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Hinterhalt   Ungebührlichkeit     C2  

 

 

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Bei einem Treffen von Autorinnen wird erzählt, was den eigenen Söhnen in letzter Zeit widerfahren ist. Ein 15jähriger gehört zu den wahren Künstlern in der Berliner Graffiti-Szene, die einen Ehrenkodex haben: Denkmäler, Privathäuser und renovierte Fassaden sind tabu. Bei abbröckelndem Mauerwerk aber gilt für sie ein Spraybild nicht als Sachbeschädigung, sondern geradezu als Werterhaltung. So wird besten Gewissens, also am hellichten Tag, in der Wollankstraße an ein Stück Originalmauerrest, der an einer Brandwand eines restitutionsbelasteten Hauses «klebt», ein Happy-birthday-Gruß an eine ahnungslose Liebe gesprayt.

Ein Saubermann ruft die Polizei, die Jungs werden verhaftet, aufs Revier gebracht, erkennungsdienstlich behandelt. Der Diensthabende beschuldigt sie, die «Demokratie zu untergraben». Da «Gefahr in Verzug» ist, wird dem Jungen zum Zwecke einer sofortigen Wohnungsdurchsuchung der Schlüssel abgenommen. Ohne daß jemand von der Familie anwesend ist, dringt die Polizei in die Wohnung ein. Wie bei einem Mitglied der angesehenen Graffiti-AG nicht anders zu erwarten, werden einige Sprühdosen gefunden. Beschlagnahmt wird außerdem ein Bastelbogen für ein Polizeiauto und ein Einbahnstraßenschild, das Freunde zum Geburtstag mitbrachten. Letzteres bringt eine Nebenklage wegen «schweren Diebstahls» ein.

Bis zum Verhandlungstermin vergehen bange Wochen, denn man weiß von ähnlichen Fällen, bei denen für einen konstruierten Schaden Geldstrafen bis zu 20.000 DM verhängt wurden. Was wäre das für eine Start-Hypothek in eine sowieso ungewisse Berufstätigkeit! Doch der Jugendrichter trägt Jeans (Marke Alt-68er) unter der Robe und schlägt die Klage wegen Unerheblichkeit nieder.

In Pankow haben einige Schüler auf dem Bürgersteig vor dem einstigen Gartenhaus des jüdischen Fabrikanten Garbaty Unterschriften gegen die Nutzung dieses Hauses als Zentrale der Republikaner gesammelt. Die Polizei, zum Schutze der Reps dort meist präsent, verlangte von den Jugendlichen, sich «aufzulösen». Wie soll ich mich auflösen? fragte einer der Söhne und blieb. Als auch der dritten Aufforderung nicht Folge geleistet wurde, geschah das Übliche: erkennungsdienstliche Behandlung.

Wenig später traf ein Strafbescheid über 260,- DM ein, wegen Nichtauflösen einer «öffentlichen Ansammlung». Die Mutter, meine Autorenkollegin, weigerte sich zu zahlen — was die Polizei veranlaßte, sie darüber aufzuklären, daß sich die Kosten vor Gericht um ein Vielfaches erhöhen könnten. Als nach Wochen die relativ junge Jugendrichterin den Sohn fragt, ob er etwas erklären möchte, sagt dieser nur, er würde gern wissen, was eine «öffentliche Ansammlung» ist. Das wüßte sie auch gern, so die Richterin, offenbar genüge es schon, wenn einer sich ansammelt. Sie fordert den Angeklagten auf, künftig den Aufforderungen der Polizei zu folgen. Gleichzeitig stellt sie das Verfahren wegen «Unverhältnismäßigkeit der Mittel» ein — nicht ohne dem Schüler mit auf den Weg zu geben, er möge sich auch künftig nicht davon abbringen lassen, seine politische Meinung auf der Straße zu vertreten. Die Mutter weint vor Freude. 

Demokratie wird täglich gefährdet und täglich verteidigt. Wer sich raushält, gehört schon zu den Gefährdern. 

 

 

 Sirenengesang.  Vorlagebeschluß 27. 

 

Eine Form der Verteidigung ist die Kritik. Je offener und öffentlicher, je schonungsloser und begründeter sie ist, desto überzeugender verteidigt sie die «Grundsympathie». Gemessen an der Sympathieskala im Osten, scheint vieles überzeugend zu mißlingen.

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Unlängst sah ich einen Dokumentarfilm über die Jugend-Szene, in dem ein junger, glatzköpfiger Skin, befragt nach den Motiven für sein Engagement, antwortete: «Wenn ich schon nicht geliebt werde, dann möchte ich wenigstens gehaßt werden.» Links außen drückte man sich weniger martialisch aus, aber nicht weniger verzweifelt.

Was für ein Armutszeugnis für die Elterngeneration, für meine Generation. Unfähig, Zuneigung und Geborgenheit zu geben, überfordert, das Gefühl von Nützlichkeit und Gebrauchtwerden zu vermitteln, überfragt, einen Sinn zu benennen, überlassen wir den Beweis für die Existenzberechtigung der Gewalt. Nur durch gruppengestütztes Ausgrenzen und Zuschlagen scheint überprüfbar, ob man noch lebendig ist, in der Lage, irgendeine Reaktion auszulösen. Und die staatlichen Repressionen sind meist geeignet, die negativen Energien positiv zu bestärken.

Im Oktober 1997 wandten sich junge Leute hilfesuchend an die noch auffindbaren Mitglieder der in der Wendezeit aktiven Untersuchungskommission zu Übergriffen von Stasi und Volkspolizei und erzählten uns von ihrem neuerlichen Trauma: In Saalfeld-Rudolstadt, einer Region, die bei rechtsextremen Straftaten bundesweit an der Spitze steht, hatten Meldungen über die geplante Eröffnung eines von der Kommune finanzierten «Nationalen Jugendzentrums» heftige Proteste in der Antifa-Szene ausgelöst. Ein Mitarbeiter der Thüringer Gewerkschaft HBV meldete für den 11. Oktober eine landesweite Demonstration «Gegen rechten Konsens» an, unterstützt von Teilen des DGB, der Jusos, der Grünen, der PDS und zahlreichen Einzelgruppen.

Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren, als die NPD/Thüringen für den gleichen Tag ebenfalls eine Demo in Saalfeld anmeldete. «Nach dienstlichen Erkenntnissen» des Landratsamtes war auf beiden Seiten — offenbar ohne Unterschied — mit Gewalt zu rechnen. Vermutlich, um juristische Einsprüche zu erschweren, wurden beide Veranstaltungen erst unmittelbar vor dem Termin verboten. Begründung: Die Rechtsgüter Gesundheit und Leben seien dem Recht auf Versammlungsfreiheit übergeordnet.

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Im Morgengrauen des 11. Oktober umstellt eine Hundertschaft von Polizisten einen Gasthof in Heilsberg bei Rudolstadt, in dem sich Rechtsradikale aus ganz Deutschland einquartiert haben. Die Razzia erbringt den größten Waffenfund seit langem: 5 Seitengewehre, 52 Schlagstöcke aus Tischbeinen oder Metallstäben, 8 Äxte, 70 Stichwaffen, Reizgas und Gasmasken, 37 Feuerlöscher, 12 Funkgeräte sowie Scanner zum Abhören des Polizeifunks. Zur gleichen Zeit nimmt sich die Polizei ein abseits stehendes Haus der linken Szene am Saalfelder Schloßberg vor. Ausbeute: eine Dose Reizgas, ein Messer, drei Handys. Für die Jugendlichen ein Beweis mehr, wie nötig die Demo wäre.

Die Jungs und Mädchen, die uns später um Unterstützung baten, waren am selben Morgen in Berlin in die lange bestellten Busse gestiegen, in der Hoffnung, daß der Klage gegen das Demo-Verbot noch stattgegeben wird. Erst behinderte die Polizei die Abfahrt, dann gab sie sie frei. Unterwegs traf man Busse aus Potsdam, Görlitz und Nürnberg, erfuhr von der gerichtlichen Bestätigung des Verbots und wollte im Konvoi nach Erfurt fahren, um vor dem Innenministerium dagegen zu demonstrieren. Vor der Abfahrt Eisenberg wird am Horizont ein riesiges Polizeiaufgebot sichtbar, die Autobahn ist auf eine Spur eingeengt, die Busse werden gestoppt. Viele Insassen steigen empört aus, der Verkehr kommt zum Erliegen. Man gestattet der Polizei, die Busse zu durchsuchen, lehnt aber eine Personalienfeststellung als diskriminierenden und zeitverzögernden Akt ab.

Nachdem auch für Erfurt ein Versammlungsverbot ausgesprochen wird und die Suche nach einem anderen Ort scheitert, geben die Demonstranten gegen 17 Uhr auf und bitten, umkehren zu dürfen. Während die Polizei zwei Stunden lang über den Vorschlag berät, landen weitere Sondereinheiten mit BGS-Transporthubschraubern. Mit deren Hilfe werden schließlich alle verhaftet, die Busfahrer gezwungen, ihre Reisebusse als Gefangenentransporter einzusetzen.

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Nach zwei Stunden Fahrt treibt man die mehr als 400 Festgenommenen in die seit Jahren baupolizeilich gesperrte ehemalige Haftanstalt Unterwellenborn. Das Gebäude ist nicht beheizbar, unmöbliert, ohne Wasser und sanitäre Einrichtungen. Der Gang auf die Nottoiletten auf dem Hof wird immer 'wieder versagt. Niemand darf telefonieren. Eine Schwangere wird verhöhnt. Weitere Gefangene, die nach dem Kriterium «linkes Aussehen» auf Bahnhöfen festgenommen wurden, werden in Handschellen eingeliefert. Erst nach Protesten reicht man gegen Morgen in die überfüllten Zellen ein paar Decken, etwas Tee und für jeden ein Brötchen.

Im Laufe des Tages kommt es in verschiedenen Räumen zu Übergriffen durch Polizisten, zu Mißhandlungen, sexuellen Belästigungen. Darüber existieren Gedächtnisprotokolle. Einzelne werden in Handschellen Haftrichtern vorgeführt. Gegen Abend werden die Antifas - alle gefesselt - auf dem Güterbahnhof in schwer bewachte Sonderzüge verfrachtet. Die vor uns sitzenden Schüler, Lehrlinge, Studenten sind gegen 1 Uhr nachts auf dem Bahnhof Lichtenberg angekommen, wo ihnen endlich die Handfesseln gelöst wurden.

Wir sahen uns deprimierten, gedemütigten, wütenden, vielleicht haßerfüllten jungen Menschen gegenüber. Sie suchten psychischen Beistand und rechtliche Beratung für zu erwartende Schadensersatzklagen wegen «gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr» und Landfriedensbruch. Die Initiatoren wiederum klagten dagegen, das erstmalig eine von einem Gewerk­schafter angemeldete Demonstration verboten wurde. Die Klage ist bis heute vom Verwaltungsgericht Gera nicht bearbeitet worden. Ebensowenig wie die Klagen einiger junger Leute gegen die Behandlung durch die Polizei. Die Staatsanwaltschaft Gera hat nach nunmehr fast zwei Jahren noch keinen der Geschädigten angehört. Wie sollen junge Leute unter solchen Umständen ein Gefühl für ihre staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten entwickeln? Ist es ein Wunder, wenn die Betroffenen eingeschüchtert resignieren, nicht wählen gehen oder sich innerlich weiter verhärten?

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Verschalung.  
Normativbestimmung B. 

 

«Gefahr in Verzug» signalisiert der zur Staatsdoktrin erhobene Extremismus-Begriff: Nazis und Antifaschisten sind gleich. Gleich gewalttätig, gleich systemfeindlich, also gleich bekämpfenswert. Daß die einen rassistisch, nationalistisch, menschenverachtend argumentieren, die anderen aus einer humanistischen Tradition kommen, scheint vernachlässigbar, solange diese nicht aufhören, bestimmten Macht-Konstellationen notfalls ein Interesse an faschistoiden Strukturen zu unterstellen. Mit der ebenso verhängnisvollen wie unhistorischen These, der Antifaschismus wäre von Anfang an gar nicht gegen den Faschismus, sondern gegen die Demokratie gewesen, habe ich mich andernorts auseinandergesetzt.17

Es ist immer wieder die gleiche Demagogie, die unterstellt, Kapitalismuskritik sei Kritik am ganzen System, also an der Demokratie. Nein, es muß heute mindestens so erlaubt sein, wie in den siebziger Jahren des Extremistenerlasses, extreme Kritik an gegenwärtigen Rudimenten aus extremer deutscher Vergangenheit zu üben.

Als 1978 Ministerpräsident Filbinger per einstweilige Verfügung Rolf Hochhuth verbieten wollte, seine Vergangenheit als Nazi-Jurist extrem zu formulieren, wehrte sich dieser um so schärfer. Er beklagte, daß kein Richter der BRD auch nur eine Stunde in Haft gesessen habe, weil er für Hitler Deutsche umgebracht hätte. Selbst als sich herausstellte, der höchste Staatsanwalt der Bundesrepublik habe als Sonderrichter Hitlers mehr als dreißig Menschen zum Tode verurteilt, sei dem Mann nichts Schlimmeres passiert, als vorzeitig pensioniert zu werden — mit zweitausend Mark monatlich, was damals sehr viel war. Auf daß er ungestört sühnen könne.

 

17)  siehe «Westwärts und nicht vergessen», Berlin 1996, S. 46ff

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«Nun war ja dem Geschrei des Auslandes nach Bestrafung von Kriegsverbrechen zuweilen Gehör zu schenken: Also hielt die bundesdeutsche Justiz sich an jene Mörder, die nicht wie sie Jura studiert hatten: an SS-Männer. War einer mit siebzehn zur SS geholt worden und hatte geholfen, Juden umzubringen, so wurde ihm keinesfalls <Befehlsnotstand> zugebilligt von seinen Richtern, die jedem Nazi-Richter aber zugute hielten, daß er den damaligen <Gesetzen> zufolge hätte köpfen, hängen, erschießen müssen. Das ist aber nicht wahr: Die Richter hatten unverhältnismäßig mehr Freiheit, human zu urteilen, als ein Soldat Freiheit hatte, sich einem verbrecherischen Befehl zu entziehen! Schon erstaunlich. Der Recht sprechende Stand der Nation hat die Lebenslüge, auf die seine Existenz gründet, nie als Problem artikuliert: Mord-Richter in seiner Zunft zu haben, die heute Warenhausdiebe aburteilen. Die Laufbahn all dieser Hitlerjuristen — und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch — schließt deshalb wie jedes deutsche Märchen, weil es auch eins ist: das Märchen, die BRD sei ein Rechtsstaat.»18

So etwas würde ich mich nicht nur nicht zu sagen wagen, sondern nicht mal zu denken getrauen. Also denke ich es auch nicht. Wenn sich die bundesdeutsche Justiz allerdings anschickt, strafrechtlich die Vergangenheit aufzuarbeiten, halte ich es für meine staatsbürgerliche Pflicht, sie mißtrauisch zu beobachten. Dabei weiß ich mich in guter Gesellschaft. Unter der Überschrift «Wachhunde in schwarzen Roben» berichtete die Allgemeine Jüdische Wochenzeitung unlängst von der «Deutsch-Israelischen Juristenvereinigung», die gegen mangelnde gesellschaftliche Wachsamkeit gegenüber «braunen Spuren in der deutschen Justiz» die Stimme erhebt. Zitiert wird der israelische Rechtsanwalt Joel Levi: «In ihrer Mehrheit steht die deutsche Justiz politisch rechts. Deshalb werden Juristen, die es mit der Bewältigung der NS-Vergangenheit allzu ernst meinen, oft von Kollegen gemieden, wenn nicht gar angefeindet.»19

 

18)  Rolf Hochhuth im Spiegel, 19/1978, S. 140  
19)  Wladimir Struminski: «Wachhunde in schwarzen Roben», Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, 7.1.1999

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Somit habe er sich über die Bitte antifaschistischer Juristen aus Deutschland um moralische Unterstützung aus Israel nicht gewundert. «Ganz im Gegenteil: Ich fand es natürlich.» 370 Mitglieder hat die Vereinigung schon, Vorsitzender ist der einstige Bundes­verfassungs­gerichts-Vizepräsident Ernst Gottfried Mahrenholz, beigetreten ist auch Jutta Limbach.

Der Artikel nennt Beispiele dafür, wie notwendig es heute noch ist, wachsam zu sein: Obwohl alle wußten, daß Karl-Heinz Spielker als junger SS-Obersturm­bannführer für die «Entjudung» Berlins zuständig gewesen war, konnte er unbehelligt elf Legislaturperioden für die CSU im Bundestag sitzen. 1990 schied er lediglich als stellvertretender CDU/CSU Fraktions­vorsitzender aus, um danach Fraktionsjustitiar zu werden.

Die «Deutsch-Israelische Juristenvereinigung» hat auch bei Waldheims Bürgermeister protestiert. Gegen den Gedenkstein, den «die Stadtoberen, eifrig bemüht, mit der SED-Vergangenheit abzurechnen», nach der Wiedervereinigung zu Ehren der hingerichteten «Opfer des Kommunismus» aufstellten. Einer der zum Tode verurteilten war Dr. Gerhard Wischer, Jurist und Mediziner. Als ärztlicher Leiter der Heilanstalt Waldheim hat er 260 Euthanasie-Patienten ermordet. Von 1941 bis 1943 war er in der Berliner «Euthanasie-Zentrale» tätig, von wo aus erprobte Ärzte in Konzentrationslager geschickt wurden, um kranke und arbeitsunfähige Häftlinge «auszumustern». Das war die Generalprobe für die Shoa. Bei jüdischen Häftlingen übernahmen die Ärzte meist einfach die Diagnosen der SS. «Deutschfeindlicher Hetzjude» genügte für eine Einweisung in die psychiatrischen Tötungsanstalten.

Levi zu Waldheim: Wenngleich das Verfahren gegen die NS-Mörder nicht westlichen Standards entsprochen habe, so stehe ihre Schuld historisch außer Zweifel. Sie zu ehren, sei eine Ungeheuerlichkeit. Genützt hat der Protest nichts. Ungerührt erklärte der Bürgermeister, «er und seine Stadtbewohner wollten die Ehrentafel behalten».

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Der Humanist Albert Schweitzer würde sich wohl im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, wie verstümmelt und in welch zwielichtigem Kontext sein berühmtes Zitat auf den Waldheimer Gedenkstein geraten ist: « GUT IST LEBEN ERHALTEN — BÖSE IST LEBEN VERNICHTEN». Diese auf den ersten Blick in ihrer Allgemeinheit unangreifbare Moral bekommt durch den beabsichtigten, konkreten Bezug einen fatalen Beigeschmack. Nicht nur unterschwellig wird gesagt: Auch Todesurteile, die unbestreitbar wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ergingen, waren «böse». Das ist ein Affront gegen die Rechts­sprechung der alliierten Siegermächte.

Solange die Russen gemeint sind, ist heutzutage erlaubt, was gefällt. Niemand würde es wagen, den gleichen Spruch im KZ Dachau anzubringen. Dort wurden vor einem amerikanischen Militärgericht, ebenfalls auf der Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10, bis 1948 Anklagen gegen 1672 Beschuldigte erhoben. Es ergingen 426 Todesurteile. Die Alliierten sind nach dem Krieg, dem Willen der Völker entsprechend, mit den Nazis und ihren Kollaborateuren hart ins Gericht gegangen. In Europa waren etwa eine Million Menschen von den politischen Säuberungen betroffen, mehr als hunderttausend haben sie mit dem Leben bezahlt.20

Allein diese Größenordnung erklärt, weshalb es im angelsächsisch dominierten, alliierten Recht sehr viel weniger auf den Nachweis individueller Schuld, einzelner belegbarer Handlungen, ankam. Angesichts der sehr komplexen Tatbestände wie Völkermord, Kriegsverbrechen, Versklavung, Zwangsverschleppung und Freiheitsberaubung genügte es, in einer bestimmten Funktion innerhalb der verbrecherischen Maschinerie Mitverantwortung getragen zu haben. Zumal absehbar war, daß Verbrechen oft nicht bewiesen werden konnten, «weil die Zeugen tot sind», wie Richter Samuel Rosenmann die amerikanische Sicht beschrieb.

 

20)  siehe dazu Paul Serant, Die politischen Säuberungen in Westeuropa am Ende des Zweiten Weltkrieges, Oldenburg und Hamburg 1966

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Danach sollten die Amtsinhaber nicht nur aus moralischen Gründen verurteilt werden, sondern « weil diese sicherlich den Kern einer künftigen Nazipartei bilden und jeden künftigen Aufruhr anführen würden». Je nach Position wurde man also in Kategorien eingeteilt und entsprechend verurteilt. Das mag man heute nachvollziehen können oder nicht. Aber man kann es weder denen zum Vorwurf machen, die damals danach handelten, noch denen, die heute daran erinnern. Wer bedingungslos kapituliert, sollte im nachhinein keine Bedingungen stellen. 

 

Zeitmaschine.  

VVS 7. 

 

Die rein politische Prozeßführung in Waldheim, unter weitgehender Mißachtung des Rechts auf Öffentlichkeit, auf Zeugen­anhörung und Verteidigung, hat unvermeidlich zu Unrecht geführt und der Glaubwürdigkeit antifaschistischer Rechts­sprechung schweren Schaden zugefügt.

Aber selbst der verdammenswerte Umstand, daß sich die SED massiv eingemischt hat und die Urteile praktisch schon vor der Verhandlung feststanden, ist kein hinreichender Beweis dafür, daß sie inhaltlich allesamt falsch waren. (Das ist wieder so ein angreifbarer Satz. Geeignet für jeden Verriß. Kein Mensch würde diesen relativ nebensächlichen Gedanken vermissen, wenn ich ihn stillschweigend streiche. Ich gehe um den Satz herum, betrachte ihn von allen Seiten. Kann ihn nicht falsch finden. Wo komme ich hin, wenn ich mir meine angreifbaren Sätze ausreden lasse!)

Solange niemand mit Sicherheit sagen kann, zu welchen Urteilen korrekte und faire Prozesse (nach dem damals gültigen alliierten Recht) gelangt wären, solange wird dieses Kapitel emotional besetzt und umstritten bleiben. Selbst unter den Betroffenen.

Kürzlich lernte ich in Hannover einen Sohn des einstigen stellvertretenden Gauleiters Sachsens kennen, in Waldheim zum Tode verurteilt wegen völkerrechtswidriger Behandlung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern.

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Dieser Sohn hat, sicher nach Jahren schmerzlichen inneren Ringens, das Urteil angenommen. Den «Waldheim-Kamerad­schaftskreis» hatte er immer gemieden und riet mir, das dort verbreitete Geschichts­bild mit Vorsicht zu genießen.

Ganz ähnlich klang ein Leserbrief, in dem mir der Sohn eines in der SBZ zum Tode verurteilten Pressezeichners schrieb: «Ich müßte diese Tatsache eigentlich auf das Konto der Willkür der sowjetischen Besatzer schieben, bin aber statt dessen der Meinung, das Beispiel meines Vaters steht für die vielen Deutschen, die mit ihrem Verhalten das nationalsozialistische Verbrechen und den Krieg gebilligt und unterstützt haben. Damit hat diese Generation sich schuldig gemacht und die Gründe für ihre Bestrafung selbst geliefert. Und es kommt der Umstand hinzu, daß gerade in der SBZ der Versuch, die besatzungs­rechtlichen Ziele zu stören, besonders in den unmittelbaren Nachkriegsmonaten sehr häufig zu beobachten war.»21

In der Tat war auch die Internierung von Personen, die «keiner bestimmten Verbrechen schuldig sind», die aber «als für die Ziele der Alliierten gefährlich zu betrachten sind», gemäß Potsdamer Abkommen (Abschn. IIIA 5) von allen vier Alliierten ausdrücklich vorgesehen. Und sie wurde überall praktiziert. So ist das, wenn man einen Krieg verloren hat, und zwar zu Recht, zu Menschenrecht.

Wenn Sozialdemokraten heute auf ihre Waldheim-Sensibilität hinweisen, weil dort auch Menschen verurteilt wurden, die gegen den Zusammenschluß von SPD und KPD aktiv geworden waren, so ist das verständlich. Ich frage mich allerdings, wo die sozialdemokratische Sensibilität angesichts der Tatsache geblieben ist, daß in Waldheim eben auch KZ-Aufseher saßen, die Sozialdemokraten mißhandelt oder zu Tode geprügelt haben, oder Nazijuristen, die SPD-Mitglieder wegen Hochverrats oder Wehrkraftzersetzung hinrichten ließen.

 

21)  Christian Pieta, Leserbrief in der Frankfurter Rundschau vom 3.4.1998

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Pauschale Verurteilungen, um diese Banalität ein letztes Mal zu wiederholen, sind genauso fragwürdig wie pauschale Rehabilitierungen. Die juristische Abrechnung mit der Nazi-Barbarei war und ist ein so einmaliger Vorgang, daß Fehler unvermeidbar waren. (Auch die Amerikaner mußten einige Urteile wegen unzulässiger Ermittlungsmethoden aufheben.) Der größte Fehler wäre aber gewesen, nichts zu tun. Insofern hat die bundesdeutsche Justiz nicht die moralische Kompetenz über Leute zu richten, die das versuchten, was sie selbst versäumte. 

 

Lichtkasch.

  Unnumeriert. 

 

Je genauer geforscht wird, desto weniger läßt sich offenbar die These aufrechterhalten, in den NKWD-Lagern hätten überwiegend Unschuldige oder Oppositionelle gesessen. In Moskauer Archiven soll belegt werden können, daß etwa 70 Prozent der zwischen 1945 und 1947 in Torgau Internierten aktive NSDAP-Mitglieder gewesen waren, 498 gehörten zudem der Gestapo, dem SD und anderen deutschen Straforganen an. Im Speziallager Buchenwald sollen etwa 80 Prozent der Inhaftierten Funktionsträger des Nationalsozialismus gewesen sein.

Für diese Aussage wurde der Leiter der Gedenkstätte, Dr. Volkhard Knigge, vom Thüringischen «Verband der Opfer des Stalinismus» wegen Volksverhetzung angezeigt. Selbst der Häftlingsbeirat von Buchenwald distanzierte sich daraufhin vom Opferverband, aber der Staatsanwalt erhob Anklage. Das Gericht stellte schließlich klar, daß die Justiz nicht über wissen­schaftliche Befunde zu urteilen habe. Aber die Geschichtsschreibung bleibt heftig umkämpft.

Da die allermeisten Waldheim-Häftlinge aus Buchenwald kamen, kann auch in Waldheim der Anteil aktiver NSDAP-Mitglieder nicht ganz klein gewesen sein. Ebensowenig kann der traurige Umstand bestritten werden, daß auch Unschuldige und viele kleine Nazis den willkürlichen Verfolgungsmaßnahmen zum Opfer fielen.

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Unter den Zeitzeugen überwiegen heute naturgemäß die damals ganz jungen Verhafteten, die schon allein deshalb kaum Verantwortung getragen haben konnten. In Waldheim sollten 27 «Werwölfe» gesessen haben. Aber es gab eben auch schwere Verbrecher.

Gegenwärtig wird im Rahmen einer Dissertation erstmalig untersucht, ob die 24 vollstreckten Todesurteile von Waldheim trotz der unmöglichen Prozeßführung materiell, also inhaltlich, nicht doch gerechtfertigt waren. In den meisten Fällen wird dies so sein, da allein schon die Selbstaussagen der Angeklagten genügten, um sie als Hauptverbrecher einzustufen.

Inzwischen habe ich die 184 Seiten umfassende Begründung des Urteils der 1. Kammer des Landgerichts Leipzig vom Januar 1998 gelesen, das die 80jährige Waldheimrichterin Irmgard Jendretzky, die schon 1957 unter dem Vorwurf des Liberalismus aus der DDR-Justiz entlassen wurde, also seit vierzig Jahren keine Richterin mehr ist, zu vier Jahren Haft verurteilte. Hauptvorwurf: Totschlag in fünf Fällen. Die Angeklagte habe als Mitglied des Revisionssenats die in erster Instanz verhängten Todesurteile bestätigt und somit diese Personen «vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft getötet».

Wohlgemerkt handelt es sich bei diesen Personen um schwer belastete Nazi-Größen, die alle selbst Menschenleben auf dem Gewissen hatten. Darunter der Kommandant des Zuchthauses Torgau, in dem viele der 46 000 zum Tode verurteilten Deserteure mißhandelt und hingerichtet worden waren, ein General­staats­anwalt, der nach eigenen Angaben 15 «Volksschädlinge» zum Tode verurteilt hatte, der Vorsitzende des Sondergerichts Stettin und ein Oberstabsrichter.

Ich halte das Jendretzky-Urteil für einen schweren Rechtsfehler. Die Kammer hat sich als unfähig oder unwillig erwiesen, anzuerkennen, daß damals alliiertes Recht galt, welches seinem Rang nach über nationalem Recht stand. Das Äußerste, wozu sie sich hat hinreißen lassen, ist das Zugeständnis, das Gericht sehe «in der Anwendung des KG 10 nebst Direktive 38 durch die Angeklagte keine Grundlage für ein strafbares Verhalten».

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Daraus spricht die tiefe Verachtung gegenüber dem aus den Nürnberger Prozessen abgeleiteten Recht, von dem man zwar nicht ausdrücklich leugnen kann, daß es galt, das nicht zu beachten aber offenbar sittlicher gewesen wäre. Dies ist der Versuch, den Krieg wenigstens juristisch doch noch zu gewinnen. Im Urteil heißt es, nach alliiertem Recht «konnte die Todesstrafe ausgesprochen werden. Ob im konkreten Fall tatsächlich auf Todesstrafe zu erkennen war, stand im Ermessen des Gerichts.» Daß das damalige Gericht innerhalb des gesetzlich gegebenen Ermessens­rahmens hart geurteilt hat, gilt heute als Totschlag.

«Die Angeklagte war nach Waldheim gekommen in der Vorstellung, ... daß es sich bei den übergebenen Internierten tatsächlich um Nazi- und Kriegsverbrecher gehandelt hat.» Während das Gericht dies heute immer noch pauschal leugnet, dürfte diese Vorstellung bei der Angeklagten durch die eigene Familiengeschichte bestärkt worden sein: Vater und beide Brüder hatten wegen «Vorbereitung zum Hochverrat» jahrelang in Zuchthäusern und Konzentrationslagern gesessen. Im Grunde war sie befangen, aber von welchem Himmel sollten unbefangene Richter fallen? Ungerührt wird ihr im Leipziger Urteil heute vorgeworfen, sie habe die «entlastende Bedeutung des damaligen (d.h. in der Nazizeit, D. D.) positiven Rechtszustandes nicht berücksichtigt und verkannte daher dessen schuldmindernde oder gar schuldausschließende Wirkung».

Hochhuths zwanzig Jahre alte Vorwürfe sind unverändert aktuell. Das Leipziger Gericht übernimmt die Logik der NS-Richter, die sich zu ihrer Verteidigung lediglich auf Befehlsnotstand beriefen. In Leugnung der spätestens seit Gustav Radbruchs Aufsatz von 1946 anerkannten Tatsache, daß das NS-«Recht» überhaupt der Rechtsnatur entbehrte, weil es Gerechtigkeit nicht einmal anstrebte, indem es die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bewußt verleugnete (Nürnberger Gesetze, Polenstrafrecht), wird hier von schuldausschließender Wirkung bei Einhaltung dieses Unrechts gefaselt.

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Unter Ablehnung des alliierten Rechts, insbesondere des KG 10 Art. II zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, mutet die Leipziger Kammer den Waldheim-Richtern zu, sie hätten mit ihren Nazi-Kollegen gemeinsame Sache machen sollen, indem sie zu deren Rechtfertigung die Terrorgesetze hätten akzeptieren müssen. Eine derart nazifreundliche Rechtssprechung hätte ich am Ende des Jahrhunderts nicht mehr für möglich gehalten. 

 

 

Kreuzgang   

Verweis 11a

 

Das Strafrecht wird als Gradmesser dafür angesehen, in welcher «Verfassung» sich Staat und Gesellschaft befinden. Niemand bestreitet den Zivilisations­anspruch, der gemacht wurde, als Lynchjustiz, Privatrecht und Blutrache zugunsten einer geordneten, staatlichen Rache aufgegeben wurde. Da man sich auch für die Verwendung des Begriffes Rache an mir gerächt hat, will ich kurz darauf eingehen. 

Die Frage nach der Rechtfertigung und dem Sinn von Strafe, insbesondere von Freiheitsstrafe, gehört zu den umstrittensten Problemen der Rechts­wissen­schaft. «Das hängt damit zusammen, daß sich der repressive Zwang des Staates keineswegs ebenso von selbst versteht wie die Abwehr von Störungen der öffentlichen Ordnung.»22)

Es gibt im wesentlichen drei Straftheorien, die, da jede für sich unzulänglich ist, meist kombiniert werden: 

«Die Vergeltungstheorie besagt, der Zweck der Strafe sei die Vergeltung. Auf deutsch: Rache. Wenn jemand getötet hat oder gestohlen oder betrogen, dann muß es dafür Rache geben. Deshalb wird bestraft. Nicht nur bedeutende Juristen sind dieser Meinung, auch die beiden wichtigsten Philosophen der bürgerlichen Gesellschaft, Kant und Hegel... Rachegefühle sind menschlich. Jeder hat sie bisweilen. Aber können sie in einer freiheitlichen Demokratie der Grund sein, täglich sechzig- bis siebzigtausend Menschen wie Hühner <unter Verschluß zu halten>?»23

 

22)  Hans-Heinrich Jeschek, Lehrbuch des Strafrechts, Berlin 1988, S. 57 
23)   Uwe Wesel, Fast alles, was Recht ist, Frankfurt am Main 1996, S. 214  

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Hinter der Bestrafung stehen jedenfalls nicht nur edle Motive, immer ist sie ein Unwerturteil über andere und damit ein Werturteil über sich selbst. Sprachliche Verwandtschaft deutet auf geistige: rechten, richten, rächen. Nur Pharisäer leugnen den «Übelcharakter» der Strafe. Was wollen die Herrschaften weismachen, das Strafe sei? Eine karitative Maßnahme? Eine läuternde Wohltat?

Die Theorie der Spezialprävention, der erzieherischen Einwirkung auf den Täter, hofft auf Resozialisierung. Doch die Rückfallquoten beweisen das Gegenteil. Unter den entwürdigenden Bedingungen des Eingeschlossenseins muß Erziehung genauso scheitern wie Sühne. «Durch Güte und Treue wird Missetat gesühnt», heißt es in den biblischen Sprüchen. Doch gerade diese beiden Vorzüge zu leben, verwehrt einem der Knast. Aus seiner langjährigen Erfahrung als Seelsorger im Strafvollzug kommt Hubertus Janssen zu dem Schluß: «Die Demokratisierung des Strafvollzugs in der Bundesrepublik ist in vielerlei Hinsicht gescheitert. Dazu hat nicht unerheblich die Mißachtung der Menschenrechte und Menschenwürde im Strafvollzug beigetragen. Es geht immer wieder um Repression und Vergeltung und nicht um Wiedereingliederung, Wiedergutmachung und <Menschwerdung>.»24 

Bleibt die Theorie der Generalprävention, also der Abschreckung. Die Angst vor Strafe soll abhalten, Untaten zu begehen. Doch auch hier belegen Kriminalstatistiken und moderne Forschung etwas anderes: Verbrechen werden unter Zwängen begangen, die viel stärker sind als die Angst vor Strafe. Demnach erweist sich auch «die Generalprävention als völlig unbewiesener Aberglaube ... Das bittere Ergebnis bleibt, daß wir eine zureichende Begründung für Strafe nicht haben. Das Strafrecht hat kein rationales Fundament.»25)

Wie schön, daß auch andere umstrittene Sätze schreiben. Aber selbst noch so verquere Pseudomoralisten mit ihrem Unfehlbarkeitsglauben an eine sakrosankte Justiz werden den rationalen Kern von Wesels Schlußfolgerung nicht widerlegen können: «Es zeigt sich, daß unser Strafrecht letztlich nichts anderes ist als Rache.»

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24)  Grundrechte-Report 1999, Reinbek 1999, S. 36 
25)  Uwe Wesel, ebenda S. 215 f  

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