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Nachwort von Marie-Louise Berneri 

 

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Ziel dieses Buches war ein allgemeiner Überblick über das utopische Denken vom antiken Griechenland bis zum heutigen Tag. Ein solcher Überblick muß jene Utopien berücksichtigen, die sich der größten Popularität erfreuten oder das utopische Denken beeinflußten, und er muß viele interessante, doch weniger bekannte, ausschließen. 

Die folgende Bibliographie soll eine Vorstellung von dem ungeheuer großen und zum Teil unerforschten Gebiet der Utopien vermitteln.

Obwohl ich meine Auswahl der Utopien durchweg nach orthodoxen Richtlinien getroffen habe, mag man der Ansicht sein, daß einige Werke, die nicht als Utopien klassifiziert wurden, als solche betrachtet werden müßten, während andere, die berück­sichtigt wurden, besser herausgelassen worden wären. Die Schwierigkeit jeglicher Klassifizierung ergibt sich aus der Tatsache, daß, obwohl die meisten Definitionen von Utopie übereinstimmen, die Bezeichnung für sehr verschiedene Literatur­formen verwandt wurde. 

In der <Encyclopedia Britannien> wird Utopie definiert als "ein ideales Gemeinwesen, dessen Bewohner unter vollkommenen Bedingungen leben". Diese Definition trifft ziemlich genau auf Morus' <Utopia> zu, und in der vorhergehenden Auswahl habe ich versucht, Werke darzustellen, die so weit wie möglich in den Bereich dieser Definition fallen. Das ideale Gemeinwesen mag sich auf einer imaginären Insel oder einem imaginären Kontinent befinden, auf einem weit entfernten Planeten, in der Vergangenheit oder in der Zukunft.

Doch Utopie ist auch als imaginäre Konzeption einer idealen Regierung definiert worden (Dictionnaire General de la Langue Franchise). Diese Definition wurde weniger häufig übernommen, und sie träfe eher auf Beschreibungen idealer Verfassungen zu, wie zum Beispiel Harringtons Oceana, oder theoretische Schriften über die Regierung wie Hobbes' <Leviathan>. Obwohl sich diese Schriften offenbar nicht im Rahmen dieses Buches befanden, sind sie manchmal kurz erwähnt und in der Bibliographie berücksichtigt worden.

Jede Klassifizierung ist notwendig etwas willkürlich, doch ich habe versucht, die offensichtlichen Fallgruben zu vermeiden, nämlich alles das als utopisch zu klassifizieren, was mir unmöglich zu realisieren schien. Seltsamerweise ist dies ein häufig verwandtes Klassifikationskriterium. Marxisten haben alle unwissenschaftlichen Systeme als utopisch klassifiziert, während Nicht-Marxisten gerne sozialistische Programme zu den Utopien zählen. 

Während Engels ein Buch über den Unterschied zwischen utopischem (das heißt vormarxistischem, unwissenschaftlichem Denken) und wissenschaftlichem Sozialismus schrieb, wurde Marx ironischerweise manchmal zu den utopischen Schreibern gerechnet, wie zum Beispiel in Rev. M. Kaufmanns <Utopien: oder Systeme gesellschaftlicher Verbesserung> (Utopias: or, Schemes of Social Improvement). P. Proudhon, der gemeinsam mit Marx erwähnt wird, hätte diese Klassifizierung gleichermaßen zurückgewiesen.


Es gibt kaum ein System gesellschaftlicher Verbesserung, das nicht zur einen oder anderen Zeit als utopisch bezeichnet wurde. Sogar politische Programme, wie zum Beispiel das Babeuvistische Manifest der Gleichen, tauchen manchmal in Bibliographien von Utopien auf. Obwohl der Unterschied zwischen Utopien und politischen Programmen gelegentlich nur sehr gering ist, können Schriften, die einen Plan zur unmittelbaren Handlung aufstellen und die Mittel zum Erreichen eines bestimmten Ziels festlegen, nicht als Utopien betrachtet werden. Die Tatsache, daß ein politisches Programm sich nicht als realisierungsfähig erwiesen hat, rechtfertigt nicht seine Zuordnung zu utopischen Schriften.

Eine weitere Schwierigkeit stellen Schreiber dar, die behaupten, eine Utopie verfaßt zu haben, während weder die Form noch der Inhalt ihrer Bücher an eine Utopie erinnert. Man mag es als einen Tribut an Morus betrachten, daß so viele Schreiber versuchten, aus dem Erfolg seines Buches Kapital zu schlagen, indem sie den Titel für alle möglichen Schriften benutzen, die mit dem Original wenig gemeinsam haben. Zum Beispiel wurden Schlüsselromane mit Utopia überschrieben, die gerade das Gegenteil einer idealen Gesellschaft zu beschreiben beabsichtigten. 

Frauen waren in dieser Hinsicht besonders skrupellos: Mrs. Manley benutzte den Titel Neu-Atlantis für eine Sammlung von verleumderischen Anekdoten, die hauptsächlich gegen die Herzogin von Marlborough gerichtet waren und 1711 veröffentlicht wurden, weswegen sie zusammen mit dem Drucker und Herausgeber auf Befehl des Earl von Sunderland verhaftet wurde. Auch Mrs. Eliza Haywood schrieb einen Schlüsselroman mit dem Titel Erinnerungen an eine gewisse Insel, angrenzend an das Königreich von Utopia (Memoirs of a certain Island adjacent to the Kingdom of Utopia), der 1725-26 erschien. 

Der Titel Utopia scheint zu dieser Zeit besonders in Mode gewesen zu sein, und man findet ihn über satirischen Gedichten und Theaterstücken, die manchmal Aristophanes nachahmen, wie zum Beispiel Als die Kanarienvögel in Utopia eingebürgert wurden (Canary-Birds Naturaliz'd in Utopia), A Canto, 1709 oder '10, und Das Sechs-Tage-Unternehmen oder die Neue Utopie (The Six Days Adventure or the New Utopia), ein Stück, das 1671 im Theater des Herzogs von York aufgeführt wurde und angeblich den Versuch eines Gemeinwesens von Frauen beschreiben wollte. 

Ein seltsames, 1647 erschienenes, politisches Pamphlet behauptet, ein Brief des Königs von Utopia an die Bürger von Cosmopolis, die Hauptstadt von Utopia zu sein, und er wäre Aus der Utopischen Sprache in gebrochenes Englisch übersetzt, von wem, spielt keine Rolle. Doch Warum gebrochenes Englisch? O Sir! Was hier wird gesprochen, heißt, daß England ist gebrochen.  

Man findet sogar ein religiöses Traktat, das aus einem geheimnisvollen Grund Eine Weisung aus Utopia überschrieben ist, und eine Zeitschrift, die offenbar ein unsicheres Dasein fristete und Der Utopier hieß.

Viele Beschreibungen idealer imaginärer Gemeinwesen findet man in den Geschichten von imaginären Reisen, die im 17. und 18. Jahrhundert so beliebt waren. Die präzise Definition der imaginären Reise oder außergewöhnlichen Reise von Geoffrey Atkinson läßt ihre enge Beziehung zu den Utopien erkennen: Die außergewöhnliche Reise, sagt er, ist eine erfundene Erzählung, die vorgibt, der wahre Bericht einer tatsächlichen Reise zu sein, die ein oder mehrere Europäer in ein existierendes, doch wenig bekanntes Land — oder mehrere Länder — unternommen haben, gleichzeitig eine Beschreibung der glücklichen Bedingungen der Gesellschaft, die sie dort vorfanden, und ein ergänzender Bericht über die Rückkehr des Reisenden nach Europa.

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Manchmal ist die Beschreibung des idealen Landes sehr vage, während sie das andere Mal, wie in Gabriel de Foignys Die Abenteuer des Jacques Sadeur, einen wichtigeren Platz einnimmt als die Erzählung der Abenteuer und Reisen. Nur letzterer Typ wurde in die Bibliographie aufgenommen.

Ich habe in dieser Bibliographie auch nur wenige Schriften erwähnt, die man als Vorläufer der Utopien betrachten kann, denn es wäre unmöglich gewesen, sie alle aufzuzählen.

Dr. J.O. Hertzler bezeichnet in seiner <Geschichte utopischen Denkens> (History of Utopian Thought) die hebräischen Propheten als die Väter des utopischen Denkens. Seiner Ansicht nach sind der Prophet Amos (8. Jhd v.u.Z.) und die ungebrochene Linie der Propheten vor, während und nach dem babylonischen Exil der Juden als Sozialkritiker und Sozialarchitekten Plato zumindest ebenbürtig. Obwohl der Einfluß Griechenlands auf utopisches Denken höchst bedeutsam war, haben auch andere Kulturen und Literaturen eine wichtige Rolle gespielt.

Ich habe auch einige Schriften erwähnt, die durch ihre Beschreibung tatsächlicher Gesellschaften und Gemein­schaften Utopien beeinflußt haben. Die Beschreibung der jüdischen Gemeinschaften der Essener am Westufer des Toten Meeres von dem Historiker Josephus, die Beschreibung der mehr oder weniger mythischen Gemeinschaften auf den Mittelmeerinseln von Diodorus Siculus, die Berichte von der Zivilisation der Inkas und der Jesuitenrepublik, die in der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts gegründet wurde und mehr als hundert Jahre bestand, sie alle lieferten das Rohmaterial für die Errichtung von Utopien.

Charles Gide fragt sich in seinem Buch <Les colonies communistes et co operatives>, ob er in eine Studie über Gemeinschaften nicht Utopien einschließen sollte, denn einige der Utopien sind realer als tatsächliche Experimente. Man mag sich andererseits fragen, ob die Geschichte einiger dieser Gemeinschaften nicht parallel mit der von Utopien gesehen werden sollte. 

Die vor allem im neunzehnten Jahrhundert gegründeten Gemeinschaften waren der Ausdruck des Willens zur Utopie, sie waren Utopien en miniature oder sollten es zumindest sein, und die Verfassungen einiger dieser Gemein­schaften erinnern stark an jene in einigen utopischen Gemeinwesen. In vielen Fällen inspirierten Utopien die Gründer von Gemeinschaften, während die Ergebnisse dieser praktischen Experimente in einigen modernen Utopien verkörpert sind.

Die Bibliographie enthält auch einige kritische Arbeiten über Utopien, die in den letzten hundert Jahren erschienen sind. Obwohl die meisten von ihnen die Utopien von einem marxistischen Standpunkt betrachteten, nehmen neuere Werke, wie Lewis Mumfords <The Story of Utopias>, weniger eine Parteihaltung ein und enthalten viel interessante Kritik und Würdigung. 

Schließlich habe ich in die Bibliographie Bücher wie Rudolf Rockers <Nationalismus und Kultur>, Kropotkins <Gegenseitige Hilfe> und Alexander Grays <The Socialist Tradition> aufgenommen, die sich zwar nicht speziell mit Utopien beschäftigen, jedoch für die Diskussion des Themas viel relevantes Material enthalten. 

Ich habe durchweg versucht, Fußnoten zu vermeiden – alle benutzten Quellen findet man jedoch in der Bibliographie.

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