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Erinnern wir uns an einige historische Tatsachen.

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In den Tagen vor der Oktoberrevolution traten zwei Mitglieder des ZK der bolschewistischen Partei — Kamenew und Sinowjew — gegen den Leninschen Plan des bewaffneten Aufstands auf.

Mehr noch, am 18. Oktober veröffentlichten sie in der menschewistischen Zeitung »Nowaja Shisn« eine Erklärung über die Vorbereitung des Aufstands durch die Bolschewiki sowie darüber, daß sie den Aufstand als abenteuerlich ansahen.

Damit enthüllten Kamenew und Sinowjew den Feinden den Beschluß des ZK zur Frage des Aufstands, seiner Organisierung in allernächster Zeit.

Das war Verrat an der Sache der Partei, an der Sache der Revolution. W. I. Lenin schrieb im Zusammenhang damit:

»Kamenew und Sinowjew haben an Rodsjanko und Kerenski den Beschluß des ZK ihrer Partei über den bewaffneten Aufstand ... verraten.«17

Er unterbreitete dem ZK die Frage des Ausschlusses von Sinowjew und Kamenew aus der Partei. 

Bekanntlich wurden jedoch Sinowjew und Kamenew nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in führenden Positionen eingesetzt. Lenin bezog sie in die Ausführung der verantwortungsvollsten Aufträge der Partei ein, in die aktive Arbeit der Führungsorgane von Partei und Sowjetstaat. Es ist bekannt, daß Sinowjew und Kamenew zu Lebzeiten Lenins nicht wenig andere ernste Fehler begingen.

In seinem »Testament« warnte Lenin, »daß die Episode mit Sinowjew und Kamenew im Oktober natürlich kein Zufall war«.18

Doch Lenin stellte weder die Frage ihrer Verhaftung noch gar die ihrer Erschießung.

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Oder nehmen wir das Beispiel der Trotzkisten.  

Gegenwärtig, da ein ausreichend langer historischer Abschnitt verstrichen ist, können wir über den Kampf gegen die Trotzkisten vollkommen ruhig sprechen und diese Angelegenheit mit ausreichender Objektivität analysieren. Schließlich befanden sich in Trotzkis Umgebung Menschen, die keineswegs aus einem bürgerlichen Milieu stammten. Ein Teil von ihnen gehörte zur Parteiintelligenz, und ein gewisser Teil rekrutierte sich aus der Arbeiterschaft. 

Man könnte viele anführen, die sich seinerzeit den Trotzkisten angeschlossen hatten, doch dieselben Menschen hatten vor der Revolution aktiv an der Arbeiterbewegung teilgenommen und sich an der Revolution selbst beteiligt wie gleichfalls an der Festigung der Errungenschaften dieser größten Revolution. Viele von ihnen brachen mit dem Trotzkismus und gingen auf leninistische Positionen über. Bestand denn die Notwendigkeit der physischen Vernichtung dieser Menschen? Wir sind zutiefst überzeugt, hätte Lenin gelebt, wäre ein so extremes Mittel gegenüber vielen von ihnen nicht angewandt worden.

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So sehen nur einige historische Fakten aus.

Und kann man sagen, daß Lenin sich nicht entschieden hätte, gegenüber Feinden der Revolution die strengsten Schritte zu unternehmen, wenn es tatsächlich erforderlich war? Nein, das kann niemand behaupten. Wladimir Iljitsch verlangte die rücksichtslose Abrechnung mit Feinden der Revolution und der Arbeiterklasse, und wenn es erforderlich war, wandte er solche Mittel auch schonungslos an. Erinnern Sie sich beispielsweise an den Kampf W. I. Lenins gegen die sozialrevolutionären Organisatoren der antisowjetischen Erhebungen, gegen das konterrevolutionäre Kulakentum im Jahre 1918 und anderes, als Lenin ohne Schwankungen die entschiedensten Mittel gegenüber den Feinden anwandte. Doch Lenin griff zu solchen Mitteln gegenüber wirklichen Klassenfeinden, nicht aber jenen gegenüber, die sich irren, fehlgehen, die man durch ideologische Beeinflussung wieder in die Partei einreihen und sogar in der Führung behalten kann.

Lenin benutzte scharfe Mittel in den allernotwendigsten Fällen, als Ausbeuterklassen existierten, die einen wütenden Widerstand gegen die Revolution leisteten, als der Kampf »Wer — wen?« unvermeidlich die schärfsten Formen, einschließlich des Bürgerkrieges, annahm. Stalin allerdings wandte extremste Mittel, Massenrepressalien noch dann an, als die Revolution gesiegt, der Sowjetstaat sich gefestigt hatte, als die Ausbeuterklassen bereits liquidiert worden waren und sozialistische Verhältnisse sich in allen Bereichen der Volkswirtschaft vertieft hatten, als unsere Partei politisch an Stärke gewonnen und sich sowohl quantitativ als auch ideologisch gestählt hatte. 

Es ist klar, daß Stalin hier in einer ganzen Reihe von Fällen Intoleranz, Brutalität, Machtmißbrauch an den Tag legte. Anstatt zu beweisen, daß er politisch recht hatte und die Massen zu mobilisieren, beschritt er oft den Weg der Repression und der physischen Vernichtung nicht nur gegenüber tatsächlichen Feinden, sondern auch gegenüber Menschen, die keine Verbrechen gegen die Partei und die Sowjetmacht begangen hatten. Das war kein Zeichen von Klugheit, sondern nur die Demonstration brutaler Stärke, was gerade Lenin so beunruhigte.

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Das Zentralkomitee der Partei hat kürzlich, nach der Entlarvung der Berija-Bande19, eine Reihe von Fällen erörtert, die diese Bande fabriziert hat. Enthüllt wurde dabei ein sehr schmutziges Bild brutaler Willkür, das mit dem ungerechtfertigten Vorgehen Stalins verbunden war. Wie die Tatsachen belegen, erlaubte sich Stalin — unter Ausnutzung seiner unbeschränkten Macht — viele Mißbräuche, wobei er im Namen des ZK agierte und die Mitglieder des ZK wie sogar auch die Mitglieder des Politbüros nicht um ihre Meinung fragte, häufig sie nicht einmal über seine individuell getroffenen Beschlüsse in äußerst wichtigen Partei- und Staatsangelegenheiten informierte.

Bei der Erörterung der Frage des Personenkults müssen wir vor allem klären, welchen Schaden er den Interessen unserer Partei zugefügt hat.

Lenin unterstrich stets die Rolle und Bedeutung der Partei bei der Leitung des sozialistischen Staates der Arbeiter und Bauern, wobei er darin die Hauptbedingung für die erfolgreiche Errichtung des Sozialismus in unserem Land erblickte. Unter Hinweis auf die gewaltige Verantwortung der bolschewistischen Partei als der Regierungspartei des sowjetischen Staates appellierte Lenin, die Normen des Parteilebens auf das genaueste einzuhalten, die Prinzipien der Kollektivität bei der Leitung der Partei und des Landes zu verwirklichen.

Die Kollektivität der Leitung entspringt aus der Natur unserer Partei selbst, die auf den Grundsätzen des demokratischen Zentralismus basiert. »Das bedeutet«, sagte Lenin, »daß ausnahmslos alle Parteiangelegenheiten — unmittelbar oder durch Vertreter — von allen Parteimitgliedern gleichberechtigt wahrgenommen werden, wobei alle leitenden Funktionäre, alle führenden Kollegien, alle Parteiinstanzen wählbar, rechenschaftspflichtig und absetzbar sind.«20

Bekanntlich hat Lenin selbst ein Beispiel für die genaueste Einhaltung dieser Prinzipien gegeben. Es gab keine noch so wichtige Frage, in der Lenin die Entscheidung selbst getroffen hätte, ohne den Rat und die Billigung der Mehrheit der ZK-Mitglieder oder der Mitglieder des Politbüros des ZK einzuholen.

In den für unsere Partei und das Land schwierigsten Ab-

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schnitten hielt es Lenin für erforderlich, regulär die Parteitage, Parteikonferenzen und Plenartagungen des Zentralkomitees einzuberufen, auf denen die wichtigsten Fragen besprochen und Beschlüsse gefaßt wurden, die allseitig von den Führungskollektiven ausgearbeitet worden waren.

Erinnern wir uns zum Beispiel des Jahres 1918, als über dem Land die Gefahr des Überfalls der imperialistischen Interventen hing. Unter diesen Bedingungen wurde der

VII. Parteitag mit dem Ziel einberufen, die lebenswichtige und keinen Aufschub duldende Frage des Friedens zu erörtern. Im Jahre 1919, im Feuer des Bürgerkrieges, wurde der

VIII. Parteitag einberufen, auf dem ein neues Parteiprogramm beschlossen und so wichtige Angelegenheiten erörtert wurden wie die Haltung gegenüber den Massen der Bauernschaft, die Organisation der Roten Armee, die Frage der führenden Rolle der Partei in der Arbeit der Sowjets, die Verbesserung der sozialen Zusammensetzung der Partei und andere Fragen. 1920 wurde der IX. Parteitag einberufen, der die Aufgaben der Partei und des Landes im Bereich des ökonomischen Aufbaus festlegte. Im Jahre 1921, auf dem X. Parteitag, wurde die von Lenin ausgearbeitete Neue Ökonomische Politik beschlossen und die historische Entschließung »Über die Einheit der Partei« angenommen.

Zu Lebzeiten Lenins fanden die Parteitage regulär statt; immer, wenn eine radikale Wende in der Entwicklung von Partei und Land eintrat, betrachtete es Lenin als unerläßlich, durch die Partei die grundlegenden Fragen der Innen- und Außenpolitik, die Fragen des Partei- und Staatsaufbaus zu erörtern.

Es ist besonders charakteristisch, daß Lenin seine letzten Artikel, Briefe und Bemerkungen gerade an den Parteitag als höchstes Parteiorgan richtete. In der Periode zwischen den Parteitagen trat das Zentralkomitee als das mit der höchsten Autorität ausgestattete Führungskollekuv auf, das die Prinzipien der Partei genau einhielt und ihre Politik realisierte.

So war es zu Lenins Lebzeiten.

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Wurden die für unsere Partei heiligen Leninschen Prinzipien nach dem Tode von Wladimir Iljitsch eingehalten?

Während in den ersten Jahren nach dem Tode Lenins Parteitage und Plenarsitzungen des ZK mehr oder weniger regelmäßig stattfanden, wurde später, als Stalin die Macht immer mehr mißbrauchte, begonnen, diese Prinzipien gröblich zu verletzen. Dies wurde vor allem in den letzten 15 Jahren seines Lebens deutlich. Kann man den Fakt als normal ansehen, daß zwischen dem XVIII. und XIX. Parteitag mehr als 13 Jahre vergingen, in denen unsere Partei und das Land so viele Ereignisse erlebten?21 Diese Ereignisse verlangten nachdrücklich von der Partei, Beschlüsse zur Verteidigung des Landes unter den Bedingungen des Vaterländischen Krieges und zum friedlichen Aufbau in den Nachkriegsjahren zu fassen. Sogar nach Ende des Krieges trat länger als sieben Jahre kein Parteitag zusammen.

Es wurden fast keine Plenartagungen des Zentralkomitees einberufen. Es spricht für sich, daß während all der Jahre des Großen Vaterländischen Krieges praktisch kein einziges Plenum des ZK stattfand. Es gab zwar einen Versuch zur Einberufung eines ZK-Plenums im Oktober 194122, als aus dem ganzen Lande die Mitglieder des ZK nach Moskau beordert wurden. Zwei Tage warteten sie auf die Eröffnung des Plenums, doch ihr Warten war vergeblich. Stalin wollte sich nicht einmal mit den Mitgliedern des ZK treffen und unterhalten. Diese Tatsache zeugt davon, wie demoralisiert Stalin in den ersten Monaten des Krieges war und wie überheblich und geringschätzig er die Mitglieder des ZK behandelte.

In dieser Praxis spiegelte sich das Ignorieren der Normen des Parteilebens, die Verletzung des Leninschen Prinzips der kollektiven Leitung der Partei durch Stalin wider.

Die Selbstherrlichkeit Stalins gegenüber der Partei und ihrem Zentralkomitee kam besonders nach dem XVII. Parteitag zum Vorschein, der 1934 stattfand.

Das Zentralkomitee, das über zahlreiche Fakten verfügt, die von der brutalen Willkür gegenüber den Kadern der Par-

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tei zeugen, hat aus dem Kreis des Präsidiums des ZK eine Parteikommission23 eingesetzt und beauftragt, genau zu untersuchen, auf welche Weise die Massenrepressalien gegen die Mehrheit der Mitglieder und Kandidaten des ZK der Partei, das vom XVII. Parteitag der KPdSU(B) gewählt wurde, möglich wurden.

Die Kommission machte sich mit einer großen Anzahl von Materialien aus den Archiven des NKWD24 und mit anderen Dokumenten vertraut, und sie stellte zahlreiche Fakten fest über fabrizierte Anklagen gegen Kommunisten, falsche Beschuldigungen, schreiende Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit, als deren Folge unschuldige Menschen umkamen. Aufgedeckt wurde, daß viele Parteiarbeiter, Sowjet- und Wirtschaftsfunktionäre, die in den Jahren 1937/1938 als »Feinde« angesehen wurden, in Wirklichkeit niemals Feinde, Spione, Schädlinge u. ä. gewesen sind, daß sie tatsächlich immer ehrliche Kommunisten waren. Aber man hat sie angeschwärzt, und manchmal hielten sie die barbarischen Foltern nicht aus und beschuldigten sich selbst (unter dem Diktat der mit Fälschungen arbeitenden Untersuchungsrichter) sämtlicher schwerer und unwahrscheinlicher Verbrechen. Die Kommission hat dem Präsidium des ZK ein umfassend dokumentiertes Material über die Massenrepressalien gegen die Delegierten des XVII. Parteitags und die Mitglieder des von diesem Parteitag gewählten Zentralkomitees vorgelegt. Diese Materialien wurden vom Präsidium des Zentralkomitees begutachtet.

Festgestellt wurde, daß von den 139 Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees, die auf dem XVII. Parteitag gewählt worden waren, 98 Personen, d. h. 70 Prozent, (hauptsächlich in den Jahren 1937/1938) verhaftet und erschossen wurden. (Empörung im Saal.)

Wie war die Zusammensetzung der Delegierten zum XVII. Parteitag? Es ist bekannt, daß 80 Prozent der Teilnehmer des Parteitages mit beschließender Stimme in den Jahren der Konspiration vor der Revolution und während des Bürgerkrieges, also einschließlich bis zum Jahre 1920, in die

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Partei eingetreten waren. Was die soziale Zusammensetzung angeht, so stellten Arbeiter (60 Prozent der Delegierten mit beschließender Stimme) die Hauptmasse der Parteitagsdelegierten.

Deshalb war es absolut undenkbar, daß der Parteitag mit derartiger Zusammensetzung ein Zentralkomitee gewählt hätte, dessen Mehrheit sich als Parteifeinde herausstellt. Nur im Ergebnis dessen, daß ehrliche Kommunisten angeschwärzt und zu Unrecht beschuldigt wurden, daß ungeheuerliche Verletzungen der revolutionären Gesetzlichkeit zugelassen worden sind, wurden 70 Prozent der Mitglieder und Kandidaten des vom XVII. Parteitag gewählten Zentralkomitees als Feinde der Partei und des Volkes betrachtet.

Dasselbe Geschick traf nicht nur die Mitglieder des ZK, sondern auch die Mehrheit der Delegierten zum XVII. Parteitag. Von den 1 966 Delegierten mit beschließender und beratender Stimme wurden auf der Grundlage von Beschuldigungen wegen konterrevolutionärer Verbrechen weit mehr als die Hälfte — 1108 Personen — festgenommen. Schon dieser Fakt allein bezeugt, wie unbegründet, unsachlich und wider allen gesunden Verstand der Vorwurf konterrevolutionärer Verbrechen war, der — wie sich jetzt herausstellt — gegen die Mehrheit der Teilnehmer des XVII. Parteitages vorgebracht worden war. (Empörung im Saal.)

Es sei daran erinnert, daß der XVII. Parteitag in die Geschichte als Parteitag der Sieger einging. Die Delegierten für den Parteitag waren aktive Teilnehmer am Aufbau unseres sozialistischen Staates, viele von ihnen kämpften aufopferungsvoll um die Sache der Partei in den Vorrevolutionsjahren, in der Konspiration und an den Fronten des Bürgerkrieges, kämpften tapfer gegen die Feinde, sahen oft dem Tod ins Auge und zitterten nicht. Wie also soll man glauben, daß solche Leute in der Periode nach der politischen Zerschlagung der Sinowjewleute, Trotzkisten und Rechtsabweichler, nach den großen Siegen des sozialistischen Aufbaus sich als »doppelzünglerisch« herausstellten, ins Lager der Feinde des Sozialismus übergingen?

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Dies geschah im Ergebnis des Machtmißbrauchs durch Stalin, der den Massenterror gegen die Parteikader anzuwenden begann.

Warum verstärkten sich die Massenrepressalien gegen die Aktivisten nach dem XVII. Parteitag immer mehr? Deshalb, weil Stalin in dieser Zeit sich so über die Partei und das Volk stellte, daß er überhaupt weder mit dem ZK noch mit der Partei rechnete. Wenn er auch vor dem XVII. Parteitag noch die Meinung des Kollektivs respektierte, so beachtete Stalin nach der vollständigen politischen Zerschlagung der Trotzkisten, Sinowjew- und Bucharinleute, als im Ergebnis dieses Kampfes und des Sieges des Sozialismus die Einheit der Partei und des Volkes erlangt wurde, in immer größerem Maße weder die ZK-Mitglieder noch die Mitglieder des Politbüros. Stalin dachte, daß er seinerzeit selbst in allen Angelegenheiten entscheiden konnte und die übrigen ihm nur als Statisten vonnöten seien; alle anderen galten für ihn nur als Zuhörer und Lobspender.

Nach der verbrecherischen Ermordung S. M. Kirows begannen Massenrepressalien, und es gab brutale Akte der Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit. Am Abend des 1. Dezember 1934 unterschrieb der Sekretär des Präsidiums des Zentralexekutivkomitees Jenukidse25 auf Initiative Stalins (ohne Beschluß des Politbüros; dieses wurde erst zwei Tage später beiläufig unterrichtet) folgende Anordnung26:

»I. Die Untersuchungsbehörden werden angewiesen, die Angelegenheiten der der Vorbereitung und Durchführung von Terrorakten Beschuldigten im Schnellverfahren durchzuführen.

IL Die Gerichtsorgane werden angewiesen, im Zusammenhang mit der von Straffälligen dieser Kategorie geäußerten Bitte auf Gnadenerlaß von der Ausführung des Todesurteils keinen Abstand zu nehmen, da das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der UdSSR es nicht für möglich hält, derartige Bitten zur Bearbeitung anzunehmen.

III. Die Organe des Kommissariats für Innere Angelegen-

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heiten (NKWD) werden angewiesen, Todesurteile gegen oben genannte Kategorien von Verbrechern sofort nach Verhängung der Urteile zu vollstrecken.«

Diese Verfügung bildete die Grundlage für massenhafte Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit. In vielen zurechtgezimmerten gerichtlichen Verfahren wurde den Beschuldigten die »Vorbereitung« von Terrorakten zugeschrieben, und das beraubte die Angeklagten jeglicher Möglichkeit der Revision ihrer Angelegenheiten selbst dann, wenn sie vor Gericht die von ihnen erzwungenen »Geständnisse« widerriefen und die gegen sie vorgebrachten Anklagen auf überzeugende Art zu Fall brachten.

Man muß feststellen, daß die Umstände der Ermordung des Gen. Kirow bislang in sich viele unverständliche und rätselhafte Fragen bergen und gründlichste Untersuchungen verlangen. Es gibt Anhaltspunkte für die Ansicht, daß dem Mörder Kirows, Nikolajew, irgendjemand aus dem Personenschutz Kirows geholfen hat. Eineinhalb Monate vor dem Mord war Nikolajew27 wegen verdächtigen Verhaltens verhaftet worden, doch man hat ihn auf freien Fuß gesetzt und nicht einmal eine Untersuchung durchgeführt. Äußerst verdächtig ist der Umstand, daß ein am 2. Dezember zum Verhör transportierter Tschekist, der Kirow zugeteilt worden war, bei einem »Verkehrsunfall« umkam, während keine der ihn begleitenden Personen verletzt wurde. Nach der Ermordung Kirows wurden leitende Mitarbeiter des Leningrader NKWD ihrer Funktionen enthoben und zu sehr milden Strafen verurteilt, aber 1937 wurden sie erschossen. Man darf vermuten, daß sie erschossen wurden, um die Spuren der Organisatoren des Mordes an Kirow zu verwischen. (Bewegung im Saal.)

Die Massenrepressalien verstärkten sich gewaltig seit Ende 1936, nach dem Telegramm Stalins und Shdanows28 aus Sotschi vom 25. September 1936, das an Kaganowitsch29, Molotow30 und andere Mitglieder des Politbüros adressiert war. Der Inhalt des Telegramms war folgender:

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»Wir erachten es für absolut notwendig und dringend, Gen. Jeshow31 mit dem Posten des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten zu betrauen. Jagoda32 stand deutlich nicht auf der Höhe der Aufgaben bei der Entlarvung des trotzkistisch-sinowjewistischen Blocks. Die OGPU33 ist in dieser Frage um vier Jahre in Verzug. Davon reden alle Parteiarbeiter und die Mehrheit der Bezirksvertreter des NKWD.« 

Richtigerweise sollte man unterstreichen, daß Stalin mit Parteiarbeitern nicht zusammentraf und deshalb ihre Meinung auch nicht kennen konnte.

Die Stalinsche Formulierung, wonach bei der Anwendung von Massenrepressalien das NKWD »um vier Jahre in Verzug« war, daß man die Verspätungen schnell »aufholen« solle, trieb die Mitarbeiter des NKWD direkt auf den Weg der Massenverhaftungen und Exekutionen.

Man muß feststellen, daß diese Formulierung auch der Februar/März-Tagung des ZK der KPdSU im Jahre 1937 aufgezwungen wurde. Die Resolution des Plenums, die auf der Grundlage des Referats von Jeshow »Die Lehren aus der Sabotagetätigkeit, Diversion und Spionage von japanisch-deutsch-trotzkistischen Agenten« beschlossen wurde, lautete:

»Das Plenum des ZK der KPdSU(B) ist der Ansicht, daß alle Fakten, die während der Untersuchung der Frage des antisowjetischen trotzkistischen Zentrums und seiner Anhänger im Territorium aufgedeckt wurden, davon zeugen, daß das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten sich mindestens um vier Jahre in der Entlarvung dieser schlimmsten Volksfeinde verspätet hat.«

Die Massenrepressalien wurden zu dieser Zeit unter der Losung des Kampfes gegen die Trotzkisten durchgeführt. Stellten denn die Trotzkisten zu jener Zeit wirklich eine solche Gefahr für unsere Partei und den Sowjetstaat dar? Es sollte daran erinnert werden, daß im Jahre 1927, am Vortage des XV. Parteitages, für die trotzkistisch-sinowjewistische Opposition lediglich 4 000 Personen stimmten, während sich für die Parteilinie 724 000 aussprachen. Im Laufe von zehn Jahren, die zwischen dem XV. Parteitag und dem Februar/

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März-Plenum des ZK vergingen, wurde der Trotzkismus vollkommen zerschlagen, viele ehemalige Trotzkisten sagten sich von ihren früheren Ansichten los und arbeiteten an verschiedenen Abschnitten des sozialistischen Aufbaus. Klar ist, daß es unter den Bedingungen des Sieges des Sozialismus keine Grundlagen für Massenterror im Lande gab.

Stalins Referat auf dem Februar/März-Plenum 1937 »Über die Mängel der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der trotzkistischen und sonstigen Doppelzüngler« enthielt einen Versuch der theoretischen Begründung der Politik von Massenrepressalien unter dem Vorwand, daß im Zuge unseres Voranschreitens zum Sozialismus der Klassenkampf sich angeblich immer mehr zuspitzen mußte. Stalin behauptete dabei, daß sowohl die Geschichte als auch Lenin dies lehrten.

In Wirklichkeit aber wies Lenin darauf hin, daß die Anwendung revolutionärer Gewalt von der Notwendigkeit bestimmt wird, den Widerstand der Ausbeuterklassen zu ersticken, und diese Hinweise Lenins bezogen sich auf die Periode, als noch starke Ausbeuterklassen existierten. Als sich die politische Situation im Lande verbesserte, als im Januar 1920 Rostow von der Roten Armee eingenommen und der Sieg über Denikin in der Hauptsache errungen war, gab Lenin Dzierzyhski eine Instruktion zur Beendigung des Massenterrors und zur Aufhebung der Todesstrafe. Lenin begründete diesen wichtigen politischen Schritt der Sowjetmacht in seinem Bericht auf der Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees am 2. Februar 1920 auf folgende Weise:

»Der Terror wurde uns durch den Terrorismus der Entente aufgezwungen, als die stärksten Mächte der Welt, vor nichts zurückschreckend, mit ihren Horden über uns herfielen. Wir hätten uns keine zwei Tage halten können, wären wir diesen Versuchen der Offiziere und Weißgardisten nicht ohne Erbarmen begegnet, und das bedeutete Terror, aber der Terror wurde uns durch die terroristischen Methoden der Entente aufgezwungen. Sobald wir aber den entscheidenden Sieg er-

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rungen hatten, noch vor Beendigung des Krieges, sofort nach der Einnahme von Rostow, verzichteten wir auf die Anwendung der Todesstrafe und zeigten damit, daß wir zu unserem eigenen Programm so stehen, wie wir es versprochen haben. Wir erklären, daß sich die Anwendung von Gewalt aus der Aufgabe ergibt, die Ausbeuter, die Gutsbesitzer und Kapitalisten, zu unterdrücken; wenn das getan ist, verzichten wir auf alle außerordentlichen Maßnahmen. Wir haben das durch die Tat bewiesen.«34

Stalin ging von diesen deutlichen und klaren programmatischen Weisungen Lenins ab. Später, als bereits alle Ausbeuterklassen in unserem Land liquidiert worden waren und es keinerlei ernsthafte Gründe zur massenhaften Anwendung außerordentlicher Mittel, von Massenterror, gab, da stellte Stalin die Partei, die Organe des NKWD auf den Massenterror ein.

Dieser Terror war faktisch nicht gegen die Überreste der zerschlagenen Ausbeuterklassen gerichtet, sondern gegen ehrliche Kader der Partei und des Sowjetstaates, gegen die verlogene, verleumderische und unsachliche Vorwürfe der »Doppelzünglerei«, »Spionagetätigkeit«, »Sabotage« und Vorbereitung irgendwelcher erdachter »Attentate« vorgebracht wurden.

Auf dem Februar/März-Plenum im Jahre 1937 bezweifelten viele ZK-Mitglieder im Grunde genommen die Richtigkeit des Kurses der Massenrepressalien, der unter dem Vorwand des Kampfes gegen die »Doppelzüngler« eingeschlagen worden war.

Am deutlichsten drückte diese Zweifel Gen. Postyschew35 aus. Er sagte:

»Ich verstehe es so: Es sind schwere Jahre des Kampfes vergangen, rückgratlose Parteimitglieder zerbrachen oder gingen ins Lager der Feinde über, die gesunden Elemente kämpften um die Sache der Partei. Das waren die Jahre der Industrialisierung, der Kollektivierung. Ich hätte mir nie vorstellen können, daß nach Ablauf dieser schweren Periode Karpow und seinesgleichen sich im Lager der Feinde befinden

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würden.36 Aus Aussagen ergibt sich angeblich, daß Karpow 1934 von den Trotzkisten geworben wurde. Ich persönlich meine, daß es unglaubwürdig ist, daß 1934 ein ehrliches Parteimitglied, das den langen Weg des erbitterten Kampfes gegen die Feinde für die Sache der Partei, für den Sozialismus gegangen ist, sich im Lager der Feinde wiederfinden sollte. Ich glaube nicht daran. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man zusammen mit der Partei schwere Jahre gehen und dann 1934 zu den Trotzkisten überwechseln kann. Das ist eine eigenartige Sache ...«

Indem sie sich der Formulierung Stalins bedienten, wonach es immer mehr Feinde geben wird, je näher man dem Sozialismus kommt, und sich auf die zum Referat von Jeshow beschlossene Resolution des Februar/März-Plenums beriefen, begannen in die Staatssicherheitsorgane eingedrungene Provokateure und gewissenlose Karrieristen, den Massenterror gegen Kader der Partei und des Sowjetstaates, gegen einfache Sowjetbürger mit dem Namen der Partei zu tarnen. Es genügt zu.sagen, daß die Anzahl derjenigen, die aufgrund von Beschuldigungen wegen konterrevolutionärer Verbrechen verhaftet wurden, sich im Jahre 193^7 im Vergleich zu 1936 um mehr als das Zehnfache vergrößerte.

Es ist bekannt, mit welcher brutalen Willkür auch gegen leitende Funktionäre der Partei vorgegangen wurde. Das Parteistatut, das vom XVII. Parteitag angenommen wurde, beruhte auf den Leninschen Weisungen aus der Zeit des X. Parteitages und besagte, daß man, um gegen ein Mitglied des ZK, einen Kandidaten des ZK oder ein Mitglied der Parteikontrollkommission eine äußerste Maßnahme wie den Parteiausschluß anzuwenden, ein Plenum des ZK einberufen und zu diesem Plenum »alle Kandidaten des ZK sowie alle Mitglieder der Parteikontrollkommission«37 laden müsse. Nur unter der Bedingung, daß eine solche Gesamtversammlung verantwortlicher hoher Parteifunktionäre mit Zweidrittelmehrheit es für nötig erachtet, kann der Parteiausschluß eines Mitglieds oder Kandidaten des ZK verfügt werden.

Die Mehrheit der Mitglieder und Kandidaten des ZK, die

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durch den XVII. Parteitag gewählt und in den Jahren 1937/1938 verhaftet wurden, wurde aus der Partei widerrechtlich, unter brutaler Verletzung des Statuts, ausgeschlossen, weil die Frage ihres Ausschlusses nicht von einem ZK-Plenum erörtert wurde.

Heute, da die Fälle einiger dieser angeblichen »Spione« und »Schädlinge« untersucht worden sind, wurde festgestellt, daß diese Dinge zurechtgezimmert worden sind. Das Schuldbekenntnis vieler Verhafteter und wegen feindlicher Aktivitäten Angeklagter ist mit Hilfe grausamer, unmenschlicher Folterungen erreicht worden.

Wie Mitglieder des damaligen Politbüros informieren, hat Stalin ihnen die Erklärungen einer Reihe verleumdeter politischer Funktionäre vorenthalten, wenn diese ihre Aussagen vor dem Militärtribunal zurücknahmen und um eine objektive Untersuchung ihrer Angelegenheit baten. Solche Erklärungen gab es nicht wenige, und Stalin kannte sie zweifellos.

Das Zentralkomitee erachtet es für erforderlich, den Parteitag über viele konstruierte »Fälle« von Mitgliedern des ZK zu informieren, die auf dem XVII. Parteitag gewählt worden waren.

Ein Beispiel einer gemeinen Provokation, einer widerwärtigen Fälschung und einer verbrecherischen Verletzung der revolutionären Gesetzlichkeit ist der Fall des ehemaligen Kandidaten des Politbüros, eines führenden Partei- und sowjetischen Staatsfunktionärs, des Genossen Eiche38, Mitglied der Partei seit dem Jahre 1905.

Gen. Eiche wurde am 29. April 1938 auf der Grundlage verleumderischer Materialien verhaftet, ohne Zustimmung des Staatsanwalts der UdSSR, die erst 15 Monate nach der Verhaftung erlangt wurde. „

Die Untersuchung des Falles Eiche wurde unter Bedingungen der gröbsten Verletzung der sowjetischen Rechtsprechung, der Willkür und der Fälschungen durchgeführt.

Eiche wurde durch Folterungen zur Unterzeichnung von Aussageprotokollen gezwungen, die die Untersuchungsrichter vorformuliert hatten, in denen gegen ihn selbst und eine

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Reihe hervorragender Partei- und Sowjetfunktionäre Anklagen wegen antisowjetischer Tätigkeit vorgebracht wurden.

Am 1. Oktober 1939 übermittelte Eiche zu Händen Stalins eine Erklärung, in der er kategorisch seine Schuld bestritt und um die Untersuchung seines Falles bat. In der Erklärung schrieb er:

»Es gibt keine größere Qual, als im Gefängnis einer Gesellschaftsordnung zu sitzen, um die ich immer gekämpft habe.«

Es hat sich eine zweite Erklärung Eiches erhalten, die er am 27. Oktober 1939 an Stalin schickte und in der er überzeugend, auf Tatsachen gestützt, die gegen ihn gerichteten verleumderischen Anklagen zu Fall brachte und nachwies, daß die provokatorischen Anschuldigungen einerseits das Werk echter Trotzkisten waren, die sich verabredet hatten, sich an ihm zu rächen, weil er als 1. Sekretär des Westsibirischen Gebietskomitees der Partei ihre Verhaftung sanktioniert hatte, und zum anderen das Resultat einer gemeinen Fälschung der Materialien durch die Untersuchungsrichter.

Eiche schrieb in seiner Erklärung:

»Am 25. Oktober d. J. wurde ich über den Abschluß der Untersuchung meines Falles informiert, und mir wurde gestattet, mich mit den Untersuchungsmaterialien vertraut zu machen. Wenn ich auch nur in einem Hundertstel auch nur eines der mir zur Last gelegten Verbrechen schuldig wäre -ich würde es nicht wagen, Ihnen diese vor dem Tode geschriebene Erklärung zu übermitteln, doch ich habe kein einziges der mir vorgeworfenen Verbrechen begangen, und in meinem Herzen hat es niemals auch nur den Schatten einer Niederträchtigkeit gegeben. Zu keiner Zeit meines Lebens habe ich Ihnen gegenüber ein unwahres Wort gesagt, und jetzt, da ich mich mit beiden Beinen schon im Grab befinde, belüge ich Sie ebenfalls nicht. Mein gesamter Fall ist ein typisches Beispiel einer Provokation, von Verleumdung und Vergewaltigung der elementaren Grundlagen der revolutionären Gesetzlichkeit.

... Die in den Untersuchungsakten befindlichen, mich be-

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lastenden Aussagen sind nicht nur unsinnig, sondern enthalten in vielen Punkten Verleumdungen gegen das ZK der KPdSU(B) und den Rat der Volkskommissare. So wurde mir angelastet, ich hätte die nicht auf meine Initiative und ohne meine Beteiligung zustandegekommenen richtigen Beschlüsse dieser Organe als feindliche Akte einer konterrevolutionären Organisation dargestellt.

Nun komme ich zum schändlichsten Abschnitt meines Lebens und meiner tatsächlich schweren Schuld der Partei und Ihnen gegenüber. Das ist mein Geständnis konterrevolutionärer Tätigkeit ... Die Sache war so: Ich hielt die Folterungen nicht mehr aus, die Uschakow und Nikolajew39 gegen mich anwandten, und zwar besonders der erstgenannte, der die Tatsache ausnutzte, daß meine Wirbel, die gebrochen waren, schlecht verheilten, und der mir unerträgliche Schmerzen zufügte. Sie zwangen mich zur Verleumdung der eigenen Person und zur Verleumdung anderer.

Die Mehrzahl meiner Aussagen suggerierte oder diktierte Uschakow. Die übrigen gab ich aus dem Gedächtnis aus den Materialien des NKWD von Westsibirien wieder, wobei ich mir alle die in den NKWD-Materialien angeführten Fakten zuschrieb. Wenn in der von Uschakow fabrizierten und von mir unterschriebenen Lesart etwas nicht ganz stimmte, wurde ich gezwungen, eine andere Variante zu unterschreiben. So war es im Fall Ruchimowitsch40, den man anfangs zum Reservezentrum rechnete, was später — ohne es mir mitzuteilen — wieder gestrichen wurde, dasselbe galt für den Vorsitzenden des angeblich von Bucharin 1935 geschaffenen Reservezentrums. Zuerst trug ich meinen Namen ein, später wurde mir aufgetragen, den von Meshlauk41 einzutragen, und es gab viele ähnliche Vorkommnisse ... Ich bitte Sie und flehe Sie an, anzuweisen, daß mein Fall erneut untersucht wird, und zwar nicht, um mich zu schonen, sondern um die nichtswürdige Provokation aufzudecken, die wie eine Schlange viele Menschen umwickelt hat, insbesondere wegen meiner Verzagtheit und der verbrecherischen Beschuldigung. Sie und die Partei habe ich niemals verraten. Ich weiß, daß ich infolge der unwürdigen, niederträchtigen Tätigkeit von Feinden der Partei und des Volkes umkommen werde, die eine Provokation gegen mich zurechtgebastelt haben.«

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Es hätte sich gehört, daß eine so wichtige Erklärung vom ZK unbedingt erörtert worden wäre. Doch dazu kam es nicht, die Erklärung wurde an Berija übermittelt, und die grausame Mißhandlung des verleumdeten Politbürokandidaten Gen. Eiche dauerte an.

Am 2. Februar 1940 stand Gen. Eiche vor Gericht. Im Gerichtssaal bekannte sich Gen. Eiche nicht zu seiner Schuld und erklärte folgendes:

»In allen meinen angeblichen Aussagen gibt es keinen einzigen von mir selbst stammenden Buchstaben mit Ausnahme der Unterschriften unter den Protokollen, zu denen man mich gezwungen hat. Die Aussagen machte ich unter dem Druck des Untersuchungsrichters, der mich vom Beginn meiner Verhaftung an mißhandelte. Daraufhin begann ich sämtliche Dummheiten zu schreiben ... Die Hauptsache ist für mich, dem Gericht, der Partei und Stalin zu sagen, daß ich nicht schuldig bin. Niemals war ich an einer Verschwörung beteiligt. Ich sterbe mit demselben Glauben an die Richtigkeit der Politik der Partei, wie ich an sie im Verlauf meiner gesamten Arbeit geglaubt habe.«

Am 4. Februar wurde Eiche erschossen. Heute steht unbestreitbar fest, daß der Fall Eiche fabriziert worden ist; Eiche wurde postum rehabilitiert.

Vollständig zog der Kandidat des Politbüros Gen. Rudzutaks42, Mitglied der Partei seit 1905, vor Gericht seine erzwungenen Aussagen zurück. Er hatte zehn Jahre in zaristischer Verbannung verbracht. Das Sitzungsprotokoll des Militärkollegiums des Obersten Gerichts enthält folgende Erklärung Rüdzutaks':

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»... Die einzige Bitte, die er an das Gericht hat, ist die, dem ZK der KPdSU(B) zur Kenntnis zu geben, daß in den Organen des NKWD ein noch nicht liquidiertes Zentrum existiert, das künstlich Fälle konstruiert und völlig unschuldige Menschen dazu zwingt, sich schuldig zu bekennen; daß es keine Möglichkeit gibt, die Umstände der Anklage zu untersuchen und es überhaupt nicht möglich ist, seine eigene Nichtbeteiligung an Verbrechen zu beweisen, von denen in diesen oder jenen Aussagen verschiedener Personen die Rede ist. Die Untersuchungsmethoden sind so, daß sie dazu zwingen, zu lügen und völlig unschuldige Menschen, vom Angeklagten selber gar nicht zu reden, zu verleumden. Er bittet das Gericht, ihm zu ermöglichen, all das dem ZK der KPdSU(B) zu schreiben. Er versichert dem Gericht, daß er persönlich niemals irgendwelche bösen Absichten gegenüber der Politik unserer Partei gehabt habe, weil er stets mit der Parteipolitik in allen Bereichen des ökonomischen und kulturellen Aufbaus übereinstimmte.«

Diese Erklärung Rudzutaks' wurde ignoriert, obwohl dieser bekanntlich seinerzeit Vorsitzender der Zentralen Parteikontrollkommission gewesen war, die entsprechend der Konzeption Lenins zum Kampf für die Einheit der Partei geschaffen wurde. So wurde der Vorsitzende eines so maßgeblichen Parteiorgans ein Opfer brutaler Willkür: er wurde nicht einmal vor das Politbüro gerufen, Stalin wollte nicht mit ihm reden. Er wurde innerhalb von 20 Minuten verurteilt und erschossen.

Nach exakter Untersuchung des Falles im Jahre 1955 wurde festgestellt, daß die Anklage gegen Rudzutaks gefälscht war und daß er auf der Grundlage verleumderischer Materialien verurteilt wurde. Rudzutaks wurde postum rehabilitiert.

Aufweiche Weise damalige Mitarbeiter des NKWD künstlich, mittels provokatorischer Methoden verschiedene »antisowjetische Zentren« und »Blöcke« zurechtzimmerten, geht aus den Aussagen des Gen. Rosenblum hervor, Parteimitglied seit 1906, der von der Leningrader Abteilung des NKWD 1937 verhaftet worden war.

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Während der Überprüfung des Falls Komarow43 im Jahre 1955 informierte Rosenblum über folgenden Fakt: Als man ihn, Rosenblum, 1937 verhaftete, wurde er grausamen Folterungen unterworfen, in deren Verlauf von ihm lügenhafte Aussagen erzwungen wurden, die sowohl ihn selbst als auch andere Personen betrafen. Anschließend wurde er ins Dienstzimmer von Sakowski44 geführt, der ihm die Entlassung unter der Bedingung anbot, daß er vor Gericht unwahre Aussagen in dem 1937 vom NKWD fabrizierten Fall »des Leningrader Sabotage-, Terror-, Diversions- und Spionagezentrums« mache. Mit unglaublichem Zynismus enthüllte Sakowski den widerwärtigen »Mechanismus« der künstlichen Schaffung erfundener »antisowjetischer Verschwörungen«.

»Um mir das zu veranschaulichen«, erklärte Rosenblum, »legte Sakowski mir einige Varianten eventueller Schemata dieses Zentrums und seiner Verzweigungen vor.

Nachdem er mich mit diesen Schemata vertraut gemacht hatte, sagte Sakowski, daß das NKWD den Fall dieses Zentrums vorbereitet, mit dem Hinweis, daß der Prozeß öffentlich sein werde.

Vor Gericht gebracht werden sollte die Führungsspitze des Zentrums, vier bis fünf Personen: Tschudow45, Ugarow46, Smorodin47, Posern48, Schaposchnikowa49 (die Frau Tschudows) und andere, sowie aus jeder Filiale 2-3 Personen.

... Der Fall des Leningrader Zentrums sollte solide behandelt werden, und hierbei hätten die Zeugen entscheidende Bedeutung. Keine geringe Rolle spiele hierbei auch die gesellschaftliche Position (natürlich in der Vergangenheit) und die Dauer der Parteizugehörigkeit des Zeugen.

>Du selbst<, sagte Sakowski, wirst nichts erfinden müssen. Das NKWD bereitet für dich einen fertigen Konspekt für jede Filiale einzeln vor, deine Sache ist es, das zu lernen, alle Fragen gut in Erinnerung zu behalten und zu beantworten, die vom Gericht gestellt werden können. Der Fall wird im Laufe von vier bis fünf Monaten vorbereitet, vielleicht auch innerhalb eines halben Jahres. In dieser Zeit wirst du dich vorbereiten, um die Untersuchung und dich selbst nicht zu kompromittieren. Von Verlauf und Ergebnis des Prozesses wird dein weiteres Schicksal abhängen. Wenn du versagst und Unsinn zu reden beginnst, mach dir dann selbst den Vorwurf. Wenn du aushältst, rettest du deinen Kopf, und wir werden dich bis zum Tode auf Kosten des Staates unterhalten und kleiden.<«

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Welch schäbige Dinge sind damals geschehen!

In noch breiterem Maßstab wurde die Fälschung von Strafverfahren im Territorium betrieben. Die NKWD-Verwaltung des Swerdlowsker Gebiets »entdeckte« den sogenannten Aufstandsstab des Uralgebiets — Organ eines Blocks von Rechten, Trotzkisten, Sozialrevolutionären und Kirchenleuten —, an dessen Spitze angeblich der Sekretär des Swerdlowsker Gebietskomitees der Partei, Mitglied des ZK der KPdSU(B) Kabakow50 gestanden habe, der seit 1914 der Partei angehörte. Aus den Untersuchungsmaterialien dieser Zeit geht hervor, daß in fast allen Regionen, Gebieten und Republiken weitverzweigte »rechtstrotzkistische Spionage- und Terror-, Diversions- und Sabotage-Organisationen und -Zentren« existiert und daß an der Spitze dieser »Organisationen« und »Zentren« in der Regel unbekannt, weshalb die ersten Sekretäre der Gebiets- und Regionskomitees oder der Zentralkomitees der nationalen kommunistischen Parteien gestanden hätten.

Im Ergebnis dieser ungeheuerlichen Fälschung solcher »Fälle«, als Folge dessen, daß verschiedenen verleumderischen »Aussagen« sowie erzwungenen Selbstbeschuldigungen und Anschwärzungen anderer Glauben geschenkt wurde, sind viele Tausende ehrliche, unschuldige Kommunisten umgekommen. Auf die gleiche Art und Weise wurden die »Fälle« so hervorragender Partei- und Staatsfunktionäre wie Kossior51, Tschubar52, Postyschew35, Kossarew53 und anderer konstruiert.

In diesen Jahren sind durch nichts gerechtfertigte Massenrepressalien angewandt worden, in deren Ergebnis die Partei große Verluste ihrer Kader erlitt.

Eingebürgert hatte sich die verbrecherische Praxis, im NKWD Listen derjenigen Personen anzufertigen, deren Fälle der Erörterung durch das Militärkollegium unterlagen und für die von vornherein das Strafmaß festgelegt wurde.

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Diese Listen übermittelte Jeshow an Stalin persönlich, damit er die vorgeschlagenen Strafen bestätigte. In den Jahren 1937/1938 sind 383 solche Listen an Stalin geschickt worden, die viele tausend Partei-, Sowjet-, Komsomol-, Militär- und Wirtschaftsfunktionäre betrafen und die seine Billigung fanden.

Ein bedeutender Teil dieser Verfahren wird gegenwärtig der Revision unterzogen und eine große Zahl davon als unbegründet und gefälscht gelöscht. Es genügt zu sagen, daß seit 1954 bis jetzt das Militärkollegium des Obersten Gerichts bereits 7 679 Personen rehabilitiert hat, wobei viele von ihnen postum rehabilitiert wurden.

Dia Massenverhaftungen von Partei-, Sowjet-, Wirtschafts- und Militärfunktionären haben unserem Land, der Sache des sozialistischen Aufbaus gewaltige Schäden zugefügt.

Die Massenrepressalien hatten einen ungünstigen Einfluß auf den politisch-moralischen Zustand der Partei, brachten Unsicherheit hervor, trugen zur Verbreitung krankhaften Argwohns bei, säten gegenseitiges Mißtrauen zwischen den Kommunisten. Verleumder und Karrieristen aller Art erhielten Auftrieb.

Eine gewisse Gesundung der Parteiorganisationen brachten die. Beschlüsse des Januar-Plenums des ZK der KPdSU(B) im Jahre 1938. Doch die breitangelegten Repressalien dauerten auch 1938 an.

Und nur weil unsere Partei über große moralisch-politische Kraft verfügt, konnte sie mit den schweren Ereignissen der Jahre 1937/1938 fertigwerden, diese Ereignisse überleben und neue Kader heranziehen. Doch es besteht kein Zweifel, daß unser Vormarsch zum Sozialismus und die Vorbereitung auf die Verteidigung des Landes bedeutend erfolgreicher verlaufen wären, wenn es nicht die gewaltigen Verluste bei den Kadern gegeben hätte, die wir infolge der massenhaften, unbegründeten und ungerechtfertigten Repressalien in den Jahren 1937/1938 erlitten.

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Wir klagen Jeshow völlig zu Recht der Anwendung entarteter Praktiken im Jahre 1937 an. Doch man muß auch auf solche Fragen antworten: Konnte Jeshow selbst ohne Stalins Wissen beispielsweise Kossior verhaften? Gab es einen Meinungsaustausch oder einen Beschluß des Politbüros in dieser Angelegenheit? Nein, es gab sie nicht, so wie es sie auch in anderen derartigen Fällen nicht gab. Konnte Jeshow über derart wichtige Fragen entscheiden wie das Schicksal hervorragender Parteifunktionäre? Nein, es wäre naiv, dies für das Werk Jeshows allein zu halten. Klar ist, daß über solche Dinge Stalin entschied, daß ohne seine Weisungen, ohne seine Zustimmung Jeshow nichts hätte tun können.

Wir haben jetzt die Fälle Kossior, Rudzutaks, Postyschew, Kossarew und andere untersucht und diese Genossen rehabilitiert. Auf welcher Grundlage hatte man sie verhaftet und verurteilt? Die Prüfung der Unterlagen zeigte, daß es dafür keinerlei Grundlagen gab. Man hat sie ähnlich wie viele andere ohne Zustimmung des Staatsanwalts verhaftet. Unter diesen Bedingungen war auch keinerlei Zustimmung nötig; welche Zustimmung konnte es noch geben, wenn Stalin über alles entschied? Er war der Oberstaatsanwalt in diesen Fragen. Stalin erteilte nicht nur die Erlaubnis, er gab sogar auf eigene Initiative Weisungen für Festnahmen. Man muß das sagen, damit für die Parteitagsdelegierten alles klar ist, damit sie das richtig beurteilen und entsprechende Schlußfolgerungen ziehen können.

Die Tatsachen beweisen, daß viele Mißbräuche auf Weisung Stalins erfolgten, ohne irgendwelche Normen der parteilichen und sowjetischen Gesetzlichkeit zu beachten. Stalin war ein sehr mißtrauischer Mensch mit krankhaftem Argwohn, wovon wir, die wir mit ihm arbeiteten, uns überzeugen konnten. Er konnte einen Menschen ansehen und sagen: »Warum haben Sie heute einen so unruhigen Blick?« oder: »Weshalb wenden Sie sich heute so oft um und sehen mir nicht direkt in die Augen?« Der krankhafte Argwohn rief bei ihm wahlloses Mißtrauen hervor, darunter auch im Verhältnis zu hervorragenden Parteifunktionären, die er seit vielen Jahren kannte. Überall, auf Schritt und Tritt, sah er »Feinde«, »Doppelzüngler« und »Spione«.

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Im Besitz einer unbeschränkten Macht tolerierte er grausame Willkür, erdrückte er die Menschen moralisch und physisch. Es entstand eine solche Situation, in der der Mensch seinen eigenen Willen nicht vorbringen konnte.

Wenn Stalin sagte, der oder jener sei festzunehmen, so mußte man glauben, daß dies ein »Volksfeind« war. Und die Berija-Bande, die die Macht in den Staatssicherheitsorganen hatte, ließ nichts unversucht, um die Schuld der verhafteten Personen und die Schlüssigkeit der von ihr fabrizierten Materialien zu beweisen. Und welche Beweise wurden vorgelegt? Das Geständnis der Verhafteten. Und die Untersuchungsrichter führten diese »Geständnisse« herbei. Aber wie kann man einen Menschen dazu bringen, sich zu einem Verbrechen zu bekennen, das er nie begangen hat? Nur auf eine Art — durch Anwendung von physischen Methoden der Beeinflussung, durch Folter, Beraubung des Bewußtseins, des Verstandes, der menschlichen Würde. Auf diese Weise wurden die »Geständnisse« erreicht.

Als die Welle von Massenrepressalien 1939 abzuflauen begann, als die Führer von territorialen Parteiorganisationen begannen, Mitarbeiter des NKWD der Anwendung physischer Einwirkungsmethoden gegenüber Verhafteten anzuklagen, richtete Stalin am 10. Januar 1939 ein chiffriertes Telegramm an die Sekretäre der Gebiets- und Regionskomitees, an die Zentralkomitees der nationalen kommunistischen Parteien, an die Volkskommissare für Innere Angelegenheiten und die Chefs der NKWD-Verwaltungen. Das Telegramm lautete:

»Das ZK der KPdSU(B) erklärt, daß die Anwendung physischer Einwirkung in der Praxis des NKWD seit 1937 mit Erlaubnis des ZK der KPdSU(B) zugelassen ist... Bekannt ! ist, daß alle bürgerlichen Geheimdienste physische Einwirkung gegenüber den Vertretern des sozialistischen Proletariats anwenden, und zwar in den abscheulichsten Formen. Es erhebt sich die Frage, warum ein sozialistischer Geheimdienst gegenüber erbitterten Agenten der Bourgeoisie, gegenüber Todfeinden der Arbeiterklasse und der Kolchosbauern

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humaner sein sollte. Das ZK der KPdSU(B) ist der Ansicht, daß die Methode der physischen Einwirkung auch weiterhin unbedingt gegenüber offenen und sich nicht ergebenden Feinden des Volkes als vollkommen richtige und zweckmäßige Methode ausnahmsweise angewendet werden sollte.«

Somit wurden die brutalste Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit, die Folter, die Quälerei, die — wie zuvor bereits festgestellt — zur Diffamierung und Selbstanschwärzung unschuldiger Menschen führten, durch Stalin im Namen des ZK der KPdSU(B) sanktioniert.

Kürzlich, nur einige Tage vor dem jetzigen Parteitag, haben wir den Untersuchungsrichter Rodos54, der seinerzeit die Untersuchung und Verhöre im Fall von Kossior, Tschubar und Kossarew führte, zu einer Sitzung des ZK-Präsidiums geladen und befragt. Das ist ein elender Mensch mit einem Spatzenhirn, in moralischer Hinsicht buchstäblich eine Mißgeburt. Und solch ein Mensch entschied über das Schicksal hervorragender Parteifunktionäre, entschied auch über die Politik in diesen Fragen, da er ja durch den Nachweis ihres »Verbrechertums« zugleich Material für ernsthafte politische Schlußfolgerungen lieferte.

Es erhebt sich die Frage, ob ein derartiger Mensch die Untersuchung so führen konnte, um die Schuld solcher Menschen wie Kossior und anderer nachzuweisen. Nein, das konnte er nicht ohne die entsprechenden Weisungen. Auf der Sitzung des Präsidiums des ZK erklärte er uns folgendes:

»Man hat mir gesagt, daß Kossior und Tschubar Volksfeinde sind, deshalb mußte ich als Untersuchungsrichter von ihnen das Geständnis erlangen, daß sie Feinde sind.«

Er konnte dahin nur über den Weg lang andauernder Folterungen gelangen, was er auch tat, wobei er detaillierte Instruktionen von Berija erhielt. Man muß sagen, daß Rodos auf der Sitzung des ZK-Präsidiums zynisch erklärte: »Ich glaubte, daß ich die Weisung der Partei ausführte.« So also wurde die Weisung Stalins in der Frage der Anwendung von

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Methoden der physischen Einwirkung gegenüber Verhafteten ausgeführt.

Diese und viele andere Fakten zeugen davon, daß jegliche Normen der angemessenen, parteilichen Lösung von Problemen ausgeschaltet wurden, daß alles der Willkür einer einzelnen Person untergeordnet wurde.

Die Einzelherrschaft Stalins führte zu schweren Folgen im Verlauf des Großen Vaterländischen Krieges.

Nimmt man unsere zahlreichen historischen Romane, Filme und historischen »wissenschaftlichen Studien«, so wird in ihnen die Rolle Stalins im Vaterländischen Krieg ganz und gar nicht wahrheitsgemäß dargestellt. Gewöhnlich zeichnet man folgendes Schema: Stalin hat alles vorausgesehen. Die Sowjetarmee verfolgte, wahrscheinlich aufgrund des von Stalin ausgearbeiteten strategischen Plans, die Taktik der aktiven Verteidigung, eine Taktik, die bekanntlich die Deutschen bis vor Moskau und Stalingrad kommen ließ. In Anwendung dieser Taktik ging die Sowjetarmee angeblich nur dank der Genialität Stalins zur Offensive über und zerschmetterte den Feind. Der epochale Sieg, der von den bewaffneten Kräften des Sowjetlandes, von unserem heldenhaften Volk errungen wurde, wird somit in den Romanen, Filmen und »wissenschaftlichen Studien« vollkommen der strategischen Genialität Stalins zugeschrieben.

Man muß diese Frage aufmerksam analysieren, weil sie nicht nur große historische Bedeutung, sondern vor allem auch politische, erzieherische und praktische Bedeutung hat.

Wie sind die Tatsachen in dieser Angelegenheit?

Vor dem Krieg herrschte in unserer Presse und in der gesamten Erziehungsarbeit ein prahlerischer Ton: Wenn der Feind die heilige sowjetische Erde überfällt, dann antworten wir auf den Stoß des Feindes mit einem dreifachen Stoß. Den Krieg werden wir auf das Territorium des Feindes tragen und ihn bei geringen Verlusten gewinnen. Doch diese plakativen Erklärungen waren durchaus nicht in allen Bereichen durch konkrete Vorkehrungen gestützt, die tatsächlich die Unverletzlichkeit unserer Grenzen gewährleistet hätten.

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Im Verlauf des Krieges und danach brachte Stalin die These vor, daß die Tragödie, die unser Volk in der ersten Periode des Krieges erlebte, angeblich das Ergebnis des »unerwarteten« Überfalls der Deutschen auf die Sowjetunion gewesen sei. Aber, Genossen, das entspricht doch überhaupt nicht der Wirklichkeit. Hitler stellte sich unmittelbar nach der Machtübernahme in Deutschland das Ziel der Zerschmetterung des Kommunismus. Die Faschisten sprachen offen darüber und verheimlichten ihre Pläne nicht. Zur Verwirklichung dieser aggressiven Ziele wurden verschiedenartige Pakte, Blöcke und Achsen gezimmert, solche wie die berüchtigte »Achse Berlin-Rom-Tokio«55. Zahlreiche Fakten aus der Vorkriegsperiode bezeugen deutlich, daß Hitler alle Kräfte darauf richtete, den Krieg gegen den Sowjetstaat auszulösen, und daß er gewaltige militärische Verbände, darunter auch Panzerverbände, in der Nähe der sowjetischen Grenzen konzentrierte.

Aus den heute veröffentlichten Dokumenten geht hervor, daß Churchill schon am 3. April 1941 durch Vermittlung des britischen Botschafters in der UdSSR, Cripps, Stalin persönlich warnte, daß die deutschen Truppen eine neue Verlagerung begonnen hatten und sich auf den Überfall auf die Sowjetunion vorbereiteten. Es versteht sich von selbst, daß Churchill dies ganz und gar nicht aus freundschaftlichen Gefühlen gegenüber dem Sowjetvolk tat. Er hatte dabei seine imperialistischen Ziele — Deutschland und die UdSSR in einen blutigen Krieg zu verwickeln und die Position des britischen Imperiums zu stärken. Nichtsdestoweniger jedoch konstatierte Churchill in seinem Schreiben, er bitte darum, »Stalin zu warnen, damit seine Aufmerksamkeit auf die drohende Gefahr gelenkt« wird. Churchill unterstrich das mit Nachdruck auch in seinen Telegrammen vom 18. April und an den folgenden Tagen. Stalin zog diese Warnungen jedoch nicht in Betracht. Mehr noch, Stalin wies an, daß derartigen

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Informationen nicht geglaubt werden solle, um angeblich keine militärischen Handlungen zu provozieren.

Festzustellen gilt, daß derartige Informationen über die drohende Gefahr des Einfalls deutscher Truppen in das Territorium der Sowjetunion auch über unsere militärischen und diplomatischen Vertretungen eintrafen. Aber weil die Führung von vornherein gegenüber derartigen Informationen voreingenommen war, wurden sie jedesmal vorsichtig formuliert und mit Vorbehalten versehen.

So teilte z. B. der Marineattache in Berlin, Kapitän Woronzow, in einem Telegramm vom 6. Mai 1941 mit: »Der Sowjetbürger Böser teilte unserem stellvertretenden Marineattache mit, daß den Worten eines Offiziers aus dem Hauptquartier Hitlers zufolge die Deutschen für den 14. Mai einen Überfall auf die UdSSR über Finnland, die baltischen Länder und Lettland vorbereiten. Gleichzeitig sollen große Luftangriffe gegen Moskau und Leningrad geflogen sowie Fallschirmspringerlandungen in Grenzstädten vorgenommen werden ...«

In seinem Bericht vom 22. Mai 1941 teilte der stellvertretende Militärattache in Berlin, Chlopow, mit, daß »... der Angriff der deutschen Truppen angeblich auf den 15. 6. festgelegt wurde, doch es ist möglich, daß er in den ersten Tagen des Juni beginnt...«

In einem Telegramm unserer Botschaft aus London vom 18. Juni 1941 wurde mitgeteilt: »Was den gegenwärtigen Augenblick betrifft, so ist Cripps fest davon überzeugt, daß der bewaffnete Zusammenstoß zwischen Deutschland und der UdSSR unvermeidlich ist, und zwar nicht später als Mitte Juni. Den Worten von Cripps zufolge haben die Deutschen bis zum heutigen Tag an den sowjetischen Grenzen 147 Divisionen (Luftstreitkräfte und Hilfstruppen eingeschlossen) konzentriert...«

Trotz dieser ungewöhnlich ernsten Signale wurden keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen, um das Land zur Verteidigung vorzubereiten und das Überraschungsmoment auszuschließen.

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Hatten wir Zeit und Möglichkeiten für solche Vorbereitungen? Ja, wir hatten die Zeit und die Möglichkeiten. Unsere Industrie war bereits auf einem solchen Niveau, daß sie die Sowjetarmee mit allem, was sie benötigte, versorgen konnte. Das wird schon dadurch bestätigt, daß das sowjetische Volk, nachdem wir im Verlauf des Krieges fast die Hälfte unserer gesamten Industrie wegen der Besetzung der Ukraine, des Nordkaukasus, der Westgebiete des Landes, wichtiger Industrie- und Getreidegebiete durch die Deutschen verloren hatten, in der Lage war, die Produktion von militärischer Ausrüstung in den östlichen Gebieten des Landes zu organisieren, die dorthin aus den westlichen Industrierevieren transportierten Ausrüstungen in Betrieb zu setzen und unsere Streitkräfte mit allem zu versorgen, was zur Zerschlagung des Feindes gebraucht wurde.

Wenn unsere Industrie rechtzeitig und ausreichend zur Versorgung der Armee mit Waffen und nötigem Gerät mobilisiert worden wäre, dann hätten wir unermeßlich weniger Opfer in diesem Krieg davongetragen. Eine solche Mobilisierung wurde jedoch nicht rechtzeitig vorgenommen. Und bereits in den ersten Kriegstagen zeigte sich, daß unsere Armee schlecht ausgerüstet war, daß sie nicht genügend Artillerie, Panzer und Flugzeuge zur Abwehr des Feindes besaß.

Die sowjetische Wissenschaft und Technik hatte vor dem Krieg ausgezeichnete Typen von Panzern und Artillerie entwickelt. Doch es wurde für all das keine Massenproduktion organisiert, und wir sind praktisch erst am Vorabend des Krieges zur Modernisierung der Armeeausrüstung übergegangen. Infolgedessen hatten wir im Augenblick des Überfalls des Feindes auf das Sowjetland weder ausreichende Mengen an altem Gerät, das wir ja aus der Ausrüstung herausgenommen hatten, noch an neuem Gerät, dessen Einführung wir erst beabsichtigten. Sehr schlecht stand es um die Luftabwehrgeschütze, nicht organisiert worden war die Produktion von Panzerabwehrmunition. Viele befestigte Räume erwiesen sich im Augenblick des Überfalls als ungeschützt,

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weil die alten Waffen von ihnen abgezogen und neue noch nicht verfügbar waren.

Leider galt dies nicht nur für Panzer, Artillerie und Flugzeuge. Im Moment des Kriegsausbruchs hatten wir nicht einmal eine ausreichende Zahl von Gewehren zur Bewaffnung der Einberufenen. Ich erinnere mich, daß ich in jenen Tagen von Kiew aus Malenkow56 anrief und ihm sagte:

»Die Menschen melden sich zur Armee und verlangen Waffen. Schickt uns Waffen.«

Darauf sagte mir Malenkow: »Wir können keine Waffen schicken. Alle Karabiner haben wir nach Leningrad geschickt. Sie müssen sich selbst bewaffnen.«

So stand die Sache mit der Bewaffnung.

Man kann, nicht umhin, in Zusammenhang damit an folgenden Fakt zu erinnern. Kurz vor dem Überfall der Hitlertruppen auf die Sowjetunion schrieb Kirponos, Befehlshaber des Kiewer Sondermilitärbezirks (er starb später an der Front), an Stalin, daß die deutschen Armeen bis an den Bug vorgerückt waren, verstärkt alles für den Angriff vorbereiteten und höchstwahrscheinlich in kurzer Zeit zur Offensive übergehen würden. Im Zusammenhang damit schlug Kirponos die Schaffung einer zuverlässigen Verteidigung vor, die Evakuierung von 300 000 Menschen aus den Grenzgebieten und die Errichtung mehrerer mächtiger befestigter Räume: die Anlage von Panzerabwehrgräben, den Bau von Schutzbunkern für die Soldaten u. ä.

Auf diesen Vorschlag wurde von Moskau geantwortet, dies sei eine Provokation, man dürfe keinerlei vorbereitende Maßnahmen an der Grenze durchführen, man dürfe den Deutschen keinen Vorwand für den Beginn von Kriegshandlungen gegen uns geben. Somit waren unsere Grenzen unzureichend auf die Abwehr des Feindes vorbereitet.

Als die faschistischen Truppen schon auf sowjetisches Gebiet eingedrungen waren und die Kriegshandlungen begonnen hatten, kam aus Moskau der Befehl, nicht auf die Schüsse zu antworten. Weshalb? Deshalb, weil Stalin entgegen den offenkundigen Tatsachen meinte, daß dies noch

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nicht der Krieg sei, sondern eine Provokation einzelner undisziplinierter Einheiten der deutschen Armee, und wenn wir den Deutschen antworteten, diene das als Grund für den Beginn des Krieges.

Bekannt ist auch die folgende Tatsache. Am Vortag des Überfalls der Hitlerarmee auf das Territorium der Sowjetunion überschritt ein Deutscher unsere Grenze und teilte mit, die deutschen Truppen hätten den Befehl erhalten, am 22. Juni 3 Uhr nachts die Offensive gegen die Sowjetunion zu beginnen. Man teilte das unverzüglich Stalin mit, doch auch dieses Signal wurde nicht zur Kenntnis genommen.

Wie Sie sehen, wurde alles ignoriert: sowohl die Warnung einzelner Militärbefehlshaber als auch die Aussagen von Überläufern aus der feindlichen Armee und sogar die offenen Handlungen des Feindes. Ist das der Scharfblick des Führers von Partei und Land in einem so verantwortungsvollen historischen Augenblick?

Und wohin führte eine solche Sorglosigkeit, ein solches Ignorieren offenkundiger Fakten? Das führte dazu, daß der Feind schon in den ersten Stunden und Tagen in unseren Grenzrayons eine große Zahl an Flugzeugen, Geschützen und anderem Kriegsgerät zerstörte, eine bedeutende Anzahl unserer Militärkader vernichtete, die Truppenführung desorganisierte; somit waren wir nicht imstande, ihm den Weg in die Tiefe des Landes zu versperren.

Sehr schwerwiegende Folgen, insbesondere für die Anfangsperiode des Krieges, hatte der Umstand, daß infolge des Mißtrauens Stalins im Verlauf der Jahre 1937 bis 1941 auf der Basis verleumderischer Anklagen viele militärische Kommandeure und Politarbeiter liquidiert worden waren. Im Lauf dieser Jahre wurden mehrere Schichten von Führungskadern Repressalien ausgesetzt, angefangen bei der Kompanie- und Bataillonsebene bis hin zu allen höheren Militärzentren. Dabei wurde der Führungskader, der eine bestimmte Erfahrung bei der Kriegführung in Spanien und im Fernen Osten erworben hatte, nahezu völlig liquidiert.

Die Politik der in breitem Maßstab gegenüber Militärka-

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dem verfügten Repressionen hatte auch die schwerwiegende Folge, daß sie die Grundlagen der militärischen Disziplin untergrub, weil im Laufe mehrerer Jahre die Befehlshaber aller Dienstgrade, ja selbst die Soldaten in den Partei- und Komsomolzellen angewiesen wurden, ihre Vorgesetzten als getarnte Feinde zu entlarven. Es ist klar, daß dies in der ersten Kriegsperiode einen negativen Einfluß auf die militärische Disziplin hatte.

Schließlich hatten wir vor dem Kriege ausgezeichnete militärische Kader, die der Partei und der Heimat grenzenlos ergeben waren. Es genügt, zu sagen, daß diejenigen von ihnen, die mit dem Leben davonkamen — ich denke hier an solche Genossen wie Rokossowski57 (er war verhaftet worden), Gorbatow58, Merezkow 59 (er ist auf dem Parteitag anwesend), Podlas (ein hervorragender Heerführer, er fiel an der Front) und viele andere —, sich trotz der schweren Qualen, die sie in den Gefängnissen erlitten, von den ersten Kriegstagen an als echte Patrioten erwiesen und heldenhaft zum Ruhme der Heimat kämpften. Trotzdem sind viele solcher Heerführer in Lagern und Gefängnissen umgekommen, und die Armee hat sie nicht wiedergesehen.

All das führte zu der Situation, die zu Kriegsbeginn bestand und die zur größten Gefahr für das Schicksal unserer Heimat wurde.

Man sollte nicht vergessen, zu erwähnen, daß nach den ersten schweren Mißerfolgen und den an den Fronten erlittenen Niederlagen Stalin der Ansicht war, daß das Ende gekommen sei. In einem Gespräch jener Tage sagte er: »Alles, was Lenin geschaffen hat, haben wir unwiederbringlich verloren.«

Danach leitete Stalin über lange Zeit faktisch keine Militäroperationen und befaßte sich überhaupt nicht mit irgendwelchen Angelegenheiten, er kehrte erst an die Führung zurück, nachdem einige Mitglieder des Politbüros zu ihm gekommen waren und sagten, man müsse unverzüglich diese und jene Maßnahmen ergreifen, um die Situation an der Front zu verbessern.

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Somit war also die bedrohliche Lage, in der sich unsere Heimat in der ersten Periode des Krieges befand, in hohem Grade das Ergebnis der falschen Methoden der Leitung des Landes und der Partei durch Stalin selbst.

Es geht aber nicht nur um den Augenblick des Kriegsbeginns, der unsere Armee ernsthaft desorganisierte und uns schwere Verluste brachte. Nach Beginn des Krieges fügten die Nervosität und Hysterie, die Stalin zeigte, als er sich in den Verlauf der Militäroperationen einmischte, unserer Armee ernste Schäden zu.

Stalin war von einem Verständnis für die reale Situation an den Fronten weit entfernt. Das ist natürlich, weil er während des ganzen Vaterländischen Krieges weder an irgendeinem Frontabschnitt noch in irgendeiner der befreiten Städte gewesen ist, wenn man den Blitzbesuch an der Moshaisker Chaussee bei stabiler Frontlage außer acht läßt, über den so viele literarische Werke mit Phantastereien aller Art geschrieben und so viele Bilder gemalt wurden. Gleichzeitig mischte sich Stalin unmittelbar in den Verlauf der Operationen ein und gab Befehle, die häufig die wirkliche Lage an dem jeweiligen Frontabschnitt nicht berücksichtigten und nur zu gewaltigen Menschenverlusten führen mußten.

Ich erlaube mir im Zusammenhang damit, einen charakteristischen Fakt anzuführen, der davon zeugt, wie Stalin die Fronten führte. Auf dem Parteitag ist Marschall Bagramjan60 zugegen, der seinerzeit Chef der Operationsabteilung des Stabes der Südwest-Front war und der bestätigen kann, was ich Ihnen jetzt sage:

Als 1942 im Gebiet Charkow eine für unsere Truppen außergewöhnlich schwierige Situation entstand, faßten wir den richtigen Beschluß, die Operation zur Einschließung Charkows einzustellen, weil unter den realen Bedingungen jener Zeit eine weitere Fortsetzung einer solchen Operation für unsere Truppen fatale Folgen gehabt hätte.

Wir trugen das Stalin vor und erklärten, daß die Lage eine Änderung des Aktionsplanes verlange, um es dem Feind nicht zu ermöglichen, eine große Gruppierung unserer Armee zu vernichten.

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