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Krankenhäuser und Gesundheitswesen

Die ökotopianische Lösung 

 Nachwort des Herausgebers  

 

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San Francisco, 15. Juni 1999  

Ein mißlicher Unfall hat mir Gelegenheit gegeben, das ökotopianische Kranken­haus­leben aus nächster Nähe zu beobachten. Ich habe mich in den letzten Tagen von einer bösen Verletzung erholt, genese jedoch rasch und rechne damit, morgen aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, auch wenn ich mich noch einige Zeit lang werde schonen müssen.

Das, was bei einem Vergleich zwischen den ökotopianischen Krankenhäusern und unseren am meisten auffällt, ist der Größenunterschied. Obwohl die medizinische Betreuung, die ich genoß, sich anscheinend auf dem neuesten Wissensstand befindet, herrscht eine Atmosphäre wie in einem winzigen Landkrankenhaus. Es liegen hier insgesamt nur etwa 30 Patienten, und wir sind praktisch in der Minderheit gegenüber dem Pflegepersonal (das, nebenbei bemerkt, viel längere Arbeitszeiten hat als bei uns, aber zum Ausgleich über ebensoviel Freizeit verfügt).

Die Bereiche Röntgen, Chirurgie, Anästhesie und die anderen medizinischen Abteilungen scheinen in jeder Beziehung ebenso kompetent zu sein wie bei uns, obwohl das äußere Erscheinungsbild des Krankenhauses einem Amerikaner ein wenig provinziell vorkommen mag: die Wände sind nicht gekachelt, und ich vermißte den Geruch von Desinfektionsmitteln, der für mich immer mit Krankenhäusern verbunden war. Auf der anderen Seite wirkt alles sauber und gepflegt, und die Ärzte sind aufmerksam und scheinen gut ausgebildet, auch wenn sie zweifellos keine Vorstellung davon haben, was ein amerikanischer Patient von ihnen erwartet.

In einer Hinsicht haben die Ökotopianer eine gänzlich andere Richtung eingeschlagen als unsere modernen Krankenhäuser. Sie setzen keine elektronischen Anlagen ein, mit denen das Pflegepersonal von einer zentralen Stelle aus viele Patienten zugleich überwachen könnte. Begründet wird das, soweit ich erfahren konnte, damit, daß die persönliche Anwesenheit und Fürsorge von Pflegern und Schwestern von entscheidender Bedeutung sei. Das einzige elektronische Gerät, das man benutzt, ist ein kleines Funkgerät, mit dem man die Schwester von überall auf dem Krankenhausgelände herbeirufen kann, ohne irgend jemanden zu stören. Die Schwestern verfügen über eine grundliche Ausbildung auf einigen Spezialgebieten, die unserem Kranken­pflege­personal unbekannt sind, besonders in der Massage, der man eine wichtige Funktion bei der Belebung der körperlichen Regenerationskräfte zuschreibt.

Die Ökotopianer sind von der Wiege bis zur Bahre krankenversichert, was drastische Auswirkungen auf das Gesundheitswesen hatte. Statt der früheren Kontrolle durch den Berufsstand selbst sind die Kliniken und Krankenhäuser jetzt den Gemeinden verantwortlich – im Normalfall also der Kleinstadtgemeinde von etwa 10.000 Einwohnern. 

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Dadurch ist es vorbei mit dem Privileg des Arztes, sein Honorar selbst zu erheben, auch wenn ein Mediziner immer noch bei Angeboten verschiedener Gemeinden um die Höhe des Gehalts handeln kann und die Ärzte in dem Ruf stehen, mit die höchsten Einkommen in Ökotopia zu beziehen – und das, obwohl ihre Zahl weit höher ist als bei uns. Die Ärzte erledigen viele Arbeiten, die in unserem höher spezialisierten System den Schwestern und Technikern zufallen; umgekehrt führen Schwestern und Techniker auch einen guten Teil der Tätigkeit aus, die unsere Mediziner sich vorbehalten. 

Mir ist aufgefallen, daß die Gespräche zwischen Ärzten, Pflegepersonal und Patienten wesentlich lebendiger geführt werden als in unseren Krankenhäusern; offenbar ist die moralische Autorität des Arztes gesunken. Die Arbeitsbedingungen der Mediziner können aber nicht allzu schlecht sein, da sonst mehr von ihnen das Land verlassen würden. Meines Wissens gingen in der Anfangszeit nur einige Hundert Ärzte ins Ausland (meist Spezialisten mit hohem Einkommen), und in der letzten Zeit überhaupt niemand mehr. In Ökotopia ist man anders als bei uns nicht mehr darauf angewiesen, die Lücken im Krankenhauspersonal mit Ärzten zu besetzen, die im Ausland studiert haben, da man unmittelbar nach der Unabhängigkeit die Kapazität der medizinischen Ausbildungsstätten verdoppelt hat.

Für intensive Nachforschungen im Krankenhaus reichten meine Kräfte nicht aus. Aber das gravierendste Problem der ökotopianischen Medizin dürfte wohl der Mangel an wirklich erstklassigen Spezialisten sein. Es gibt zwar Spezialisten, die auch häufig konsultiert werden, aber man verlangt von ihnen, daß sie gleichzeitig allgemeinmedizinisch tätig sind. Dieses unwirtschaftliche System wird damit gerechtfertigt, daß die Ärzte auf diese Weise engen Kontakt zu den medizinischen Bedürfnissen des Volkes insgesamt halten; aber es liegt auf der Hand, daß bei einem solchen Vorgehen die Ausbildung und die Fähigkeiten von Spezialisten alles andere als optimal genutzt werden. Einige Spezialfächer werden in der Tat bereits nicht mehr praktiziert. Beispielsweise werden Frauen im allgemeinen – außer in einigen Fällen, die Komplikationen erwarten lassen – zu Hause von medizinisch ausgebildeten Hebammen entbunden; die Krankenhäuser selbst haben weder Wöchnerinnenstationen noch Geburtshelfer.

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Die Intensivstationen sind ebenfalls nicht so hochentwickelt wie in unseren Krankenhäusern. Darin liegt auf jeden Fall eine gewisse Gefühllosigkeit gegenüber Todkranken oder Patienten in sehr kritischem Zustand, die allenfalls mit der geradezu genialen Technik amerikanischer Krankenhäuser am Leben erhalten werden könnten. Das mag teilweise ökonomischer Zwang sein, doch haben die Ökotopianer auch eine merkwürdig fatalistische Einstellung zum Tod. Sie ziehen es vor, zu Hause zu sterben, und alte Ökotopianer verwenden viel Zeit und Kraft darauf, sich auf ihren Tod vorzubereiten. Man sagt sogar, daß sie wie die Indianer Nordamerikas den Tag ihres Todes bestimmen, ja sogar ihren Tod willentlich herbeiführen können. 

Wie dem auch sei, wenn sie spüren, daß ihre Zeit gekommen ist, wehren sie sich jedenfalls nicht und finden Trost in ihrer ökologischen Religion: auch sie gehen jetzt in den Kreislauf des Lebens ein. Auf der anderen Seite ist das ökotopianische Gesundheitswesen stark auf Vorsorge ausgerichtet. Die vielen örtlichen Kliniken führen regelmäßig Untersuchungen bei allen Bürgern durch und sind bei kleinen gesundheitlichen Problemen, aus denen sich große entwickeln könnten, rasch zu erreichen. Kein Ökotopianer muß wegen zu hoher Kosten oder fehlender medizinischer Einrichtungen auf eine Behandlung verzichten.

Alle ökotopianischen Ärzte erhalten eine – wie man bei uns sagen würde – psychiatrische Ausbildung, wobei allerdings in Ökotopia Psychologie und Psychiatrie nicht als getrennte Gebiete behandelt werden. Mein Arzt widmete daher meiner psychischen Disposition ebensoviel Aufmerksamkeit wie meinen körperlichen Verletzungen. Angeblich sind die Geistes­krankheiten seit der Unabhängigkeit im Rückgang begriffen, doch dürfte es in Anbetracht der einschneidend veränderten Umstände außerordentlich schwer fallen, solche Behauptungen zu beweisen oder zu widerlegen. Ich kann aber bestätigen, daß auf den Straßen Ökotopias nicht das muntere Treiben augenscheinlich Verrückter herrscht, das wir aus unseren Städten kennen. Andererseits sind die Sicherheit und Zuversicht der Ökotopianer, die aus ihrer engen, sehr persönlichen Form des Zusammenlebens im Kreis der Nachbarschaft und der Großfamilie erwachsen, mit einem Verlust von Anonymität und Freiheit erkauft.

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Die Ökotopianer leben – so drückte es ein Arzt mir gegenüber aus – in dem Gefühl, »nie allein zu sein«. Das häufigste psychiatrische Symptom, mit dem die Leute hier den Arzt aufsuchen, seien Phantasievorstellungen von Einsamkeit und in Gedanken begangener Gewalt verbrechen. (Es ist eine sonderbare Bestätigung der rituellen Kriegsspiele, daß vor allem ältere Menschen und Frauen, die nicht an den Spielen teilnehmen, von solchen gewalttätigen Regungen gequält werden.) Manche Leute finden Erleichterung bei Wanderungen durch die Wildnis, auf denen sie einmal wochenlang völlig allein sein können. Dennoch bleibt es fraglich, ob Ökotopianer glücklicher sind als Amerikaner. Wahrscheinlich gehen unterschiedliche Lebensweisen immer mit Verlusten einher, die den Gewinnen die Waage halten, und mit Gewinnen, die die Verluste ausgleichen. Vielleicht sind die Ökotopianer nur auf andere Art und Weise glücklich und unglücklich, als wir es sind.

 

(15. Juni, später) Habe gerade eine Botschaft vom Sekretär der Präsidentin erhalten: man hofft, daß meine Genesung gute Fortschritte macht. Ich soll sie wissen lassen, wenn ich wieder auf den Beinen bin. Gute Nachricht!

Man hat die Türen in den dicken Steinwänden geöffnet, und ich kann mich mit meiner Nachbarin unterhalten – einer 45jährigen Frau, die auf einem Fischtrawler bei einem Unfall mit einer Winde fast einen Arm verloren hätte. Sie wird von einem heiteren, vielleicht 30j ährigen Mann betreut, der es versteht, Geschichten zu erzählen, und wahrscheinlich auch sonst noch eine ganze Menge kann. Bringt sie auf jeden Fall zum Lachen, wobei sie manchmal amüsiert errötet. Ich darf jetzt kleine Spaziergänge draußen am Fuße des Hügels unternehmen. Wir treffen dort andere Patienten und ihre Pfleger, die gewöhnlich (aber nicht immer) dem jeweils anderen Geschlecht angehören. Äußerte Linda gegenüber, daß ihre intimen Behandlungsmethoden zuweilen doch wohl problematisch für die Schwestern und Pfleger sein müßten. Sie ärgerte sich über meine Sicht der Dinge. »Erstens«, sagte sie, »ist jede Behandlung anders. Zweitens steckt in jedem Menschen etwas Wertvolles und Liebenswertes«, (und hier lächelte sie), »selbst in einem so dumpfen, chauvinistischen, häßlichen, amerikanischen Miesling, wie du einer bist. 

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Drittens sind Schwestern auch Menschen, und wir können selbst entscheiden, was wir tun und was nicht. Glaubst du etwa, ich wäre deine Sklavin oder so etwas?« Sie schnitt eine Grimasse, gab mir einen Knuff gegen die Schulter und führte mich zurück ins Haus. Ich fürchte, sie hat recht. Die amerikanische Kultur hat neben ihren Segnungen auch viele Handikaps mit sich gebracht.

Habe ein paar ökotopianische Romane gelesen. Sie strömen eine merkwürdige Sicherheit aus, fast so wie die englischen Romane des 19. Jahrhunderts, und vermitteln (wahrscheinlich als Folge des Konzepts vom stabilen Gleichgewicht) das Gefühl, daß die Erde ein Ort ist, an dem es sich leben läßt und der uns trotz einiger Schwierigkeiten ernähren wird. Es gibt in ihnen natürlich Momente voller Dramatik und psychologische Verwicklungen, aber nicht die total ausgeflippte nihilistische Paranoia unserer Romane. Zuerst kamen mir die Geschichten erstaunlich flach vor; ich konnte mir nicht vorstellen, was jemand daran interessant finden könnte. Warum waren sie so ganz und gar nicht aufregend und alptraumhaft? Einige von ihnen haben sogar ein happy end... Nach einiger Zeit erscheinen sie einem dann lebensnäher – ein angenehmer Zeitvertreib, beruhigend. Wo ich jetzt darüber nachdenke, fühle ich mich inzwischen auch in Ökotopia selbst viel ruhiger: als ich Hilfe brauchte, hat man mir geholfen.

 

(16. Juni) Meine Wunde hat jetzt einen neuen – sehr kleinen – Verband. Linda und ich haben ihn gleich mit einer langen, sanften Liebesstunde eingeweiht – fast ohne alle Schmerzen, nur mit gelegentlichen leichten Anflügen von Unbehagen. Mir wird langsam klar, daß Linda tatsächlich nicht ganz so hübsch ist, wie ich anfangs dachte, und daß sie vielleicht auch nicht die allerscharfsinnigste Person der Welt ist. Aber sie ist die geborene Krankenschwester: ungeheuer freundlich, warmherzig, geduldig, mit einer außergewöhnlich entgegenkommenden, liebevollen physischen Ausstrahlung. Möchte sie, daß ich gehe, oder daß ich noch länger bleibe? (Ich nehme an, daß ein Ökotopianer mit Freunden oder Familie in der Nähe wahrscheinlich morgen nach Hause gehen würde.) Aber sie will nicht mit mir darüber diskutieren. »Dazu gibt es nichts zu sagen«, antwortete sie jedesmal, ein wenig ärgerlich. »Wenn du dich gut genug fühlst, gehst du. Du wirst selbst wissen, wann es so weit ist.«

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»Und du bekommst dann deinen nächsten Patienten-Liebhaber?« »Idiot!« Aber sie weiß, daß ich meine Verwirrung über diese Dinge noch nicht überwunden habe, und so kam sie zu mir herüber und nahm mich in den Arm. »Wenn du gehst, bekomme ich Urlaub und kann mit meinem Bahnpaß fahren, wohin ich will. Ich habe vor, eine Wüstenwanderung zu machen. Und ich werde viel über dich nachdenken. Und du wirst über mich in deinem Tagebuch schreiben.« (Sie hat mein Notizbuch entdeckt.)
»Ja«, war alles, was ich darauf erwidern konnte, und ich drückte sie an mich und mir war zum Heulen zumute. Dieses Land hat mich wirklich weinen gelehrt, und aus irgendeinem Grund fühle ich mich wohl dabei, als wären mir nicht nur die Tränendrüsen geöffnet worden...

 

(17. Juni) Als ich heute morgen das Krankenhaus verließ und mich auf den Weg ins Camp machte, um Marissa zu besuchen, hielt ich unterwegs bei einem der phantastischen Läden für Campingartikel, die es in Ökotopia gibt, und kaufte Linda einen neuen Schlafsack – ein daunengefülltes Superding, das man zusammengerollt in einem winzigen Beutel unterbringen kann und das sie auch in der kältesten Wüstennacht behaglich warm halten wird. Dunkelgrün, Braun, Blau und ein leuchtendes Orange standen zur Auswahl. Ich habe Orange genommen. Kam mir albern vor, als ich auf die Karte schrieb: »Halt dich warm. In Liebe.« Den Schlafsack ließ ich ins Krankenhaus schicken, damit sie ihn noch bekommt, bevor sie in Urlaub geht.

Marissa freute sich, mich zu sehen. Stellte boshafte und kitzlige Fragen nach Lindas Aufmerksamkeiten, bestand darauf, meine Narbe zu begutachten, und witzelte über »das hübsche Schwesterchen, das den armen kranken Willie gepflegt hat«. Wir lachten und zogen uns gegenseitig auf – es war wirklich ein umwerfendes Gefühl, wieder bei ihr zu sein.

Irgendwie kam es dann aber doch zu einem heftigen Streit zwischen uns. In meinem Überschwang erwähnte ich meinen Wunschtraum, sie mit nach New York zu nehmen, wenn mein Auftrag hier beendet ist. Ihre spontane Reaktion darauf: eine hirnverbrannte Idee, absurd.

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»Was sollte ich dort tun. Ich wäre lediglich dein Anhängsel. In einer solchen Gesellschaft hätte ich keine Möglichkeit, selbst für meinen Lebensunterhalt zu sorgen.«

Zu meiner Überraschung fühlte ich mich von diesen Worten tief getroffen: als sei die Liebe, die wir füreinander empfinden, ohnmächtig gegenüber der Welt der Tatsachen. Ich tobte und jammerte, warf ihr vor, ich sei ihr völlig gleichgültig und sie wolle sich von mir trennen. Sie beteuerte mir ihre Liebe, gab aber in der entscheidenden Frage keinen Millimeter nach. Mir brach der kalte Schweiß aus und ich fühlte mich fürchterlich. Ich wollte unbedingt mit ihr schlafen, aber meine sexuellen Empfindungen waren irgenwie blockiert; nichts passierte.

Schließlich unternahmen wir einen langen Spaziergang durch den Wald. Ich beginne langsam zu verstehen, was Bäume für sie bedeuten. Wir wanderten gemächlich das Tal hinauf und kamen auf dem Rückweg an dem hohlen Baum vorbei, wo wir uns das erste Mal ernsthaft geliebt hatten. Er war immer noch ein magischer Ort. Aber dieses Mal setzten wir uns nur still ins Innere des alten Stammes, beobachteten, wie die Dämmerung hereinbrach, und berührten einander sacht. Trotz des Streits bin ich glücklicher, als ich es lange Zeit gewesen bin; gleichzeitig habe ich jedoch Angst, daß dieses Glück nur von kurzer Dauer ist. Werde noch einen Tag warten, bis ich in die Stadt und an die Arbeit zurückkehre, die bald abgeschlossen sein wird.

 

(18. Juni) Erhielt diesen Morgen Bescheid, daß Vera Allwen mich heute um vier Uhr empfangen wird, wenn auch völlig inoffiziell und formlos. Komme gerade aus ihrem Amt zurück und notiere hier die wesentlichen Punkte unseres Gesprächs.

Die Präsidentin ist ein sehr direkter Mensch. Obwohl ziemlich klein und ein wenig gedrungen, strahlt sie starke Autorität aus. Man sieht, daß sie gewohnt ist, Macht auszuüben. Aber sie übt sie nicht geschäftsmäßig und kalt aus wie viele unserer Politiker, die manchmal kaum von Geschäftsleuten zu unterscheiden sind – den Kopf voller unpersönlicher Berechnungen, bei denen es zufällig um Macht und nicht um Geld geht. Sie ist als Mensch mächtig, nicht als Bürokratin oder als Haupt einer Institution. Schwer zu beschreiben. (Früher sollen manche kommunistischen Führer, wie zum Beispiel Ho Chi Minh und Mao Tse-tung, auch diese Ausstrahlung besessen haben.)

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Bei ihr hatte ich das gleiche Gefühl, wie wenn ich mit Leuten Schach spiele, die sich als sehr viel bessere Spieler erweisen – das Gefühl, auf geheimnisvolle Weise deklassiert zu werden. Eine wahrhaft bemerkenswerte Frau. Ich tröstete mich damit, daß ich als Abgesandter hier sei – daß ich selbst es vielleicht nicht mit ihr aufnehmen könne, aber doch wenigstens eine Mission zu erfüllen hätte.

Ich unterbreitete ihr die Vorstellungen unseres Präsidenten über eine Normalisierung der Beziehungen und erläuterte die Vorteile, hauptsächlich solche wirtschaftlicher Art, die sich für Ökotopia daraus ergeben könnten. Sie hatte grundsätzlich keine Einwände – erwiderte, daß Ökotopia bereits in einem gewissen Umfang Handel mit vielen anderen Ländern treibt, daß es einen neuen Absatzmarkt für einige Überschußprodukte (vor allem Wein) durchaus begrüßen und seinerseits einige Dinge (obwohl sie in diesem Punkt unbestimmt blieb) von uns kaufen würde. Zahlungsmittel müßte der Yen sein, aber das könnte man ja unserer Öffentlichkeit verheimlichen.

Sie fragte mich, wieso wir angesichts der Unruhe, die die ökotopianischen Ideen schon unter unserer Jugend gestiftet hätten, bereit seien, das Risiko von ökotopianischen Konsulaten in unseren Großstädten auf uns zu nehmen. Bin mir nicht klar darüber, ob ich mich richtig verhalten habe – spielte die Gefahr herunter, brachte Zuversicht zum Ausdruck usw. Mag lächerlich naiv gewirkt haben, falls ihr Geheimdienst wirklich so gut ist, wie ich annehme. Nach allem was ich weiß, ist es sogar möglich, daß Ökotopia die Sezessionsbewegungen finanziert, die sich bei uns im Gebiet der Großen Seen und im Südosten bemerkbar machen.

Wichtigster Punkt: nicht die geringste Hoffnung auf Wiedervereinigung, weder heute noch morgen. Lange, leidenschaftliche Ausführungen dazu – daß die Idee den mangelnden Sinn unserer Regierung für die Realitäten offenbare, daß sich eine Wiedervereinigung für Ökotopia in allen gesellschaftlichen Bereichen (sie ging die gesamte Liste durch) nachteilig auswirken würde, daß das Problem sei, wie die Vereinigten Staaten den Vorsprung Ökotopias aufholen könnten, nicht umgekehrt, daß alle größeren Staaten sich in kleinere Länder untergliedern sollten, daß selbst dann,

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wenn ihre Regierung für eine Wiedervereinigung wäre, sich ihr Volk dagegen stellen würde usw. Eine bedingungslos nationalistische, aggressiv sezessionistieche Brandrede. Dann hielt sie plötzlich inne und fixierte mich mit überlegenem Blick: »Das können Sie nicht ernst meinen.«

»Meine Regierung –«, begann ich, aber sie unterbrach mich: »Sie können das nicht ernst meinen.« Schweigen. Langes Schweigen. Sie wartete, lehnte sich zurück, starrte mich noch immer an. Ein unangenehmer Augenblick – ich hatte tatsächlich einen Punkt erreicht, an dem ich mir nicht mehr im klaren darüber war, was denn nun wirklich mit Schritten in Richtung auf eine Wiedervereinigung gewonnen wäre. Für die Vereinigten Staaten oder für sonst jemanden, mich eingeschlossen.

Sie lächelte mich leicht ironisch an. »Wissen Sie«, sagte sie, »ich habe jetzt alles gesagt, was ich Ihnen in meiner offiziellen Funktion sagen mußte. Vielleicht können wir uns von jetzt an einfach von Mensch zu Mensch unterhalten?« Sie schenkte mir einen Cognac ein (ökotopianischen, wie ich bemerkte, keinen französischen!), von einem Regal neben ihrem Schreibtisch, kam durchs Zimmer und setzte sich dann näher zu mir. »Es ist Freitagnachmittag, das Ende einer langen Woche. Schluß mit dem Geschäftlichen – aber ich würde gern erfahren, was Sie wirklich von unserem Land halten, was Sie gesehen und getan haben. Wir haben natürlich Ihre Reportagen sorgfältig gelesen und waren, offen gesagt, angenehm überrascht über die zunehmende Fairneß und die ungewöhnliche Neugier, die in diesen Artikeln zum Ausdruck kommt. Vielleicht hat es Ihnen in Ökotopia besser gefallen, als Sie ursprünglich erwartet hatten?« Sie kniff die Augen mit einem fast verschwörerischen Lächeln zusammen. Ich war überrascht, sah sie ziemlich verwirrt an und raffte mich dann auf zu einem: »Nun ja, das stimmt allerdings.«

»Sie sind in Ihren Artikeln nicht so persönlich, wie unsere Journalisten es in der Regel sind, deshalb konnten wir nicht beurteilen, ob Sie bei uns gute Erfahrungen gemacht haben oder nicht.«

»Ich habe meine persönlichen Erfahrungen in einem Tagebuch notiert. Viele waren sehr gut, aber sie sind nicht für eine Veröffentlichung gedacht. – Sie müssen wissen, daß meine Artikel nach unseren Maßstäben wahrscheinlich eher zu persönlich waren.«

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»Ja, ich weiß. Ich weiß auch, daß Sie sich da, wo es Ihnen möglich war, an die ökotopianische Lebensweise angepaßt haben. Wir sind Ihnen dankbar für die Zurückhaltung, die Sie an den Tag gelegt haben. Aber natürlich erwarten wir von Ihnen mehr als das. Wir haben Ihnen auch noch mehr zu geben, glaube ich, und es sind da noch immer Dinge, die Sie nicht verstanden haben.« »Aber ich habe richtig verstanden, daß ich unserem Präsidenten keinerlei konkrete Hoffnungen machen kann?« »Nicht die geringsten.«

»Und wenn sich die Falken bei uns durchsetzen?« »Ihre Falken waren damals, im Jahre 1980, nicht verrückt genug, das Land zu zerstören, um es wiederzuvereinigen, wir bezweifeln deshalb, daß sie es heute tun werden. – Aber lassen wir das. Ich möchte gerne wissen, was Sie in der Zeit, die Sie bei uns verbracht haben, gefühlt haben. Sie können offen sprechen; ich habe diese Position nicht dadurch erreicht, daß ich eine Klatschtante bin, und nichts wird durch diese Mauern nach draußen dringen. Ich mag Sie – Sie haben mutige und gute Arbeit geleistet. Ich interessiere mich für alles, was Ihnen hier widerfahren ist.«

Der Rest des Gesprächs war unangenehm persönlich – ich kann es nicht wiedergeben. Fast wie eine Sitzung bei einem Psychiater. Hatte immer wieder das Gefühl, daß sie, ohne mich jemals auch nur andeutungsweise darauf anzusprechen, meine Bindungen testete und meine widersprüchlichen Gefühle erkundete. Ich zitierte die ganze Zeit über, was ich in meinen Artikeln so vorsichtig geschrieben hatte – worauf sie immer auf eine indirekte Art reagierte, in der sehr deutlich wurde, daß sie meine Gedankengänge durchschaute. Sie schien sogar über Marissa Bescheid zu wissen – aber das sollte mich ja eigentlich nicht überraschen. (Leistet in einem kleinen Land die normale Unterhaltung das, wozu in einem großen ein Geheimdienst nötig ist?)

Nach der Unterhaltung war ich erschöpft, deprimiert, als ob sich ein riesiges Gewicht auf mich gelegt hätte. Dieses Land geht wirklich über meine Kräfte. Sogar die Präsidentin spielt hier den Seelendoktor... Was ich mir von dem Interview erhofft hatte, hat sich nicht erfüllt. Was immer sie sich erhofft hatte, aber offenbar auch nicht – ich hatte das Gefühl, daß sie enttäuscht war, mehr erwartet hatte.

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Als ich ging, erinnerte sie mich plötzlich an meine Großmutter, die mehreren Generationen meiner Familie mit ihrer Enttäuschung das Leben schwer gemacht hatte.

Im Cove brannten sie bei meiner Rückkehr alle darauf zu hören, was gewesen war. Ließ sie abblitzen und ging nach oben, um diese Notizen zu machen. Heute war es den ganzen Tag lang bewölkt. Düstere Vorzeichen, wohin man blickt.

 

(18. Juni) Der Besuch bei der Präsidentin hat mich wirklich fertig gemacht. Die ganze Reise erscheint mir jetzt als Zeitverschwendung. Dieses Land ist für uns verloren – ohne jeden Zweifel! Für immer. Punkt, Schluß! Die Journalisten im Cove sind ständig hinter mir her – ich soll ihnen erzählen, worüber wir gesprochen haben. Ich sage kein Wort. Da sie nicht auf den Kopf gefallen sind, werden sie wissen, daß es für meinen Besuch dort noch andere Gründe gegeben haben wird als rein journalistische. Und an meiner Niedergeschlagenheit können sie sehen, daß nichts dabei herausgekommen ist, worum immer es auch ging. Sie zeigen Verständnis, doch seit dem Interview wird eine gewisse Distanz zwischen uns spürbar.

Habe mir irgendwie die Grippe geholt – Kopf- und Halsschmerzen, ein wenig Temperatur. (Das Thermometer ist in Celsiusgrade eingeteilt, deshalb weiß ich nicht genau, wieviel Temperatur ich habe, jedenfalls nur einen Strich über Normal.) Habe letzte Nacht kein Auge zugetan. Ab und zu gehe ich hinunter, um einen Bissen zu essen, aber alles bestürmt mich dann gleich mit Fragen. Selbst Bert. Ich mußte ihm in aller Klarheit sagen, daß es damit aufhören soll.

Ich muß versuchen, die ganze Erfahrung auf neue Weise zu verarbeiten. Kann nur mit Schrecken daran denken, daß Marissa herkommen und mich in dieser miesen Verfassung sehen könnte. Die ›Perspektive‹, die ich angeblich besitze und die sie an mir liebt, scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Muß sie anrufen und ihr sagen, daß ich krank bin, damit sie nicht kommt.

Sah in meiner Phantasie eine Bilanz mit der Überschrift ›Ökotopia‹ – in zwei langen Spalten alle Pro und Kontras. Die Liste wird grotesk lang, unklar und verschwommen, und ich höre Marissa lachen. Schließlich zerreiße ich sie einfach, alles dreht sich in meinem Kopf, ich verzweifle.

 

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Ökotopia – Herausforderung oder Illusion?

 

 

San Francisco, 19. Juni. Wohin wird Ökotopias künftiger Weg führen? Auch nach mehr als sechs Wochen intensiver Studien in diesem Land erscheint es mir gewagt, Vermutungen darüber anzustellen. Ich bin aber, ob mir das gefällt oder nicht, zu der Einsicht gelangt, daß die hier durchgeführten sozialen Experimente auf biologischer Ebene erfolgreich gewesen sind. Die ökotopianische Luft und das ökotopianische Wasser sind überall klar wie Kristall. Das Land ist gut bestellt und ertragreich. Gesunde, unverfälschte Nahrung ist reichlich vorhanden. Alle Systeme des tägliche Lebens arbeiten auf der Basis des stabilen Gleichgewichts und können unbegrenzte Zeit weiterfunktionieren. Es läßt sich nicht abstreiten, daß die Menschen gesund sind und sich wohlfühlen. Auch wenn die extreme Dezentralisierung und emotionale Offenheit der Gesellschaft einem Amerikaner zunächst fremdartig erscheinen, muß man doch vieles zu ihren Gunsten anführen. In dieser Hinsicht stellt Ökotopia wohl eine schwierige Herausforderung für uns dar, und es liegt noch ein weiter Weg vor uns, wenn wir entsprechende Erfolge auch nur annähernd erreichen wollen.

Freilich sind diese Gewinne mit einem hohen Preis erkauft. Nicht nur, daß die Leistungsfähigkeit der ökotopianischen Industrie und der Lebensstandard deutlich unter unserem Niveau liegen, und zwar in einem Maße, wie es von Amerikanern niemals hingenommen würde, geht das politische System Ökotopias von Voraussetzungen aus, die ich nur als höchst gefährlich bezeichnen kann. In früheren Artikeln habe ich schon die Stadtstaaten beschrieben, die sich im Innern Ökotopias praktisch selbständig gemacht haben. Gegenwärtig werden Pläne diskutiert, die spanisch sprechenden ebenso wie die japanischen Bevölkerungsteile von San Francisco organisatorisch jeweils fest zusammenzufassen – was im Falle der Japaner natürlich wegen eines drohenden Übergriffs durch das japanische Kapital ökonomisch bedenklich wäre. Innerhalb der jüdischen, der indianischen und all der anderen Minderheiten gibt es fanatische Fürsprecher einer größeren Autonomie ihrer Völker.

Es ist zugegebenermaßen problematisch, wenn ein Amerikaner solche Entwicklungen kritisiert, da doch in unserer eigenen Gesellschaft nach dem Scheitern der Integrations-

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Kampagne in den sechziger Jahren die Rassentrennung immer schärfere Züge angenommen hat – wenn auch die Rassen­diskriminierung ein wenig abnahm. Das amerikanische Ideal besteht aber noch immer darin, daß alle Männer und Frauen gleichen Schutz durch das Gesetz und einen gleichberechtigten Status als Bürger einer großen und mächtigen Nation genießen sollten. Das ökotopianische Prinzip der Sezession verneint diese Hoffnung und dieses Bekenntnis. Dem Schein nach idealistisch, ist es in Wirklichkeit zutiefst pessimistisch. Und die Konsequenzen scheinen klar. Der von ökotopianischen Ideologen aufgezeigte Weg führt fort von der früheren Größe Amerikas, das im Geiste vereint war . »von Ozean zu Ozean«, hin zu einem balkanisierten Kontinent – einem Chaos kleiner, zweitklassiger Nationen, jede mit ihren eigenen unbedeutenden kulturellen Besonderheiten. Statt den langen Marsch hin zu einer Welt des Friedens und der Freiheit fortzusetzen, für den Amerika auf den Schlachtfeldern von Korea, Vietnam und Brasilien gekämpft hat (ganz zu schweigen von unserem eigenen Bürgerkrieg), propagieren die Ökotopianer nur Separatismus, eine Rückkehr zu den Duodezfürstentümern des mittelalterlichen Europa oder vielleicht sogar zum Tribalismus von Dschungelstämmen.

Setzten sich die ökotopianischen Vorstellungen durch, so würde die Ära der großen Nationalstaaten mit ihrer Verheißung des Weltstaates als letztem Ziel zu Ende gehen. Trotz der Errungenschaften eines weltweiten Kommunikationsnetzes und internationaler Flugverbindungen würde die Menschheit in kleine, kulturell homogene Gruppierungen zerfallen. Um es mit den Worten von Yeats, einem irischen Dichter aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert (dessen Heimat ein sehr kleines und sezessionistisches Land war), zu sagen: »Das Zentrum hat keinen Bestand.«

Die Ökotopianer behaupten, daß ein solcher Separatismus aus ökologischen wie auch aus kulturellen Gründen wünschenswert sei – daß eine kleine, räumlich begrenzte Gesellschaft ihren Platz im Biosystem der Welt mit mehr Einfühlungsvermögen, mehr Gewinn, mehr Effektivität (und natürlich auch mit weniger zerstörerischer Wirkung) nutzen kann als es die Supermächte getan haben. Das scheint mir jedoch ein fetischistischer Dezentralismus von höchst zweifelhaftem Wert zu sein.

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Er unterstellt, daß eine sinnvolle Verwendung der im höchsten Maße konzentrierten Reichtümer der Supermächte ihrem Wesen nach unmöglich ist. Ich wäre der letzte, der bestreiten würde, daß den riesigen Verwaltungsapparaten unserer Regierungen und den internationalen Konzernen gelegentlich Irrtümer unterlaufen und daß sie günstige Gelegenheiten versäumen. Nichtsdestoweniger würde ihre Verdammung und Beseitigung zugunsten neuer Kleinsysteme nach ökotopianischem Vorbild auf das Risiko hinauslaufen, daß man das Kind der Zivilisation zusammen mit dem umweltverschmutzten Bad ausschüttet. Wenn wir für uns und unsere Nachkommen bessere Lebensbedingungen schaffen wollen, so liegt der einzige Weg dorthin sicherlich in einer klügeren Anwendung der uns am besten bekannten Methoden.

(20. Juni)  Bla, bla, bla. Bringe es kaum über mich, den letzten Artikel noch einmal zu lesen. In New York werden sie ihn wahrscheinlich einmalig finden. Echtes ›objektives‹ Pseudo-Denken, der Versuch, zu Ergebnissen zu kommen, koste es, was es wolle... Habe mich aber gerade entschlossen, alles stehen und liegen zu lassen und zurück nach New York zu fahren. Bekomme wahrscheinlich eine Lungenentzündung, wenn ich noch länger hierbleibe. Bringe es nicht fertig, mit Bert oder den anderen zu sprechen, obwohl sie weiter hinter mir her sind, und ihre Aufmerksamkeit manchmal auch gut tut. Aber ich kann es mir nicht leisten, ihnen nachzugeben, sonst verliere ich meinen letzten Rest von Fassung. Also verkrieche ich mich in meinem Zimmer, versuche zu schlafen, aber ohne viel Erfolg. Hin- und hergerissen zwischen dem verzweifelten Wunsch, Marissa zu sehen, und dem Schrecken, bei dem Gedanken, daß sie tatsächlich kommt! Habe hier wirklich nichts mehr verloren. Könnte noch Stoff für ein paar weitere Kolumnen auftreiben – amüsante Details, hier und da etwas weiter ausholen. Aber alles Grundlegende, was ich wissen muß, weiß ich. Marissa sagt, daß sie zum Cove kommen und mich ein wenig aulheitern möchte. Weiß nicht, ob ich das ertragen und danach abreisen könnte. Habe meine Reisetasche hervorgeholt und ein paar Sachen hineingeworfen. Der Abendzug in die Sierras und nach Reno würde sich anbieten. Könnte aber auch über Los Angeles zurückreisen. Kein Abschied ist der beste Abschied.

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Habe vergangene Nacht fast überhaupt nicht geschlafen. Dauernd gehen mir unzusammenhängende Fetzen des Allwen-Interviews und Bruchstücke von Erlebnissen durch den Kopf. Stunden mit Marissa, in denen es nichts Besonderes zu sagen gab und wir uns nur ansahen und sanft berührten. Spaziergänge durch den Nebel von San Francisco in meinem behaglichen Umhang. Rezeptoren am Sonnenkraftwerk, die geduldig und stumm die Sonne aufsaugen; keine Bewegung, nur eine Lerche singt. Und die Art, wie die Leute sich hier gegenseitig anblicken – in meinen Phantasien wenden sie sich dann mir zu und sehen mich erwartungsvoll an, und ich kann ihnen nicht in die Augen sehen. Nur in die Marissas. Hoffe, daß ich nicht durchdrehe. Muß hier weg.

 

(21. Juni) Das Notizbuch wird mir vielleicht weggenommen, aber ich mache diese Eintragung trotzdem. Man hat mich gekidnappt! Gestern, als ich gerade beim Packen war, kamen drei Männer und eine Frau in mein Zimmer und forderten mich auf mitzukommen. »Warum, zum Teufel?« fragte ich. Zwei von ihnen kannte ich – der eine mit mächtigen Augenbrauen, die ihm ein dämonisches Aussehen geben, ist mit Marissas Bruder befreundet. (Mein erster Gedanke war, daß es sich hier um die ökotopianische Mafia handeln müsse.) Aber er lächelte, als er hereinkam, und legte mir seine Hand einen Augenblick lang auf die Schulter. Den anderen kannte ich von Parties her; auch im Cove hatte ich ihn schon im Gespräch mit Bert gesehen. Irgendein Wissenschaftler. Ich erinnerte mich an etwas verschrobene Unterhaltungen mit ihm, in denen es um › Vibrationen oder Ähnliches ging. (Bei diesen Leuten weiß man nie, ob man Spinner oder Genies vor sich hat.) Die beiden anderen hatte ich, soweit ich mich erinnern konnte, noch nie gesehen. Das Mädchen ist attraktiv, allerdings der blondgelockte Typ. Sie scheinen alle gute Freunde zu sein.

»Komm.« Sie drängten mich zur Tür, und einer warf meine restlichen Kleider in die Tasche. Plötzlich war ich mir sicher, daß sie von der Geheimpolizei waren. Ich wartete, bis wir unten in der Eingangshalle waren, und rief dann um Hilfe. Bert und sieben oder acht Leute vom Cove erschienen und versammelten sich um uns. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Meine Bewacher schienen allerdings nicht im geringsten irritiert. Mir kam der Gedanke, daß ich besser jemanden bitten

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sollte, mit Washington zu telefonieren. Einer aus der Gruppe nahm ein paar von meinen Freunden beiseite und sprach außer Hörweite mit ihnen. Einige Einwände, Blicke in meine Richtung, aber dann offensichtliches Einverständnis. »Will«, sagte Bert, »wir glauben, daß es gut für dich ist, wenn du mit ihnen gehst.«

»Was soll das heißen, gut für mich?« schrie ich. »Ich will nicht mitgehen. Ist das hier ein freies Land oder nicht? Irgend jemand geht freundlicherweise telefonieren. Wegen dieser Sache wird es einigen Ärger auf diplomatischer Ebene geben, ist das allen klar? Ich will mit dem Außenministerium sprechen oder mit dem Weißen Haus, falls nötig. Es ist einfach lächerlich!«

Bert kam zu mir und nahm mich beiseite. »Sieh mal, Will«, sagte er, »wir wissen, daß du nach deinem Gespräch mit Vera Allwen eine schwere Zeit durchgemacht hast. Da oben in deinem Zimmer zu sitzen, ist alles andere als gut für dich. Du könntest ein paar Tage Abwechslung gebrauchen. Die Leute hier sind Freunde, glaube mir das. Sie wollen dich für ein paar Tage an einen wirklich außergewöhnlich hübschen Ort hier in der Nähe bringen. Ich bin dort auch schon einmal gewesen, als ich in einer schwierigen Situation war, und wir sind alle der Meinung, daß es eine gute Idee ist. Ich würde mitkommen, wenn ich könnte, aber morgen geht es unmöglich. Sie haben ihr Wort gegeben, daß du jederzeit im Cove anrufen kannst, wenn du möchtest, und ich komme morgen abend raus und besuche dich.«

»Das einzige, was ich jetzt will, ist, aus diesem Scheißland rauskommen!« brüllte ich. »Und zwar auf der Stelle! Bringt mich zum Bahnhof!«

»Genau dorthin bringen sie dich«, sagte Bert. »Aber wenn du in deiner jetzigen Stimmung Ökotopia verlassen würdest, wäre es eine Niederlage für dich. Das wissen diese Leute auch. Komm, Will, du hast unser Ehrenwort. Sie sind nicht von der Polizei, falls es das ist, was du befürchtest. Jemand aus dem Cove kann dich begleiten, wenn das wichtig für dich ist.«

Irgendwie erleichterte mich das. Ich war augenscheinlich ein Verrückter, den man abholte, aber ich habe gelernt, Bert zu vertrauen, selbst in ungewöhnlichen Dingen. Washington ist weit, und ich hätte tatsächlich kein gutes Gefühl, wenn ich mich jetzt einfach aus dem Staub machte.

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Abgesehen davon erschienen mir meine ›Kidnapper‹ nicht mehr ganz so bedrohlich, wo ich sie nun mit den Leuten aus dem Cove sprechen sah. Plötzlich kam mir der Gedanke, daß sie ja auch dann, wenn sie nicht von der ökotopianischen Polizei waren, immer noch vom CIA sein konnten: wenn unser Präsident meiner Mission wirklich Bedeutung beimißt, hat er möglicherweise Sicherheits­vorkehrungen getroffen, daß ich solange im Lande bleibe, wie es zur Erfüllung meines Auftrages nötig ist. Es war, weiß Gott, kein Geheimnis im Cove, wie sehr mich der Besuch bei Vera Allwen deprimiert hat; und einige Leute haben auch gesehen, daß ich meine Reisetasche aus dem Flurschrank holte ...

Sie brachten mich zum Zug, und wir schössen davon in Richtung Süden, stiegen aber schon an der dritten Station aus. Weiter dann mit einem Kleinbus, der in östlicher Richtung in die Berge fuhr. Bald schon schlängelte er sich an einem kleinen Fluß entlang – die umliegende Landschaft halb Wald halb Wiesenland. Am Ende der Strecke stiegen wir aus, an einem Flecken, der eher wie eine Sommerfrische als wie eine der üblichen Kommunen aussah. Rechterhand ein großes niedriges Gebäude, auf dessen Terrassen Leute entspannt herumschlenderten. Verstreut standen überall rohe Holzhütten mit einer kleinen Veranda vor der Tür.

»Es gibt gleich Essen«, sagte man mir, »aber zuerst gehen wir hinunter zu den Bädern.« Wie sich herausstellt, befinde ich mich in einem berühmten Kurort mit heißen Quellen, dem eine japanische Kommune zu neuem Ruhm verholten hat. Meine Wächter scheinen halb und halb an seine angeblich belebenden Kräfte zu glauben. Wir verstauten mein Gepäck in einer der Hütten und gingen den Hügel hinunter. Auf dem ganzen Weg wurde kaum ein Wort gesprochen – auf meiner Seite unwilliges Schweigen, und wer weiß, was es bei ihnen war. Ich blickte mich um und suchte nach Fluchtmöglichkeiten. Um die Ansiedlung herum überall offenes Land. War ich einmal außer Sichtweite, hatte ich gute Chancen, es zu schaffen. Das Problem bestand darin, unbemerkt wegzukommen und die ersten sechs oder acht Meilen durch offenes Ackerland hinter mich zu bringen, in dem man sich schwer verbergen konnte. Ich würde es nachts versuchen müssen.

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Die Bäder sind in schönen, aber einfachen Gebäuden untergebracht. Jedes hat einen Umkleide- und einen Schwitzraum. Man legt seine Kleider ab und geht nackt in den Baderaum, der über ein knapp vier Quadratmeter großes und vielleicht ein Meter tiefes Becken verfügt. Man wäscht sich unter einer Dusche mit Seife ab und läßt sich dann Zentimeter für Zentimeter in das dampfend heiße Wasser gleiten. Es hat zu meiner Erleichterung keinen fauligen Geruch, wenn es auch etwas sonderbar riecht und sich anfühlt wie Seide. Das Bad war uns allen willkommen, meine Wächter lächelten mir zu und stöhnten laut vor Vergnügen im Wasser. Die Spannung legte sich ein wenig. Das Becken ist groß genug, um sich darin zu bewegen; es hat rauhe Wände, an denen man sich den Rücken reiben kann, und Bänke unter Wasser, auf denen man sitzen kann.

Außer uns war noch ein junges Paar da, das mit geschlossenen Augen in einer Ecke saß und keine Notiz von uns nahm, sowie ein alter Japaner, der seinen Kopf von Zeit zu Zeit untertauchte, langsam wieder nach oben kam und »Aaaa-aahh« sagte. Wir blieben etwa 15 Minuten im Becken, hüllten uns dann in riesige Badetücher und legten uns zum Schwitzen hin. Der Schwitzraum hat große Fenster, durch die ich auf den verblassenden Himmel und die sich leicht bewegenden Bäume hinausblicken konnte. Wurde schläfrig dabei und döste ein wenig. Vielleicht werde ich heute nacht sogar schlafen können.

Die schweigsame Art meiner Wächter ging mir nach wie vor auf die Nerven, aber ich stand zu meinem Entschluß, sie – womit auch immer – den Anfang machen zu lassen. Die einzige Bitte, die ich äußerte, war, mit dem Cove telefonieren zu dürfen, was mir auch gleich nach dem Abendessen gestattet wurde. Wie sich herausstellte, kann Bert erst übermorgen kommen, aber es war auch so beruhigend, mit ihm zu sprechen und zu hören, daß er Marissa schon benachrichtigt hat. Dann ließen wir uns in großen Sesseln im gemeinsamen Aufenthaltsraum nieder. Es war ziemlich kühl geworden, und man hatte ein Feuer gemacht, was ich als wohltuend empfang. In der anderen Ecke des Raumes förderte jemand ein Flasche Brandy zutage. Es wurde nach Gläsern geschickt, und alle tranken wir dem Spender zu. Man spielte Schach, Domino und Go. Das war für eine Weile alles sehr schön, aber dann fühlte ich, wie meine Nervosität zurückkehrte.

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 Meine Gefährten schienen geduldig auf irgend etwas zu warten – oder auf irgend jemanden? Sie sind die ungesprächigsten Ökotopianer, die mir bisher in dieser Nation der Plappermäuler über den Weg gelaufen sind.

Schließlich brach ich meinen Vorsatz. »Also gut«, sagte ich, »kommen wir wieder zur Sache. Was wollt ihr von mir? Worum geht es in diesem Spielchen?«

»Wir wollen überhaupt nichts von dir«, sagte der Teuflische, der mit Ben bekannt ist. (Er heißt Ron.) »Wir geben dir nur die Möglichkeit, ein paar Tage auszuspannen. Was du damit anfängst, bleibt dir überlassen.« »Wer gibt euch dazu das Recht?« fragte ich. »Wer seid ihr überhaupt?« »Das können wir dir jetzt nicht sagen, aber wir sind Freunde. Wir meinen es gut mit dir. Wir wünschten, du würdest uns auch als Freunde behandeln. Du erinnerst dich vielleicht noch – das ist Marie, das ist Vince und dies hier ist Alan.« »Ist es vielleicht ›gut gemeinte wenn man mich hier gegen meinen Willen festhält?« Keiner antwortete darauf; sie saßen einfach da und blickten mich an, ein wenig unbehaglich vielleicht, aber ungerührt. »Hört zu«, sagte ich, »ich weiß nicht, für wen ihr arbeitet, aber irgend jemand wird wegen dieses Streichs eine Menge Ärger bekommen.«

»Wieso nimmst du an, daß wir für jemanden arbeiten?« fragte Marie. »Das liegt ja wohl auf der Hand«, erwiderte ich. »Erstens begeht ihr eine illegale Handlung. Zweitens habt ihr es mit einem quasi-offiziellen Besucher eures Landes zu tun, dessen Wohlergehen eurer Regierung nicht gleichgültig sein kann.«

»Ganz recht«, sagte sie. »Dann erzähl uns doch mal, wie es um dein augenblickliches Wohlergehen bestellt ist?« »Ich finde es zum Kotzen, daß man mich gegen meinen Willen festhält. Das ist der einzige Punkt, in dem euch mein Wohlbefinden etwas angeht.« »Nein«, sagte Ron, »das siehst du falsch – es geht uns in jeder Hinsicht etwas an.« Es klang fast gekränkt; die anderen nickten. Ich verschränkte entschlossen meine Arme und sagte kein Wort mehr. Einige Minuten später kehrten wir alle zur Hütte zurück. Ron und Marie gingen schlafen; Vince und Alan sind noch auf und beobachten mich, wie ich diese Tagebucheintragung mache.

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(22. Juni) Habe wieder kaum geschlafen letzte Nacht. Daß man mich beobachtet, erhöht die nervliche Belastung noch. Ungefähr um drei Uhr wurden Ron und Marie geweckt, wahrscheinlich zur Wachablösung, weil sie sahen, daß ich nicht schlafen würde. Um diese Zeit war ich ziemlich durchgedreht und fragte, ob ich nach draußen gehen und einen Spaziergang machen dürfe. Marie erklärte sich bereit, mich zu begleiten. »Wir bleiben in Rufweite«, sagte sie.

Wir waren eine Weile unterwegs. Sie schien gut gelaunt zu sein und hängte sich bei mir ein. Das regte mich erstaunlicherweise sexuell an, aber ich widerstand dem Wunsch, einen Annäherungsversuch zu machen. Dann aber verdarb sie alles, indem sie anfing, mich wie eine miese Amateurpsychologin auszuhorchen: »Warum erzählst du uns nicht offen, was dich bedrückt? Es ist nicht gut, wenn ein Mensch sich nicht ausspricht.«

Ich zog meinen Arm weg. »Warum sollte ich mit dir darüber reden? Kannst du mir einen plausiblen Grund dafür nennen?« »Nun, weil wir hier mit dir zusammen sind.« »Das habe ich allerdings bemerkt. Bessere Neuigkeiten hast du nicht für mich?«

Wir gingen schweigend um den Hof der Kurortanlage herum. Sie nahm meine Hand, und mir wurde plötzlich klar, daß dieses Mädchen wahrscheinlich erst um die 20 ist. »In Ordnung«, sagte ich, »wenn du unbedingt etwas hören willst. Ich will nach Hause, raus aus diesem Land. Alles hier bringt mich durcheinander. Es ist unwirklich, einfach unwirklich.«

»Für uns ist es Wirklichkeit – du läßt es für dich nicht Wirklichkeit werden.« »Egal, ich habe meinen Job hier erledigt, so gut wie jeder andere, aber jetzt wird es Zeit, daß ich verschwinde.«

»Warum faßt du es nur als Job auf?« fragte sie. »Es war auch ein Abenteuer, wenn du das meinst.« »Es ist immer noch ein Abenteuer. Selbst, wenn wir diejenigen sind, die dafür sorgen, daß es weitergeht.« Sie lächelte breit. Wir gingen zur Hütte zurück. Ron begrüßte uns ziemlich neugierig, aber ich reagierte nicht, und Marie sagte auch nicht viel. Ich muß ein paar Stunden gedöst haben; es ist jetzt sechs Uhr früh. Werde den Tag schon irgendwie durchstehen. Bin ganz zittrig – wage kaum noch, Kaffee zu trinken.

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(22. Juni, abends) Wir haben morgens und nachmittags ein Bad genommen und sind etwas spazierengegangen. Habe keine Ahnung, was sie vorhaben. Scheinen sich ehrlich dafür zu interessieren, was ich von Ökotopia halte, und möchten gern wissen, was ich hier erlebt habe und wie meine weiteren Pläne aussehen. Nach Morgenbad und Sauna hatte ich das Bedürfnis, mich ein wenig mit ihnen zu unterhalten. Es fällt mir sehr schwer, meine Gedanken und Gefühle auf einen Nenner zu bringen, und ich gerate immer wieder in eine schale, blinde Wut über die ganze Situation. Ich habe eine Menge Fakten gesammelt, von denen viele rational kaum zu akzeptieren sind. Ich habe bemerkenswerte persönliche Erfahrungen gemacht. Und das Endergebnis? Fällt es gut oder schlecht aus? Ich weiß es beim besten Willen nicht.

Einige Seiten des Landes finde ich geradezu hinreißend – seine Schönheit, selbst in den Städten, die in einem so auffälligen Gegensatz zu unserer höllischen Lebensweise steht. Und einige Seiten des Lebens hier sprechen mich emotional in einer Weise an, die ich noch vor einigen Wochen nicht für möglich gehalten hätte – alles, was mit Marissa zusammenhängt, der Schrecken des Kriegspielrituals, die Geborgenheit im Krankenhaus und im Cove. Anderes ist einfach verwirrend, wie zum Beispiel das Wirtschaftssystem. Über allem aber hängt eine Art Schleier von Ungläubigkeit – ich wünschte, ich könnte ihn beiseite schieben oder auch unter ihm hinwegtauchen.

Sie hörten mir zu, schienen aber nicht viel damit anfangen zu können. Einmal unterbrach Ron mich ungeduldig: »Gut, ,du erzählst uns, was dir alles durch den Kopf geht. Das ist interessant, aber wir wissen eigentlich sehr genau, wie du denkst. Doch was fühlst du? Und was willst du tun?«

»Komische Frage. Zurück nach New York gehen, natürlich.« Aber im selben Augenblick, als ich das sagte, zuckte mir ein stechender Schmerz durch den Kopf. »Mein Gott«, sagte ich, »ich habe furchtbare Kopfschmerzen.« Ich taumelte zum Bett und legte mich hin. Vince brachte eine kalte Kompresse für meine Stirn. Paranoide Phantasien: die Bäder müssen mir auf den Kreislauf geschlagen sein! So etwas war mir noch nie passiert. Sie schienen sich ziemliche Sorgen zu machen. Vince ging zum Büro und fand eine Ärztin, die sich im Kurbad aufhielt. Sie kam, untersuchte mich, nannte mir einige Tests, die ich machen lassen soll, wenn ich

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zurück in der Stadt bin, sagte aber, daß der Kopfschmerz mit 99 %iger Sicherheit psychische Ursachen hat. Bestimmt kein Zusammenhang mit den Bädern.

Das war am Nachmittag. Die Kopfschmerzen legten sich. Wir gingen wieder zu den Bädern hinunter. Ron, der vielleicht glaubte, daß das meine Stimmung heben würde, schlug mir vor, auf ihre Kosten einen der kürzeren Artikel durchzugeben, den ich auf Vorrat geschrieben habe. Also polierte ich einen davon ein wenig auf. Nicht gerade einer meiner Lieblingsartikel; aber es machte Spaß, wieder zu arbeiten. Ich spielte mit dem Gedanken, für Max eine Mitteilung über mein Kidnapping beizufügen, kam aber dann zu dem Schluß, daß das wahrscheinlich nur internationale Verwicklungen heraufbeschwören würde, und so, wie es aussieht, scheine ich letzten Endes doch nicht persönlich in Gefahr zu sein.

 

 

Arbeit und Spiel

bei den Ökotopianern

 

Gilroy Hot Springs, 22. Juni. Je besser ich die ökotopianischen Arbeitsgewohnheiten kennenlerne, um so mehr überrascht mich, daß ihr System überhaupt funktioniert. Nicht nur, daß die Zwanzig-Stunden-Woche eingeführt worden ist – man kann darüber hinaus nicht einmal unterscheiden, wann ein Ökotopianer arbeitet und wann er Freizeit hat. Während einer wichtigen Diskussion in einer Regierungsbehörde wurde ich Zeuge, wie man plötzlich beschloß, gemeinsam in die Sauna zu gehen. Es existieren zwar offizielle Vereinbarungen darüber, daß man sich, wie der Ausdruck lautet, ›gegenseitig deckt‹ – jemand bleibt zurück, der Telefonanrufe beantwortet und Besucher empfängt –, und es war in diesem Fall auch so, daß unsere Diskussion in der Sauna fortgesetzt wurde, und zwar auf einer persönlicheren Ebene, was sich als sehr erfrischend erwies, aber die ökotopianische Gesellschaft bietet so viele Gelegenheiten, sich zu vergnügen und zu zerstreuen, daß nur schwer zu verstehen ist, wie diese Leute auch nur das gegenwärtige Leistungsniveau halten können.

Es spielen sich Dinge in ihren Fabriken, Lagerhäusern und Geschäften ab, die unseren Managern und Abteilungsleitern kaum glaublich erscheinen würden. Ich habe beobachtet, wie eine ganze Abteilung von einem Augenblick zum an-

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deren geschlossen die Arbeit niederlegte; jemand besorgt Bier oder Marihuana, und schon feiert man inmitten von Kisten und Maschinen eine Party. Arbeiter in ökotopianischen Unternehmen haben eine Einstellung zu ihrer Arbeit, die alles andere als normal zu nennen ist. Vielleicht betrachten sie den Betrieb als ihr Zuhause oder wenigstens als ihre Domäne, weil sie Mitbesitzer der Firma sind. Es muß unerträglich sein, hier die Arbeitsleitung zu haben: die geringste Änderung der Arbeitspläne gibt Anlaß zu einer Gruppendiskussion, bei der sich die Abteilungsleiter (die gewählt werden und daher ohnehin in einer schwachen Position sind) eine ganze Reihe sarkastischer Fragen gefallen lassen müssen und die ursprünglichen Pläne selten ohne Änderung akzeptiert werden. Die Abteilungsleiter bemühen sich natürlich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und behaupten sogar, daß die Arbeiter oft bessere Vorschläge machen als sie selbst; außerdem glauben sie, daß die Arbeitsleistung pro Kopf und Stunde in Ökotopia bemerkenswert hoch ist. Mag sein.

Es scheint übrigens unter den gewöhnlichen Fabrik- oder Farmarbeitern viele ausgesprochene Intellektuelle zu geben. Die Ursache dürfte teilweise in den relativ geringen Möglichkeiten einer Schichtdifferenzierung in Ökotopia zu suchen sein; teilweise ist aber auch eine Politik dafür verantwortlich, die die Studenten zwingt, jeweils im Turnus ein Jahr zu studieren und ein Jahr zu arbeiten. Vielleicht ist dies eine der erstaunlichsten Regelungen im gesamten ökotopianischen Wirtschaftsleben – denn abgesehen davon, daß sich die Studienzeit dadurch verlängert, haben die ideologischen Auswirkungen der Studentenarbeit viele der neuen, inzwischen etablierten Formen der Arbeitsleitung geprägt. (Ich hörte beispielsweise, daß es ursprünglich die Studenten waren, die hinter der Bewegung für die Arbeiterselbstverwaltung standen.)

Die Ökotopianer sind Meister darin, aus praktisch jeder Situation ein Vergnügen und eine Unterhaltung zu machen, häufig auch eine Atmosphäre der Vertraulichkeit zu entwickeln . Anfangs war ich überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit sie mit einem beliebigen Fremden sehr persönliche Unterhaltungen anknüpfen. Inzwischen aber habe ich mich daran gewöhnt, ja es macht mir sogar Spaß, besonders wenn mein Gesprächspartner eine der reizenden ökotopianischen Frauen ist.

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 Aber es bringt mich immer noch aus der Fassung, wenn jemand auf der Straße nach einer zwanglosen, in alle Ruhe geführten Unterhaltung nach zehn Minuten plötzlich sagt, daß er mitten in der Arbeit ist und sich auf dem Absatz umdreht. Die Unterscheidung von Arbeit und Nicht-Arbeit scheint sich in Ökotopia aufzulösen, zusammen mit unserer ganzen Vorstellung vom Berufsleben als separater, vom ›wirklichen Lebern getrennter Sphäre. Es ist unglaublich, aber wahr – die Ökotopianer haben Spaß an ihrer Arbeit.

Das Problem der Arbeitslosigkeit scheint den Ökotopianern nicht die geringsten Sorgen zu bereiten. Zwar gab es unmittelbar nach der Unabhängigkeit viele Arbeitslose, aber mit dem Übergang zur Zwanzig-Stunden-Woche wurde die Zahl der Stellen fast verdoppelt, obwohl einige Arbeitsplätze durch die ökologisch bedingten Betriebsschließungen und Arbeitsvereinfachungen wieder verlorengingen. Außerdem war natürlich ein gewisses Absinken des Durchschnittseinkommens in den meisten Familien zu verzeichnen. Offenbar mußte die Finanzpolitik des Landes in der Übergangsperiode, in der sich eine völlig neue Vorstellung von Lebensstandard herausbildete, sehr flexibel sein, um plötzliche inflationäre oder deflationäre Tendenzen aufzufangen. Das Ergebnis scheint nun zu sein, daß die Unternehmen keinen ernsten Mangel an Teilhaber-Arbeitern haben und es zugleich keine nennenswerte Zahl von unfreiwillig Arbeitslosen gibt. Angesichts eines garantierten Mindesteinkommens und des Systems der Grundbedarfsläden betrachtet der einzelne eine zeitweilige Arbeitslosigkeit nicht mehr als Katastrophe oder Bedrohung; im allgemeinen wird diese Zeitspanne zur Weiterbildung genutzt – und manchmal sogar bewußt ausgedehnt. So schließen sich in Ökotopia oft Freunde, die arbeitslos geworden sind (gewöhnlich durch den Zusammenbruch ihrer früheren Firma), zusammen und betreiben Studien, die in der Gründung eines neuen, eigenen Unternehmens münden.

Wenn manchmal auch schwer zu unterscheiden ist, ob Ökotopianer arbeiten oder sich vergnügen, gehen sie mit ihrer Zeit doch erstaunlich großzügig um. Ich hörte z. B., daß viele Fabrikarbeiter Überstunden machen, um defekte Maschinen zu reparieren. Sie sind offenbar der Ansicht, daß nur die reine Produktionszeit auf die Zwanzig-Stunden-Woche an-

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zurechnen sei, und sehen in der Maschinenreparatur fast eine Zusatzverpflichtung. Vielleicht liegt es auch nur daran, daß sie gern basteln; trotz der Geringschätzung von persönlichem Besitz scheinen die Menschen in Ökotopia gern Dinge zu reparieren. Wenn bei einem Fahrrad die Kette abspringt oder wenn es einen Reifenschaden hat, so ist der Besitzer rasch von fünf Leuten umringt, die ihre Mithilfe bei der Reparatur anbieten.

Wie auch sonst bei vielen zwanglosen gesellschaftlichen Kontakten holt jemand eine Marihuana-Zigarette heraus und läßt sie kreisen; man scherzt, berührt sich und hilft abwechselnd bei der Arbeit.

Die Neigung der Ökotopianer sich gegenseitig anzufassen, ist bemerkenswert. Den meisten Amerikanern ist es – außer unter besonderen Umständen – zuwider, von Fremden vertraulich berührt zu werden, und selbst Freunde haben nicht viel körperlichen Kontakt, der Liebespaaren und Kindern vorbehalten ist. Die Ökotopianer scheinen solche Anstandsformen abgestreift zu haben und machen in dieser Beziehung praktisch keine Unterschiede mehr. Erwachsene geben Kindern im Vorübergehen einen wohlwollenden Klaps. Bekannte schütteln sich bei jedem Zusammentreffen gewohnheitsmäßig die Hand, auch wenn sie sich erst einige Stunden zuvor gesehen haben, wobei sie auf eine neuartige Weise die Arme kreuzen. Wenn die Leute sich zu einer Unterhaltung zusammensetzen, schmiegen sie sich aneinander und schlingen Arme und Beine ganz intim umeinander. Ich habe sogar gesehen, wie ein Mann auf offener Straße auf eine attraktive Frau zuging, lächelnd ein paar Worte zu ihr sagte, den Arm um sie legte oder ihr einen leichten Schlag auf die Schulter gab und weiterging; die Frau setzte ihren Weg fort und warf ihm einen freundlichen Blick nach.

Für uns ist ein derartiges Verhalten eine verbotene Phantasievorstellung. Die Ökotopianer leben solche Phantasien zu jeder Zeit aus. Sie nehmen in aller Freiheit zusammen Bäder und Dampfbäder, Männer und Frauen, ganz zu schweigen von Kindern, schlendern Arm in Arm über die Straße. Alte Freunde, die sich einige Zeit nicht gesehen haben, begrüßen einander für gewöhnlich mit einer langen, herzlichen Umarmung; gelegentlich entschuldigen sie sich und ziehen sich zurück – offenkundig mit sexuellen Motiven. Nacktmassagen sind ein gängiges Gemeinschaftsvergnügen.

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Solche gelockerten Umgangsformen sind vielleicht Folge des weitverbreiteten Marihuana-Genusses; auf jeden Fall stehen sie in einem Zusammenhang damit. Eines der gewagtesten Experimente der neuen Regierung bestand ja darin, Marihuana ausdrücklich zu einem gewöhnlichen Genußmittel zu erklären. Man hob nicht nur das gesetzliche Verbot auf, sondern verteilte sogar kostenlosen Samen bester Qualität im Rahmen einer Kampagne, die den ›selbstgemachten Joint‹ fördern sollte. Das Ergebnis war, daß jedes Haus, jede Wohnung im eigenen Garten oder im Blumenkasten Hanf anpflanzen kann. Es ist, als hätten wir bei uns in der Küche einen Freibier-Hahn. Doch scheinen die meisten Ökotopianer Marihuana sehr maßvoll zu rauchen, und man darf annehmen, daß die schlimmste Auswirkung dieser Politik darin besteht, daß sie die Regierung um eine ergiebige Quelle von Steuereinnahmen bringt.

 

(23. Juni) Letzte Nacht habe ich es gewagt. Nervös wie ich war, wurde ich gegen zwei Uhr in der Früh wach; hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, hier herauszukommen. Ich blickte mich vorsichtig um, überrascht, sie alle gleichzeitig schlafend zu finden; sie sind in meiner Bewachung nachlässig geworden. Mit einem Anflug von Neid stellte ich fest, daß Marie zu Ron ins Bett gekrochen war: verdammt. Ich tastete nach meinen Kleidern und zwängte mich unter der Bettdecke hinein. Nahm dann meine Schuhe, schlich leise zur Tür und schlüpfte hinaus. Es war ganz still draußen, kein Windhauch regte sich. Eine Zeitlang ging ich barfuß; ein angenehmes Gefühl. Ich strebte den Hügel hinauf, weg von dem Gebäudekomplex – wenn die Hügelkuppe erst einmal hinter mir lag, würde ich freie Bahn haben. Der Mond stand als Sichel am Himmel, so daß ich mich gut zurechtfinden konnte.

 

Als ich eine Lichtung auf einer Anhöhe erreicht hatte, entdeckte ich einen kleinen, quadratischen Bau, der sich auf Pfählen erhob, eine Art Laube mit einem Dach, aber ohne Wände. Aus irgendeinem Grund war ich fasziniert und stieg die Leiter hinauf, um einen kurzen Blick in die Landschaft zu werfen. Es sah so aus, als hätte ich meinen Weg gut gewählt.

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Im Mondlicht war die Szenerie von unwirklicher Schönheit. Ich sah eine riesige Eule lautlos vorbeigleiten und mir fiel auf, daß ich den Bach hören konnte, obwohl er 50 Meter entfernt war.

Plötzlich war direkt unter dem Boden der Laube ein Rascheln und ein dumpfer Schlag zu hören und dann ein Kreischen, bei dem mir das Herz still stand. Ich war wie gelähmt und preßte mich gegen einen der Pfosten, die das Dach trugen – wagte nicht, durch das Aufstiegsloch nach unten zu blicken. Im Bad begannen sofort Hunde zu bellen, und im selben Augenblick sah ich eine große gelbbraune Silhouette auf den Wald zuschnellen – ein Berglöwe, das Kaninchen im Maul, das er unter der Laube geschlagen hatte! Bis ich erst einmal begriffen hatte, was geschehen war, und das Blut wieder halbwegs in meinen Adern pulsierte, war es schon zu spät – zwei große Hunde waren aufgetaucht, bellten und schnüffelten herum, und einige Meter hinter ihnen folgte Vince. Ich war mir nicht sicher, ob er mich entdeckt hatte, aber ohne Zweifel war meine Abwesenheit bemerkt worden; das Spiel war aus. Ich kletterte mit noch weichen Knien hinunter. »Ein Löwe hat direkt unter der Plattform ein Kaninchen getötet«, sagte ich. »Deswegen das Hundegebell.«

»Unheimlich, nicht wahr?« sagte Vince. »Aber trotzdem eine schöne Nacht. Wie findest du die Mondschein-Terrasse?« »Das also ist es. Ich war gerade oben und habe mir den Mond angesehen, als dieses verdammte Biest zugeschlagen hat.«

Er musterte mich schweigend. »Kleinen Spaziergang gemacht, was? Böse Überraschung Nummer zwei.« »Für mich jedenfalls«, antwortete ich. »Für uns alle.« Wir gingen zur Hütte zurück. Offenbar waren die anderen ebenfalls draußen auf der Suche nach mir, aber es dauerte nicht lange, bis sie zurückkamen. Niemand machte mir irgendwelche Vorwürfe, aber eine gewisse Enttäuschung war unverkennbar. Ich war deprimiert und verwirrt. Den Rest der Nacht hielt jemand Wache und las in der Ecke in einem Taschenbuch. Marie ging wieder in ihr eigenes Bett zurück.

Nach dem Frühstück entschloß ich mich, der Tatsache ins Auge zu sehen, daß ich noch eine Weile deprimiert sein werde und etwas Gesellschaft gut vertragen kann – also rief ich Marissa an.

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Sie macht sich keinerlei Sorgen darüber, daß meine Kidnapper irgendwelche dunkle Absichten mit mir haben könnten; nicht, daß sie meine Befürchtungen gerade auf die leichte Schulter nahm, aber sie gab mir doch zu verstehen, daß sie sie reichlich übertrieben findet. Sie hat heute den Tag über schwere Fällarbeiten zu erledigen, aber spätabends oder morgen früh wird sie herauskommen. Ich muß irgendwie zusehen, daß ich dann in einer etwas besseren Verfassung bin.

 

25. Juni 1999

Traum: Ich bin zu Hause in New York, in meinem Appartement. Es muß Nacht sein, und ich arbeite an einer Kolumne. Ich habe plötzlich ein ungeheures Bedürfnis, mit Marissa zu sprechen. Ich greife zum Telefon. Ich gebe der Fernvermittlung den Auftrag, dann eine Pause. »Bedaure, Sir, aber wir können die Verbindung nicht herstellen.« »Warum nicht?« »Es ist uns nicht erlaubt, um diese Zeit Gespräche nach San Francisco zu vermitteln.« Wir diskutieren über eine mögliche Leitung über Vancouver, ich werde zunehmend enttäuschter und verzweifelter, die Telefonistin macht mich rasend mit ihrem gedankenlosen »Ich bedaure, daß Sie es so aufnehmen, Sir«. Stimmt irgend etwas nicht? Ist Krieg ausgebrochen? Alles, was sie sagen will, ist, daß sie nur ihre Pflicht tut. Ich wache auf, voller Wut, denke an den verrückten Jerry im Telegrafenamt in San Francisco, der mich immer auf die Palme brachte, weil er nie nur seine Pflicht tat. Jerry hätte es mir wahrscheinlich nicht leicht gemacht, aber er hätte bestimmt einen raffinierten Weg gefunden, mein Gespräch durchzustellen, selbst wenn es über Timbuktu gegangen wäre, denn er hätte gewußt, daß es wichtig war.

Nach diesem Traum lag ich eine Zeitlang wach. Ich sah mich in der Hütte um; meine Wächter schliefen überraschenderweise wieder alle. Vielleicht war es ihnen inzwischen egal. In meiner Phantasie sah ich mich aufstehen, wegschleichen und zum Zug wandern – wenn sie morgen aufstehen würden, wäre ich wahrscheinlich schon in der Nähe von Los Angeles über die Grenze. Könnte zum Abendessen in New York sein! Max wäre noch im Büro. Ich könnte Francine auftreiben, einen Stadtbummel machen, meine glückliche Heimkehr feiern.

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Warum hörte sich das Ganze so wenig verlockend an? Ich stachelte meine Phantasie noch ein wenig an, indem ich mir das Ende des Abends mit Francine und die köstlichen neuen Tricks ausmalte, die sie immer auf Lager hat. Nichts. Alles, was ich fühlte, war die Wärme meiner Laken, die leise Kälte der Landluft auf meinem Gesicht und den ungeheuren Wunsch, einfach nur behaglich liegen zu bleiben und auf die Morgendämmerung zu warten, auf das, was kommen würde, gleichgültig, was es war.

Marie schlug die Augen auf, blickte zu mir herüber und sah, daß ich wach war. »Du siehst besser aus«, flüsterte sie. »Schlaf weiter!« Das dumme Ding warf mir eine Kußhand zu. Dann kann ich mich erst wieder daran erinnern, daß Morgen war.

Die anderen gingen alle in der Frühe hinunter zu den Bädern, aber mir war nicht danach – hatte Angst, daß sich meine Grippe wieder melden könnte oder sonst irgend etwas. Ron blieb bei mir, saß in der Ecke und las Gedichte. Ich beschloß, mir ein bißchen die Zeit zu vertreiben und meine Garderobe in Ordnung zu bringen. Schüttelte also den Staub aus meinen New Yorker Kleidern und breitete alles säuberlich aus. Dann fiel mir ein, daß ich zum Spaß einmal mein richtiges Hemd anziehen könnte, um zu sehen, wie ich aussehe – es ist sieben Wochen her, seit ich es das letzte Mal anhatte, und es kam mir so vor, als hätte ich hier draußen abgenommen. Es war angenehm, in das kühle, bügelfreie Hemd hineinzuschlüpfen, und ich steckte es in die eng anliegende Hose – das erste Mal seit Wochen, daß ich ein Hemd in der Hose trug. Der Gürtel saß ein wenig locker, aber nicht allzusehr – mußte ihn nur ein Loch enger schnallen. Ich dachte mir: zum Teufel, jetzt kannst du gerade so gut auch noch eine Krawatte anlegen, nur um zu sehen, wie sie dir steht. Ich ging zum Spiegel hinüber, legte mir die Krawatte um den Kragen und begann gedankenverloren, sie zu binden.

Plötzlich erblickte ich mich im Spiegel, und mir sträubten sich die Haare. Ich sah schrecklich aus, ich hatte nichts Menschliches mehr an mir. Ein verkrampftes, steifes Spiegelbild schaute mich an. Wie betäubt setzte ich mich hin. Dann, neugierig geworden, band ich die Krawatte fertig, zog auch noch das Jackett an und trat erneut vor den Spiegel. Dieses Mal wurde mir beim Anblick des häßlichen Amerikaners, den ich da sah, beinahe übel – ich glaubte wirklich, ich müßte mich übergeben, und hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als in das heiße Wasser der Bäder zu tauchen.

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Mein ganzer Körper schrie danach, aus diesen furchtbaren Kleidern herauszukommen, in das herrlich tragende Wasser zu sinken und sich dort einfach treiben zu lassen. Ich riß mir die Kleider herunter, warf mir einen Bademantel über und sagte Ron (der mein Kleiderexperiment kommentarlos verfolgt hatte), daß ich jetzt hinunter zu den Bädern gehen wolle. Wir nahmen ein ausgiebiges Bad – der Gedanke daran, aus dem Becken zu steigen, war mir unerträglich, und so saß ich bis zum Hals im Wasser, sah gebannt zu, wie das Wasser aus dem Hahn plätscherte, und lauschte seinen vielfältigen Geräuschen. Mein Körper schwebte schwerelos in dem warmen, wohltuenden Naß und empfing so gut wie keine Sinneseindrücke. Ich schloß die Augen und ließ mich noch tiefer sinken, bis praktisch nur noch meine Nase aus dem Wasser ragte. Ich verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum – nur das ständige Gurgeln des tief aus der warmen Erde kommenden Wassers drang an mein Ohr. 

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich mich in diesem Zustand befunden habe, aber plötzlich hörte ich mich sagen: »Ich bleibe in Ökotopia!« – erschreckend laut und deutlich. Im selben Moment schwand der Druck von meinem Kopf, und mir wurde klar, daß ich seit Wochen dagegen angekämpft hatte, diese Worte auszusprechen. Ich erhob mich und stand aufrecht im Wasser, tropfend, lächelnd und bebend. Die Stille im Raum wurde von Maries Freudenschreien durchbrochen, und wir stolperten gemeinsam die Stufen hinauf, alles klopfte mir auf den Rücken und umarmte mich: fünf erwachsene Menschen, die nackt umhertollten, lachten und johlten.

Wir gingen hinaus in den Schwitzraum, empfangen vom neugierigen Lächeln der Leute, die dort gedöst hatten. Dann warf Vince sich sein großes Badetuch wie einen Poncho über, schoß hinaus und kam nach einer Minute mit Marissa wieder – sie war anscheinend schon am Tag zuvor spätabends hier eingetroffen, aber sie hatten ihr gesagt, daß ich ihrer Meinung nach kurz vor dem ›Durchbruch‹ stehe, wie sie sich ausdrückten, und sie hatte sich entschlossen, diesen Prozeß nicht durch ihre Anwesenheit zu beeinflussen, auch wenn sie noch so sehr darauf brannte, mich zu sehen. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Wir lagen uns in den Armen, und die reichlich fließenden Tränen waren befreiend und wärmend; die anderen blieben bei uns, offenbar sehr zufrieden mit sich.

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Dann standen wir auf, warfen uns unsere Kleider über und gingen nach draußen. In der Nähe gab es eine Stelle, die mit einer dicken Schicht von weichen, trockenen Piniennadeln bedeckt war, und wir begannen, sie zu umtanzen, mit Fußtritten die Nadeln hochzuschleudern, über sie zu schlittern und auf ihnen herumzuhüpfen. Marissa und ich führten in der Mitte eine Art Hochzeitstanz auf und gingen dann gemeinsam weg, an der Mondschein-Terrasse vorbei hügelan zum Fuß einer hohen Eiche, wo das Frühlingsgras noch dicht und grün stand. Wir liebten uns langsam und feierlich, fühlten die Erde schwer und fest unter uns, ruhten auf ihr, rochen ihren Reichtum und ihre Fruchtbarkeit. 

Wenn ich mit Marissa zusammen bin, habe ich das Gefühl, als ob alle Lust des Universums sich in mir bündelt und auf sie übergeht; es ist eine zutiefst persönliche und doch zur gleichen Zeit fast unpersönliche Empfindung. Später lächelte sie träge. »Ein schöner Ort, um ein Kind zu empfangen«, sagte sie und blickte sich unter der Eiche um. Aber es war nicht aus ihr herauszubekommen, ob sie in ihrer fruchtbaren Periode war und ob sie ihre Spirale noch trug. »Es ist mein Körper«, war alles, was aus ihr herauszubekommen war. Da ich ihre Bindungen an Familie und Generationsfolge kenne, war mir der Gedanke zutiefst unheimlich – und doch scheine ich reif dafür zu sein.

Nach einer Weile gingen wir den Hügel hinunter, trafen die anderen und besuchten ein letztes Mal kurz das Bad. Dann machten wir uns auf den Weg in die Stadt und zum Cove, wo schon eine große Party vorbereitet war. (Ökotopianer sind ganz groß darin, Feste zu improvisieren!) Zu meiner Überraschung war Marissas Bruder Ben die treibende Kraft bei allem. Er spielte den Hauptgastgeber mit einem Enthusiasmus, der ebenso groß war wie seine frühere Verbitterung: bärenhafte Umarmungen und freundschaftliche Schläge auf den Rücken.

Als ich mich entschloß, meinen geheimnisvollen Kidnappern öffentlich dafür zu danken, daß sie mich in der schlechten Verfassung, in der ich war, zu den heißen Quellen gebracht hatten, bestanden sie darauf, die Ehre mit Ben zu teilen. »Nun ja«, sagte der, »ich verrate jetzt ein Staatsgeheimnis. 


Weißt du, Will, ich hatte eine solche Wut, daß ich zu Vera Allwen gegangen bin und versucht habe, dich aus dem Land weisen zu lassen. Sie wollte jedoch nichts davon wissen. Aber sie war der Meinung, daß dir die heißen Quellen vielleicht gut tun würden und dir dabei helfen könnten, die ganze Sache durchzustehen.«

Ich war perplex: diese eigenartige alte Frau mußte durchschaut haben, was in mir vorging, noch bevor es mir selbst klar wurde. »Auf alle Fälle«, flüsterte Ron mir zu, »hat Ben es tatsächlich geschafft, seine Schwester zu beschützen!« Es war zuviel für mich. Ich fing an zu weinen, ganz offen und glücklich, umgeben von strahlenden Gesichtern.

Jetzt, wo ich dies alles niederschreibe, ist es früh am nächsten Morgen. Marissa schläft noch, ihre schwarzen Haare liegen wirr auf dem Kopfkissen. Langsam erkenne ich, daß ich mich in Marissas Land ebenso wie in sie selbst verliebt habe. Ein neues Ich ist hier in mir zum Leben erwacht, dank Marissa und dank der Menschen hier. Dieses neue Ich ist ein Fremder für mich, ein Ökotopianer, und sein Auftauchen erschreckt mich, erregt mich und gibt mir Kraft – alles in einem... Aber nun endlich bin ich bereit dafür.

Ich weiß nicht, welche Konsequenzen das alles für mich haben wird, wie wir leben werden oder auch nur, wo wir leben werden. Aber alle Möglichkeiten, die in Frage kommen, erscheinen mir natürlich und verlockend. Eine Zeitlang möchte ich im Holzfällerlager bleiben – habe noch nie in so engem Kontakt mit einer natürlichen Umgebung gelebt und möchte gern erfahren, wie es ist, mit eigenen Händen zu arbeiten. Es stehen mir schmerzliche Trennungen von Francine und Pat bevor. Ich habe jedoch beschlossen, Pat darum zu bitten, die Kinder den Sommer über herzuschicken. Wenn dazu ein diplomatischer Paß nötig sein sollte, nun, der Präsident schuldet mir einen Gefallen! Und ich habe vor, beim Schreiben einige neue Möglichkeiten auszuprobieren: es gibt noch viele Dinge in Ökotopia, die die Welt draußen unbedingt erfahren muß. Vielleicht kann ich dabei helfen.

220-221

 

 

E n d e

   

Nachwort des Herausgebers

 (1.1.2000) 

Der vorliegende Text umfaßt das Notizbuch und die Zeitungsartikel, die Mister Weston während seiner Ökotopia-Reise geschrieben hat. Trotz des widersprüchlichen Charakters einiger Eintragungen haben wir seinen Wunsch respektiert und den Text so belassen, wie er von ihm abgefaßt wurde. Hier noch die an den Chefredakteur gerichteten Zeilen, die dem Notizbuch beigefügt waren, als es im Hause der Times-Post eintraf: 

"Lieber Max, 
Du hast mich gebeten, weiterzumachen und die ganze Geschichte nieder­zu­schreiben, aber als ich damit begann, mußte ich feststellen, daß ich dazu nicht in der Lage bin. Deshalb sende ich Dir mein Notizbuch, selbst wenn ich nicht weiß, was Du damit anfangen wirst. Du kannst es im Verlag herumgeben, im Archiv ablegen oder es drucken. 

Max, ich habe beschlossen, nicht zurück­zukehren. Wenn Du mein Notizbuch liest, wirst Du es begreifen.

Ich bin Dir dankbar dafür, daß Du mich auf diese Reise geschickt hast. Weder Du noch ich wußten, wohin sie führen würde. Sie hat mich nach Hause geführt. 
William" 

222

 

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