugnenden Opfer einer verbrecherischen Politik geworden war.

Eine objektive, allein um Wahrhaftigkeit bemühte Analyse der Rolle dieses Soldaten kann nur zu dem Urteil kommen, daß die von ihm an den Tag gelegte Opferbereitschaft das Ergebnis eines erfolgreich durchgeführten Betruges war. Man hatte es fertiggebracht, ihn von der Gültigkeit einer Weltsicht zu überzeugen, in der alle moralischen Begriffe auf dem Kopf standen. Während er sich, objektiv, an dem räuberischen Überfall auf ein Nachbarland und dessen Bewohner beteiligt hatte, war er subjektiv überzeugt gewesen — wie hätte er sonst bereit sein können, sein Leben aufs Spiel zu setzen! —, sich in selbstloser Pflichttreue für gerechte nationale Belange zu schlagen. 

Und wir, die wir ihn andächtig bestaunten, trugen als bewunderndes Publikum zu dem Betrug auch noch nach Kräften bei. In unserer nur scheinbar passiven Zuschauerrolle wurden wir so mitschuldig an seiner Verblendung. Erfahrungsgemäß riskiert man bis auf den heutigen Tag empörten Widerspruch (oder noch drastischere Reaktionen), wenn man, um Wahrheit bemüht, die Rolle der deutschen Soldaten im letzten Krieg in dieser Weise erörtert. Die Verblendung beherrscht noch heute viele Köpfe. Das liegt auch daran, daß sie kein spezifisches Phänomen der Naziepoche darstellt. Sie ist viel älter.

Es ist nun gänzlich unmöglich, hier das aus traditionellen, massenpsychologischen und gesellschaftlichen Faktoren kompliziert gewirkte Ursachenbündel aufzudröseln, das sonst normale Menschen in einen psychischen Zustand zu versetzen vermag, in dem sie bereit sind, über ihnen unbekannte Artgenossen herzufallen mit Hingabe und Begeisterung und in mörderischer Absicht. Wie die in den letzten Jahrzehnten schier unübersehbar gewordene Zahl der einschlägigen Veröffentlichungen zeigt, beißen sich auch viel kompetentere Autoren an dem Problem die Zähne aus. Eines aber kann trotzdem gesagt werden: Alle diese gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Faktoren bilden letztlich nur die äußere Fassade des Problems.

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Denn kein noch so begabter Demagoge und keine noch so skrupellose imperialistische Politik im Dienste ökonomischer Herrschaftsinteressen hätte jemals einen Krieg zu entfesseln vermocht, wenn da nicht in den dunkleren Tiefen unserer Gehirne jene Anlagen schlummerten, die uns alle überhaupt erst zu den potentiellen Opfern von Demagogen und Imperialisten werden lassen: die Neigung, auf unbekannte, womöglich »fremdartige« Artgenossen mit Angst und Mißtrauen zu reagieren, und die Tendenz dieser Angst, in blinde Angriffswut bis hin zum Brudermord umzuschlagen.

Alle diese Veranlagungen sind unserem Geschlecht von der Evolution während unvorstellbar langer Epochen unserer Vorgeschichte angezüchtet worden, weil sie damals zum Überleben notwendig waren. Der Freiburger Biologe Hans Mohr hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Entstehung der beim heutigen Menschen festzustellenden angeborenen Verhaltensweisen und emotionalen Reaktionstendenzen spätestens im Pleistozän abgeschlossen gewesen sein dürfte.*

Unsere heutige Instinktausstattung entspricht damit im wesentlichen der Anpassung an die Bedingungen einer Welt, die einige hunderttausend Jahre zurückliegt. An eine Urwelt, in der unsere vormenschlichen Ahnen es nicht nur mit körperlich weit überlegenen Raubtieren zu tun hatten, sondern in der sie sich vor allem auch gegen fremde Stämme eigener Artgenossen behaupten mußten, mit denen sie um die gleichen kärglichen Nahrungsquellen konkurrierten.

Während dieser langen Epochen unserer Vorgeschichte stand das Überleben unserer Art auf des Messers Schneide. Die Lebenslinie von Homo sapiens brach damals nicht ab, weil die Mitglieder der Art die notwendigen Eigenschaften entwickelten, um die genannten Gefahren zu bewältigen (dadurch, daß sich nur die Artgenossen behaupten und eigene Nachkommen aufziehen konnten, die diese Eigenschaften an den Tag legten): Fremdenangst (»Xenophobie«), die Bereitschaft zum intraspezifischen Totschlag und Hand in Hand damit die bedingungslose Unterordnung unter die Interessen der eigenen Gemeinschaft, deren Wert und Lebensberechtigung denen aller Konkurrenten in blindem Stammeschauvinismus überzuordnen waren. Dies sind die vier Gebote, in denen sich der Moralkodex der Steinzeit zusammenfassen läßt. Er markiert den Anspruch der steinzeitlichen Gesellschaft an ihre Mitglieder mit der gleichen, auch nachträglich unbestreitbaren Legitimität, wie jedes spätere Sittengesetz es unter gewandelten Umständen auf seine Weise getan hat.

* Hans Mohr, »Biologische Grenzen des Menschen«, in: Zeitwende, 56. Jahrgang, Januar 1985.

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Dem Neandertaler und seinen frühmenschlichen Zeitgenossen waren die von diesen vier Geboten formulierten Verhaltensnormen angemessen. Es wäre unbillig, unseren Ahnen ihretwegen nachträglich mangelhafte Moral vorzuwerfen. Anders liegen die Dinge selbstverständlich in unserem Falle. Den Zeitgenossen einer vom Menschen mit zunehmender Geschwindigkeit umgestalteten Zivilisationswelt sollte der steinzeitliche Moralkodex überholt und anachronistisch erscheinen. Dies jedenfalls lehren uns seit nunmehr zwei Jahrtausenden Priester und Philosophen. Theoretisch ist der Konsens einhellig. Unser gesellschaftliches Verhalten hinkt dieser Einsicht bekanntlich aber nicht unbeträchtlich hinterher.

Schon zu den Lebzeiten des Moses haben unsere Vorfahren den vier Geboten des Dschungels die Zehn Gebote des Alten Testaments entgegengestellt. Und doch ist das Gesetz der Urzeit nicht gänzlich außer Kraft gesetzt. Immerhin, nationaler Chauvinismus ist, wenn auch erst seit ein oder zwei Generationen, anrüchig geworden. Das gleiche gilt hinsichtlich der Einschätzung des gegenseitigen Umbringens unterschiedlich uniformierter Artgenossen bei »kriegerischen« Auseinandersetzungen. Die Auffassung, daß die Tötung von Artgenossen, die nicht der eigenen Gemeinschaft angehören, auch dann ein Verbrechen darstellen kann, wenn sie im Kriege erfolgt — nämlich dann, wenn es sich um einen »Angriffskrieg« handelt —, ist offiziell erstmals 1946 im Rahmen der Nürnberger Prozesse gegen NS-Kriegsverbrecher vertreten worden. Am schwersten tun wir uns, wie die tägliche Erfahrung zeigt, bis auf den heutigen Tag mit der uns innewohnenden Neigung zu Fremdenhaß und Rassismus, wenn auch sie sich neuerdings zunehmender Kritik ausgesetzt sieht.

Mehr als zwei Jahrtausende nach der Kodifizierung der auf seine Gesellschaft zugeschnittenen moralischen Normen hat der neuzeitliche Mensch also noch immer die größten Schwierigkeiten, sein Verhalten an dem von seiner Vernunft längst akzeptierten Sittengesetz zu orientieren. Das Problem ist trivial und seit dem Beginn menschlicher Geschichte bekannt. (»Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach.«) Viel weniger bekannt dagegen ist sein eigentlicher Grund. Die Formulierung der Zehn Gebote liefert vielleicht einen Hinweis. 

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Die nähere Betrachtung ergibt nämlich, daß diese Gebote, die das Gesetz des Dschungels außer Kraft setzen sollten, mit einer Ausnahme (»Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren...«), soweit sie sich auf gesellschaftliches Verhalten beziehen, eigentlich sämtlich Verbote sind: »Du sollst nicht...« (nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen, nicht begehren usw.). Es hat folglich den Anschein, daß die Autoren des Textes von der Voraussetzung ausgegangen sind, es komme viel mehr darauf an, bestimmte, für alle Menschen charakteristische, inzwischen jedoch als »unmoralisch« beurteilte Neigungen zu unterdrücken, als darauf, den Menschen bestimmte »moralische« Leistungen positiv abzuverlangen.

In dieser Einstellung dokumentiert sich, wie mir scheint, eine bemerkenswerte Sensibilität für die Wirksamkeit archaischer Antriebe in der menschlichen Psyche. Der Neandertaler spukt, so kann man ohne Übertreibung sagen, in den Tiefen unserer Seele auch heute noch herum. Letztlich deshalb, weil die Abänderung biologischer Anpassungen unvergleichlich viel langsamer erfolgt als der Ablauf kultureller Entwicklungsprozesse.* Die Autoren des mosaischen Gesetzestextes haben das offensichtlich gewußt.

Nun ist es ja nicht so, daß wir den aus dieser Vorzeit auf uns überkommenen Antrieben ohnmächtig ausgeliefert wären. Andernfalls hätte die Aufstellung der Zehn Gebote getrost unterbleiben können. Wir können uns dieser Antriebe zwar auf keine Weise entledigen, sowenig wie es in unser Belieben gestellt ist, ein bestimmtes Gefühl — Zorn, Freude oder Trauer — gleichsam auf Befehl entstehen oder verschwinden zu lassen. Wir haben aber die Freiheit zu entscheiden, ob wir uns den Stimmungen des Neandertalers hingeben oder ob wir ihnen widerstehen wollen — so, wie es jedem einzelnen auch anheimgestellt ist, sich von einem Affekt »hinreißen« zu lassen oder den Versuch zu machen, seine Freude oder seinen Zorn »zu beherrschen«. Diese »Selbstbeherrschung« erfordert jeweils eine spürbare Anstrengung (ein weiteres Indiz für die Vitalität des überkommenen Seelenerbes!).

* Auf das Problem der sich daraus ergebenden Inkongruenz zwischen den uns angeborenen »Ratgebern« (Konrad Lorenz) und der realen Beschaffenheit der von uns hervorgebrachten Zivilisationswelt ist in den letzten Jahren oft hingewiesen worden. Lorenz selbst hat das Problem auf die treffende Formel gebracht, daß der heutige Mensch in den Händen die Atombombe halte, während in seiner Brust immer noch die Instinkte seiner steinzeitlichen Urahnen herrschten (siehe auch mein Buch »So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen«, Hamburg 1985, S. 312; dort auch weitere Literatur).

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Die Frage, ob und mit welcher Ausdauer ein Mensch diese Anstrengung auf sich nimmt, entscheidet demzufolge über seinen sittlichen Rang. Andererseits gibt es, wiederum eine triviale Feststellung, kaum einen Menschen (Heilige sind die Ausnahme), der nicht mit der größten Aufgeschlossenheit bereit wäre, jeglichen Vorwand in Betracht zu ziehen, der ihn von einer Anstrengung zu entbinden scheint. Wenn das auf eine Weise geschieht, die dem von der Anstrengung Befreiten sein »gutes Gewissen« läßt, ja, womöglich sogar die Illusion eines besonders guten Gewissens verschafft, dann wird die Versuchung unwiderstehlich. Dann geht die Befreiung von der Bürde der moralischen Anstrengung einher mit einer geradezu als Erlösung empfundenen Euphorie, bei der die subjektive Rechtfertigung psychologisch gleich mitgeliefert wird.

Wir sind damit mitten in der Schilderung der engen Beziehungen zwischen Demagogie und dem unter unserer Großhirnrinde herumgeisternden Neandertaler. Demagogen verstehen zwar in aller Regel nicht viel vom Aufbau und der Entwicklung des menschlichen Gehirns. Der sich aus deren Besonderheiten für sie ergebenden einzigartigen Möglichkeiten aber haben sie sich von alters her mit intuitiver Sicherheit bedient. Das in uns allen steckende Erbe des durch sein steinzeitliches Dschungelmilieu geprägten Frühmenschen ist ihr Tummelfeld. Bei dem Umgang mit dem urtümlichen Arbeitsmaterial haben sie meist ein deprimierend leichtes Spiel.

Der Demagoge füllt eine Rolle aus, die der des Moralisten polar entgegengesetzt ist. Während dieser sich müht, uns zur Disziplinierung des archaischen Erbteils (des »alten Adams«) anzuspornen, setzt jener alles daran, der ohnehin in jedem von uns schlummernden Versuchung eine Bresche zu schlagen, dem archaischen Gelüst nachzugeben. *

* Die zwischen beiden Alternativen angeblich bestehende Äquivalenz wird vom Demagogen in extremen Fällen sogar mit dem Argument »untermauert«, daß die Notwendigkeit zur »inneren Überwindung« bei einem im nationalen Eigeninteresse erfolgenden Verstoß gegen elementare moralische Gebote den Pflichtcharakter auch der Unrechts-handlung »beweise« (in Analogie zu der Anstrengung, die bei der sittlich motivierten Abweisung einer Versuchung zu leisten ist). Man erinnere sich daran, daß Himmler bei Ansprachen vor Mitgliedern von Einsatzkommandos wiederholt betont hat, daß es ein »Ruhmesblatt« in deren ungeschriebener Geschichte sei, daß sie auch beim Anblick von 500 oder 1000 »daliegenden« Leichen, »abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen, anständig (!) geblieben« seien, indem sie »durchgehalten« hätten (in einer Ansprache vor SS-Obergruppenführern am 4. Oktober 1943 in Posen; zitiert nach: Alan Bullock, a.a.O., S. 700).

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Wirksamstes Mittel der Versuchung ist die Behauptung des Demagogen, daß in Wirklichkeit nicht der strapaziöse Widerstand gegen die archaischen Regungen unsere Pflicht sei, sondern im Gegenteil ihre leidenschaftliche (»befreiende«) Bejahung. Sobald es ihm nur gelingt — und es gelingt ihm immer wieder —, uns weiszumachen, es handele sich lediglich um die Entscheidung zwischen zwei quasi gleichberechtigt nebeneinander stehenden Formen der Pflichterfüllung, hat er schon gewonnen. Denn sobald wir ihm das abnehmen, tritt der alte Spruch in Kraft: »Dem Teufel fällt's von selber zu, der liebe Gott muß zieh'n«, und wir werfen uns erleichtert dem Neandertaler an den Hals.

Stolz und Schamgefühl hätten die Erinnerung längst verdrängt, wenn es nicht die alten, furchtbaren Dokumente gäbe, die Wochenschauen und Propagandafilme aus den Jahren der Naziherrschaft, die sie unerbittlich festgehalten haben: die verzückten, in ekstatischer Verehrung leuchtenden Gesichter der Menschen, die ihrem Führer wie einem Erlöser zujubeln. Und in der Tat, er hatte sie von so mancher Bürde befreit. Nicht nur von der nationalen Schande, unter der sie seit 1918 gelitten hatten. Erlöst hatte sie dieser Adolf Hitler auch von der Last des schlechten Gewissens, das sie bislang daran gehindert hatte, sich zu der von nationalen Minderwertigkeitsgefühlen genährten Ablehnung und Verachtung offen zu bekennen, die alles in ihnen wachrief, was sie ausländisch, abartig oder jüdisch anmutete. 

Zu dem aus bornierter Verständnislosigkeit geborenen Widerwillen, den eine »schweigende Mehrheit« gegenüber allen Formen der zeitgenössischen, »modernen« Kunst empfand. Zu ihrem dumpfen Haß auf alle Literaten und gesinnungslosen Schreiberlinge, die es nicht nur an dem der Obrigkeit schuldigen Respekt fehlen ließen, sondern die mit beißender Ironie und zersetzendem Spott auch noch über alles herzogen, was einem wahren Patrioten heilig war.

Das nationalsozialistische Regime hatte der bisher zum Schweigen verurteilten Mehrheit ein Geschenk gemacht, das sie mit tiefer Dankbarkeit entgegennahm: Es hatte ihr die Überzeugung vermittelt, daß sie sich aller diese Regungen von Stund an nicht mehr zu schämen brauche. Sie müßten mit ihrem Widerwillen und ihrem Haß nicht länger hinter dem Berge halten, so wurde den Menschen eingeschärft, denn beide Gefühle seien nichts anderes als die Regungen eines »gesunden Volksempfindens«, das sich durch keinerlei »moralinsaure« und intellektualistische Spitzfindigkeiten beirren lassen dürfe.

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Die angebliche Autorität des Gewissens sei — so erklärte die neue Lehre — nur eine jüdisch-christliche Erfindung. Sie verfolge einzig und allein den Zweck, Zweifel und Unsicherheit zu säen in der Seele des germanischen Menschen, dessen natürlicher Überlegenheit seine Feinde nichts anderes entgegenzusetzen wüßten.

Und der Neandertaler in den Köpfen der großdeutschen Germanen begann Morgenluft zu wittern. Als man ihm mehr als nur den kleinen Finger bot, nahm er lustvoll das Heft in die Hand. Nachdem der ohnehin mühsame Versuch, ihn durch sittliche Anstrengung zu domestizieren, endlich erfolgreich als »weibische«, ungermanische und sentimentale Schwäche verleumdet war, gab es kein Halten mehr. Rücksichtslosigkeit gegenüber allem, was nicht der eigenen Gemeinschaft angehörte, war von nun an eine Tugend. Das Wort »international« änderte seinen Charakter und wurde zum Schimpfwort. Denn jegliche Form mitmenschlicher Solidarität, die sich nicht auf den Kreis der eigenen »Volksgenossen« beschränkte, galt von nun an als Verrat. 

Vorbildlich war es dagegen (und Ausdruck einer als »urgermanisch« ausgegebenen Haltung), wenn man die Interessen der »völkischen Schicksalsgemeinschaft« allem anderen überordnete. Worin diese jeweils bestanden, das unmißverständlich, notfalls auch durch entschuldbare Übertreibung, kenntlich zu machen war Aufgabe der von Goebbels' Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda täglich neu ausgegebenen offiziellen Sprachregelung.

Gehorsam gegenüber der Obrigkeit war oberstes Gebot. Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang die Erinnerung an die »erbärmliche Meuterei« von 1918 beschworen. Sie hatte damals den in greifbare Nähe gerückten Sieg gekostet, davon war eine unbelehrbare Majorität nach wie vor überzeugt. Die Niederlage war gänzlich unnötig natürlich, denn man hätte damals ja bloß »energisch genug durchgreifen« müssen. Der Zorn darüber, daß eine unverzeihlich schlappe Obrigkeit es in »typisch deutscher Humanitätsduselei« daran habe fehlen lassen, ließ eine »bedingungslose Pflicht zum Gehorsam« für viele Patrioten nunmehr zur unverzichtbaren Voraussetzung einer erfolgreichen Behauptung Deutschlands inmitten einer Welt von haßerfüllten Neidern werden.

»Bedingungslose Gefolgschaftstreue« hatte sich nicht zuletzt auch durch die »Härte« zu beweisen, mit der man moralische und andere »bürgerliche Skrupel« zu unterdrücken bereit war, wann immer dadurch die Erringung eines nationalen Vorteils erleichtert wurde.

Oberstes gesellschaftliches Ziel war es, alle durch ihre germanische Abstammung und Kultur, durch »gemein­sames Blut und Erbe« definierten Deutschen zu einer »verschworenen Schicksalsgemeinschaft zusammenzuschweißen«. Sie würde die Kraft besitzen, die historische Verheißung eines »Tausendjährigen Reiches« zu erfüllen, in dem sich der deutsche Genius dann endlich, unbehelligt von der Mißgunst der übrigen, minderbemittelten Völker dieser Erde, zu seiner wahren Größe entfalten könnte.

Auch wenn es heute so viele nicht mehr wahrhaben wollen: Das genau war der Glaube, dem die Mehrheit des deutschen Volkes damals verfallen war. Der eine mehr, der andere weniger. Ein Glaube, der die Menschen mit einer Euphorie erfüllte, welche die Behauptung von einer »nationalen Erhebung« auch nachträglich gerechtfertigt erscheinen läßt. Der die Vernunft und die sittliche Orientierung der meisten Deutschen in diesen Jahren in Mitleidenschaft zog, wenn er sie nicht in der aus archaischen Abgründen emporquellenden Brühe ertränkte.

Jetzt stellte sich heraus, wie dünn die Wand tatsächlich ist, die den modernen, »aufgeklärten« Menschen von der Geistesverfassung des Neandertalers trennt. Der nationalsozialistischen »Bewegung« gelang es im Handum­drehen, die Brandmauer einzureißen. Unter der jubelnden Zustimmung fast des ganzen Volkes wurden die vier Gebote der Steinzeit in Deutschland wieder in Kraft gesetzt, die man in den voran­gegangenen Jahrhunderten mit wechselndem Erfolg in den tiefsten Tiefen der eigenen Seele eingesperrt zu halten sich bemüht hatte.

Die Erleichterung war ungeheuer. Ein Gefühl neu gewonnener, nie gekannter Kraft breitete sich aus. Nach Jahrzehnten quälender Selbstzweifel wurde die Gemeinschaft der deutschen Volksgenossen von einer Welle grenzen­losen Selbstvertrauens getragen.

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