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207 -  Das letzte Schuljahr — und Wilhelm Stumpf 

 

 

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Noch aber tat die Welt so, als ob sie uns gehörte. Meine Erinnerung an das letzte Friedensjahr in Potsdam gaukelt mir lauter sonnendurchflutete Sommertage vor. Der Name »Potsdam« ist inzwischen für viele, vielleicht die meisten Menschen, zum Synonym für ein militaristisch herunter­gekommenes Preußentum geworden. Gewiß nicht ohne Grund. 1938 galt das Urteil ohne Einschränkung.* Uns Halbwüchsigen aber zeigte die Stadt ein ganz anderes Gesicht.

* Wer vergessen haben sollte (oder nicht wahrhaben will), daß es auch ein anderes Preußen gab, sollte einmal Fontane lesen, den »Stechlin« etwa oder die »Wanderungen durch die Mark Brandenburg«. Oder, wenn er eine historische Dokumentation vorzieht, das kürzlich erschienene Buch »Jeder nach seiner Facon. Berliner Geistesleben 1700-1810« von Herbert Meschkowski (München 1986). 

Zwar lassen gerade die bei aller Sympathie doch immer kritischen Schilderungen Fontanes deutlich erkennen, daß der Keim der späteren Katastrophe schon sehr früh angelegt war — aber eben doch nur als Möglichkeit, keineswegs als von vornherein unabwendbare »historische Notwendigkeit«. Dafür, daß dieser Keim, alle anderen Möglichkeiten überwuchernd, zu einem tödlichen Giftgewächs heranreifte, haben spätere Generationen die Verantwortung zu übernehmen und nicht die Zeitgenossen Lessings oder der Brüder Humboldt.

Mein Vater war einige Jahre zuvor zu Siemens-Plania in Berlin-Lichtenberg versetzt worden, wo ihn größere Aufgaben erwarteten. Der nicht unbeträchtliche Karrieresprung war auf äußere Umstände ebenso wie auf eigenes Verdienst zurückzuführen. Allen ehemaligen Offizieren wurde damals die »Reaktivierung« angeboten. Die meisten von ihnen machten begeistert von der Möglichkeit Gebrauch, den ungeliebten Zivilanzug wieder mit dem militärischen »Ehrenkleid« vertauschen zu können. Nicht so mein Vater, der sich von seinen ehemaligen Kameraden inzwischen durch einen tiefen Graben getrennt fühlte.

Als Folge der Reaktivierungswelle leerten sich in Industrie und Verwaltung Führungspositionen in großer Zahl. Die große Sprachbegabung meines Vaters — er war sattelfest nicht nur in den alten Sprachen, sondern beherrschte fließend auch Englisch und Französisch — führte dazu, daß man ihm bei Plania die Betreuung der Auslandsmärkte in Belgien, den Niederlanden und Skandinavien anvertraute. Es drehte sich fast ausschließlich um den Einkauf von Graphit­elektroden zur Stahlerzeugung, also, wie sich denken läßt, um einen Wirtschaftszweig, dem höchste Priorität eingeräumt wurde.

Uns beschäftigte der Gedanke an derlei Zusammenhänge keinen Augenblick. In totaler, rückblickend sträflicher Unbekümmertheit genossen wir Kinder die Annehmlichkeiten des unerwartet eingetretenen Wohlstands. Die größten Gefahren gehen bekanntlich immer von den Risiken aus, die man nicht wahrhaben will. An die Möglichkeit eines Krieges dachte niemand im Kreise unserer Freunde und Freundinnen. Ich weiß noch, wie erstaunt und ohne alles Verständnis ich reagierte, als einer unserer Lehrer das Thema mir gegenüber ansprach. Es geschah anläßlich meiner offiziellen »Abschiedsvisite« nach dem frisch bestandenen Abitur Ostern 1939.

Leidlich feierlich aufgeputzt (lange Hosen!), machten wir, jeder für sich, bei unseren Lehrern die Runde, um uns zu verabschieden. Erst heute fällt es mir ein, die geplagten Pädagogen dafür zu bedauern, daß ihre Hausklingel sie in diesen Wochen Nachmittag um Nachmittag nicht zur Ruhe kommen ließ. Sie ertrugen den Brauch mit der in langen Berufsjahren notgedrungen erworbenen Geduld und widmeten jedem von uns ein freundliches Gespräch. Beim Abschied an der Haustür fragte mich unser alter Mathematiklehrer Dr. Wylach — wir nannten ihn liebevoll »Oppa« —, wann ich denn aus dem (uns allen als Pflichtdienst bevorstehenden) Arbeitsdienst zum Studium wieder zurückkommen würde. »Im September«, sagte ich. »Na«, war die trockene und unverkennbar traurige Antwort von Oppa, »dann kommen Sie man ohne Krieg nach Hause!« Ich verstand den Zusammenhang beim besten Willen nicht.

Ein Drittel des Potsdamer Stadtgebiets entfiel auf Parks und Wälder, in denen wir mit unseren Freundinnen flanierten. Ein weiteres Drittel waren Seen zum Baden und Segeln (und zum Schlittschuhlaufen im Winter). Die Stadt selbst bestand für uns aus den Wohnungen und Gärten unserer Freundinnen und Freunde, aus Kinos, Eisdielen (»Quapis« in der Brandenburger Straße, das, wie ich 1975 zu meiner Genugtuung feststellte, heute noch als Schülertreffpunkt existiert, wenn schändlicherweise auch unter einem anderen Namen) und aus Sportplätzen, auf denen wir Fußball spielten.

Natürlich gab es auch Kasernen und Soldaten, die laut singend von ihren Übungen zurückkehrten. Ich erinnere mich, daß manche von uns die verschwitzten Männer beneideten, weil sie nicht von Abitursorgen geplagt wurden. 

Die Hitlerjugend war vorübergehend ein Problem. Mein Vater erklärte kategorisch, daß er mich nicht mit einer Hakenkreuzarmbinde zu sehen wünsche.

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Auf die war ich auch nicht erpicht (wenn sie mich, ehrlich gesagt, auch überhaupt nicht gestört hätte). Mir kam es auf etwas ganz anderes an: Mir war der Gedanke höchst zuwider, im Kreise meiner Altersgenossen »aus der Reihe zu tanzen«. Ungeachtet aller im Einzelfall womöglich bestehender Tendenzen zu antikonform­istischer Selbstdarstellung erscheint die Rolle des »Außenseiters« wohl den wenigsten Menschen attraktiv. Die Sorge, in sie hineinzugeraten, ist bei einem Heranwachsenden mit noch unterentwickeltem Selbstgefühl verständlicherweise besonders stark ausgeprägt. Fast alle meine Kameraden waren »organisiert«. (Ein offizieller Zwang dazu bestand übrigens keineswegs, den erlegten wir uns ganz von selbst auf.) Wie konnte ich zu Hause herumsitzen, wenn sie am schulfreien Sonnabend — dem »Staatsjugendtag« — mit Zelt und Kochgeschirr zum Übernachten (und zum Zwecke paramilitärischer Übungen) in die Wälder zogen?

Es fand sich eine elegante Lösung. In der Schwanenallee, am Ufer des Jungfernsees neben der Glienicker Brücke (heute Sperrgebiet, da das andere Ufer bereits zu West-Berlin gehört), gab es den »Kaiserlichen Yacht-Club«. Das war eine Adresse nach dem Herzen meines Vaters. Die in diesem feudalen Club segelnden Junioren waren — wie die Pfadfinder und alle anderen Jugendorganisationen auch — von der Hitlerjugend »übernommen« worden. Man hatte ihnen aus diesem Anlaß auch eine Uniform verpaßt, jedoch eine Matrosenuniform, die bei meinen Eltern zwar wieder Erinnerungen an die Meuterei des Jahres 1918 wachrief, ihnen aber immer noch eher erträglich schien als die übliche nazibraune Tracht der HJ.

Dort also trat ich ein, und dort fand ich dann auch nicht wenige meiner Schulkameraden wieder. Zwar mußten auch wir »exerzieren« und allerlei anderen pseudomilitärischen Unsinn treiben. Unter anderem waren wir gehalten, uns die Umrißlinien (Silhouetten) der wichtigsten feindlichen (englischen) Kriegsschifftypen einzuprägen, eine Aufgabe, auf die wir uns mit dem gleichen Eifer stürzten, mit dem wir Autotypen auswendig zu lernen pflegten. Die meiste Zeit aber verbrachten wir rudernd und segelnd auf dem Wasser. Es war ein Kompromiß, der die Wünsche des Sohnes mit den Abneigungen der Eltern auf geradezu ideale Weise versöhnte und auf beiden Seiten der unbewußten Wunschvorstellung Vorschub leistete, daß es mit einigem Erfindungsreichtum möglich sei, sich in dem dichter werdenden Geflecht staatlicher Ansprüche ein privates Reservat zu erhalten.

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Nur ausnahmsweise und nur für Augenblicke wurde ich mit der Nase darauf gestoßen, wie illusionär meine Einstellung war, durch und durch nichts als aus Wirklichkeitsangst geborener Selbstbetrug. Zu einem solchen Augenblick kam es in meinen letzten sorgenlosen Ferien, während einer Fahrt an die Ostsee. Seit die Eltern es sich leisten konnten, fuhr die Familie im Sommer nach Binz auf Rügen. Da unser Adler Trumpf junior für Eltern plus vier Kinder (1933 war noch ein Bruder zur Welt gekommen) plus Hertha plus Gepäck viel zu klein war, pflegte meine Mutter mit mir und den Koffern im Auto nach Binz zu fahren, während die übrige Familie mit der Bahn und, ab Stettin, mit dem Schiff anreiste. 

So auch im Juli 1938. Es war ein strahlender Sommertag. Wir fuhren im offenen Auto. Ich war voller Vorfreude: auf vier unbeschwerte Wochen an der See ohne Schulaufgaben und Stundenpläne, auf Freunde, die ich dort wiedersehen würde, und auf die Flirts auf der Strandpromenade. Wir umgingen den Berliner Verkehr in einem großen Bogen im Westen und stießen erst nördlich des Stadtgebiets, in Oranienburg, auf die direkte Straße nach Stralsund, wo es die einzige Landverbindung nach Rügen gab. Kurz nachdem wir Oranienburg passiert hatten, machte meine Mutter eine unbestimmte Handbewegung zur Seite.

»Dort drüben muß irgendwo das Lager sein«, sagte sie. Ich wußte sofort, wovon sie sprach. Mein Vater hatte uns in düsteren Andeutungen davon erzählt. Die dort Eingesperrten würden fürchterlich schikaniert, hatte er behauptet. Sie müßten schwer arbeiten und würden verprügelt. Sogar Tote solle es schon gegeben haben. Beklommen fragte ich meine Mutter: »Glaubst du, daß es wirklich so schlimm ist?« Nach einer kurzen Pause antwortete sie, den Blick konzentriert nach vorn auf die Straße gerichtet: »Ich fürchte, Vati hat recht.« Schweigend fuhren wir weiter. Alle Ferienstimmung war verflogen. Aber nur vorübergehend, für die nächsten zwanzig oder dreißig Kilometer. Dann löste sich der Druck allmählich. Als wir in Stralsund ankamen, hatte ich den Vorfall schon wieder vergessen. Ich habe auch während der ganzen anschließenden Ferien nicht an ihn gedacht. Aber viele Jahre später ist er mir wieder eingefallen.

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Einen einzigen Mitschüler gab es in unserer Klasse, der sich nichts vormachen ließ und der sich auch selbst nichts vormachte. Das war Wilhelm Stumpf »aus Derwitz bei Groß-Kreutz«, wo er täglich um sechs Uhr morgens aufstehen mußte, um rechtzeitig zum Schulbeginn in Potsdam zu sein. Stumpf war der Sohn eines Landpfarrers, der zur »Bekennenden Kirche« gehörte. Diese war ursprünglich als eine Art Erneuerungs­bewegung innerhalb der evangelischen Kirche schon in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg entstanden.

Seit dem demonstrativen Auftreten der nationalsozialistisch gesonnenen »Deutschen Christen« (die zum Beispiel das Alte Testament als »jüdische Schrift« ablehnten und den Ausschluß aller getauften Juden aus den Gemeinden forderten) hatte sich die BK, wie sie allgemein genannt wurde, zu einer innerkirchlichen Protestbewegung entwickelt, die ganz unverhohlen im Widerspruch stand zu allem nationalsozialistischen Gedankengut. Ihr damals schon bekanntester Repräsentant war Martin Niemöller, Gemeindepfarrer an der »Dorfkirche« in Berlin-Dahlem. Niemöller hatte, wie jedermann wußte, in der kaiserlichen Marine als Offizier gedient und im Weltkrieg als U-Boot-Kommandant den höchsten Tapferkeitsorden, den Pour le merite, erhalten.

1938 kam er ins KZ, weil er trotz aller Verbote und Drohungen nicht davon abgelassen hatte, in öffentlichen Predigten gegen staatliches Unrecht zu protestieren. Er hatte nicht nur in seiner eigenen Gemeinde gepredigt. Zumindest einmal trat er vor seiner Verhaftung auch in der Arbeitervorstadt Nowawes bei Potsdam auf, in einem beängstigend überfüllten Gemeindesaal, in dem auch unsere Familie, einschließlich Hertha, seinen Worten lauschte. Ich erinnere mich noch daran, mit welcher Bewunderung mein Vater auf dem Heimweg über den Mut dieses Mannes sprach.

Nun war Niemöller als prominenter Kriegsheld in der offiziell angeheizten Stimmung vaterländischer Begeisterung einigermaßen geschützt, wenigstens für begrenzte Zeit, wie sich herausstellte. Aber auch sonst gab es in den Jahren vor dem Krieg noch Freiheitsräume, die mancher heute kaum für möglich hält. Dies galt, wenn ich meine Erinnerungen aus diesen Jahren mit denen späterer Freunde aus anderen deutschen Städten vergleiche, offensichtlich speziell für die Potsdamer Gesellschaft. Die preußisch-korrekte Beamtenmentalität ihrer bürgerlichen und die ehrpusselig-überhebliche Offiziersgesinnung ihrer soldatischen Vertreter mag zum Spott herausfordern. Tatsache aber ist, daß in ihrem Umkreis erstaunlich lange ein Rest von Anständigkeit bewahrt blieb. Es war kein Zufall, daß sich der seiner »nichtarischen Abstammung« wegen als ostpreußischer Landrat amtsenthobene Vater des erwähnten Schulfreundes nach einem unbefriedigend verlaufenen Versuch in einer sächsischen Großstadt für Potsdam als Ruhesitz entschied.

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Und sei es nur deshalb, weil es ihm nach nicht ganz einfachen Verhandlungen gelungen war, hier Schuldirektoren zu finden, die den Mut besaßen, seine Kinder als Schüler aufzunehmen.

Wilhelm Stumpf rettete dieses spezifische Potsdamer Milieu das Leben — zunächst jedenfalls. Denn dieser Junge nahm kein Blatt vor den Mund. Er provozierte nicht etwa. Er trat auch nicht als »Bekenner« auf. Das war nicht seine Art. Groß und knochig, mit breitem Gesicht, das sich leicht zu einem verlegenen Lächeln verzog, mit linkischen Bewegungen, machte er den Eindruck eines unbeholfenen Landkindes. Er war einsilbig und gänzlich außerstande, sich auch nur den Anschein gewinnender Verbindlichkeit zu geben. Auf unseren Schulfesten stand er meist hölzern herum. Dennoch wäre niemand von uns, auch nicht das loseste Schandmaul, jemals auf den Gedanken gekommen, ihn seiner Eigenart wegen aufzuziehen.

Denn ganz abgesehen davon, daß er der hilfsbereiteste und verläßlichste Mitschüler war, der sich denken läßt, überragte er uns alle turmhoch mit einer erstaunlichen Vielfalt von Begabungen. Im Griechisch- und Lateinunterricht wurde er von unseren Lehrern fast wie ein Kollege behandelt. Beizubringen war ihm da nichts mehr. Auch in Mathematik lag er vorn. Beim Geräteturnen stand ihm bei aller Kraft seine eigentümlich steife Ungelenkigkeit im Wege. Im Boxen aber (damals Pflichtdisziplin) und in der Leichtathletik rechnete er zur Spitzengruppe. 

Damit nicht genug: Wir wußten zwar vom Hörensagen, daß er ein hochbegabter Organist sein sollte. Trotzdem waren wir zutiefst erstaunt, als unser Musiklehrer uns eines Tages am Flügel eine Motette vorspielte, die unser noch fünfzehnjähriger Klassenkamerad komponiert hatte und die, wie wir bezeichnenderweise erst bei dieser Gelegenheit erfuhren, kurz zuvor anläßlich des Neujahrsgottesdienstes in der Potsdamer Nikolaikirche uraufgeführt worden war.

Das war Wilhelm Stumpf, der keine Feinde hatte und keine Neider, der sich immer bescheiden im Hinter­grund hielt und der jeden abschreiben ließ, der von ihm abschreiben wollte. Er hatte als einziger von uns schon mit fünfzehn Jahren die Kriminalität unserer neuen »nationalen Obrigkeit« ohne Wenn und Aber durchschaut und erwies sich als immun gegenüber allen nationalen Aufwallungen und demagogischen Argumenten. Auch wenn man in Rechnung zu stellen hat, daß er seine Klarsicht wesentlich dem Einfluß seines ebenso unbeugsamen Vaters verdankt haben dürfte, war die Reife und Unbeirrbarkeit dieses Jungen imponierend. Wir alle spürten das, und ebenso spürten es auch unsere Lehrer.

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Es charakterisiert die eigentümlich zwiespältige Atmosphäre der letzten Vorkriegsjahre, jedenfalls in Potsdam und jedenfalls in unserem Gymnasium, daß jemand wie Wilhelm Stumpf diese Zeit überleben konnte. Wenn man die hemmungslose Brutalität der Nazis rückblickend bedenkt, ist diese Tatsache bemerkenswert. Sie bleibt es auch dann, wenn hinzuzusetzen ist, daß dieser ungewöhnliche Junge nicht als protestierender Aufklärer oder Widerständler auftrat. Auch in dieser Hinsicht hielt er sich zurück. Ganz sicher nicht aus Vorsicht oder taktischem Kalkül. Es war ganz einfach nicht seine Art, ungefragt irgendwelche Ansichten von sich zu geben. Fragte man ihn jedoch, so machte er aus seinem Herzen keine Mördergrube. Niemand daher an der ganzen Schule, der nicht genau gewußt hätte, was Wilhelm Stumpf vom nationalsozialistischen Regime hielt. Auch die wenigen überzeugten Nationalsozialisten unter unseren Lehrern waren sich darüber nicht im Zweifel. Das Problem wurde in stillschweigender Übereinkunft dadurch umgangen, daß niemand den schweigsamen Schüler nach seinen politischen Ansichten fragte.

Bezeichnend ein kleiner Vorfall im letzten Jahr vor dem Abitur. Eine staatliche Auflage nötigte den Schüler Stumpf zu einer politischen Stellungnahme, ohne daß seine Lehrer ihn davor hätten bewahren können. Wir hatten im Deutschunterricht einen Aufsatz zu schreiben, in dem die »Nürnberger Gesetze zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« zu kommentieren waren. Die Aufforderung nahm den Schüler Stumpf selbstredend nicht aus, und dieser zögerte nicht im mindesten, den verlangten Kommentar abzufassen. Während wir anderen aber in der vage ausweichenden Weise, die wir uns in diesen Jahren unmerklich anzugewöhnen begannen, wortreich um den heißen Brei herumzureden bemüht waren, kam unser Klassenkamerad Stumpf ohne große Umschweife oder andere Fisimatenten sogleich zur Sache. Sein Kommentar fiel ebenso intelligent wie schonungslos aus.

Als unser Deutschlehrer Dr. Stechele (»Jimmy«) die zensierten Aufsätze einige Tage später wieder in die Klasse mitbrachte, begann er, wie es seiner Gewohnheit entsprach, die Zensuren in alphabetischer Reihenfolge bekanntzugeben und jeweils mit einigen Sätzen zu begründen. Wer an die Reihe kam, ging nach vorn und nahm sein Heft persönlich in Empfang.

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Stumpfs Name fiel nicht. Als »Jimmy« am Ende seiner Verlesung angekommen war, lag noch ein einzelnes Heft vor ihm. Er nahm es, stand nun seinerseits auf, ging zu Stumpfs Platz und sah diesen einige Sekunden mit einem verständnisinnigen Lächeln an. Dann sagte er leise: »Nicht zensiert«, überreichte das Heft seinem Eigentümer und ging schweigend zurück an sein Pult. In der Klasse war es mucksmäuschenstill. Alle wußten, was los war. Der Fall aber war damit erledigt.*

Schweigen und wegsehen, die »heißen Eisen« nur ja nicht anfassen, es sei denn im engsten Kreis der Freunde oder der Familie, das war die Maxime, die uns, ohne daß wir uns dessen deutlich bewußt gewesen wären, in diesen Jahren langsamen Erwachsenwerdens schleichend in Fleisch und Blut überging. 

Ich erinnere mich noch des jähen Erschreckens, das mich packte, als mein Freund Günther Ahlefeldt auf einer gemeinsamen Fahrt mit dem Paddelboot »Onkelchen« plötzlich lauthals über das Wasser schrie: »Wir wollen keinen Führer mehr!« Mir gefror, wie man so sagt, das Blut in den Adern. Bis ich registrierte, daß wir uns mutterseelenallein mitten auf dem Jungfernsee befanden. Günther lachte sich halbtot über den gelungenen Scherz. An die Situation, die seine Pointe überhaupt erst ermöglichte, hatten wir uns bereits gewöhnt.

Wegzusehen und an die unübersehbaren Warnsignale nicht zu denken, das war das Mittel, dessen wir uns instinktiv bedienten, um unsere sorglose Lebenslust über diese letzten Schuljahre hinwegzuretten. Daß wir uns damit nur selbst betrogen und überdies zum Anwachsen der Gefahr auch noch unseren Teil beitrugen, kam uns nicht in den Sinn.

 

* In unübersehbarem Kontrast zu Wilhelm Stumpfs Aufsatz steht ein vielhundertseitiger Kommentar, den etwa in derselben Zeit der Jurist Hans Globke als Ministerialrat im Reichsinnenministerium zum gleichen Thema ausarbeitete. Dieser enthielt »alles, was man in der Praxis benötigt«, wie Roland Freisler, berüchtigter Vorsitzender des späteren »Volksgerichtshofs«, anerkennend feststellte. Freisler hatte in der Tat Grund, sich so zu äußern, denn Globkes Kommentar hat unter anderem die völkischen Großgruppen »artfremden Blutes« exakt definiert, an deren »Ausscheidung aus dem deutschen Volkskörper« der nationalsozialistischen Rassenpolitik so entscheidend gelegen war, und dadurch mitgeholfen, die ersten Stufen der Treppe zu zimmern, die schließlich in die Gaskammern führte (Siehe dazu: Ralph Giordano, »Die zweite Schuld, oder von der Last Deutscher zu sein«, Hamburg 1987, S. 107f.).

In weiterem Unterschied zu meinem Mitschüler Wilhelm Stumpf überlebte Hans Globke bis in die Nachkriegsjahre, in denen ihm, dessen Verwaltungserfahrung als unentbehrlich angesehen wurde, die Aufgabe zufiel, Konrad Adenauers Bundeskanzleramt aufzubauen und zu organisieren (einschließlich der damit einhergehenden Personalentscheidungen).

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Wer sich von meiner Generation dieser psychischen Verfassung heute noch deutlich genug erinnert, kann sich einer gewissen Resignation nicht erwehren angesichts des verständnislosen Hasses, der die meisten Bürger unserer Nachkriegsgesellschaft beim Anblick steinewerfender Chaoten erfüllt. Kein Zweifel: Wer seinem Protest auf so primitiv aggressive Weise Ausdruck verleiht, setzt sich uneingeschränkt ins Unrecht, gleich welche Motive ihn erfüllen mögen. Es gibt kein Recht, das sich durch das Werfen von Steinen herbeiführen ließe. Und es gibt in unserer Gesellschaft auch kein Übel, das mit denen der Naziherrschaft ernstlich verglichen werden dürfte. Trotzdem krankt unsere Gesellschaft, wie sie ihrerseits durch ihre Überreaktion verrät, an der Unfähigkeit, den Akt des Steinewerfens auch als Geste einer Verzweiflung erkennen zu können, für die es in unserer entwickelten Industriegesellschaft wahrhaftig hinreichende Anlässe gibt.*

Wir haben damals nicht nur nicht mit Steinen um uns geworfen, wir haben auch sonst auf keine Weise protestiert. Wir waren die adrett gekleideten, wohlerzogenen jungen Leute mit kurzgeschnittenen Haaren, an denen jeder Bundesbürger seine helle Freude hätte. Wir haben geglaubt, uns der Probleme auf billigere Weise entledigen zu können, indem wir uns bemühten, sie zu übersehen. Das mag »menschlich« sein, und es wäre, wenn nicht die eine Ausnahme in unserer Klasse diese Ausflucht widerlegte, aufgrund unserer Jugend — ich war, wie die meisten von uns, zum Zeitpunkt des Abiturs siebzehn Jahre alt — vielleicht sogar entschuldbar. 

Desungeachtet aber ist es in jedem Falle kritikwürdig, und es führte denn am letzten Tage unserer Schulzeit auch noch zu einem Vorkommnis, dessen ich mich bis auf den heutigen Tag schäme.

 

* Bei Jean Paul gibt es eine Stelle, die verrät, daß frühere Generationen in dieser Hinsicht sensibler waren. Der Dichter läßt dort einen fiktiven Luftschiffer namens Giannozzo über ein Schlachtfeld treiben und beim Anblick des grausamen Gemetzels in Verzweiflung geraten. Als alle seine Versuche fehlschlagen, die streitenden Parteien zur Vernunft zu bringen, beginnt Giannozzo in aus ohnmächtigem Mitleid geborenem Zorn, die Steine, die er als Ballast mit sich führt, »auf die ringende, vom Erdbeben eines bösen Geistes (...) geschüttelte Masse« zu schleudern. Wie verfehlt diese aggressive Reaktion auf das wahrgenommene Elend jedoch ist, hält auch Jean Paul seinem Helden sogleich vor: »O Giannozzo, der Wahnsinn, womit du verwunden hilfst, ist eben der gräuliche, der die Völker gegeneinander treibt!«  (»Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch«, Sämtliche Werke, Berlin 1841, Bd.17, S.213f.).

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Im letzten Augenblick nämlich, bei der Ausstellung der »Reifezeugnisse«, raffte sich der gekränkte, ergo: der nationalsozialistisch gesonnene, Teil unserer Lehrerschaft doch noch dazu auf, sich an Wilhelm Stumpf zu rächen, dem offen entgegenzutreten in all den Jahren davor niemand von ihnen sich getraut hatte. Entsprechend schäbig fiel die Rache aus: Stumpf, am Viktoria-Gymnasium vermutlich der mit Abstand begabteste Absolvent des ganzen Vorkriegsjahrzehnts, bekam die Durchschnittsnote 3 in sein Abitur­zeugnis hineingeschrieben.

Zur Ehrenrettung unserer ganz überwiegend — Parteiabzeichen am Revers hin oder her (»Cato«!) — anständigen Lehrer sei nachgetragen, daß man unserem Schulleiter Dr. Diehl seitens des Kultusministeriums im Jahre zuvor einen Oberstudienrat beigegeben hatte, der »Alter Kämpfer« war und mit dem »Goldenen Parteiabzeichen« herumlief — als »Aufpasser«, wie gemunkelt wurde, was nicht so ganz falsch gewesen sein dürfte. Dieser versuchte alsbald, politisch einen schärferen Kurs einzuführen, womit er jedoch bis zu unserem Abitur wenig Erfolg hatte. Er war aber ohne Zweifel »linientreu« genug, um sich verpflichtet zu fühlen, es dem notorisch antinationalsozialistisch eingestellten Wilhelm Stumpf endlich heimzuzahlen. Ich vermute daher, daß die groteske Abiturnote einen faulen Kompromiß darstellte, zu dem sich der übrige Lehrkörper herbeiließ, um das Schlimmste abzuwenden.

Zur abschließenden Abiturfeier erschien der auf so miese Weise Gemaßregelte nicht — jeder von uns hatte dafür größtes Verständnis. Was aber kaum weniger mies war, ist die Tatsache, daß wir anderen alle pünktlich zur Stelle waren, um uns als Abiturienten feiern zu lassen. Ich widersprach nicht, als der Direktor mich vor der versammelten Elternschaft als »besten Abiturienten des Jahrgangs« apostrophierte. (Das einzige Fach, in dem ich besser gewesen war als Wilhelm Stumpf, war Biologie.) 

Ich empfand in diesem Augenblick, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, sogar Stolz. Schwacher Trost, daß die anderen auch keine größere Solidarität bewiesen, daß auch sie nur an sich dachten und befriedigt ihre Buchpreise und Zeugnisse in Empfang nahmen. Wilhelm Stumpf wäre das, bei umgekehrt verteilten Rollen, nicht passiert, soviel ist sicher.  

Ein Jahr später war er tot. Er fiel als erster aus unserer Klasse gleich zu Anfang des »Frankreich­feldzuges«.

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