Teil 2    Die Entdeckung des Traummachers     

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2  Der Traummacher erscheint

 

 

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Zunächst wollen wir Ihnen erzählen, wie wir dazu kamen, unsere Träume anders zu verstehen, zu erleben und zu nutzen. Es geschah nicht ganz plötzlich, aber wenn wir eine bestimmte Zeit nennen sollten, dann wäre es der Sommer 1973; damals erlebten wir erstmals erkennbare Durchbruchträume.

Sie werden zunächst Dominic begegnen, einem Psychologen und Kollegen im Center for Feeling-Therapy. Sie werden sehen, wie Dominic sich veränderte, als er dem Traummacher begegnete. In der Geschichte werden Sie auch Lee, Werner, Jerry, Steve und Carole — unsere anderen Freunde — treffen. Wenn wir von Riggs und Joe sprechen, dann sprechen wir von uns selbst (R.C. und J.H.). Wir alle zusammen entdeckten die Traummacher-Tradition wieder, und jeder von uns begegnete dem Traum­macher.

Wir werden Ihnen kurz unsere "Fallgeschichten" und einige der unserer Kollegen präsentieren, um das Wesen des Traummacher-Prozesses auf eine persönliche und hoffentlich verständliche Art und Weise klarzumachen. Wir sind keine distanzierten Profis; vielmehr sind wir persönlich in unsere Arbeit einbezogen — der Traummacher hat unser Leben verändert. 

Wenn Sie von unseren Erlebnissen und Veränderungen lesen und dann in Teil 3 und 4 einen genaueren Einblick in die Funktionsweise von Durchbruch­träumen bekommen, werden Sie, so hoffen wir, eine klare Vorstellung von solchen Träumen haben. Reine Theorie wäre den meisten Lesern ebenso zu wenig wie eine Reihe von Geschichten ohne Erklärungen. Aber beides zusammen kann Sie am besten mit der Traummacher-Tradition bekannt machen.

 

   Dominic — Der erste Durchbruch   

Los Angeles. Es ist spät. Nur wenige Leute sind noch auf der Straße: Prostituierte, müde Geschäfts­leute, Polizisten und Stadtstreicher. In den Häusern haben viele Leute das Licht angelassen und die Türen gut verriegelt, um nächtliche Eindringlinge fernzuhalten. Aber in dieser Nacht ist ein Eindringling anderer Art in Los Angeles — einer, den verschlossene Türen nicht draußen halten können, einer, den die Polizei nicht verfolgen kann. Und dieser Eindringling kommt zu einem Mann, der gerade schläft.

Dieser Mann ist Dominic. Er ist nicht mehr jung — aber noch nicht ganz in den mittleren Jahren. Er baut langsam etwas ab. All die falschen Versprechungen seiner Jugend schwinden dahin. Er hat es zu etwas gebracht in seinem Beruf. Er ist Teilhaber in einer erfolgreichen Klinik. Er ist ein guter Psychotherapeut. Aber in dieser Nacht hat Dominic böse Träume und schläft schlecht. Irgend etwas geschieht mit ihm, und er weiß nicht, was.  

In mancher Hinsicht wäre es besser für Dominic gewesen, wenn er einem gewöhnlichen Eindringling begegnet wäre. Den würde er mit der Zeit vergessen oder seine Versicherungsprämie für gestohlene Sachen kassieren. Aber es wird kein Vergessen und keine Versicherungsprämie geben, denn Dominic ist dabei, etwas zu erleben, das sein Leben verändern wird. Er nähert sich einem besonderen Traumerlebnis — einem Durchbruchtraum — das sich so sehr von anderen Träumen oder Wacherlebnissen unterscheidet, daß es ihn für den Rest seines Lebens erschüttern wird.

Kurz gesagt, man könnte Dominics kommende Traumerlebnisse als einen Durchbruch oder ein Aufbrechen in seiner Seele ansehen. Die Schranken zwischen seinem Unbewußten, das seine Gefühle, seine Energie und seine Kreativität beinhaltet, und seinem Bewußten, das er für die Kontrolle seines Lebens gebraucht, sind im Begriff, zu zerbrechen. Wenn das geschieht, gibt es einen Knacks, einen Durchbruch. Die ganze Kraft und Energie des Unbewußten wird freigesetzt und mit der Kontrolle und Entscheidungsfähigkeit des Bewußten verknüpft.

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Dominic lag in seinem Bett und spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Je mehr er sich dessen bewußt wurde, um so mehr Angst bekam er. Er träumte. Aber er war wach — oder etwa nicht? Er wußte es nicht. Traum oder Wachen. Kleine Schweißperlen bildeten sich in seinem Nacken und auf seiner Stirn. Die Atmosphäre um ihn herum war von Angst erfüllt. Mit jedem Atemzug verstärkte sich die Angst, schnürte sich seine Kehle immer stärker zu.

Etwas hatte ihn erschreckt. Er starrte in den dunklen Raum. Er glaubte, eine Gestalt ausmachen zu können. Die Haare auf seinen Armen und in seinem Nacken kribbelten. Da stand ein Mann oder irgendjemand in seinem Zimmer. Dominic beobachtete aufmerksam mit seinen träumenden Augen. Sein Körper war starr vor Angst, Er sagte sich, daß er träumte. Er versuchte, sich zu bewegen, konnte es aber nicht. Er versuchte, seine Augen zu schließen — er konnte es nicht.

Die Gestalt bewegte sich. Der Mann nickte ihm zu und winkte Dominic heran. Dominic glaubte, seine letzte Stunde hätte geschlagen. Er spürte sein Herz pochen. Diese fremde und unheilvolle Gestalt winkte oder bewegte sich. Dom wünschte, es würde noch jemand in dem Haus schlafen.

Was Dominic durchmachte, hatten schon andere vor ihm erlebt, aber sie hatten es vergessen oder versuchten es zumindest; sie lebten in der Tradition des Vergessens. Die Irokesen versuchten, nicht zu vergessen; sie lernten, Durchbruchträume zu nutzen und sie wirken zu lassen. Aber zu dieser Zeit wußte Dominic nicht, daß es eine Tradition gab, die ihm hätte helfen können, daß viele Leute vor ihm gelernt hatten, die Beziehung zwischen Nacht und Tag zu begreifen.

Dominic bekämpfte die Ohnmacht des Schlafes. Er zwang sich, zu schreien. "Hau ab! Verschwinde von hier!" Als er schrie, verblaßte der Traum. Er war in Sicherheit. Er merkte, daß es nur ein Traum gewesen war. Was er nicht merkte, war, daß dieser Traum erst der Anfang war.

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Dominic stand am Anfang; seine erste Nacht war nur eine Andeutung. Dominic wußte nicht, daß er im Begriff war, drei Tage und drei Nächte zu erleben, in denen er in die Welt des Traummachers hinabgezogen werden würde, ohne davor flüchten zu können. Dieses Traumerlebnis der ersten Nacht war kein Durchbruchtraum; solche sollten erst später kommen, und Dominic würde auch Hilfe brauchen, um seinen Durchbruchtraum zu finden. Es sollte schmerzhaft für ihn werden.

Dominic hatte den Traum verjagt. Als er aufwachte, saß er in einem wirren Durcheinander von Laken, Decken und Kissen. Er knipste das Licht an. Es war halb fünf. Seine Augen waren schwer und sein müder Körper verlangte mehr Schlaf. In dieser Nacht gab es keine schlechten Träume mehr.

Als der Wecker klingelte und ihm signalisierte, daß es Zeit war, aufzustehen, schlüpfte Dominic aus dem Bett und machte sich fertig, um zur Arbeit zu gehen. Er mußte in guter Verfassung sein. Er war Therapeut, ein sehr guter Therapeut, vielleicht einer der besten. Als Dominic sich rasierte und anzog, dachte er an die Arbeit des vor ihm liegenden Tages. Der Traum sollte wiederkommen — in kleinen Rückblenden. Der Kaffee kochte und Dominic versuchte, zu vergessen. Er erinnerte sich nicht daran, daß der Traummacher schon oft zu ihm gekommen war. Dieser Mann, diese Gestalt in seinen Träumen hatte ihn seit Jahren verfolgt. Sie waren sich nie begegnet, aber das sollte jetzt anders werden. Dominic näherte sich seiner ersten Begegnung mit dem Traummacher.

Nachdem er seinen Kaffee getrunken hatte, spielte Dominic mit dem Gedanken, sich helfen zu lassen. Er wohnte gleich neben Riggs, aber er konnte sich nicht entscheiden, rüberzugehen und mit ihm zu reden. Stattdessen fuhr er allein zur Arbeit und dachte über seine Träume nach und daran, Riggs um Hilfe zu bitten.

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Als er sich beim Fahren an die letzte Nacht erinnerte, fühlte er sich etwas ängstlich. Dominic kam zur Arbeit und hätte Riggs fast um Hilfe gebeten, aber er traute sich nicht. Er hatte das Gefühl, als würde ihm die Stimme in der Kehle steckenbleiben.

Der Traummacher beobachtete Dominic. Wie ein grausamer Zen-Meister kannte er kein Mitleid und verfolgte Dominic. Dominic stand kurz vor seinem Durchbruch. All die Jahre, in denen er seine Gefühle zugelassen und Hilfe von seinen Freunden bekommen hatte, hatten ihn auf den Traummacher vorbereitet; er brauchte nur noch ein paar wenige Schritte zu tun, und es würde geschehen. Aber diese Schritte, diese Worte — Dominic hatte Schwierigkeiten, sie herauszulassen. Er. war müde nach dem schlechten Schlaf der letzten Nacht.

Die anderen Therapeuten hatten schon angefangen, als Dominic in seinen Raum ging, um mit seiner Patientin zu arbeiten. Er arbeitete etwas mehr als zwei Stunden. Es war eine sehr gute Sitzung. Die junge Frau, die bei ihm war, hatte sich nicht zurückgehalten und intensive Gefühle ausgedrückt. Als er Schluß machte, waren die meisten anderen Therapeuten schon gegangen. Dominic suchte Riggs. "Ich weiß, er ist es — er kann mir helfen." Leise sagte Dominic: "Riggs, hilf mir." Er hörte Riggs allradangetriebenen Wagen starten. Er klang wie ein Rennwagen.

Riggs saß still in seinem Wagen. "Irgendetwas stimmt nicht," dachte er. Er wußte es — er konnte es spüren, aber er wußte nicht, was es war. Als er den Wagen zurücksetzte, sah er Dominic aus dem Gebäude kommen. Er fuhr nach Hause.

Dominic wollte ihm nachlaufen, aber er tat es nicht. Er hatte Angst und wollte Hilfe, aber er traute sich nicht, darum zu bitten. Vielleicht würde er mehr Hilfe bekommen, als er wollte. Als Dominic nach Hause fuhr, ließ seine Aufmerksamkeit nach. Das Autofahren fiel ihm schwer, der Traummacher wartete nicht auf den Schlaf. Dominic fühlte sich krank und müde, aber er riß sich zusammen und fuhr in die Stadt. Dort hatte er zwei Verabredungen: eine mit dem Rechtsanwalt des Centers und eine mit dem Buchhalter.

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Schließlich kam er gegen halb sieben nach Hause, blieb aber für eine Weile im Wagen sitzen. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er sich so schlecht gefühlt. Er brauchte jetzt Hilfe. Er fühlte sich wie betäubt, und ein paar Tränen liefen ihm übers Gesicht.

Riggs Arbeitszimmer zu Hause liegt zur Straße hin: Er sah Dominic vorfahren, und das Gefühl, daß etwas nicht stimmte, war wieder da. Er sah Dominic dort sitzen. Dominic war verwundert, als er Riggs' Stimme hörte: "Bist du okay, Dom?" "Riggs, hilf mir. Ich weiß nicht, was los ist. Irgendwas Furchtbares geschieht mit mir."

Riggs zögerte nicht. Er stieg in Dominics Wagen und fuhr mit ihm zum Center, wo sie gegen sieben Uhr ankamen. Riggs führte Dominic in einen der schall isolierten Therapieräume und sagte ihm, er solle sich hinlegen.

Dominic schaute hinauf in das gedämpfte Licht. Er wußte nicht recht, ob er träumte oder wach war. Dominic war irgendwo auf halbem Wege zwischen Bewußtem und Unbewußtem; entweder er würde aufwachen, sich seiner Gefühle bewußt werden, oder sein Bewußtsein würde noch mehr verschwimmen. Riggs wußte aus seiner jahrelangen Erfahrung als Therapeut, daß etwas passieren mußte, was Dominics Bewußtsein in Bewegung brachte. Aber die Richtung war noch nicht klar, alles was er tun konnte war, Dom daran zu erinnern, daß er nicht allein war.

Ab und zu drang Riggs' Stimme zu Dominic durch. Wenn sie den Trancezustand unterbrach, kam sie Dominic fast unerträglich vor.

Die Zeit hatte sich irgendwie verlangsamt und schien gegen ihn zu arbeiten. Er wünschte, die Sitzung wäre vorüber, aber diese Sitzung sollte länger dauern. "Mein Gott; ich weiß, sie wird nicht früh genug zu Ende sein." Dominic verspürte eine Übelkeit in seiner Magengegend.

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Riggs saß da und beobachtete ihn, stand dann auf und ging in dem großen Therapieraum auf und ab. Riggs kannte Dominic seit zehn Jahren, aber in diesem Moment war es, als hätten sie sich nie zuvor gesehen; Dominic erschien ihm wie ein Fremder. Dom konnte sich kaum erinnern, was ihn veranlaßt hatte, um Hilfe zu bitten, wieder Patient zu werden. Die Gedanken verschwanden, und er kam zurück in die Realität. Er lag auf dem Boden und redete über einen Traum. Dominic sah Riggs an, der groß und machtvoll erschien, wie er so umherging.

"Was wollte dir der Traum zeigen, Dominic?"
"Nichts, ich weiß nicht."

Dominic fühlte sich verwirrt. Je mehr Fragen er gestellt bekam, um so weniger wußte er.

 

Riggs wartete auf Antworten in dem halbdunklen Raum. Er konnte sehen, wie Dominic versuchte, vor dem Traum zu fliehen, und ihm war klar, daß er warten mußte. Währenddessen erinnerte sich Riggs an einen eigenen Traum.

"Ich blickte um mich herum. Ich dachte, ich wäre wach. Ich sah viele Menschen, die an einem Schmerz litten — an einem furchtbaren und quälenden Schmerz. Ich fragte laut: "Was wollt ihr von mir?" Ich bekam keine Antwort. Ich fing an zu weinen. Der Schmerz, den ich miterlebte, schien mein Herz zu brechen. Ich konnte nicht aufhören, zu weinen."  

Er dachte an diesen alten Traum .und an die Veränderungen; die er bewirkt hatte, und seitdem sah er die Menschen mit anderen Augen; er war ihnen und sich selber gegenüber nicht mehr ganz so hart. Riggs wußte es damals noch nicht, aber jener Traum war mehr als ein Traum. Er war etwas Besonderes — der Beginn seines Durchbruchs.

Riggs wußte nicht genau, was er mit Dominic tun sollte. Er hatte zwei Wegweiser — seinen eigenen Traum und seine Gefühle zu Dom. Sie waren gute, enge Freunde.

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Dominic fühlte sich schrecklich. Die Zeit wollte nicht vergehen. "Wie lange dauert eine Sitzung?" Heute schien sie ewig zu dauern. Riggs ließ nicht locker. Dominic sah ihn auf die Uhr gucken und fragte sich, ob er nicht endlich müde würde, vielleicht müde genug, um aufzuhören. "Dominic, wir werden noch bleiben. Ich möchte, daß du den Traum wiederfindest, damit du fühlen kannst, was hinter all diesen erschreckenden Bildern steckt." Dominic versuchte, sich an den Traum zu erinnern. Er versuchte, nachzudenken. Da war etwas, an das er sich nicht erinnern konnte.

Riggs hatte schon seit mehreren Wochen Anzeichen bemerkt, daß etwas mit Dom geschah — vage, unauffällige Warnungen. Dom-bemuhte sich wirklich, wie jeder von der Belegschaft unserer Klinik. "Sich wirklich bemühen." Im Wachen hört sich das gut an, ein gutes Thema für eine Diskussion, aber nachts — in der Welt des Schlafs und der Träume — bedeutet "sich bemühen" nicht sehr viel.

Manchmal war Dominic eine Zeitlang "daneben", nicht ganz er selbst — aber sowas ist normal. "Normal", auch ein hübsches Wort im Wachen. Aber in der Dunkelheit der Nacht, im tiefen Schlaf, zählt "normal" nicht viel.

Riggs bedauerte jetzt, daß er nicht eher eingegriffen hatte. Sie hatten abends um sieben Uhr mit der Sitzung angefangen, jetzt war es halb elf Riggs sagte: "Dom, wenn du dich nicht erinnern kannst, wie du dich in dem Traum gefühlt hast, werde ich mit dir hierbleiben, bis du einen anderen Traum hast."

Dann ging Riggs raus in den Aufenthaltsraum und holte sich eine Tasse Kaffee. Als er wiederkam, brachte er eine Decke und ein Kissen mit und sagte: "Mach es dir bequem, wir bleiben." Gegen halb eins schlief Dominic unruhig ein. Riggs saß in der Ecke und las ein paar wissenschaftliche Artikel unter einer schwachen Lampe.

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Der Traummacher kommt selten offen und direkt zu jemandem; stattdessen mischt er sich unter Traumbruch­stücke und Tagesgedanken, die nicht verschwinden. 

Dominic hatte solche Gedanken und Träume seit Jahren. In mancher Hinsicht war seine Seele voller Zeichen und Wegweiser, so als seien sie instinktiv für den Traummacher hinterlassen worden.

Dominic hatte schließlich einen angenehmen Traum. Durch Riggs' Anwesenheit fühlte er sich sicherer. Der Traummacher folgte dem Traum. In Wirklichkeit hatte er ihn gemacht, denn er wußte, Dominic würde ihn nicht unterbrechen. Dominic würde diesen Traum genießen. Er würde sich etwas mehr als üblich gehen lassen und näher an den unzensierten Bereich des Traummachers herantreiben.

"Ich träumte, daß ich die Straße hinunterging. Ich hatte das Gefühl, als sähe ich viele Dinge zum erstenmal. Die Bäume waren strahlend grün. Die Sonne schien. Je weiter ich ging, um so besser fühlte ich mich. Mein Körper fühlte sich lebendig an und war voller Freude. Dann wurde alles noch heller. Ich ging und sah Dinge, die ich nie zuvor gesehen hatte."

Während Dominic sich mit dem angenehmen Traum treiben Ließ, spürte er, daß etwas nicht stimmte. Der Traum änderte sich. Die Gefühle in seinem Körper waren zu stark; er konnte sie nicht kontrollieren.

"Ich versuchte, meine Augen zu bedecken. Alles war zu hell. Irgend etwas geschah hinter der Helligkeit. Ich konnte nicht sehen, was es war. Ich versuchte, mich umzudrehen. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich war zu weit gegangen. Ich hatte das Gefühl, als stünde ich am Rande einer schrecklichen Erkenntnis. Ich wollte nicht wissen, was es war. Ich fühlte mich furchtbar - als ob etwas mich in der Gewalt hätte und mich irgendwo hinbrachte. Ich wollte da nicht hin. Ich hatte das Gefühl, als würde ich meinen Verstand verlieren. Irgend etwas zog mich näher heran."

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Riggs war ein geschulter Psychologe. Er beobachtete Dominic, während dieser schlief, und bemerkte, daß Doms Atmung sich plötzlich änderte und schneller wurde. Riggs wußte, daß Dominic träumte. Abrupt setzte sich Dom auf. Er sah erschreckt aus; Schweiß stand ihm auf der Stirn und im Nacken.

"Was ist?", fragte Riggs.
"Ich weiß nicht — ein Traum, ein schrecklicher Traum."
"Rede weiter, Dom."
"Riggs, ich habe Angst — als ob ich am Rande eines Abgrunds stünde. Ich habe Angst, hinüberzusehen, aber was noch viel schlimmer ist — ich habe das Gefühl, jemand versucht, mich hinüberzustoßen. Ich möchte es nur loswerden, es vergessen."

 

Wie Millionen von anderen Menschen, die in dieser Nacht schliefen und träumten, versuchte Dominic zu vergessen. Aber Riggs ließ das nicht zu. Der Traummacher und Riggs hatten ihn schließlich weit genug in die Tiefe geführt — zu weit, als daß er vergessen könnte. Riggs sagte zu ihm: "Du wirst an dieser Schwelle bleiben, bis du hinübergehst, und das wird bald sein. Laß uns jetzt erstmal nach Hause gehen."

Als er am nächsten Morgen aus dem Bett kroch, war Dominic unzufrieden, durcheinander und niederge­schlagen. Er hatte zwei lange Nächte hinter sich. Als er sich wusch, sah er in den Spiegel und führte Selbstgespräche. Er war Therapeut und wußte, wie er sich selber helfen konnte, aber diese Selbsthilfe schien an diesem Morgen nicht zu wirken. 

Als er die zweite Tasse Kaffee geleert hatte, fragte er sich, ob er nicht vielleicht zu übereilt das Rauchen aufgegeben hatte.

Er ging zur Arbeit mit dem Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte. Er dachte, daß er vielleicht zuviel Therapie bekommen hatte, vielleicht mehr, als er verkraften konnte. Dominic fühlte sich, als ob ein Krieg in seinem Kopf stattfände. Er riß sich zusammen, trank im Büro noch eine Tasse Kaffee und traf sich dann mit seinem Patienten.

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Später sollten wir begreifen, daß Träume sekundär sind; erst kommt der Traummacher, denn er gestaltet Träume aus dem, was in jedem Menschen verborgen ist, um ihn zur Bewußtwerdung zu drängen. Jemand, der zum Bewußtsein erwacht, wird ein Traummacher. Dominics Träume waren erst ein Teil von dem, was er erleben mußte, um dorthin zu gelangen. Sein zweiter Traum war kein gewöhnlicher Traum. Er war eher eine Aussage über sein Leben und förderte direkte Gefühle über das, was in ihm vorging, zutage.

Der Traummacher ist direkt und schonungslos wahrheitsliebend. In seiner Welt gibt es kein "Ja, bitte" oder "Ich glaube nicht". Da gibt es Stöße und Schläge in den Bauch, die sagen: "Wach auf! Da ist mehr für dich als deine albernen Wach- und Schlafphantasien." Der Traummacher ist nicht zivilisiert. Er ist Leben und Tod — nicht weniger. Es war die Zeit für Dominic, ein Traummacher zu werden — eine Zeit des Schreckens und der Intensität.

In der folgenden Nacht war Riggs wach, las und dachte nach. Auf seinem Schreibtisch lagen alle seine Bücher über Indianer und Träumer aus vergangenen Zeiten. Soweit er das beurteilen konnte, schienen sie dem, was mit Dominic geschah, am nächsten zu kommen. Es schien, als ob Dominic anfing, das zu erleben, was die Indianer und andere Naturvölker als einen Weg der Selbsthilfe entdeckt hatten. 

"Mein Gott, ich glaube, ich muß mich dabei auf meinen Instinkt verlassen", dachte Riggs. Riggs machte sich Sorgen wegen Dom. Er wußte nicht genau, was zu tun war, außer, Dominic am Vergessen zu hindern. Wichtig schien, ihn daran zu erinnern, seinen Träumen Beachtung zu schenken.

Als Dominic ins Bett ging, schaltete er den Fernseher ein, sah sich wahllos das Programm an und wartete auf den Schlaf.

Viele sind auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem, aber nur wenige sind bereit, dabei auch Unannehm­lich­keiten in Kauf zu nehmen. Dominic war es nicht; er hatte angefangen, die mächtigste Kraft in seinem Körper zu bekämpfen, und er tat dies, indem er versuchte, nicht zu beachten, wie er sich fühlte.

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Während er kämpfte, wurde er in einen anderen Bereich hineingezogen. Dominics Kampf konnte den Traummacher nicht zurückhalten. Die neuen Träume, die er geschaffen hatte, sollten nicht im Verborgenen bleiben.

Als Dom sich für die Nacht fertig gemacht hatte und zu schlafen versuchte, war der Traummacher da. Dom fühlte sich nicht ganz wohl; er dachte, er müsse wohl zu viel gegessen haben. Ihm war heiß und schlecht, aber er konnte sich nicht übergeben. Er ging zurück ins Bett und schaltete die Fernsehprogramme durch. Wie üblich war da nichts. Ein paar Talkshows, wo übers Reden geredet wurde. "Was für ein dummer Schwachsinn", dachte er.

In dem Moment sah er nicht, daß viele Sachen, die er tat, dumm waren — natürlich professionell dumm. Er ließ zu, daß er Dinge sagte und tat, die sich nicht ganz richtig anfühlten. Für andere sah er okay aus. Sehr okay. Niemand fühlte sich unbehaglich, wenn er einen Raum betrat. Er war gut, besser als die meisten, aber nicht der beste Dominic, und es war bestimmt nicht das Beste für Dominic. Es steckte mehr in ihm, er wußte es, aber dieses Wissen ließ er sich ebenso entgleiten wie seine Träume.

Um Viertel vor eins schaltete Dominic den Fernseher aus; er war müde und schlief ein. Sein Körper ließ sich fallen und gab sich dem Schlaf hin, bereit, die Kontrolle aufzugeben. In dieser Nacht erschien der Traummacher zunächst in unzusammenhängenden Traumbruchstücken, vermischt mit anderen Träumen. Er hatte schon viereinhalb Stunden geschlafen, als der Traummacher sich seinen Weg durch die Abwehrmechanismen suchte. Jetzt, schlafend und tief entspannt, war Dom nicht mehr durcheinander. Der Traummacher schuf einen Traum, und zwar den gleichen wie die Nacht zuvor, aber diesmal zog er Dominic weiter in eine neue Welt und zerstörte einen weiteren Teil seiner "Normalität".

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"Ich ging die Straße hinunter. Alles war schön. Ich sah mir die Bäume an. Die Blätter waren tiefgrün. Und dann merkte ich, daß dies der gleiche Traum war wie die Nacht zuvor. Ich wollte wegrennen. Der Rückweg wurde immer heller. Wo ich auch hinsah, überall war eine wundervolle und schreckliche Helligkeit. Ich wußte, ich mußte da weg. Ich spürte mein Herz pochen. Ich hatte das Gefühl, verwandelt zu werden. Ich wollte das nicht. Ich hatte Angst, daß, ich in jemand verwandelt werden würde, der ich gär nicht war. Ich rannte los. Je mehr ich rannte, um so deutlicher erkannte ich, das irgend etwas mich jagte, jemand oder etwas, wovor ich Angst hatte. Etwas, das mir was antun konnte."  

Allein und mitten in der Nacht tat Dominic, was jeder von uns tun würde — sich wehren. Er wehrte sich gegen die Ohnmacht und den Kontrollverlust des Schlafes. Er wehrte sich, um sich sagen zu können, daß dies "nur ein Traum" war, um sich von allen seinen Empfindungen und Gefühlen distanzieren und sie als Alptraum bezeichnen zu können. Er wollte nicht erfahren, was er im Grunde schon wußte.

 

Als Dominic aufwachte, versuchte er, dem Geschehen einen Sinn zu geben. Er fühlte sich durcheinander und tastete nach dem Lichtschalter; er schien gar nicht richtig wach zu werden. Schließlich stand er auf und ging in die Küche, um etwas Tee zu machen. Als er den Wasserkessel aufsetzte, fragte er sich: "Was ist los mit mir? Was habe ich nicht gesagt oder getan? Er ging auf und ab. Sein Verstand versuchte, den Traum unschädlich zu machen. Der Traummacher würde warten, genauso wie er Hunderte von Jahren auf Millionen von Menschen gewartet hatte. Für diese Nacht hatte er seine Arbeit getan. Dominic war wach und sollte nicht wieder einschlafen.

 

Mitten in der Nacht ist eine gute Zeit, um über sein Leben nachzudenken — was es bedeutet, wie man es lebt. Genau das tat Dominic. Er dachte nach und kam immer wieder auf den Traum zurück — als wenn man immer wieder an einer juckenden Wunde kratzt; er brachte den Traum in sein Wachen. Ohne es zu wissen, hatte er angefangen, wie ein Traummacher zu denken.

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Die meisten Menschen glauben, es stecke etwas Besonderes in ihnen, irgend etwas, was tief in ihnen verborgen ist. Manchmal verhalten sie sich besonders schlecht, manche besonders gut, manche so, daß es besonders gut aussieht, manche wiederum besonders klug. Das sind nur Bilder. Der Traummacher zerstört Bilder. Er bringt die Menschen in die Nähe der Erkenntnis, was wirklich in ihnen ist.

Dominic trank langsam seinen Tee mit Honig; er hatte viel Zeit. Der Morgen und die Betriebsamkeit der Arbeit schienen in weiter Ferne. Er saß in der Küche und dachte an seine Träume. Drei Nächte nacheinander waren sie oder war es dagewesen, und noch immer war keine Erklärung in Sicht.

Gegen fünf Uhr machte er einen kleinen Spaziergang. Bis zum Einsetzen der Hektik in der Stadt war es noch über eine Stunde. Zum erstenmal seit langer Zeit fühlte Dominic sich anders. Er war nicht in Eile. Langsam zog die Morgendämmerung herauf, und es wurde heller. Er fühlte sich sicherer angesichts des beginnenden Tages.

Dominic ging über eineinhalb Stunden spazieren. Er hatte seine leere Teetasse dabei. Als Dominic zur Klinik kam, sah sein Gesicht etwas müde und abgespannt aus. Er trank keinen Kaffee. Er dachte, daß vielleicht, nur vielleicht, Kaffee seinen Schlaf stören könnte.

Den ganzen Tag über wurde er von den Gefühlen aus dem Traum belästigt. Alles, was man ihm sagte, erschien ihm zu laut und zu schroff. Die Welt erschien ihm grau und düster. Nicht mal im Wachen konnte er den Traum abschütteln.

Dominic fühlte sich wie betäubt. Man kann leicht Leute erkennen, die ihr Erwachen verpaßt haben, sie sehen stumpf, zerschlagen und vorzeitig gealtert aus. Sie können zwar reden und lachen, Dinge tun, mit dem Leben zurechtkommen, aber irgend etwas fehlt. Sie wissen es, aber sie wissen nicht, wo sie es verloren haben.

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Die ersten Begegnungen als Erwachsener mit dem Traummacher sind wie Alpträume, ja sogar noch schlimmer. Der Träumer wird überwältigt von Körperempfindungen. Sie lassen ihn seinen Traum spüren — den Zustand seines Lebens. Wenn man sich dem Traum stellt, ihn fühlt und durchlebt, verändert er sich, er wird freundlicher, zu einer Quelle tiefer Befriedigung und Einsicht.

Aber soweit war Dominic noch nicht, er stand erst am Anfang. Die Grausamkeit des Kampfes war entkräftend. Er kämpfte um das, was er für seine geistige Gesundheit hielt, was aber in Wirklichkeit seine Verrücktheit war — eine vernünftige Verrücktheit, die dafür sorgen würde, daß er sich bis zu seinem Tode nicht ändern würde. Die Krise war offensichtlich — im Rückblick. Entweder, er würde den Dingen freien Lauf lassen und dem Traum gestatten, daß er ihn veränderte, oder er würde zu einem Stillstand, einem Endpunkt, in eine lebenslange Sackgasse kommen.

An dem Nachmittag kam Dominic gegen vier Uhr nach Hause und spielte etwas Basketball, fühlte sich dabei aber ungeschickt und unkoordiniert. Er war mit sich selber sehr ungehalten und nannte sich einen Spastiker. Später nahm er ein langes, heißes Bad und machte sich fertig für ein Essen mit seiner Freundin Linda. Während des Essens war er geistesabwesend und schlecht gelaunt. Er redete mit Linda, fing aber wegen einer unbedeutenden Sache an zu streiten. Und wie nach einem durchdachten Drehbuch sollte Dom alleine bleiben.

Als er nach Hause kam, ging er rüber zu Riggs. "Ich fühl' mich nicht besonders gut, Riggs."

"Ich glaub dir nicht, Dom. Ich denke, du fühlst dich einfach nur anders, und du weißt nichts damit anzufangen. Laß zu, daß deine Gefühle dich ändern. Ich glaube, du bist nahe an einer wichtigen Sache, ich weiß nicht, was es ist, aber ich habe die Ahnung, wir werden es bald heraus­finden."

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Dominic dachte darüber nach, was Riggs, sein Kollege, dem er vertraute, gesagt hatte: "Mach dir keine Sorgen, Dominic. Ich werde hier sein, um dir zu helfen. Da ist etwas Gutes im Gange." Er wußte nur, daß er müde war und ging gleich ins Bett, stand aber bald wieder auf und legte vier seiner Lieblingsschall­platten auf. Er wußte, das würde es bringen. "Schlaf — himmlischer Schlaf."

Dominic war zu weit gegangenen seinem Leben auf der Suche nach diesem besonderen Etwas. Und jetzt sollte er erkennen, daß er die Welt des Traummachers betreten hatte, eine Welt, die er nie wieder verlassen sollte. Er war wieder einmal in dieser Helligkeit.

 

Ich sah um mich herum — da war nichts Vertrautes, außer dieser schmerzhaften Helligkeit. Ich fühlte mich ekstatisch und hatte große Angst. Es war so hell, daß ich nichts sehen konnte. Meine Augen taten so weh, daß sie anfingen, zu tränen. Tränen liefen mir übers Gesicht. Ich fühlte mich, als sei ich in einer Welt der Traurigkeit. Meine Augen waren geschlossen und ich sah mich. Viele verschiedene Bilder von mir. Ich sah alle meine Rollen und Spiele, die ich spielte. Ich weinte immer mehr. Ich hatte das Gefühl, als sei ich endlich dort angekommen, wohin ich mein Leben lang gewollt hatte. Ich fühlte mich zu Hause in mir. Ich weinte hemmungslos. Ich wußte, ich wurde nie wieder derselbe sein. Ich wußte, wovor ich mein Leben lang davongerannt war - vor mir selbst. Je mehr ich weinte, um so glücklicher wurde ich. Ich weinte und lachte. Ich lachte lauter und lauter. Je lauter ich lachte, um so mehr spürte ich, wie sich meine Brust entspannte. Alles schien mir vertraut. Meine Freunde standen um mich herum. Ich öffnete meine Arme und rief: Wirklichkeit. Ich habe die Wirklichkeit gefunden. Wirklichkeit, willkommen in der Wirklichkeit.  

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Schließlich hatte Dominic einen vollständigen Durchbruchtraum erlebt. Sein Bewußtsein hatte sich in der Nacht so sehr verändert, daß er nicht in der Lage sein würde, sich im Wachen mit weniger zu begnügen. 

Damals wußten wir es noch nicht, aber er war dabei, uns alle in die Traummacher-Tradition hineinzuziehen.

 

ÜBERPRÜFEN SIE SICH SELBST: 

In Teil III werden wir Ihnen beibringen, wie Sie Ihre eigenen Durchbruchträume erlangen können. Fangen Sie jetzt an, sich vorzubereiten, indem Sie Ihre eigene Lebenssituation mit der von Dominic vergleichen. Stellen Sie sich folgende Fragen; wenn Sie drei der fünf Fragen mit ja beantworten können, sind Sie bereit, Durchbruchträume zu erleben:

1. Reden Sie mit Ihren Freunden darüber, wie Sie sich fühlen?  
2. Können Sie Ihren Freunden zeigen, wie Sie sich fühlen?  
3. Nehmen Sie manchmal Ratschläge von Ihren Freunden entgegen?  
4. Geben Sie Ihren Freunden Ratschläge?  
5. Reden Sie mit Freunden über Ihre Träume?  

 

Das Erwachen, das Dominic erlebte — der Durchbruchtraum und das Traummacher-Bewußtsein — war anderen Völkern zu anderen Zeiten bereits bekannt. Zum Beispiel hatten die Senoi, ein Stamm in Malaysia, mindesten 350 Jahre zuvor etwas Ähnliches entdeckt. Sie praktizierten die Traummacher-Tradition, verloren sie und erlangten sie zurück.

Jahrelang waren sie als "das Traumvolk" bekannt gewesen und wurden sogar von den wildesten Stämmen in ihrem Gebiet gefürchtet wegen ihrer "Besonderheit", ihrer "Kraft". Sie waren gewaltlos; es gab keine Geisteskrankheiten in ihrer Gesellschaft und keine Kriminalität.

Sie kultivierten die Welt der Träume. In ihren Träumen sähen sie den Ängsten vom Tage ins Gesicht. Für sie waren Träume ein natürliches Heilmittel geworden; ihre Träume heilten die Schmerzen, die das Heranwachsen mit sich bringt, und die Furcht vor den Tigern des Dschungels.

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Dann wurde ihr Land und ihre Traumkultur durch den zweiten Weltkrieg zerrissen. Verschiedene Armeen versuchten, diese dschungelerfahrenen Leute als Soldaten und Führer für sich zu gewinnen. Die Senoi glaubten nicht ihren Warten, aber die Gewehre, die Armbanduhren und der Schmuck faszinierten sie. Sie veränderten sich und schenkten ihrer Traumkultur keine Beachtung mehr. Einst waren sie furchtlose Krieger in ihren Träumen, und jetzt wurden sie zu ängstlichen Kindern. Einst hatten sie gelernt, in ihren Träumen bewußt zu sein und auf Trauer und Glücksgefühle zu reagieren, aber jetzt hatten sie nur noch farblose und verworrene Träume. Sie waren nicht mehr "das Traumvolk".

 

Nicht alle verloren die Traummacher-Tradition. Baleh war ein "Halak", ein Schamane, ein "Tohat", ein Kenner der Träume. Baleh hörte nicht auf das Ticken der Armbanduhren. Er sah, wie sein Volk seine Lebensweise verlor.

Es war gegen Ende des ersten Kriegssommers. Baleh wollte, daß sein Volk den Weg der Träume wiederfand. Er suchte einen Traum, der ihm helfen sollte. Schließlich kam der Traum und erzählte ihm von einem Ort weit weg vom Krieg und von den Lügen. Er hatte die Antwort gefunden.

Aber sein Volk hörte nicht auf ihn. Baleh war verzweifelt. Sein Kopf sagte ihm, daß es keinen Zweck hatte. Das Beste wäre, er ginge auch mit den Engländern. Aber sein Herz sprach nur von dem "Großen Traum", sein Volk zu retten. Er schlief den' ganzen Nachmittag lang. Der Traum kam wieder, aber diesmal zeigte ihm der Traummacher einen neuen Tanz für sein Volk: den Tanz des Krieges und den Tanz der Senoi.

Baleh wachte erst auf, als die Abendtrommeln zu hören waren. Er stand auf und ging zu seinem Volk. Er begann, von seinem Traum zu singen und zu tanzen. Als er tanzte, weinte er. Er erzählte die Geschichte, wie sein Volk und dessen Lebensweise starb. Die Leute hörten ihm zu. Langsam fingen sie an, mitzumachen. Jeder neue Tänzer erlaubte sich, die Tränen des "Großen Traumes" zu weinen.

Viele, aber nicht alle, hörten den Traum oder wollten ihn hören. Baleh führte die Zuhörer fort in den tiefsten Dschungel. Es gab keinen besonderen Ort — das Besondere war das Fortgehen an sich. Baleh und sein Volk erlangten ihre Traumkultur zurück. Sie waren wieder "das Traumvolk" Wieder einmal überlebte die Traummacher-Tradition durch die Träume eines Einzelnen.  

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