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EINLEITUNG

Chorafas-1974

»Der oberste aller Grundsätze ist, daß niemand, nicht Mann noch Frau, ohne einen Oberherrn sein sollte. Noch auch sollte einer sich vermessen, jemals aus eigenem Willen zu handeln; weder aus Eifer noch gar im Spiel - mit einem Wort, er sollte durch lange Übung seine Seele lehren, niemals von sich aus handeln zu wollen, ja sich dazu alle Fähigkeiten zu nehmen.«  Platon

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Grenzen der Freiheit

Die menschliche Zivilisation hat das Gesicht unseres Planeten derart verändert, daß wir uns allmählich der Grenzen bewußt werden, welche die Freiheit beschränken. Schon heute und für die kommenden drei Jahrzehnte gilt, daß es nicht mehr um >Freiheit< oder >Unfreiheit< schlechthin geht, sondern um die Entscheidung zwischen einer Freiheit, die praktikabel ist, und einer, die sich nicht abfinden will mit den Grundsätzen und der Selbstbeschränkung, die sie erst akzeptabel machen. Freiheit heißt Abwägen, und wir sehen ein, daß es unmöglich ist, das relative Gewicht in der einen Waagschale zu bewerten, wenn wir das in der anderen nicht kennen. Dies gilt um so mehr, als die rasche Entwicklung von Wissenschaft und Technik es immer schwieriger macht, herkömmliche, altbewährte Maßstäbe anzulegen.

Freiheit, das ist nach der traditionsgeprägten Ansicht vieler ein Zustand, der das Gegenteil von Beschränkung, Unterdrückung oder Sklaverei darstellt. Sie teilt sich in die Kategorien des Bürgerlichen und des Politischen; bürgerliche Freiheit bedeutet, daß der Bürger keiner Willkürherrschaft unterworfen ist und daß die Menschenrechte garantiert sind, wie man sie in Unabhängigkeitserklärungen, Verfassungen und juristischen Entscheidungen formuliert findet.

Freiheit verlangt jedoch gesetzlich bestimmte Begrenzungen, die sicherstellen, daß die Gesellschaft als Ganzes funktions- und lebensfähig bleibt. Politische Freiheit herrscht, wo der einzelne durch sein Wahlrecht und das Recht der Bekleidung öffentlicher Ämter Einfluß auf die Regierung hat, wozu als Erweiterung der Definition noch wirtschaftliche Betätigungsfreiheit, Sicherheit und andere unscharf bestimmte und großenteils wider­sprüchliche Zielsetzungen treten. Gesellschaften, in denen die Sklaverei legal war, erfanden den abstrakten Freiheitsbegriff: »Freiheit für morgen, nicht für heute.« Dies ist Freiheit in Gestalt von Hoffnung, eine Verquickung von Worten und Begriffen, ein Problem der Semantik.

Der Begriff der Freiheit ist in die Sozialphilosophie des Christentums, des Buddhismus, des Islams und des Judaismus eingegangen; dennoch, in die soziologische Realität all dieser Religionssysteme wurde er nie ausdrücklich übernommen - als hätte die Gesellschaft selbst seine weiteren Implikationen gescheut. Der Wunsch des Menschen, frei zu sein, läßt an viele Analogien denken. Den besten Vergleich liefert vielleicht Sisyphos, der mythische König der Korinther, der verurteilt wurde, immer wieder einen schweren Stein den Berg hinauf zu wälzen, der dann jedesmal wieder abwärtsrollte. Die Sozialphilosophie rollt den Stein den Berg hinauf, talwärts wird er gezogen von seinem Gewicht, den Realitäten und den Forderungen des Lebens in der Gesellschaft.

Die »freie Welt«

In den vergangenen drei Jahrzehnten war viel die Rede von der »freien Welt« und vom »Wert des Individuums«. Doch die menschliche Natur - von welchem sozialstrukturellen oder wissenschaftlichen Standort aus man sie auch prüft - gibt diesen Begriffen kaum Rückhalt. Jene von uns, die als junge, unerfahrene Menschen, also für große Worte und hohle Phrasen empfänglich, während des Zweiten Weltkriegs in der Widerstandsbewegung für Freiheit, Würde und Anstand kämpften, denken heute mit Unbehagen daran zurück. Mag die »Freiheit« gesiegt haben, wie die anglo-russischen Alliierten behaupteten, Würde und Anstand jedenfalls wurden zugrunde gerichtet - und mit ihnen verschwand der Wert des Individuums, ja sogar das Gefühl der Scham für manches, was seither geschehen ist.

Nur Unerfahrene, Narren und Naive behaupten, daß sie Freiheit schlechthin besäßen. Die Menschen müssen aus ihrer selbstzufriedenen Bequemlichkeit aufgerüttelt werden, sie müssen erkennen, daß Freiheit, nämlich relative Freiheit, nur durch ständiges Mühen zu gewinnen ist - besonders durch die Entwicklung ihres Intellekts. Jeder, der ein mehr als oberflächliches Wissen von gesellschaftlichen Vorgängen besitzt, ist sich heute bewußt, daß Freiheit nicht darin bestehen kann, nach Belieben zwischen dieser oder jener Möglichkeit des Handelns zu wählen. Es gibt immer einen ganz bestimmten Grund, warum wir uns nur für einen von mehreren Wegen entscheiden. Der Mensch ist frei, wenn er nur von seiner Vernunft und nicht von seinen animalischen Leidenschaften beherrscht wird. Frei sein heißt, sein Leben und seine Handlungen durch zielgerichtete Entscheidungen steuern zu können.

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Demagogen, Sophisten, allzu theorieverhaftete Soziologen und abstrakte Denker haben die Freiheit sozusagen als eine »Lizenz« behandelt - nichts könnte falscher sein. Ebenso ist Freiheit aus Vorrecht der Zusammenbruch gesellschaftlicher Disziplin. Der Wunsch danach ist bezeichnend für Menschen, die sich nicht an die Rollen, Regeln, Beschränkungen und Grenzen halten und damit auf die Chancen, Hoffnungen und Vorteile verzichten, die die gesellschaftliche Verfassung bietet. Freiheit aus Vorrecht ist - wie Demokratie für alle - ein Begriff, den die Allgemeinheit nur zu gern benutzt; aber er ist unglaubhaft und wird noch viel weniger praktiziert. Freiheit dieser Art erleidet das gleiche Schicksal wie die Gans, die für »päte de foie gras« bestimmt ist: Beide werden gemästet und beide sterben wehrlos, um einigen Privilegierten als Leckerbissen zu dienen.

Freiheit gedeiht nur allmählich, abhängig von einem breiten und vielfältigen Spektrum von Organismen der belebten Welt: Der Baum hat die Freiheit zu atmen, das Tier die Freiheit zu atmen und sich fortzubewegen, der Mensch die Freiheit zu atmen, sich zu bewegen und zu denken - aber nutzt er diese Eigenschaft? Freiheit ist zugleich Streben und Haltung, populär interpretiert eine Befreiung von den Fesseln der Gesellschaft. Aber der Denkfähige sieht Freiheit nur gedeihen, wenn es Aufgaben und Begrenzungen gibt: »Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.«

Die Notwendigkeit wird zumeist von den Sitten, Begrenzungen werden durch Gesetze bestimmt. Wenn die ganze Gesellschaft dahintersteht, achtet sie auf die Einhaltung der ersteren strenger als auf die Beachtung der letzteren.

Der Mensch als denkendes Wesen ist sich nicht immer bewußt, daß von Freiheit als etwas Selbstverständlichem nur die Rede sein kann, wenn eine Einteilung nach Arbeit, Besitz oder Rang, eine soziale Differenzierung vorhanden ist, welche die Entfaltung der Individualität innerhalb jeder Klasse gestattet. Nur dort, wo sich eine festgefügte soziale Schichtung entwickelt hat, wo religiöse Vorstellungen, politische Überzeugungen und die Gesellschaftsordnung die trennenden Linien sozialer Lebensbedingungen deutlich machen, kann Freiheit innerhalb einer Klasse gedeihen. Begrenzungen lassen Ursprung und Kraft menschlicher Motivierung erkennen; sie lenken und befreien zugleich die Kräfte, die in den Tiefen des menschlichen Denkens liegen.

Goethe hatte den Blick dafür, wie Begriff und Gebrauch der Intelligenz sich auf die persönliche Freiheit auswirken. Eduard v. Hartmann sah in der Intelligenz eine Weiterentwicklung des menschlichen Geistes und die Freiheit als eine auf Unwissenheit gebaute Illusion.

Der Mensch, sagt Robert Hamerling, könne wohl nach seinem Willen handeln, aber sein Wille bestimme nicht seine Wünsche, denn diese seien von Motiven gelenkt. Ein ähnlicher Gedankengang wird T. E. Lawrence zugeschrieben: »Ich kann zwar tun, was ich will, aber ich kann nicht wollen, was ich will.« in dieser Sicht muß jeder, der sich über die Natur des Menschen

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und seine Stellung in der Welt klarwerden will, seinen Freiheitsbegnff formulieren - aber in jedem Fall verleiht Freiheit, durch Intelligenz vertieft, dem Denken wie dem Handeln einen hohen Grad von Verantwortungsgefühl.

Wer sein Denken beherrscht, steht seinen Wünschen unabhängig gegenüber; er kann sie zügeln oder ihnen nachgeben. Eine vollkommene Gesellschaft wäre die, in der jeder einzelne sich seiner Verpflichtungen - und der relativen Freiheit der anderen - bewußt ist und seine eigenen Wünsche und Grenzen entsprechend bestimmt. Eine solche Gesellschaft wird ein Ideal bleiben, aber ein Ideal, dem wir uns nähern können, wenn wir die bewährten Mechanismen unseres Kulturerbes nutzen, was wir bisher nicht getan haben.

Das Kulturerbe ist der Schlüssel zur persönlichen Freiheit, da es die Pforte zum geistigen Leben des Menschen hütet. Es umfaßt Religion und Philosophie, Geistes- und Naturwissenschaften, Kunst, Technik, politisches Denken und gesellschaftliche Praxis, Organisationen und Institutionen der Sozietät, Gesetzgebung und Regeln des Gemeinschaftslebens, moralische und ethische Normen, Ästhetik und Sprache, Kritik und Sprichwortweisheit. Modelle und Methoden der Abstraktion und der Konkretisierung. Dieses unser kulturelles Erbe ist sowohl eine Position als auch eine potentielle Macht, die wir bisher nur bis zu einem sehr begrenzten Grad beherrschen gelernt haben.

Das Kulturerbe und seine Verarbeitung tragen weniger Früchte, wenn, wie heutzutage, das rasche Tempo der Veränderung Dinge und Probleme in den Vordergrund rückt, die nicht hervortreten, wenn die gesellschaftliche Entwicklung langsam vorangeht. Das beschleunigte Tempo hat dazu geführt, daß unsere traditionellen religiösen und sozialen Emotionen sich aus der gesellschaftlichen Ordnung zurückziehen und allenfalls in psychedelischen Experimenten, Sensitivitätstraining und in Akten, die als Verbrechen, Marotten oder Handlungen am Rande von Geistesstörungen gelten, noch eine verkümmerte Existenz fristen.

Der »Fortschritt« hat heute vielerorts den Hunger im physischen Sinn durch geistige Entbehrung ersetzt. Es ist das Paradoxon unserer Zeit, daß alles zwar laufend besser, doch zugleich schlechter wird, daß wir immer mehr Sachverstand brauchen, um uns aus der Bredouille herauszuwinden, in die unsere »Sachverständigen« uns gebracht haben. Seit mindestens einem Dutzend Jahren spüren wir allenthalben den schalen Geruch der Entfremdung. Während die nachindustrielle Gesellschaft sich in einem wahren Supermarkt kultureller Leckerbissen mästet, wird die Welt immer ärmer an Bildung, Kulturtraditionen und echter geistiger Kreativität. Dies kann nicht ewig so weitergehen, denn jede Aktion führt zu einer Reaktion. Noch vor dem Ende dieses Jahrhunderts dürfte unsere so materialistische Epoche von einem Zeitalter abgelöst werden, in dem wieder das Geistige dominiert.

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Die menschliche Persönlichkeit

Die Grenzen der Freiheit - unserer eigenen wie der anderer - erfassen wir am besten, indem wir lernen, unsere geistige Entwicklung zu planen und zu steuern: mit unseren eigenen Augen zu lesen, mit unseren eigenen Ohren zu hören, uns selbständig fortzubewegen, mit unserem eigenen Gehirn zu denken, Schriftstücke und Bücher durch unsere eigenen Gedanken zu ergänzen. Für den Geschulten trägt eine »Wahrheit«, die von außen kommt, immer den Stempel des Ungewissen. Glauben kann er nur, was er durch seine eigenen Sinnesorgane wahrnimmt und durch seinen Geist als wahr erfaßt. Nur solche Wahrheit kann ihm die Sicherheit geben, seine eigenen Anlagen zu entwickeln. Wer von Zweifeln geplagt ist, fühlt seine Kräfte gelähmt; in einer Welt voller Rätsel sieht der Mensch kein Ziel für seine schöpferischen Energien. Strebte die Wissenschaft nicht danach, den Wert der Existenz für die menschliche Persönlichkeit zu erhöhen, wäre sie nichts weiter als Befriedigung müßiger Neugier.

Von klein auf muß der Mensch sein Bewußtsein entwickeln, denn Voraussetzung für seine Freiheit ist, daß er sein geistiges Potential und damit seine Gedanken und Handlungen beherrschen lernt. Die meisten Menschen jedoch haben weder die Ausbildung noch überhaupt das Verlangen nach aktivem, schöpferischem Denken. Sie scheinen nicht zu erkennen, daß Freiheit den sinnvollen Einsatz der geistigen Fähigkeiten des Individuums verlangt; andernfalls beschränkt sie sich darauf, daß man seine Glieder benutzt, und selbst dies ist nur in einem begrenzten Umfang möglich. Das demonstriert die Bemerkung eines Richters, der einen Angeklagten belehrte: »Die Bewegungsfreiheit Ihrer Hände endet dort, wo die Nase Ihres Nachbarn beginnt.«

Die Freiheit ist zwar kein monströser, kurzsichtiger Koloß, aber sie kann leicht dazu werden, wenn sie ins Extrem getrieben wird. Die größte Brutalität, die jemals gegenüber dem kolonialen Afrika begangen wurde, war seine überstürzte Entlassung in die »Unabhängigkeit«. Seit einem Vierteljahrhundert zeigen sich die bunt zusammengewürfelten Gebilde aus den unterschiedlichsten Stämmen (»Nationen« genannt) unfähig, stabile Eliten hervorzubringen. Die Bevölkerung dieser jungen Staaten, von Verzweiflung erfüllt, lebt unter den armseligsten Bedingungen, voll Haß und Furcht vor dem, was das Morgen bringen mag. Solche Freiheit ohne jede Zügelung hat gewaltige Probleme geschaffen. Wenn keine lenkenden Eingriffe erfolgen, zerfällt die soziale Struktur - eine Lehre, die theorieverliebte Soziologen und andere Verfechter ungehemmter Freiheit unseres aufgeklärten Jahrhunderts noch kaum begriffen haben.

Es läßt sich unmöglich entscheiden, ob Mord um der Freiheit oder des Glaubens willen, aus rassischen Gründen oder persönlichem Ehrgeiz abscheulicher ist. Noch immer gelten Verschiedenheiten der Religion, der Volkszugehörigkeit oder der Gesellschaftssysteme als Entschuldigungen für Brutalität und Untaten.

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Die Zeit vor Beginn und während des Zweiten Weltkriegs brachte die Vernichtung der Juden durch das Dritte Reich. Danach führte eine Welle nationaler Befreiungen dazu, daß - um nur ein paar Beispiele zu nennen - Inder, Pakistanis, Sikhs, Koreaner, Vietnamesen, Sudanesen, Jemeniten, Kongolesen und Katangesen einander, ja ihre eigenen Landsleute wahllos abschlachteten. Christliche Kreuzfahrer, islamische Eroberer, Anhänger der friedlichen Religion Buddhas, Gläubige des Kommunismus, Philister, Griechen und Römer, Deutsche, Engländer, Türken und Slawen und unzählige andere haben und wurden getötet im Namen der Freiheit. Kein Moloch hat mehr Opfer verschlungen als die »Freiheit«, was immer man darunter verstand.

Mit kalter Logik

Wann haben wir das Verlangen nach Freiheit - mit fünf Jahren, mit zehn, mit zwanzig oder vierzig? Warum streben wir im Prozeß des geistigen Reifens nach einer gültigen Definition dieses Begriffs? Weil nur er die drängenden geistigen Fragen konkretisiert und wir allein durch ihn den Sinn der Fragen erfassen können, die wir uns stellen. Der Mensch ist sowohl Bindeglied als auch trennendes Element zwischen dem Makrokosmos, in dem er lebt, und dem Mikrokosmos seines Geistes. Er braucht Wissen und Reife, um zu erkennen, wie weit Freiheit darin besteht, seinen Intellekt schöpferisch einsetzen zu können.

Die Beherrschung des Geistes ist die höchste Form der Disziplin und zugleich die Personalisierung der Freiheit. Es erfordert eine strenge Zucht der geistigen Fähigkeiten und Talente, um ein Homer, ein Sokrates, ein Goethe, Tolstoi oder Andre Maurois zu werden. Der Schriftsteller oder der Künstler schafft sich eine eigene Welt, in der er sich frei fühlt. Prosa und Lyrik sind Idiome der Freiheit.
Viele Dichter und Schriftsteller des 17., 18. und 19. Jahrhunderts, die die sozialen und politischen Verhältnisse ändern wollten, kleideten ihre kritischen Gedanken in dichterische Form. Was der in seiner Freiheit eingeschränkte Solschenitzin heute sagt, drückte vor mehr als dreihundert Jahren Moliere in poetischer Form aus: »Bien qu'on soit deux moities de la societe, ces deux moities pourtant n'ont pas d'egalite; 1' une est moitie supreme et l'autre subalterne; l'une est toute soumise ä l'autre qui gouveme.. .«*

* >Ecole des Fennes<, III. Akt, 2. Szene.

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Das gleiche gilt für Nationen. Es gibt keine Gleichheit. Wo immer Gleichberechtigung praktiziert wurde, war ein Chaos die Folge. In der Tierwelt dominiert stets eine bestimmte Spezies - und in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften jeweils eine Nation. Durch die Zerstörung der deutschen Machtstellung in Europa und der japanischen in Asien entwickelte Amerika ein übersteigertes Bewußtsein seiner eigenen militärischen Stärke, ein übertriebenes Expansionsdenken, zugleich aber wollte es das ehrwürdige Amt des Weltpolizisten nicht übernehmen. Der Vietnamkrieg war keine Polizeiaktion, sondern ein Abenteuer der Frustration. Die Amerikaner waren und sind noch immer nicht vorbereitet auf die Rolle einer wahren Weltmacht.

Die Aufteilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg schuf in Mitteleuropa ein gewaltiges Vakuum. Die Auflösung des Britischen Weltreiches nach 1945 brachte die Welt um ihre >Polizeitruppe<. Heute steht die Menschheit an einem historischen Wendepunkt - erst spät hat man erkannt, daß Diplomatie ohne den Rückhalt der Macht nichts auszurichten vermag.

Diese Entwicklung geht auf eine von Grund auf fehlkonzipierte Strategie zurück: Der Kampf im Zweiten Weltkrieg hatte nur den Sieg zum Ziel, nicht den Frieden, der auf ihn folgte. Die deutsche Nation wurde zweigeteilt, so wie man nach dem Ersten Weltkrieg Österreich-Ungarn zerstückelte. Ergebnis war, daß die Welt ihr Gleichgewichtsgefühl verlor. Bismarck hatte das Gespür für die Machtbalance. Die amerikanischen Präsidenten von Wilson bis Nixon verstanden nichts vom Ausgleich der Kräfte.

Macht

Macht, das Vermögen, anderen gegenüber seine Ziele durchzusetzen, darf nicht verwechselt werden mit der bloßen Anwendung von Gewalt. Die Macht ausübende Autorität schließt Toleranz und Anstand ein, die dem menschlichen Geist durch Erziehung und Übung eingepflanzt werden können. Autorität, Toleranz und Anstand müssen jedoch durch bewußte Anstrengung lebendig erhalten werden; sie sind nicht unzerstörbar an sich, selbst in überaus willensstarken Charakteren und den stabilsten Gesellschaften. Wenn Freiheit überhaupt einen Sinn hat, dann den, Autorität für gesellschaftliche Ziele einzusetzen.

Terrorismus und andere Formen der Gewalt sind nicht Macht, sondern Verneinung sittlicher Macht; Terrorismus gedeiht im zerbröckelnden Mauerwerk einer maroden Gesellschaft, bedroht die Fundamente der Freiheit und beschleunigt den endgültigen sozialen Zusammenbruch. Gewaltanwendung ist nicht das letzte Mittel Verzweifelter, sondern das erste Mittel derer, die nicht konstruktiv handeln und nur das Chaos wollen. Die Greuel unseres Jahrhunderts haben in der Gesellschaft von heute ein Gefühl entstehen lassen, das immer mehr um sich greift: Gegenüber Phänomenen wie Terrorismus, einer kafkaesken Bürokratie, der Gefahr des Atomkriegs, Konzentrationslagern und Massenpsychosen ist der Mensch ein wehrloses Opfer, eine bedeutungslose Null, ein hoffnungsloses Bündel bedingter Reflexe. Gesellschaften, aus denen die Herrschaft wohlmeinender Macht verschwunden ist, haben Kafkas Visionen übertroffen.

Nicht in der Macht, sondern in der Schwäche liegen die Wurzeln der Enthumanisierung des Menschen. Kapitalverbrechen, von kaltblütigem Mord bis zu Flugzeugentführungen, werden nicht mehr geahndet, wie sie es verdienen, und damit geradezu popularisiert. Angesichts des Verfalls von Macht und Autorität wächst die Dreistigkeit extremistischer Gruppen gegenüber der Gesellschaft, die endlich dagegen einschreiten sollte, wenn sie fortbestehen will. Die vergangenen dreißig Jahre zeigten klar, daß gerade jene Regierungen, die sich am nachgiebigsten und schwächsten zeigten, den schärfsten Angriffen ausgesetzt waren und schließlich den Boden unter den Füßen verloren.

Im alten Griechenland und im Römischen Reich, in Ägypten, Mesopotamien und Persien, im Italien der Renaissance, in Deutschland, Frankreich, Amerika, Japan oder China spiegelte sich die Macht der führenden Gruppe im Staat und der reichen Oberschicht in Kulten und Privilegien wider. Macht wird in den verschiedensten Verkleidungen ausgeübt, als physische Gewalt oder geistige Überlegenheit. Sie kann gegründet sein auf hervorragende Leistungen, auf persönliches Prestige oder auf den Besitz eines hohen Amtes. Aber wie die Gesellschaft auch organisiert ist, Sitte und Gesetz stehen auf der Seite des Herrschenden. Und das gilt auch für die Freiheit.

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D. N. Chorafas, Valmer, im Januar 1974

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