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Box 3

 

 

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Mittwoch. Heute darf ich meinen Sohn eine Stunde, von 14 bis 15 Uhr, besuchen.

Niemand in der Klasse ahnt, wie glücklich ich bin. Ungeduldig sehne ich den Unterrichtsschluß herbei. Dann ertönt endlich die erlösende Schulklingel. Vom S-Bahnhof Schöneweide laufe ich mit meiner Mappe unter dem Arm schnell den einen Kilometer bis zum Kinderheim. Pünktlich um 14 Uhr wollte ich bei meinem Sohn sein. Leider hatte ich erst gegen halb zwei Schulschluß. Nervös sehe ich auf meine Armband­uhr. »Zehn Minuten drüber!«

Ich renne die letzten Meter. Sieben Minuten später stehe ich, heftig nach Luft schnappend, auf der Säuglings­station. Eine Kinderschwester begrüßt mich unfreundlich: »Na, kommen Sie doch noch?«

Fast bin ich geneigt, eine Entschuldigung hervorzubringen. Als ich ihre Erwartung sehe, lasse ich es. »Wo ist mein Kind?« frage ich ungeduldig.
»Box drei. Aber nicht das Zimmer betreten!«
Es klingt wie ein Befehl. Entrüstet frage ich: »Was? Was soll ich denn sonst machen?«

»Sie können Ihr Kind durch die Glasscheibe sehen!« Schnell laufe ich den langen, blankpolierten Gang entlang.

»Aber beschmieren Sie nicht die Scheiben!« ruft sie mir nach. Ich bin unfähig zu antworten, jede Minute Streit würde meinem Kind und mir von der Besuchszeit verlorengehen. Vier Tage habe ich meinen Sohn nicht gesehen. Können vier Tage ein Baby schon so verändern? Ich habe Mühe, von den drei Kindern im Zimmer das meine zu erkennen.

Jedes liegt schlafend im weißen Kinderbett, ihre Haut schimmert genauso weiß wie die ganze Einrichtung.

Hier stehe ich nun, von meinem Sohn durch zwei Glasscheiben getrennt und darf ihn nicht einmal berühren. So gerne möchte ich ihn in meine Arme nehmen. Eine jüngere Kinderschwester kommt den Flur entlang. Sie erscheint mir netter als ihre Kollegin, jedenfalls sieht sie freundlicher aus. Ich frage: »Darf ich mein Kind nur einmal streicheln? Bitte!«

Oh, wie habe ich mich geirrt. Stolz, mir ihre Macht zu demonstrieren und eine Anweisung vor der Stationsschwester zu geben, sagt sie übertrieben laut: »Wir machen hier keine Ausnahme. Die Zimmer dürfen aus hygienischen Gründen nicht betreten werden!«
  Sie bleibt, wie zur Kontrolle, neben mir stehen.

Kein Kind hat Besuch, ich stehe allein auf dem langen Flur. Wem gegenüber wäre ich eine Ausnahme gewesen? Höchstens ihren eigenen Vorschriften gegenüber. Ich kann die Tränen nicht aufhalten. In diesem Moment hätte ich am liebsten gegen die ach so saubere Scheibe gespuckt und dann richtig mit den Fingern drübergeschmiert. Meine Gedanken sind kindisch, aber der Dreck hätte sicherlich mehr Eindruck hinterlassen als die Tränen einer heulenden siebzehnjährigen Mutter.

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Ist ein Kind im Heim, ist die Mutter schlecht. Kommt ein Kind aus dem Heim, ist das Kind schlecht. Was ist, wenn beides zusammentrifft, wie bei mir? Bei soviel Negativem muß man sich ja regelrecht schlecht fühlen!

Zwanzig Minuten stehe ich in Gedanken versunken vor der Glasscheibe, als mein Kind plötzlich erwacht und zu weinen beginnt. Es steigert sich schnell in ein lautes Brüllen hinein. Das durchdringt meinen Körper bis auf die Knochen, prallt zurück durch sämtliche Zimmer, den Flur entlang, erreicht jedoch die Ohren der Schwestern nicht. Niemand kommt, nach ihm zu sehen. Mein Mitleid und die Sehnsucht machen mich mutig. Ich drücke die Klinke zu seinem Zimmer hinunter, so gerne will ich meinen Sohn trösten. Mit Entsetzen stelle ich fest, das Zimmer ist verschlossen. Mein Kind ist eingesperrt!

Zornig laufe ich in das Schwesternzimmer und verlange, daß die Tür sofort aufgeschlossen wird. Die Oberschwester sagt abweisend: »Führen Sie sich nicht wie ein wild gewordener Handfeger auf! Nach der Besuchszeit werden die Türen wieder geöffnet.« In scharfem Ton fügt sie hinzu: »Wenn es Ihnen nicht paßt, dann kommen Sie doch gar nicht erst her. Schließlich ist es nicht unsere Schuld, daß Ihr Kind hier sein muß!«

Sie dreht sich den Kolleginnen zu, läßt mich stehen. Das Gespräch ist für sie beendet. Verzweifelt über die Situation, in der ich mich befinde, niedergeschlagen, meinem Kind nicht helfen zu können, gehe ich nicht zum Schaukasten zurück. Sein Schreien verfolgt mich bis zum Ausgang.

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Das Kinderheim, idyllisch im Wald gelegen, war einmal mein Zuhause, in dem ich keine Liebe fand. Nun wird es meinem Kind zum gleichen Verhängnis.

Als ich Peter, den Vater meines Sohnes, kennenlernte, verlangte er als Beweis meiner Liebe, daß ich mit ihm schlafe. Und nachdem ich auch für die Mädchen meiner Klasse mit 16 Jahren als alte Jungfer galt, wollte ich allen etwas beweisen. Das Ergebnis meiner Naivität ist das Kind, das seine Kindheit dort beginnt, wo meine aufhörte.

Die Tränen verkneifend, laufe ich durch den Kiefernwald, der mir so vertraut ist und der das Heim wie ein Schutzwall vor »draußen« umgibt.

Wie lange halte ich die Besuchszeiten aus, ohne mein Kind berühren zu dürfen? Schuldgefühle, eine schlechte Mutter zu sein, lassen mich nicht mehr los. Ich hasse mich und heule. Wenn ich meinen Schmerz aus mir herausweine, fühle ich mich danach erleichtert, doch etwas, das ich nicht deuten kann, bleibt dann auch für immer weg.

Egal, was mir im Leben noch passiert, mein Kind gebe ich um keinen Preis in der Welt her.

Unglücklich fahre ich in das Jugendwohnheim. Die Mädchen sitzen zusammen, reden und lachen miteinander. Ich beneide sie, gerne würde ich in ihrem Kreis unbeschwert und fröhlich sein.

Eine Erzieherin ruft mich: »Komm bitte ins Büro!«
Die Heimleiterin lächelt mich freundlich an. »Alles in Ordnung?« Ich gebe keine Antwort.
»Du hattest Besuch, ein junger Mann. Er wartet im Restaurant Mühlenstein auf dich.«

Ich weiß, daß es nur Peter sein kann. Mit meiner Wut im Bauch gehe ich zur Bushaltestelle. Ein Mädchen aus dem Heim wartet ebenfalls auf den Bus.

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»Mein Gott, du siehst ja schrecklich aus! Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«
Ich erzähle von der Besuchszeit.
»Und wo fährst du jetzt hin?« fragt sie.
Ich schaue sie an, sie ist mir sympathisch. »Schluß machen mit meinem Freund!«
»Du meinst doch nicht etwa den Hübschen, der nach dir gefragt hat? « Sie ist plötzlich ganz aufgeregt.
»Genau den!« Der Bus kommt.
»Darf ich dich begleiten? Ich bin schrecklich neugierig.«
»Von mir aus.«

Sie lacht. Insgeheim bin ich erleichtert, nicht allein zum Treffpunkt zu müssen. Ihre Anwesenheit macht mich bei meinem Vorhaben mutiger.

Freudestrahlend kommt mir Peter entgegen, stolz verkündet er: »Ich war gerade bei meinem Sohn!«

»Wie ist denn das möglich, jetzt ist doch gar keine Besuchszeit!«
Er lacht selbstgefällig: »Mir kann eben keiner widerstehen!«

Sofort fällt mir die junge Schwester ein. Ich fasse den Entschluß, seine Besuche verbieten zu lassen. Angeregt unterhält er sich mit dem Mädchen. Sie lacht ihn immerfort an.

Ein Vierteljahr hat er sich bei mir und dem Kind im Mütterheim nicht blicken lassen; jetzt taucht er auf, als sei alles in bester Ordnung. Ich beobachte ihn und lauere auf den richtigen Moment, um ihm alles zu sagen.

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Plötzlich legt er einen goldenen Armreif auf den Tisch: »Eine Überraschung für dich!« Er strahlt mich erwartungsvoll an.

Mit einer knappen Handbewegung fege ich den Reif vom Tisch. »Es ist aus mit uns, endgültig. Wehe, du gehst noch mal zu meinem Kind!«

Nach diesen Worten verlasse ich die Kneipe, laufe so schnell ich kann zur Haltestelle. Unerwartet heftig werde ich plötzlich von hinten am Arm herumgerissen. Peter hält mich grob fest und schreit: »Das kannst du nicht machen, ich liebe dich!«

Ich versuche mich aus seiner Umklammerung zu befreien, hysterisch lache ich. »Liebe! Ich lach' mich tot. Was ist denn das? Kinder machen oder welche kriegen? Loslassen!« rufe ich aufgebracht. Er weint.

Der Bus fährt vorbei. Ich bin nur von einem Gedanken besessen: Weg von ihm!

Es gelingt mir zu entkommen, ich renne in Richtung Plänterwald. Hinter mir höre ich ihn mit wütender Stimme Schimpfworte brüllen. Der Wind trägt die Ausdrücke, die ich nicht hören will, davon. Als ich Seiten-stiche bekomme, bleibe ich stehen. Ich kann einfach nicht weiter, obwohl ich Peter kommen sehe. Im Licht der Laterne erkenne ich sein wutverzerrtes Gesicht.

»Bleib stehen, sonst kannst du was erleben!« ruft er mir drohend zu. Wieder packt er meine Arme und schüttelt mich wie ein Irrer. Jetzt ist seine Stimme weinerlich; er widert mich an. Gewaltsam versucht er, mich an sich zu pressen und mich zu küssen. Heftig stoße ich ihn zurück. Er kann die Balance nicht halten und stürzt rückwärts auf die Straße. »Na warte!« schreit er wütend beim Aufstehen.

Ich habe Angst vor ihm. Wie ein gejagtes Tier hetze ich durch den Wald davon. Mein einziger Gedanke ist: Hoffentlich holt er mich nicht ein!

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Außer Atem, rot, verschwitzt, errege ich die Aufmerksamkeit der Mädchen, als ich im Heim ankomme. Aufgeregt umringen sie mich, jede will wissen, was mir passiert ist. Ich habe keine Lust, darüber zu sprechen. Sie verstehen mich und lassen mich in Ruhe. Von dem Mädchen, das mich begleitet hatte, erfahren sie alles. Kurze Zeit bin ich der Mittelpunkt ihrer Tratschereien. Das stört mich nicht, ich kenne das aus der Zeit, als ich mit Erika befreundet war. Sie lebt seit einem halben Jahr in ihren eigenen vier Wänden. Erika teilte im Mädchenwohnheim nicht nur das Zimmer mit mir, sondern auch unsere kleinen Geheimnisse. Während meiner Schwangerschaft bekam sie eine Wohnung und zog aus. Eine tolle Freundin, wir haben uns lange nicht gesehen. Ich nehme mir vor, sie zu besuchen.

 

 

Eine alte und eine neue Freundin

 

Erika wohnt in einem Hinterhof. Der Putz bröckelt von den Fassaden, die Mülleimer quellen über, von den Fenstern blättert die Ölfarbe. Nur Erikas Fenster leuchten hell, neu gestrichen. Ich freue mich auf ein Wiedersehen mit ihr. Aufgeregt drücke ich den Klingelknopf. Sofort reißt sie die Tür auf. Bei meinem Anblick fällt ihr strahlendes Gesicht enttäuscht zusammen, wenige Sekunden nur, dann hat sie sich wieder in der Gewalt.

»Ich dachte, Willi kommt!« Sie lacht.
»Seid ihr immer noch zusammen?« frage ich erstaunt. Sie hatten sich im letzten Sommer kennengelernt, als wir mit dem Heim Urlaub m Schwerin machten.

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»Natürlich, wir wohnen beide hier! Aber komm schon herein!«

Sie zieht mich am Ärmel in die kleine Einzimmerwohnung. Der Kaffee ist schnell gekocht. Während sie mich nach einigen Mädchen fragt, sehe ich mich um. Willi hat viel Mühe und Kraft darauf verwendet, die Wohnung extravagant zu gestalten. Überall schmiedeeiserner Schnickschnack; das kleine Zimmer wirkt dadurch voller und eng.

Vom Korridor dringen Schlüsselgeräusche herein. Erika springt sofort auf und läuft zur Tür. Ob ich auch mal so werde? Wie es sich für einen ordentlichen Hausherrn gehört, erscheint Willi mit Pantoffeln an den Füßen im Wohnzimmer. »Menschenskinder, ist ja großartig, daß du mal vorbeischaust!«

Wir verbringen einen gemütlichen Abend. Sie erzählen von ihren Heiratsabsichten — wobei ich allerdings den Eindruck habe, daß Willi weniger begeistert davon ist - und ich berichte über die unpersönlichen Besuche bei meinem Sohn.

Als wir uns verabschieden, muß ich versprechen, bald wiederzukommen. Ich bin froh, daß mir Erika als Freundin erhalten geblieben ist.

Die meiste Zeit verbringe ich mit Lernen für die Facharbeiterprüfung. Das ist bei dem Lärm im Haus sehr schwer. Trotzdem bringe ich zwanzig Seiten für die schriftliche Arbeit zustande. Eine Erzieherin tippt sie mit einem Einfingersuchsystem auf der Schreibmaschine ab. Pünktlich zum Abgabetermin überreiche

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ich die Hausaufgabe meinem Lehrausbilder, der mich verwundert fragt: »Was denn, schon fertig?« Von mir schien er nichts zu erwarten.

Jeden Mittwoch- und Sonntagnachmittag fahre ich in das Kinderheim, stehe die eine Stunde vor der Scheibe, um mein Kind zu beobachten. Ich habe dabei keine Muttergefühle, eher komme ich mir wie ein Verhaltensforscher vor. Entweder das Baby weint oder es schläft. Selbst wenn es friedlich im Bett liegt, nuckelt es mit stumpfem Blick an seinem Daumen. Es nimmt mich gar nicht wahr. Peinlich genau führen die Schwestern ein Kontrollbuch über meine Besuche. Das Besuchsverbot für den Vater nehmen sie ernst. Sie haben darüber eine Notiz im Buch gemacht.

Nach wie vor aber bleibe ich die einzige Mutter auf dem langen Flur der verlorenen Kinder.

Nach der Stunde, die mich immer mehr mit Schuldkomplexen belädt, suche ich Trost bei den Mädchen, die noch hier leben. Wegen der langen Sanierungszeit des Mädchenwohnheims mußten sie das Kinderheim nicht verlassen. Sie hatten Glück. Normalerweise zogen die großen Kinder nach dem Schulabschluß aus. Wie gerne würde ich bei ihnen, in meiner alten Umgebung, in der Nähe meines Kindes wohnen. Keines von den Mädchen mußte sich an neue Gesichter gewöhnen. Mir gegenüber verhalten sie sich wie früher, da sie mich alle kennen. Besonders zwischen Gerda und mir entwickelt sich eine vertrauensvolle Freundschaft. Stundenlang reden wir über unsere Sorgen und über mein Kind. Durch ihren tröstenden Rat fühle ich mich nicht mehr allein und komme mir nicht so hilflos vor.

Im Gegensatz zu mir kannte sie ihre Mutter, die später bei einer Abtreibung starb. Seit diesem Tag lebt sie

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im Heim. Ein großes, kräftiges Mädchen. Ihre Sensibilität versteckt sie. Außen hart und innen weich; um das herauszufinden, muß man sie erst richtig kennen. Viele fürchten sich vor ihrer selbstbewußten Ausstrahlung; aber alle, die bei ihr Rat und Hilfe suchen, erhalten beides prompt. Auf diese Weise ersetzt sie fast eine mütterliche Erzieherin (die es kaum gibt). Sie ist es auch, die mir Mut macht, die Kinderschwester zu bitten, meinen Sohn im Heim ausfahren zu dürfen.

Noch steht mein Kinderwagen mit sämtlichen Babysachen im Vorraum der Säuglingsstation sinnlos herum. Nach jeder Besuchszeit erinnere ich mich, wie schön es im Mütterheim war, wo ich mein Kind spazieren­fahren durfte. Oft bin ich nach der Besuchszeit so deprimiert, daß ich wütend gegen das nutzlose Fahrzeug trete. Gerdas Idee versetzt mich bis zur nächsten »Glaskastenschau« in eine frohe, fast glückliche Stimmung. Mit großer Ungeduld erwarte ich den nächsten Sonntag, dann werde ich den Stationsdrachen fragen. Die vier Tage vergehen wie im Flug.

Den Sonntagmorgen verbringe ich an der Spree. Hinter unserer Wohnhauskneipe befindet sich ein großer verwildeter Garten. Früher saßen hier Ausflugsgäste unter alten Bäumen, machten Picknick mit der gesamten Familie und fuhren am Abend mit dem Dampfer zurück. Nun zeugen nur noch ein paar kümmerüche rostige Stücke des alten Gartenzaunes von verschwundener Pracht, und die vergammelten Überreste kaputter Bänke deuten, wie bei antiken Ausgrabungen, auf eine längst vergangene Epoche.

Ich schlüpfe durch ein Zaunloch, setzte mich auf die Reste aus anderen Zeiten und sehe dem Wellenspiel der Spree zu. Das Auf und Ab der Wellen versetzt mich

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in traurige Stimmung. Zuerst sieht es lustig aus, als ob das Wasser tief ein- und ausatmet. Dann zerbrechen die Wogen aber mit klatschendem Ton an dem steinernen Ufer, so, als ohrfeige man sie. Sie sind im Kanal gefangen, können nicht frei auslauten. Natur gebändigt, eingezwängt durch die Menschen. Genauso wie ich?

Die Luft riecht nach Frühling, die Sonne wärmt. Schnell verscheuche ich die düsteren Gedanken, ziehe meinen Pullover aus, lege ihn unter den Kopf, schließe die Augen, lausche dem Vogelgezwitscher und denke:

Die Sonne, mehr brauche ich heute nicht! Ich genieße das Alleinsein. Erst als mir heiß wird, öffne ich die Augen. Erfreut stelle ich fest, daß es schon dreizehn Uhr ist. Ich laufe ins Haus zurück. Hurra, es ist Frühling! Bald, sehr bald, genau in zwei Tagen, werde ich achtzehn Jahre alt. Volljährig. Das bedeutet, daß ich mein Kind allein erziehen darf.

Froh gelaunt fahre ich ins Heim. Erstaunlicherweise reagiert die Schwester auf meine Bitte sehr freundlich. »Vergessen Sie aber nicht, das Kind pünktlich zurückzubringen. Und nur im Heim bleiben!« lautet ihre Anweisung.

Außer mir vor Glück laufe ich ihr hinterher, ordnungsgemäß bleibe ich an der Zimmertür stehen. Sie hebt meinen Sohn aus dem Bett. Unruhig sehen seine kleinen Augen hin und her. Gott sei Dank, er weint nicht. Dann ist es soweit, nach acht Wochen halte ich ihn wieder in meinen Armen.

Vor der Schwester beherrsche ich meine Gefühle. Aber nachdem ich ihn umgezogen habe und sie nicht mehr zu sehen ist, verliere ich die Kontrolle. Ich weine los, drücke ihn an mich und küsse ihn ab. Er läßt sich

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alles gefallen, gemeßt das Geschmuse sichtlich und lacht sogar, richtig laut. Meine Küsse kitzeln ihn.

Mit dem Kinderwagen gehe ich zuerst zu den Mädchen, zeige stolz meinen Sohn. Alle finden ihn niedlich, nur sehr blaß. Also fahre ich ihn in der Sonne spazieren, bleibe alle paar Minuten stehen, um ihn zu streicheln oder anzulachen. Er bleibt sehr ernst und sieht fast ängstlich aus.

Die Stunde vergeht leider sehr schnell. Auf der Station frage ich die Schwester: »Darf ich ihn mal etwas länger haben? Nächste Woche werde ich achtzehn Jahre.«

»Darüber reden wir später, wir wollen erst sehen, ob wir uns auf Sie verlassen können!«

Ich muß mich durch pünktliches Abgeben meines Kindes beweisen.

Als ich an der Tür bin, kommt plötzlich der Mensch in ihr durch, sie fügt beim »Aufwiedersehen« hinzu: »Bis jetzt machen Sie sich prima, wenn das weiter so geht, werden Sie sicher Ihr Kind bald für immer bekommen.«

Für mich war es der schönste Frühlingstag meines Lebens.

 

 

Eine vermeidbare Erfahrung

 

Mein achtzehnter Geburtstag ist niemandem aufgefallen. Wie eine Verrückte pauke ich für die Facharbeiter­prüfung. Aber da war noch die Mathearbeit, es graute mir vor diesem Tag. Herr Reinhard verteilt die Prüfungsblätter. Da wir einzeln in der Bank sitzen, hat keiner die Möglichkeit, abzuschreiben.

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Diese eine Arbeit konnte meinen Facharbeiterbrief zunichte machen. Alles, aber auch alles wäre dann umsonst gewesen. Herr Reinhard nähert sich meiner Bank, mein Herz schlägt bis zum Hals. Vor mir liegt das schneeweiße Blatt Papier. Er bleibt stehen, leise sagt er: »Versuchen Sie es wenigstens.«
»Ich kann es nicht«, flüstere ich mutlos.
»Schreiben Sie unbedingt Ihren Namen drauf.« Nach diesen Worten kommt er nicht mehr in meine Nähe.

Ich gebe das leere Blatt ab und laufe aus der Schule, draußen heule ich bitterlich. Energisch wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Das Leben geht weiter, du wirst nicht wegen jeder Kleinigkeit verzweifeln, beschließe ich und mache einen Stadtbummel.

Ich komme am Spielzeugladen vorbei. Im Schaufenster entdecke ich einen leuchtend gelben Ball. Kurz entschlossen kaufe ich ihn. Mit dem Ball im Netz laufe ich zum Plänterwald. Die Sträucher mit ihren grünen Frühlingsblättern lassen den Weg bis ins Heim dichter und geheimnisvoller erscheinen. Der lange Weg durch den Wald bereitet allen Mädchen Unbehagen, vor allem, wenn man im Dunkeln vom Ausgang kommt.

Gott sei Dank scheint noch die Nachmittagssonne. Ich halte das Netz vor mich und trete während des Laufens gegen den Ball. Plötzlich höre ich hinter mir ein Auto. Hier ist keine öffentliche Straße, vorsichtshalber bleibe ich am Weg stehen. Das Auto nähert sich, ich erkenne eine Person am Steuer: ein Mann! In meiner Höhe hält der Wagen. Der Mann steigt aus, den Motor läßt er laufen. Er kommt direkt auf mich zu. Ich sehe keine Chance wegzulaufen und rufe ihm entgegen: »Was suchen Sie mit dem Auto im Wald?«

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Er lacht: » Pferde, ich bin Tierarzt!«
»Und ich bin Försters Tochter!«
»Ach nee! Der Förster hat eine Tochter? Davon hat er nie gesprochen.«

Noch immer lacht er und bleibt vor mir stehen. Er ist nicht groß, ich schätze einsdreiundsiebzig, aber von kräftiger Statur. Sein Haar ist fast schwarz, an den Schläfen leicht ergraut. Sein Gesicht hat ebenmäßige Züge, graublaue Augen — für einen Mann fast zu schön. Ich merke sofort, daß er sich seiner Wirkung auf Frauen bewußt ist und gebe mich sehr selbstbewußt: »Den Stall, in dem Ihre Pferde stehen, kann ich mir gut vorstellen«, sage ich spöttisch. »Wenn es hier ein Gestüt gäbe, wüßte ich das, denn ich wohne hier.«

Nun ist er sprachlos und beteuert: »Hier muß ein Stall sein, ich bin doch angerufen worden!«

Ich erzähle, daß unten am Wasser nur eine ehemalige Kneipe steht, auf dem Grundstück daneben aber eine Gärtnerei betrieben wird, die demnächst abgerissen werden soll. Dort soll der größte Rummel von Berlin entstehen.

Er beobachtet mich beim Reden und lacht: »Gut, dann ist es in der Gärtnerei, soll ich dich das letzte Stück mitnehmen?«

Ich überlege hin und her, er sieht vertrauenswürdig aus. Ich zögere nicht lange, steige in das Auto. In den wenigen Minuten Fahrzeit erfahre ich, daß er verheiratet ist und zwei Jungen hat. Meine Angst schwindet, er hält tatsächlich vor der Gärtnerei.

Am Tor erscheint ein Mann, mürrisch fragt er: »Was wollen Sie?« Ehe ich begreife, stellt mich der Arzt als seine Assistentin vor. Dann reden sie über irgendeine Krankheit.

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Warum lügt er? frage ich mich.

Der Gärtner führt uns in einen Stall, in dem wirklich zwei Pferde stehen. Riesige, prachtvolle, braune Hengste. Sie flößen mir durch ihre Größe Respekt ein, ich bleibe einen halben Meter entfernt stehen. Der Arzt betrachtet sie von allen Seiten, stellt dem Besitzer Fragen, ruft mich zu sich. Zögernd trete ich näher, er lacht schon wieder. »Nur keine Angst, sie beißen nicht!«

Der hat gut reden, der weiß ja nicht, daß ich mal über einen Pferdehintern in einen Schweinetrog gesaust bin.

Plötzlich drückt er mir Medikamente in die Hand und sagt: »Halt mal!«

Ich sehe die wunden Stellen auf dem Rücken des Pferdes. Bei dem Anblick zucke ich zusammen, richtig offene, blutige Stellen.

Als könne der Doktor meine Gedanken lesen, sagt er: »Die werden nicht geschlagen, das kommt vom Sattel, der scheuert ein bißchen!«

Er versorgt die Tiere mit einer Gelassenheit, daß ich denke: Das ist bestimmt der beste Tierarzt, den es gibt. Nachdem er noch ein paar Worte mit dem Pferdehalter gewechselt hat, fragt er mich: »Soll ich dich nach Hause fahren?«

»Nein, ich wohne ja gleich nebenan, vielleicht sehen wir uns mal durch Zufall wieder.«

Seine Augen betrachten mich kritisch, dann greift er meine Hand, drückt sie kräftig und macht mir einen Vorschlag: »Wie wäre es nächste Woche? Da bin ich zur Kontrolle wieder hier.«

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Ich fühle mich bedrängt, will seine Hand loslassen, aber er umklammert sie und fragt: »Was ist, bleibt's dabei?«
Ich möchte weg und sage: »Ja, ja.«
Endlich gibt er mich frei und lacht mir nach. »Bis Mittwoch!«
Im Heim erzähle ich nichts von meinem Erlebnis.

 

Wenn ich von meinem Sohn komme, bin ich immer traurig. Dann bin ich gern allein und vermeide den Kontakt zu anderen Menschen, die in der S-Bahn sitzen. Ich denke viel über meine Zukunft nach und habe Angst davor. Werde ich es allein mit meinem Kind schaffen? Der Abstand zu meinem Sohn nimmt für mich beängstigende Ausmaße an. Ich kenne ihn nur schlafend, weinend oder am Daumen nuckelnd. Nur wenn wir Spazierengehen, beobachtet er aufmerksam die Umgebung. Ich, seine Mutter, weiß nichts von ihm; oft denke ich; Gut, daß ich nicht blind bin, was würde mir dann noch bleiben? Gibt es überhaupt blinde minderjährige Mütter, denen man auch die Kinder wegnimmt und sie nur durch eine Glasscheibe »sehen« läßt?

Es ist ein wunderschöner Frühlingsabend, der Himmel sieht nach einem Gewitter aus. Dunkle Wolken schieben sich wie trotzige Kinder vor die letzten Sonnenstrahlen: Farbkompositionen, als wäre da mein Lieblingsmaler vom Corner See, Vidoletti, am Werk! Der Wind weht sacht, auf den Blättern bildet sich trügerischer Silberglanz; ich spüre das Verlangen, all diese Schönheit zu pflücken und mitzunehmen. Ich hocke am Waldrand und beginne vorsichtig, die ersten Unkrautblüten zu brechen, um einen kleinen Strauß zusammenzubinden, als ich hinter mir plötzlich eine

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Männerstimme höre; »Hallo, müssen Försters Töchter die Wege säubern?«
Verdutzt springe ich auf, bringe den Strauß hinter meinem Rücken in Sicherheit. Es ist der Tierarzt. Ich lache verlegen.
»Ist heute nicht Mittwoch?«
Ich sehe ihn an und verstehe seine Frage nicht:
»Wieso, was ist daran so Besonderes?«
Er lächelt wie ein Filmstar, seine weißen Zähne blitzen kurz auf. »Wir sind für heute verabredet, hast du das vergessen?«

 

Eine stark duftende Wolke schweren Parfüms umhüllt ihn. Er verunsichert mich.
»Was machen wir, hast du Lust auf ein Cafe?« Ich überlege, mein Verstand rät mir, nein zu sagen, doch die Neugier siegt. Die ersten großen Regentropfen platschen auf den Asphalt. Die Abensonne zwängt sich durch die Wolken, verwandelt die Natur in ein herrliches Schauspiel aus Farben und Duft. Ich steige in das Auto.

Mir ist egal, wohin wir fahren, wie gebannt sehe ich aus dem Fenster in die Welt und träume. Neben mir plappert der Tierarzt. Wortfetzen dringen in mein Bewußtsein, er erzählt etwas über Tiere. Plötzlich werde ich aus meinen Phantasien gerissen, mit Schrecken erkenne ich die Wirklichkeit. Wir haben Berlin verlassen, ich sitze bei einem fremden Mann im Auto. Niemand weiß, wo ich bin. Mein Herz schlägt Alarm, Angst kriecht mir langsam wie eine kalte Schlange durch die Glieder. Die Scheibenwischer schieben das Regenwasser von links nach rechts. Trotz der schlechten Sicht kann ich erkennen, daß wir über eine Wald­lichtung am Rande eines Dorfes fahren. »Hier gibt es kein Cafe!« sage ich laut. Meine Stimme klingt ängstlich.

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Prompt bringt er den Wagen zum Stehen, dreht sich zu mir, reißt mir den Blumenstrauß aus der Hand, wirft ihn nach hinten, drückt mich in den Autositz und will mich küssen. Alles geht sehr schnell. Ich presse meine Lippen fest aufeinander, fühle seine Zähne wie spitze Bohrer ins Fleisch dringen. Es tut fürchterlich weh. Mit einem Schmerzensschrei stoße ich ihn zurück. Sein Gesicht gleicht einer gierigen Fratze vom Karneval, eiskalte Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, ein grausamer Mund formt sich zum zweiten Angriff. Ich drehe meinen Kopf wild hin und her. Wütend schreie ich so laut ich kann: »Hilfe!«

Sein Lachen ist nicht mehr fröhlich, hysterisch, er versucht an meinem Pullover zu zerren. Mein Kopf bleibt seltsamerweise ganz klar. Während ich mich gegen seine brutalen Angriffe wehre, suche ich fieberhaft nach einem Ausweg. Was kann mir passieren, eine Vergewaltigung? Das will ich nicht.

Mit allen Mitteln, mit Kratzen, Schreien, Spucken und Treten, so gut, wie das im Auto geht, kämpfe ich. Wir schlagen uns herum, bis ich den Griff des Türöffners zu fassen bekomme. Er versucht, mich festzuhalten, ich reiße mich los, springe ins nasse Feld.

Es regnet fürchterlich, erste Blitze zucken, Donner kracht. Der feige Viehdoktor gibt Gas und will abhauen, aber die Räder drehen hinten in dem aufgeweichten Modder durch. Wütend springt er heraus. »Steh nicht so dumm rum, hilf mir mal schieben!«

Plötzlich muß ich lachen; ich weiß nicht, weshalb ich immer in den unmöglichsten Situationen lache. Vielleicht ist es ja auch die Freude, daß mir nichts passiert ist, und ich keine Angst mehr vor ihm habe.

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Schadenfroh stehe ich im strömenden Regen und schreie: »Du altes, geiles Mistvieh, sieh doch zu, wie du deine Scheißkutsche aus dem Dreck ziehst!«

Seine Stimme wird flehend: »Bitte, entschuldige, aber du hast mich so verrückt gemacht. Wenn du mir nicht hilfst, komme ich nicht pünktlich zu einem dringenden Termin.«

»Und wenn ich dir helfe, dann läßt du mich hier stehen oder bringst mich um«, widerspreche ich.

Jetzt bekommt sein Gesicht einen verschreckten Ausdruck, er stottert: »Umbringen, wie kommst du denn auf so eine Idee? Ich verspreche dir, dich schnell nach Hause zu fahren.«

»Na gut!« Ich gebe nach. Drohend füge ich hinzu: »Wehe, mir passiert was, ich bin nämlich nicht die Tochter vom Förster, sondern aus einem Heim, und alle Mädchen wissen dort von meiner Verabredung mit dir, auch daß du Tierarzt und verheiratet bist!«

Er sieht mich entsetzt an. »Heim, wo ist denn da ein Heim?«

»Gleich neben der Gärtnerei, in der ehemaligen Kneipe. Und dort in der Gärtnerei hast du mich als deine Assistentin vorgestellt, das ist der Beweis, daß du mich kennst.«

Sein Gesicht hat die Farbe eines Lakens angenommen, er wirkt auf einmal wie ein kleiner Schlappschwanz und nicht mehr wie ein schöner Doktor.

Gemeinsam schieben wir die Karre aus dem Feld. Dreckig fahren wir schweigend in die Stadt, vor dem Heim hält er. Ohne ein Wort steige ich aus, erleichtert knalle ich die Tür hinter mir zu. Man darf niemandem vertrauen. Ich wurde um eine Erfahrung reicher.

 

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Eine Fete mit Folgen

 

Erika besucht mich und lädt mich zu einer Fete ein. Dankbar nehme ich die Einladung für den kommenden Sonnabend an. Mein Leben verläuft ohnehin langweilig genug. Schule, lernen, arbeiten, der einzige Lichtblick ist mein Kind. Eine fröhliche Abwechslung kommt wie gerufen.

Voller Vorfreude schminke ich mich besonders sorgfältig, ziehe meine schönsten Sachen an und klappere die Blumenläden nach einem Strauß ab.

Vor dem S-Bahnhof entdecke ich rote Nelken, Arbeiterblumen nennen wir sie, aber besser als gar nichts. Blumen zu bekommen, das ist wie ein Treffer im Lotto.

Stolz auf meinen Erfolg, klopfe ich an Erikas Wohnungstür, die Klingel funktioniert nicht. Von drinnen höre ich lautes Lachen. Sie sind mächtig in Stimmung, denke ich. Zum zweiten Mal hämmere ich mit beiden Fäusten gegen die Tür. Dann lausche ich. Ich bin gerade in Begriff, wieder zu gehen, da reißt Willi lachend die Tür auf. »Hallo, schöne Maid, da bist du Ja!«

Bei der Begrüßung umarmt er mich, ich rieche seine Fahne. Mir ist der Geruch unangenehm, ich winde mich aus seiner Umklammerung und gehe ins Wohnzimmer. Außer Erika, die mit einem fremden Mann auf dem Sofa sitzt, kann ich keine weiteren Gäste sehen. Eine Vier-Mann-Fete, wollen die mich etwa verkuppeln? Ein Scheißgefühl, wenn man merkt, was läuft und trotzdem ahnungslos tun muß. Sonst heißt es hinterher: Die war vielleicht zickig.

Ich ziehe ein freundliches Gesicht, als mir Willi seinen Arbeitskollegen vorstellt. Er greift meine Hand, seine ist feuchtwarm: »Horst

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Ich studiere sein Gesicht: braune Augen, eine mädchenhafte Stupsnase, volle, aufgeworfene Lippen — eigentlich ein unauffälliger Durchschnittstyp. Dennoch liegt in seinem Ausdruck etwas undefinierbar Böses. Wie unter Hypnose zwingt es mich, hineinzuschauen. Als ich merke, daß er daraus andere Schlüsse zieht, sich sogar durch mein dauerndes Anstarren geschmeichelt fühlt, wende ich mich ab.

Nach einer Stunde lasse ich mich von seiner Fröhlichkeit blenden. Lache über seine Witze, höre mir seine vergangene Ehegeschichte an und bin überzeugt: Der ist gar nicht so schlecht, wie ich vermutete.

Als ich ins Heim fahren möchte, bietet er sich an, mich zu begleiten. Ich lehne ab. Er fragt nach einem Wiedersehen.

Erika und Willi sind begeistert. Sie haben auch gleich eine Idee: »Wir treffen uns nächste Woche zur Dampferfahrt!« Ich sage halb ja und halb nein. Doch es gelingt ihnen, mich zu überreden.

 

 

Horst

 

Zuerst gingen wir immer zu viert aus, dann fragt mich Horst, ob wir uns nicht mal allein sehen könnten. Große Lust hatte ich nicht, sagte aber doch zu, da er bisher nie aufdringlich war. Danach sehen wir uns öfter, gehen spazieren, ins Kino oder zum Kaffeetrinken. Er bleibt ein zurückhaltender, höflicher Mann. Ich fange an, ihm

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zu vertrauen und nehme ihn eines Tages zu meinem Kind mit. Begeistert schiebt er den Kinderwagen, versteht meine Sorgen und pflichtet mir bei, wenn ich von dem Leben »draußen« in einer eigenen Wohnung schwärme. Bald macht es mir nichts mehr aus, daß er Anzüge trägt und schon 26 Jahre alt ist. Er gibt sich als verständnisvoller Freund. Ich denke oft darüber nach, daß ich ihm in Gedanken Unrecht getan habe.

 

 

Wohnungssuche 

 

In einer Woche habe ich die Prüfungen. Die erste findet im Labor statt, die zweite mündlich vor der Prüfungskommission. Für Horst bleibt keine Zeit, nur meinen Sohn vernachlässige ich nicht.

Montagmorgen fühle ich beim Haarekämmen einen Knoten im Genick. Beim Abtasten tut er nicht weh, deshalb mache ich mir keine weiteren Gedanken, nehme mir aber einen Arztbesuch nach der Schule vor. Eine Besichtigungskarte vom Wohnungsamt verhindert mein Vorhaben. Viel wichtiger ist mir eine Wohnung. Sofort nach meinem 18. Geburtstag habe ich einen Antrag im Wohnungsamt gestellt. Im Heim sind die Erzieher sehr daran interessiert, daß alle Volljährigen so schnell wie möglich ausziehen. Die beengten Wohnmöglichkeiten ändern sich nicht, das Jugendwohnheim wird das zweite Jahr saniert.

Da unmöglich ein Wohnungsamt allein mit Anträgen zugeschüttet werden kann, verteilt man uns Mädchen auf die Geburtsbezirke. Ich gehöre demnach nach

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Kaulsdorf, die Besichtigung gilt für Biesdorf. Bis dorthin muß ich mehrmals von der S-Bahn in den Bus umsteigen. Die Gegend ist mir unbekannt, zur Sicherheit halte ich die Karte in der Hand. Ich vergleiche die Straßennamen. Plötzlich spricht mich eine alte Frau an: »Na Kindchen, willst dir wohl eine Wohnung ansehen?«
»Ja.«

»Dann zeig mal her!« Die Forderung ist bestimmt, aber freundlich. Bereitwillig überlasse ich ihr die Besichtigungskarte.

In das Gesicht der alten Dame kommt Leben: »Großer Gott!« ruft sie aus. »Das ist bei mir im Haus, na, dann steig mal mit aus!«

Der Bus hält in einer Baumallee, einer einsamen Straße. Die Frau tippelt neben mir her, zeigt auf ein großes Eckgrundstück. »Da ist es!«

Das Haus ähnelt einer Mietskaserne. Hohe Fenster, Ziegel, die durch den kaputten Putz den Baupfusch der Nachkriegsjahre erkennen lassen, Regenrinnen, die abgebrochen an der Hauswand hängen. Wir gehen durch einen gepflegten Garten, in dem die Beete mit Steinen umsäumt sind.

»Das macht alles Herr Müller«, sage die Frau eifrig, stolz fügt sie hinzu: »Wir leben in einem anständigen Haus!«

Nach diesem Satz habe ich keine Lust mehr, die Wohnung zu sehen. Wie würde die Alte reagieren, wenn sie mich mit meinem Kind sähe und wüßte, ich komme aus einem Heim?

»Unser Garten wird von Herrn Müller in Ordnung gehalten!« Wie auf ein Stichwort erscheint er aus dem hinteren Teil der grünen Oase. Ausgeweitete Trainingshosen verdecken den dicken Bierbauch, das karierte Hemd hängt liederlich darüber.

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Er glotzt mich unfreundlich an. »Schon wieder so ein junges Ding, das gibt nur Ärger!« Erst als er die Karte gelesen hat, schlurft er davon, die Schlüssel zu holen.

Wo bin ich denn da hingeraten? Bis zum Altenheim habe ich noch ein paar Jahre, das kann ja lustig werden, denke ich und steige mit den beiden eine Stiege nach oben.

Herr Müller steckt den langen rostigen Schlüssel in das Schlüsselloch, dreht einmal nach rechts, gibt der Tür einen Fußtritt, die sich darauf knarrend wie im Gruselfilm öffnet.

Das erste, was ich sehe, ist ein langes Ofenrohr, das sich durch den winzigen, höchstens 12 Quadratmeter kleinen Raum zieht und an der Außenwand endet. Ein altes verwittertes Fenster gleicht eher einer Bodenluke. Rechts neben dem Ofen ist ein Durchgang in einen noch viel kleineren Raum. Ein gußeisernes halbrundes Ausgußbecken ist das einzige Inventar.

»Wo kocht man denn hier?« frage ich die alten Leutchen.
»Da müssen sie sich einen Herd kaufen, hier ist nur elektrisch, kein Gas, nichts.«
»Und das Bad mit der Toilette?« frage ich zaghaft.
Sie kichert: »Verwöhnt sind wir nicht, draußen im Garten ist ein Plumpsklo.«
Nein, denke ich, hier ziehe ich niemals hin, und schon gar nicht mit meinem Kind.
Ich bedanke mich freundlich. Wütend fahre ich zum Wohnungsamt zurück.

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Der Gang ist bis zum letzten Platz mit Wohnungssuchenden ausgefüllt. Ich muß zwei Stunden warten, bis ich aufgerufen werde. Eine vierzigjährige Frau sitzt hinter einem Schreibtisch und raucht. Durch ihre Brille sieht sie mich unfreundlich an. »Was ist, haben Sie sich die Wohnung angesehen?«

Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und sage: »Ja, aber ich nehme sie nicht.«

»Was?« ruft sie empört und springt von ihrem Platz auf. »Was denken Sie eigentlich, was Sie bekommen, ein Schloß?«

Ich starre auf das SED-Parteiabzeichen, das bedrohlich zu wackeln beginnt. Ihr Busen bebt, sie holt tief Luft, um mir weitere Vorwürfe zu machen, verschluckt sich aber an ihrem Qualm. Nachdem sie hochrot mit der Husterei fertig ist, fragt sie mich noch strenger: »Wo kommst du her?«

Bei solchen Fragen schäme ich mich immer, denn ich weiß, was oder wie von Heimkindern gedacht wird. So senke ich schon vorher schuldbewußt meinen Kopf und sage leise: »Aus einem Heim.«

»Wie, ich höre wohl nicht richtig, wo kommst du her?«

In mir regt sich der Widerstand. Ich sehe ihr ins Gesicht und sage trotzig: »Aus einem Heim!«

»Was, und da stellst du solche Ansprüche? Du weißt wohl nicht, wie viele meiner Genossen wohnen müssen?«

»Das ist mir egal, ich ziehe jedenfalls mit meinem Kind nicht in das Loch!«

Sie rastet aus: »Was bildest du dir ein? Dann bekommst du eben keine Wohnung, dann wirst du mal sehen, wie es anderen geht!«

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Fehlt nur noch, daß sie ihre Zunge rausstreckt und »Bäh!« macht. Mir kommt bei dem Gedanken das Grinsen. »Sie können mich nicht ewig im Heim lassen. Ich bin 18 Jahre, die Plätze werden gebraucht«, gebe ich schadenfroh zur Antwort.

Sprachlos reicht sie mir ein Blatt, sie verlangt eine schriftliche Erklärung meiner Ablehnungsgründe. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, ringt sie sich dann noch einen Satz ab: »Wir vermitteln Sie zu Ihrem bisherigen Wohnort. Auf Wiedersehen.«

Man darf sich nichts gefallen lassen!

Ich habe noch Zeit, deshalb fahre ich gleich in die Poliklinik, die zwar zum Elektroapparatewerk Treptow gehört, die Anwohner aber mitversorgt. In der Chirurgie brauche ich nicht zu warten; nach einer schnellen Untersuchung erklärt mir der Arzt: »Der Knoten muß entfernt werden, das machen wir gleich ambulant!«

Angst habe ich nicht, die Knie werden aber trotzdem weich, und ich bin erleichtert, als ich wie ein Opferlamm auf dem OP-Tisch liege. Ein kleiner Stich in den Hals, danach höre ich nur kratzende Geräusche und den erstaunten Ausruf des Arztes: »So etwas habe ich noch nie gesehen!« Er hält mir ein Reagenzglas entgegen, in dem eine kleine weiße Kugel schwimmt. »Das schicken wir nach Potsdam, du hörst von uns!« Mit einem Halsverband verlasse ich den Behandlungsraum.

 

 

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Prüfung

 

Am nächsten Tag wache ich mit Schmerzen im Genick auf. Ich fühle mich schlecht, auch weil heute mein Prüfungstag ist. Zwei Stunden später stehe ich im Betriebslabor. Alle Geräte sind mir vertraut, ich habe keine Angst vor den Fragen der Prüfer.

Auch das komplizierte Defogerät beherrsche ich gut. Ich bin in der Lage, Gummimischungen selbst zusammenzustellen und sie in ihrer Härte und Dichte zu prüfen. Als Prüfer erscheint der von uns gefürchtetste Mann: unser Lehrobermeister.

Ausgerechnet ihn mußte ich erwischen, mein Mut sinkt. Bei seinem Eintritt beugen sich die Laborantinnen über ihre Arbeit. Es ist mir nicht möglich, durch Blickkontakt eine falsche Antwort zu korrigieren. Eigenartig, er stellt mir zu keinem Gerät eine Frage. Ich rede wie ein Wasserfall. Unbeeindruckt schreitet er durch das Labor. Will er den Frauen imponieren oder was? Verunsichert schweige ich auch. Plötzlich bleibt er vor der Zerreißmaschine stehen, zeigt auf einen Knopf: »Wie heißt der?«

Ausführlich erkläre ich, daß damit die Zerreißfestigkeit der Wellendichtringe geprüft werden kann. Er beharrt auf dem Namen des Schalters, der keine weitere Funktion hat, als die Geschwindigkeit zu verändern, wodurch die Ringe schneller oder langsamer zerrissen werden.

Nachdem ich mir Namen ausdenke, wie zum Beispiel Schaltknopf oder Schalthebel, verläßt er plötzlich den Raum. Meine praktische Prüfung ist zu Ende. Eine Laborantin bedauert mich: »So eine Prüfung habe ich noch nicht erlebt, da hast du ja völlig umsonst gelernt,

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wenn er nur diesen blöden >Gewichtsveränderungsschalter< hören wollte.«
Das war also das Zauberwort.

Anschließend ruft man mich in den Prüfungsraum. Hinter einer langen Reihe zusammengestellter Tische sitzen acht Männer.

Sie beginnen ein peinliches Verhör darüber, wer mir meine Hausarbeit angefertigt habe. Fragen wie: »Die haben Sie doch nicht selbst geschrieben?« kann ich ehrlich mit »doch« beantworten. Als mich einer aber fragt; »Wer hat sie Ihnen mit der Schreibmaschine getippt?« reicht es mir, und ich frage zurück: »Was meinen Sie, wer mir im Heim meine Schularbeiten macht, vielleicht die Erzieher?«

Peinliche Stille im Raum. Ich werde hinausgeschickt. Draußen stehen alle aus meiner Klasse und reden wild durcheinander. Haben wir es geschafft oder nicht? Bedrückend hängt die bange Frage im Raum. Immerzu denke ich an meine Matheprüfung. Mathe ist ein Hauptfach, mit einer Fünf ist man durchgefallen. Nur ich und mein Klassenlehrer Reinhard wissen, daß ich das Blatt leer abgegeben habe.

Damit scheint die Sache für mich entschieden. Mir dröhnt der Kopf vor Schmerzen, als ich wieder ins Zimmer gerufen werde. Dort höre ich im feierlichen Ton: »Bestanden.«

Hurra! Im Stillen danke ich einem Lehrer. Das hätte ich nie von mir geglaubt.

Danach folgen noch Mahnungen: »Das Leben besteht aus Lernen, und wenn Sie hier hinausgehen, denken Sie nicht, bestanden ist bestanden. Lernen, lernen und nochmals lernen!« Irgendwie schaffe ich es bis ins Heim, lege mich sofort ins Bett. Mein Kopf schmerzt fürchterlich.

 

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Auszug aus dem Heim

 

Die Heimleiterin bittet mich am nächsten Tag in das Büro. »Du bist 18 Jahre, hast deinen Facharbeiter und wartest auf deine Wohnung. Gibt es nicht eine Möglichkeit für dich, vorher zu irgend jemanden zu ziehen? Wir brauchen hier dringend jedes Bett. Jetzt ist Juli, und Ende August kommen die neuen Lehrlinge. Ich weiß nicht mehr wohin mit allen.«

Neben dem richtigen Wohnheim wohne eine Familie mit drei kleinen Kindern. Hin und wieder habe ich mit ihnen gespielt oder auf sie aufgepaßt, wenn die Mutter etwas erledigen mußte. Vielleicht könnte ich dort eine kurze Zeit wohnen.

Ich fahre zu Frau Wilke, sie ist von meinem Vorschlag begeistert. Kurz entschlossen packe ich meine Sachen und verlasse, ohne »Tschüs!« zu sagen, das Heim.

Wilkes Kinder freuen sich riesig, als ich in ihr Kinderzimmer ziehe. Nie mehr Heim, die erste Nacht draußen. Ein eigenartiges Gefühl zwischen Freude und Neugier auf das Leben ohne Vorschriften. Die 9jährige Anke und ihre 10jährige Schwester Gabi halten mich fast die ganze Nacht mit Geschichten wach. Trotz meiner Kopfschmerzen erzähle ich ihnen lustige Erlebnisse aus dem Heim. Sie lachen sich in den Schlaf.

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Krankenhaus

 

Mir ist schlecht. Mühsam erreiche ich die Toilette und breche. Mein Kopf schmerzt dermaßen, daß ich weinen muß und Mühe habe, ins Bett zu gehen.

Anke und Gabi sind für die Schule fertig, sie hocken vor meinem Bett und versuchen, mich zu trösten.

Frau Wilke bringt mir ein Thermometer. Nachdem sie es abgelesen hat, ruft sie: »Du hast über 40° Fieber, ich rufe einen Krankenwagen.«

Willenlos lasse ich alles geschehen. Wenn nur mein Kopf nicht so schmerzen würde. Selbst mit geschlossenen Augen sehe ich tausend kleine Lichter, die als Punkte und grelle Farben wild durcheinanderwirbeln. Ich glaube, verrückt zu werden.

Der Weg zur Poliklinik ist wie eine Höllenfahrt. Jedes Loch in der Straße, jede noch so geringe Erschütterung verursacht in mir das Gefühl, als reiße man mir mit Gewalt das Gehirn aus dem Kopf.

Die Untersuchung dauert nicht lange. Fiebermessen, Lunge, Herz abhören und dann die Diagnose: Kreislaufstörung. »Bleiben Sie im Bett und nehmen Sie dreimal diese Tropfen!« Der Arzt reicht mir eine Flasche mit braunem Inhalt.

Wie ein altes Weib schleppe ich mich zum Bus. Alle Plätze sind besetzt. Ich stelle mich in eine Ecke und umklammere so fest die Haltegriffe, daß meine Fingerknochen weiß hervortreten. Bloß nicht umfallen, denke ich, vor Schmerzen hätte ich laut schreien können.

Frau Wilke ist entrüstet über die Diagnose. »Kreislaufstörung, mit so hohem Fieber, der Arzt spinnt doch.« Unfähig, ein Wort zu sagen, lege ich mich ins Bett.

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Plötzlich erreiche ich einen Punkt, an dem ich den Schmerz nicht mehr ertrage, wie eine Irre schreie ich:

»Ich spring' aus dem Fenster, ich spring' aus dem Fenster!« Familie Wilke wohnt im vierten Stock eines Altbaus. Wilkes Mädchen beginnen zu weinen, sie weichen nicht von meinem Bett.

Die Schmerzen machen mich, zum Glück für alle, bewegungsunfähig. Sobald ich mich erhebe, dreht sich alles vor mir, und mir wird schlecht.

Um 15 Uhr telefoniert Frau Wilke mit dem Notdienst. Aber der beginnt frühestens gegen 19 Uhr. Die Tropfen vom Arzt lindern weder meine Schmerzen, noch senken sie das Fieber. Ich verbringe Stunde um Stunde mit Jammern und Weinen. Erst beim zweiten Anruf kann Frau Wilke den Notdienst überzeugen, daß ich schwerkrank sein muß. Gegen 18 Uhr betritt eine junge Ärztin das Zimmer. Sie sieht mich an und sagt: »Setz dich auf!«

Mühsam gelingt mir das. Mit aller Kraft versucht sie, meinen Kopf nach unten auf die Brust zu drücken. Es geht nicht. Mein Genick ist steif, gelähmt. Ich kann nicht mehr nicken.

»Sie muß ins Krankenhaus«, sagt die Ärztin und schreibt gleich eine Einweisung nach Buch. Als sie die Flasche mit der Flüssigkeit sieht, schüttelt sie ungläubig den Kopf. »Die können Sie wegwerfen, das Mädchen hat eine Hirnhautentzündung und keine Kreislaufstörungen.«

Sie ordnet »Transport im Liegen« an und geht.

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Erst gegen 21 Uhr kommt der Krankenwagen, die Fahrer können die Diagnose nicht lesen, sie schieben die Trage wieder hinein.

Frau Wilkes Einwand: »Sie muß aber liegend transportiert werden«, tun sie mit einem Satz ab: »Wenn die Ärzte nicht ordentlich schreiben, haben die Patienten eben Pech!«

Und das hatte ich wirklich. Nach über einer Stunde Fahrt war ich vor Schmerzen dem Wahnsinn nahe.

Im Klinikum Buch kommt mir eine Ärztin mit einem Rollstuhl entgegen. »Um Himmels willen«, ruft sie. » Sie dürfen doch nicht laufen!«

»Ob ich laufe oder sitze, davon wird mir nicht besser«, sage ich niedergeschlagen, todtraurig und müde.

»Haben Sie etwa die ganze Fahrt im Sitzen verbracht?«

Ich nickte und sage: »Die Fahrer konnten die Diagnose nicht lesen.«

Empört hält sie den Fahrern den Einweisungsschein unter die Nase: »Hier steht deutlich lesbar; Meningitis; das wird ein Nachspiel für Sie haben.«

Ich staune über mich; obwohl es mir so dreckig geht, empfinde ich Schadenfreude. Diese Fahrt werde ich mein Leben lang nicht vergessen.

 

 

Behandlung

 

»Wir müssen Sie leider noch untersuchen.« Die Worte der Ärztin klingen wie eine Entschuldigung und tun mir gut. »Dazu gehört eine Punktion ihrer Wirbelsäule.«

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Sofort fällt mir ein, daß ich als kleines Kind schon einmal punktiert worden bin. Ich weiß nicht, warum, aber es hat fürchterlich weh getan.

»Heute nicht«, flehe ich die Ärztin an. »Ich möchte nur etwas gegen die Schmerzen, danach können Sie mit mir machen, was sie wollen!«

Sie lacht und sagt: »Na gut, aber um eine Punktion wirst du nicht herumkommen.«

Eine Schwester fährt mich in ein Einzelzimmer. Sie hilft mir beim Ausziehen und ins Bett. »Ich bringe Ihnen etwas zum Schlafen«, flüstert sie, tief über mein Gesicht gebeugt. Ich versuche, dankbar zu lächeln. Es wird aber nur ein schmerzverzerrtes Grinsen.

Nach Einnahme der Medizin falle ich in einen festen, schmerzlosen Schlaf.

Jemand ruft meinen Namen. Ich muß mich anstrengen, die Augen zu öffnen. Ein Arzt und zwei Schwestern stehen am Bett. Ehe ich begreife, was los ist, ziehen mir die Schwestern das Nachthemd aus. Sie rÜkken das Bett einen Spalt von der Wand weg, setzen mich so an den Rand, daß meine Knie das kalte 01-paneel berühren. In dieser eingeklemmten Haltung schieben sie mir ein Kissen in den Bauch, das ich fest umklammern muß, und drücken, so gut es geht, meinen Oberkörper in eine Beuge.

Angst kommt, ich versuche zur Seite zu schielen und sehe in der Hand des Arztes eine Kanüle aufblitzen, groß wie eine Stricknadel.

Ein starker Einstich, und ich schreie. Sobald die Kanüle im Rücken ist, schwindet der Schmerz. Das Abzapfen dauert. Währenddessen spricht der Arzt eindringlich auf mich ein: »Wenn wir fertig sind, legen wir dich gleich auf den Rücken. Du darfst dich dann

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24 Stunden nicht bewegen, auch nicht auf die Seite drehen und schon gar nicht aufstehen, sonst bekommst du starke Kopfschmerzen.« Mir fällt auf, daß ich seit heute früh schmerzfrei bin.

Kaum hat er die Nadel aus meinem Rücken gezogen, geht alles sehr schnell. Die Schwestern verkleben die Einstichstelle mit Pflaster und legen mich sofort kerzengerade ins Bett.

»Wie lange muß ich hierbleiben?« frage ich.

»Zuerst müssen wir sehen, was für eine Art Hirnhautentzündung du hast. Aber auf alle Fälle vier Wochen und jede Woche eine Punktion; nur daran erkennt man, ob es besser wird mit dir.«

Vier lange Wochen. Ich denke an meinen Sohn, den, ich so lange nicht besuchen kann, und weine. |

»Na, na, wer wird denn da gleich weinen?« sagt deri Arzt. Ich erzähle von meinem Kind, er verspricht, eine, Schwester im Heim anzurufen und mich zu entschuldi-, gen. Unvermittelt fragt er mich: »Warst du in letzter Zeit erkältet oder zu lange in der Sonne?«

»Nein, aber ich hatte einen Knoten im Genick, der ist mir entfernt worden.«

»Zeig mir die Stelle morgen bei der Visite und ruh dich jetzt aus.«

Am nächsten Tag geht es mir viel besser. Ich habe kaum Fieber und fühle mich beinahe gesund. Bei der Visite füllt sich das Zimmer mit dermaßen vielen Menschen in weißen Kitteln, daß ich mich furchtbar schäme, vor allen die Fragen des Arztes zu beantworten. Der Reihe nach begutachtet jeder mein Genick.

Sie schütteln verständnislos ihren Kopf und werfen sich vielsagende Blicke zu. Mir sagen weder ihre Blicke was, noch ihre Münder.

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Der Oberarzt sieht mich an: »Dir wurde ein Lymphknoten entfernt. Jeder Teil des Körpers benötigt eine bestimmte Anzahl von Lymphknoten als Schutzorgan. Sie sind regionale Entgiftungsstätten, sie dienen als Filter und können Krankheiten abwehren. Wir haben den Befund aus Potsdam, dort wurde der Knoten untersucht. Du hast Toxoplasmose, die durch die Entfernung des Knotens vielleicht deine Hirnhautentzündung verursachte. Jetzt müssen wir dich auf beide Krankheiten behandeln!«

Von alledem, was er sagt, verstehe ich nicht das geringste, außer, daß mir der Arzt in der Poliklinik etwas herausgenommen hat, was er nicht sollte, und Kreislaufstörungen bei mir feststellte, die ich nicht hatte.

»Hast du ein Tier zu Hause?« fragt mich ein anderer Schneemann.

»Nein, hin und wieder streichele ich mal eine Katze.«

»Toxoplasmose kann man durch Tiere, rohe Eier, ungekochte Milch (die trinke ich besonders gern) oder durch rohes Fleisch bekommen. Aber keine Angst, wer sie einmal hatte, ist dagegen für ewig immun.«

Ein schwacher Trost, für das, was ich hier durchmachen muß, um gegen eine Krankheit immun zu sein.

Da ich mich auf einer Isolierstation befinde, darf mich niemand besuchen. Sobald es mir besser geht, beginnt die Langeweile. Die einzige Abwechslung sind das Essen und die Schreie der Patienten. Eine nette Schwester versorgt mich mit üblen Büchern, die ich dennoch lese. Fast alle haben denselben Inhalt. Partisanenkampf gegen die Deutschen.

Nach drei Wochen darf ich aufstehen, sofort habe ich das Bedürfnis, meine Haare zu waschen. Frohgelaunt springe ich aus dem Bett, sehe rote Kreise und falle sofort wieder hinein.

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Mein Körper ist von dem langen Liegen so abgemagert, daß meine Beine wie Streichhölzer aussehen. Ich beginne im Bett zu turnen, bis ich mich fit fühle, und probiere das Aufstehen noch einmal. Siehe da, es klappt.

Meine Beine sind weich wie Pudding, aber ich schaffe es bis zum Fenster.

Welch wunderschöner Blick ins Grüne. Die Natur kommt mir, nachdem ich drei Wochen kahle Wände angesehen habe, wie Zauberei vor.

Ich sehe hinaus, weine vor Freude und finde mich albern.

Besuch kommt. Sie stehen vor meinem Fenster und reden oder lachen mit mir. Gerda erzählt von meinem Kind, darüber freue ich mich sehr. Erika spricht von Willi — und Horst von einer Überraschung. Nach vier Wochen Krankenhausaufenthalt werde ich entlassen.

 

 

Meine Wohnung

 

Horst holt mich mit einem Taxi ab. Mir wäre es lieber gewesen, allein ins Leben zurückzukehren.

Die ganze Fahrt über redet er von einer Überraschung, ich kann es nicht mehr hören. Ich will nach draußen sehen. Die Stadt, die Menschen und der Sommer machen mich glücklich genug. Noch eine Überraschung brauche ich nicht, ich freue mich, daß ich lebe, und auf meinen Sohn. 

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Das Taxi hält in Schöneweide in einer dreckigen Straße. Kein Baum, kein Strauch, rechts eine Fabrik und links die Wohnhäuser.
»Was soll ich hier?«
»Laß dich überraschen.« Er lächelt.
»Ich habe genug von der blöden Überraschung. Entweder du sagst mir, wo wir hingehen, oder ich komme nicht mit!« rufe ich aufgebracht.
Er guckt mich sauer an und sagt: »Na gut, hier ist deine Wohnung.«
»Wie?« rufe ich entsetzt. »Meine Wohnung, du spinnst wohl!«

Über meinen Gefühlsausbruch hinweggehend, sagt er ruhig: »Sieh sie dir doch erst einmal an, meckern kannst du dann immer noch.«

Wir gehen durch das Vorderhaus in einen verwilderten Hof mit hohen Bäumen und grünen Sträuchern. Angesichts des vielen Grüns zeige ich mich versöhnlicher. Die Wohnung liegt ebenerdig. Wirbetreten zuerst einen kleinen Korridor. Es stinkt nach Farbe. Eifrig öffnet Horst die Tür zur Toilette, ein langer schmaler Schlauch, einziger Luxus ein Handwaschbecken. Die nächste Tür ist geöffnet, und ich sehe in eine dunkle Küche. Das Küchenfenster wird durch die Wand zur Toilette geteilt. Die rechte Seite des Unterfensters gehört zur Speisekammer, das Oberlicht zum Klo.

In der Mitte, direkt an der Wand, steht ein schöner alter Küchenschrank mit kleinen Butzenscheiben. »Den hat der Vormieter hiergelassen«, sagt Horst.

Ich gehe geradeaus ins Wohnzimmer. Auch hier ist es sehr dunkel, obwohl das Zimmer zwei Doppelfenster hat und ziemlich geräumig wirkt. »Das liegt an den Bäumen draußen. Die lassen wenig Licht herein.«

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Horst beantwortet meine Gedanken, und mich wundert, wessen Wohnung das eigentlich ist. Laut frage ich: »Wie bin ich zu dieser Wohnung gekommen? Ich hätte sie nie genommen.«

»Frau Wilke hat mir die Besichtigungskarte gebracht. Ich habe mir die Wohnung angesehen, fand sie toll und habe für dich zugesagt. Du brauchst nur den Mietvertrag zu unterschreiben, er liegt fertig bei der Wohnungsverwaltung. Sie wissen, daß du im Krankenhaus warst.«

Und dann zeigt er mir stolz die Tapeten. »Frau Wilke hat mir dein Kostgeld zurückgegeben, davon habe ich gleich mit der Renovierung begonnen.«

Mit seinem Eifer tut er mir plötzlich leid, ich denke: Laß ihn doch, wenn es ihm Freude macht, vom Malern habe ich ja doch keine Ahnung.

»Und nun kommt das Schönste!« ruft er. »In einer Stunde bringen meine Kollegen die Möbel.«
»Was denn für Möbel?«
»Na meine, ich ziehe zu dir, oder glaubst du, ich bleibe bei meiner Geschiedenen?«

Ein kurzer aber intensiver Schreck lahmt meine Gedanken, in mir bricht Panik aus: Ich will nicht mit ihm leben, ich kenne ihn ja kaum.

Plötzlich fühle ich nur noch Angst. Angst vor dem Alleinwohnen, ohne die vielen Mädchen, ohne jemanden, der mir sagt, wo es lang geht.

Wochenlang habe ich mich auf meine Wohnung gefreut. Keine Vorschriften mehr hören — wie sehr sehnte ich mich danach. Deutlich erinnere ich mich an die Warnungen der Erzieher: »Ihr werdet euch noch wundern, wenn ihr draußen seid. Da seid ihr ganz allein auf euch gestellt, und keiner wird euch dann helfen.«

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»Draußen« nannten wir alles, was außerhalb des Heimes war. Das jahrelange Warnen wirkt sich jetzt negativ auf mich aus. Nun, wo ich vor einer wichtigen Entscheidung stehe, nämlich mir selbst zu beweisen, was ich kann, siegt die Angst. Ich behalte meine Gedanken für mich und sage nichts zu seiner Absicht, bei mir einzuziehen.

Die leere, dunkle, kalte Wohnung und seine Nähe werden mir unangenehm. Ich beginne zu frieren und sage: »Ich will hier raus.« Meine Stimme schallt fürchterlich, sie hört sich fremd an.

Horst zieht ein beleidigtes Gesicht. »Du kannst jetzt noch nicht gehen«, sagte er, »außerdem kommen gleich meine Kollegen und bringen die Möbel.«

Na bitte! denke ich, er hat seinen Einzug fein säuberlich geplant. Seine Möbel in meiner Wohnung, nichts gehört mir.

Plötzlich höre ich eine innere Stimme: Laß nicht zu, daß er bei dir einzieht, du bist gleich wieder von jemandem abhängig. Ich beobachte mich, der Wunsch endlich allein zu sein, und die Angst davor streiten sich. Wieder halte ich meinen Mund, die Angst hat gesiegt. Enttäuscht muß ich feststellen, wie feige ich bin. So entscheide ich mich, wie ich dummerweise glaube, für den bequemeren Weg.

Aber er war alles andere als das.

Den Nachmittag verbringen wir nur in Geschäften, um den nötigen Kleinkram für die Wohnung zu kaufen. Dann gehe ich zur Sparkasse und nehme einen Kredit für zwei Sessel und einen Schrank auf. Danach bin ich total pleite, alles bezahle ich mit meinem wenigen ersparten Lehrlingsgeld.

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Nach vier Wochen Bettruhe fühle ich mich von der Lauferei wie eine Kranke. Ich sage zu Horst: »Ich kann nicht mehr. Laß uns nach Hause gehen.« Wo soll ich auch sonst hin? Im Heim bin ich abgemeldet, aus dem Krankenhaus entlassen und Eltern habe ich nicht. Weil wir keine Stühle haben, setze ich mich auf die braunen Holzdielen.

Ich komme mir richtig verlassen vor. Horst fummelt an der Deckenbeleuchtung, endlich flimmert die Glühlampe. Das grelle Licht läßt alles noch viel kälter und einsamer erscheinen. In der Zimmermitte steht eine Leiter, darauf ein Eimer Farbe und überall liegen Tapenterollen herum. Am liebsten hätte ich geheult, so jämmerlich fühle ich mich.

Plötzlich schrillt die Klingel laut durch die Wohnung. Horst lacht, ruft beim Hinausgehen: »Meine Kollegen bringen die Möbel.«

Ich stehe auf, gehe zum Fenster, lehne mich an das Fensterbrett und beobachte sie. Zuerst tragen sie eine ausklappbare Couch herein, dann den Tisch und danach einen Fernseher. Sie begrüßen mich lautstark und witzeln herum. Schnell steht ein Kasten Bier im Zimmer. Ehe ich erst richtig begreife, was los ist, machen sie eine Einweihungsfete.

Nach kurzer Zeit ist das Zimmer blau vom Zigarettenqualm. Die vier Männer amüsieren sich, als wenn es ihre Wohnung wäre. Ich gehe in die Küche, öffne das Fenster und sehe in den nachtschwarzen Hof hinaus. Ein kühler Sommerwind streift durch die staubigen Blätter der Bäume und läßt sie rascheln, so daß sie einen warmen Ton erzeugen. Dann weht er sacht über mein Gesicht, und ich spüre die geballte Wärme der sechs Wochen ohne Regen. Einen so heißen Sommer wie 1969 habe ich noch nie erlebt. In den Geschäften gibt es kaum noch Brause oder Saft, aber nebenan trinken sie Bier.

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Niemand kann sich vorstellen, wie allein und hilflos ich mir vorkomme und welche Ängste mich plagen. Ich sehe hinauf zu den Baumkronen, sie erinnern mich an das Kinderheim. Am liebsten würde ich mich jetzt in den Hof schlafen legen, so vertraut kommt er mir vor.

Plötzlich sehe ich drei Männer über den Hof gehen, gleichzeitig wird es unheimlich ruhig in der Wohnung.

Horst kommt herein, legt den Arm um meine Schultern und lallt: »Schön, nicht wahr, hier machen wir es uns gemütlich.« Er stinkt nach Bier.

Wortlos drehe ich mich aus seiner Umarmung. Er greift nach meinem Handgelenk, will mich zurückziehen, ich wehre mich. »Laß, ich bin müde.«

Ich klappe die Couch herunter und lege mich hin. Meine erste Nacht »draußen«. Obwohl ich mich elend fühle, kommt der Schlaf nicht. Horst legt sich neben mich, seine Nähe stört.

Ich verhalte mich ganz ruhig und stelle mich schlafend. Er hat sich mit der einzigen Decke, die wir besitzen, zugedeckt. Nach einer Weile beginne ich zu frieren, vorsichtig ziehe ich ein Stück Decke zu mir. Doch plötzlich ist er hellwach, kriecht ganz dicht an mich heran und versucht mich zu küssen. Dabei flüstert er: »Na, komm schon, hab dich nicht so.«

Ich versuche, ihn von mir zu drücken. Er fühlt meinen Widerstand und wird grob: »Na, na, du bist ja wie meine Geschiedene, da hätte ich ja gleich bei ihr bleiben können!«

Entsetzt springe ich aus dem Bett und schreie ihn an: »Dann geh doch wieder zu ihr, ich brauche dich nicht!«

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Seit der Geburt meines Sohnes habe ich nicht mehr mit einem Mann geschlafen und will es auch nicht.

Ich zittere vor Angst und Wut am ganzen Körper. »Mir ist kalt! «sage ich.

»Entweder du kommst unter meine Decke, oder du hast Pech«, sagt er laut in die Dunkelheit hinein.

Nur nicht unterkriegen lassen, denke ich und lege mich demonstrativ auf die Holzdielen.

Wenn mich jetzt ein Mädchen aus dem Heim sehen würde; gestern noch im Krankenhaus und heute kein Bett. Schon bald vernehme ich lautes Schnarchen, die Geräusche nerven mich, ich gehe wieder in die Küche. Wie soll ich nur mit diesem Mann und meinem Kind hier leben?

Ich sehe den Morgen grauen und ahne nicht, daß dies nicht die schlimmste Nacht meines Lebens gewesen ist.

Horst ist zur Arbeit gefahren, ohne ein Wort mit mir zu sprechen. Seine Rache? Wenn er wüßte, daß mir das gar nichts ausmacht.

Tagsüber räume ich die Wohnung auf, putze den Fußboden, gehe im Park Blumen pflücken, freue mich über meine geleistete Arbeit und denke nicht an ihn.

Todmüde lege ich mich schlafen. Gegen Abend erwache ich. Mit Schrecken stelle ich fest, es ist 18 Uhr, gleich kommt er! Was dann?

Ich drehe das Radio laut auf. Plötzlich steht er im Zimmer, ich habe ihn nicht kommen hören. »Möchtest du was essen?« frage ich, weil mir nichts Besseres einfällt.

»Essen können wir später!« Er nähert sich mir. Verzweifelt suche ich nach einen Ausweg, mir fällt nichts ein.

Augen zu und nicht mehr denken ...

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