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  Teil 6    Moderne Utopien ab 1900  

Von Marie-Louise Berneri 1949 

 

detopia-2013:  Wer heute utopisch denken will, muss nicht alle Utopien der bisherigen Geschichte kennen und sie in der Übersetzung oder im Original (wie oft die Autorin) studiert haben. Marx+Engels taten dies womöglich. Heute genügt es - wie auf anderen Gebieten ja auch - das Wesentliche zu wissen. So, wie es eine "Kurze Geschichte der Zeit" gibt, haben wir auch Anspruch auf eine "Kurze Geschichte der Utopias". (Ja! "Anspruch"; und zwar wegen der schieren Masse der Utopien.) Auf das Gefühl kommt es an; auf das Gefühl, man erfährt nach einer Zeit des Studiums nichts Neues mehr. M. Berneris Buch ist - obwohl es "schon so alt" scheint - eine große Hilfe, seine Kenntnis erspart uns massig Zeit; denn sie "bewertet" die Utopien, und zwar kräftig, kräftiger als die anderen, die ich kenne (Mumford, Gnüg, Heinisch, auch Saage) - und das genau von dem Standpunkt aus, der mir auch gefällt, nämlich: Was können wir heute und morgen daraus anwenden? 

Auch verfügen wir über einen echten Utopie-Forscher-Professor, Richard Saage, der in seinen Büchern die vorhandenen Utopie-Gedanken-Systeme sogar wissenschaftlich durchleuchtet. Damit ist unser Utopie-Werkzeug-Koffer halb gepackt. Die andere Hälfte liefert die Öko- und Friedens-Problem-Lage. Zur Ökofrage kommt heute die Klimafrage als Kardinalfrage hinzu. Und die "Papstfrage" bleibt die nach der Bevölkerungsminderung. - Doch nun erstemal das Utopie-Genie Berneri - und dann eine optimistische Kurzutopie:  oben rechts: Tramputopia ! 

 

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Die vorherrschende Machart früherer utopischer Pläne scheint auszusterben. Die nach 1900 verfaßten Utopien sind meist Überbleibsel aus dem 19. Jahr­hundert; blasse oder manchmal wortreiche Versionen idealer Gemeinwesen, doch sie bieten nichts Neues und verursachen nicht den Aufruhr wie die Schriften von Cabet, Bellamy und Morris zu ihrer Zeit. 

Die beiden erstgenannten waren stumpfsinnige Schriften, doch sie fesselten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, denn sie kristallisierten eine bestimmte Richtung des sozialen Gedankens. Die in den letzten 50 Jahren veröffentlichten Utopien haben keinen vergleichbaren Eindruck hinterlassen. Von Anatole Frances utopischem Abriß in <La Pierre Blanche> hat man zu Recht keine Notiz genommen, denn es ist eines der dümmsten Schriftstücke. 

Gabriel Tardes Fragment <d'Histoire Future> beschäftigte sich mehr mit der Diskussion philosophischer Ideen als mit der Darstellung eines idealen Gemein­wesens, während Sebastien Faures <Le Bonheur Universel> als ein sentimentales Propagandastück nur begrenzte Anziehungskraft hatte.

 

H.G. Wells leistete mit <A Modern Utopia> und <Men Like Gods> einen bedeutenderen Beitrag zur utopischen Literatur, doch erstere steht trotz ihres Titels in der Tradition früherer Utopien. In seiner <Modern Utopia> bricht Wells jedoch mit der utopischen Tradition, indem er es ablehnt, eine voll­kommene Gesellschaft zu beschreiben: "In einer modernen Utopie", sagt er, "wird es sicherlich keine Vollkommenheit geben; in Utopia muß es auch Spannungen geben, Konflikte und Verschwendung, doch ist die Verschwendung ungeheuer viel geringer als in unserer Welt". 

Seine Utopie sind "Verhältnisse, die sofort möglich sind und wünschenswerter als die Welt, in der wir leben, doch sie sind ausgesprochen undurch­führbar gemessen mit einem Maßstab, der nur von heute bis morgen reicht." 

<A Modern Utopia> erschien 1905. In <Men Like Gods>, das 1923 veröffentlicht wurde, beschrieb Wells aber tatsächlich eine Gesellschaft, wo es keine Konflikte, Spannungen oder Verschwendung gibt.  

Anders als der alternde Plato war Wells vielleicht in seinem späteren Leben optimistischer als in seiner Jugend, oder er betrachtete vielleicht seine moderne Utopie oder zweitbesten Staat als einen notwendigen Übergang zu einer vollkommenen Gesellschaft.

Mit <A Modern Utopia> lassen wir die nationalstaatlichen und auch die föderativen Utopien hinter uns. Wells behauptet, daß die Zeit der Grenzen und durch die Sprache verursachten Barrieren vorbei ist; nur ein gesamter Planet kann dem Zweck einer modernen Utopie dienen, denn: 

Ein Staat, der so mächtig ist, sich unter modernen Bedingungen zu isolieren, wäre auch mächtig genug, die Welt zu beherrschen, wäre sicherlich, wenn er nicht aktiv regiert, doch in allen anderen menschlichen Organisationen passiv geduldet und somit für alle verantwortlich. Deshalb muß es ein Weltstaat sein. 


Dieser Weltstaat, zu dem wir durch die Vorstellungskraft befördert werden, befindet sich auf einem Planeten, der mit unserem identisch ist; jeder Fluß, See oder Berg unserer Erde hat sein Äquivalent in Utopia, und jeder Erdenbewohner hat sein Gegenstück unter der Bevölkerung des utopischen Planeten, der sich irgendwo jenseits des Sirius befindet. Der Unterschied zwischen Utopia und unserer Erde ist, daß sich dort vor ziemlich langer Zeit die gesellschaftliche Organisation rapide verbessert und ein Niveau erreicht hat, das beträchtlich über unserem liegt.

In die Vorstellung dieser neuen gesellschaftlichen Organisation gehen eine Menge Kenntnisse früherer Utopien ein. Einige ihrer Züge werden kritisiert, und dies ist keineswegs der uninteressanteste Teil des Buches. Andere werden in das Well'sche Schema eingebaut. Plato und Auguste Comte tragen viel zur psychologischen Struktur bei, während Theodor Hertzka für die Ökonomie sorgt.

Doch Wells behauptet, daß ein völlig neuer Plan notwendig ist, weil die Utopien der Vergangenheit dem Individuum nicht genug Freiheit zubilligten. 

Zu Recht bemerkt er:

Für die klassischen Utopien war Freiheit relativ nebensächlich. Tugend und Glück betrachteten sie offensichtlich als vollkommen von der Freiheit trennbar und darüber hinaus als viel bedeutender. Doch die moderne Anschauung, die verstärkt auf der Individualität und auf der Bedeutung ihrer Einzigartigkeit beharrt, intensiviert stetig den Wert der Freiheit, bis wir schließlich die Freiheit als das Wesentliche des Lebens betrachten, ja, als das Leben selbst, und daß nur die toten Dinge, die keine Wahl haben, im absoluten Gesetzesgehorsam verharren. Seiner Individualität freien Lauf lassen zu können, ist nach moderner Ansicht der subjektive Triumph der Existenz, wie das Überleben in schöpferischer Arbeit und Ergebnissen ihr objektiver Triumph ist. 

Daran anschließend jedoch fährt Wells fort:

Individuelle Freiheit in einer Gemeinschaft steht jedoch nicht, wie Mathematiker es ausdrücken würden, immer unter demselben Vorzeichen. Dies zu übersehen, ist der wesentliche Trugschluß des Kultes, den man Individualismus nennt. In Wirklichkeit jedoch kann ein allgemeines Verbot in einem Staat die Summe der Freiheit vergrößern, während eine allgemeine Erlaubnis sie verringern kann. Man kann nicht den Schluß ziehen, wie diese Leute uns glauben machen wollen, daß ein Mensch freier ist, wenn es weniger Gesetze gibt, und eingeschränkter, wenn es mehr Gesetze gibt. 

Diese Annahme, daß Gesetze die besten Wächter der Freiheit sind, ist die Grundlage nahezu aller Utopien, und trotz seines Eintretens für die Freiheit begeht Wells den Fehler seiner Vorläufer, indem er in seiner Utopie eine riesige Menge von Gesetz­gebungen einführt. Er bringt die kindische Ansicht vor, daß man Morde durch "den Verlust der allgemeinen Freiheit zu töten" verhindern könne, als ob die Leute anfangen würden, sich gegenseitig abzuschlachten, wenn jegliche Bestrafung für Mord plötzlich abgeschafft würde. 

Während die meisten früheren Utopien betont hatten, Ziel der Gesetzgebung müsse es sein, die Ursache der Verbrechen zu beseitigen, sieht Wells das einzige Gegenmittel in der Strafgesetzgebung.  

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Wells' Konzeption von Freiheit stellt sich als sehr eng heraus. Er verurteilt die Beschränkung der Individualitäten auf allgemeine Muster, ebenso:

Die ideale Gemeinschaft früherer Menschen mit einem gemeinsamen Glauben, mit gemeinsamen Gebräuchen und gemeinsamen Zeremonien, gemeinsamen Sitten und gemeinsamen Formeln; Menschen derselben Gesellschaft kleideten sich in derselben Weise, jeder entsprechend seines festgelegten und vereinbarten Status, verhielten sich in derselben Weise, liebten, beteten und starben in derselben Weise ...

Doch nachdem er dieses Ideal verdammt hat, arbeitet er ein ähnliches aus, indem er eine herrschende Klasse mit allen zuvor erwähnten Eigenschaften beschreibt. Die Freiheit zu kreativer Arbeit ist nur möglich für diejenigen, die private Mittel besitzen oder zufällig einen Beruf gewählt haben, der dem Staat nützlich ist. Wells' Freiheit ist das Resultat eines Kompromisses zwischen Sozialismus und laisser-faire-Kapitalismus, und er ist unbefriedigend wie alle Kompromisse: 

Für den Betrachter, sagt er,

sind sowohl Individualismus als auch Kapitalismus in absoluter Form absurd: der eine macht die Menschen zu Sklaven der Grausamen und Reichen, der andere zu Sklaven des Staatsbeamten, und der Weg der Vernunft verläuft, möglicherweise sogar in Schlangenlinien, unten im Tal zwischen beiden... Wir müssen nicht nur für Nahrung und Kleidung, für Ordnung und Gesundheit sorgen, sondern für Initiative.

Dieser ideale Kompromiß zwischen Individualismus und Sozialismus war das Ziel des österreichischen Ökonomen Theodor Hertzka, dessen Plan für eine bessere Gesellschaft, dargestellt in Freiland: Ein sociales Zukunftsbild (erschienen 1890), in seinem Land mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. Im Vorwort zu seinem Buch erklärte Hertzka seinen Versuch einer Synthese:

Wenn es der Gemeinschaft möglich ist, Kapital für die Produktion bereitzustellen, ohne damit das Prinzip der vollkommenen persönlichen Freiheit oder der Gerechtigkeit zu verletzen, wenn man auf Gewinnansprüche verzichten kann, ohne an ihrer Stelle kommunistische Kontrolle einzuführen, dann gibt es kein Hindernis mehr auf dem Weg zu einer freien Gesellschaftsordnung.

Theodor Hertzka machte den Vorschlag, daß Land, Kapital und Produktionsmittel dem Staat gehören sollten, und daß jeder Einwohner gleiches Recht an dem gemeinsamen Land und den Produktionsmitteln haben sollte, die der Staat zur Verfügung stellte. Invaliden und alte Leute sollten vom Staat versorgt werden, die Löhne sollten entsprechend dem Wert der verrichteten Arbeit variieren, d.h. ein Techniker würde besser bezahlt als ein Arbeiter, Dividenden sollten an die Mitglieder der Kapitalgesellschaft verteilt werden, nachdem ein Teil für Investitionen und Steuern für den Staat zurückgelegt worden war. Wenn eine Vereinigung von Menschen sich der Industrie oder Landwirtschaft widmen wollte, konnten sie auf Anforderung vom Staat Land und Kapital erhalten. Persönliche Gegenstände, Häuser und Gärten, sollten als Privateigentum betrachtet werden.

H.G. Wells' Plan zeigt ähnliche Züge.

Der Weltstaat in dieser idealen Form stellt sich dar als einziger Grundeigentümer, wobei ihm, wie ehemals, die großen regionalen Regierungen... die regionalen Stadtverwaltungen als Lehnsherren unterstehen... Das moderne Denken richtet sich vollkommen gegen Privateigentum an Land und natürlichen Gegenständen oder Produkten, und in Utopia sind diese Dinge unveräußerliches Eigentum des Weltstaates.

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Da das Recht auf Freizügigkeit besteht, kann das Land Gesellschaften oder Einzelpersonen überlassen werden, doch — angesichts unvor­herseh­barer zukünftiger Notwendigkeiten — nicht länger als für einen Zeitraum von, sagen wir, fünfzig Jahren. 

Der Staat oder die regionalen Regierungen und Stadtverwaltungen verwaltet alle Energie­quellen, entwickelt diese Quellen, entweder direkt oder durch seine Pächter, Farmer und Agenten, und macht diese Energie der lebenswichtigen Arbeit zugänglich. Er oder seine Pächter produzieren Nahrung, und somit menschliche Energie, und die Ausbeutung von Kohle und Elektrizität und der Wind-, Wellen- und Wasserkraft liegt in seinem Machtbereich. Er verteilt diese Energie durch Zuweisung, Verpachtung, auf Antrag und ähnliches an seine einzelnen Bürger. 

Er sorgt für Ordnung, für Straßen, für billige und schnelle Fortbewegung und ist der allgemeine Transportunternehmer des Planeten, vermittelt und verteilt Arbeit, kontrolliert, vergibt oder verwaltet alle natürlichen Produktionen, bezahlt und sichert gesunde Geburten und eine gesunde und kräftige neue Generation, sorgt für die öffentliche Gesundheit, prägt Münzen und überwacht die Maßeinheiten, fördert die Forschung und jene kommerziell unprofitablen Unternehmen, die der Allgemeinheit insgesamt zugute kommen: subventioniert notfalls kritische Lehrstühle und Autoren und Publikationen und sammelt und verteilt Informationen.

Obwohl der Staat die Quelle aller Energie und der letztendliche Legatar ist, sollte das Eigentum als wesentliches Moment beibehalten werden, denn Wells zufolge

ist ein Mensch ohne veräußerliches Eigentum ein unfreier Mensch, und das Ausmaß seines Eigentums ist ein wichtiger Maßstab seiner Freiheit... Der Gegenstand moderner utopischer Staatsführung ist die Sicherung der Freiheit des Menschen, die in seinem gesamten rechtmäßigen Eigentum besteht, das heißt, all den Werten, die seine Arbeit oder sein Geschick oder seine Voraussicht und sein Mut hervorgebracht haben. Was er rechtmäßig hergestellt hat, darf er selbstverständlich behalten; doch er hat ebenso das Recht, zu verkaufen und zu tauschen...

Der Staat begrenzt das Recht auf das Eigentum eines Menschen, wenn es solche Ausmaße erreicht, daß seine Freiheit die Freiheit anderer unterdrückt. Wells teilt uns nicht mit, wann Ausbeutung zu Unterdrückung wird, und hinsichtlich dieser Frage, wie bei vielen anderen auch, muß man ihm unlogisches Denken vorwerfen.

 

Geld wird ebenso als wesentlicher Bestandteil der Freiheit betrachtet, und H.G. Wells kehrt die allgemeine Einstellung der Utopien, die Geld als die Quelle allen Übels betrachteten, um, indem er das Geld verteidigt:

"Geld ist etwas Gutes, wenn man es richtig benutzt, eine Notwendigkeit im zivilisierten menschlichen Leben, in der Tat ebenso kompliziert für seine Zwecke, doch eine ebenso natürliche Entwicklung wie die Knochen im menschlichen Handgelenk, und ich verstehe nicht, wie man sich vorstellen kann, daß irgendetwas ohne Geld eine Zivilisation genannt werden könnte. Es ist das Wasser des gesellschaftlichen Körpers, es verteilt und empfängt und schenkt Wachstum und Ausgleich und Bewegung und mögliche Genesung. Es ist die Versöhnung der gegenseitigen Abhängigkeit mit der Freiheit."

Und entrüstet verdammt er den unwürdigen Gebrauch, dem Sir Thomas Morus das Geld zuführte. Arbeitskredite oder die freie Anforderung von Annehmlichkeiten aus einem zentralen Warenlager oder ähnliche Einfälle "lassen dem Schweinehund im Menschen zehntausendmal mehr Spielraum" als der Gebrauch des Geldes.

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Jedoch wird nicht Gold als Wertmaßstab benutzt, da sein Wert zu veränderlich ist, sondern stattdessen produktive Energie. Die zur Verfügung stehende Energie wird in physikalischen Einheiten berechnet und tendiert zur Einheitlichkeit aufgrund der automatischen Steuerung der Arbeitskraft.

In dieser modernen Utopie ist Arbeit eine Notwendigkeit, doch wie in unserer heutigen Gesellschaft können es sich einige Privilegierte leisten, ohne zu arbeiten nach ihren Wünschen zu leben:  

Wenn jemand, bei der beschränkten utopischen Erbregelung, so viel Geld erbt, daß er von der Notwendigkeit zu arbeiten befreit ist, kann er gehen, wohin er will und tun, was ihm gefällt.

Dies ist aus folgendem Grund gerechtfertigt:  

Ein gewisser Prozentsatz müßiger Menschen ist gut für die Welt; Arbeit als eine moralische Verpflichtung ist Sklavenmoral, und so lange niemand überarbeitet ist, gibt es keinen Grund zur Besorgnis, wenn einige wenige unterbeschäftigt sind.

Der utopische Arbeiter hat eine größere Auswahl an Berufen als sein Pendant auf der Erde heute; dank der schnellen Verkehrsmittel hat er auch eine sehr viel größere Freizügigkeit. Arbeitslosigkeit ist unbekannt, denn der Staat absorbiert alle überschüssige Arbeitskraft, indem er seinerseits ständig einige Spezialaufgaben bereitstellt, den Mindestlohn bezahlt und ihnen erlaubt, so langsam oder so schnell fortzuschreiten, wie Ebbe und Flut der Arbeit es vorschreiben.

Der Staat kann den Überschuß auch durch Verkürzung des Arbeitstages absorbieren. Obwohl der ausgiebige Gebrauch der Maschinerie dazu neigt, überschüssige Arbeitskraft zu schaffen, verhindert die sorgfältige Kontrolle des Bevölkerungswachstums eine größere Arbeitslosigkeit. Es liegt jedoch im Interesse des Staates, ständig ein Potential an überschüssiger Arbeitskraft zur Verfügung zu haben, die er zu einem Mindestlohn beschäftigen kann.

 

Der Staat kann alle Bewohner des utopischen Planeten in Schach halten, denn sie sind alle meldepflichtig und müssen jeden — auch einen vorübergehenden — Ortswechsel bekanntgeben. Es ist ein ausgefeiltes System notwendig, das die Unterlagen von 1.500.000.000 Leuten, ihre Personalnummern, ihre Fingerabdrücke, Eintragungen über ihre Ortswechsel, Ehe, Elternschaft, Vorstrafen und ähnliches konzentriert. Diese ungeheure Zentralkartei ist, als ein Tribut an die besondere Klarheit des französischen Geistes, meiner langen Gebäudereihe in der Nähe von Paris untergebracht. 

Alle Vorfälle im Leben eines Menschen sind somit registriert, und schließlich, wenn der Bürger stirbt, kommt als letzte Eintragung sein Alter und die Todesursache und das Datum und der Ort der Beisetzung, und seine Karte wird herausgenommen und der allgemeinen Ahnentafel übergeben, einem Ort größerer Ruhe, der ständig wachsenden Reihe von Aufzeichnungen über die Toten.

 

H. G. Wells ist nicht bereit zuzulassen, daß man sein System als eine Kapriole seiner Phantasie betrachtet, sondern behauptet, daß eine solche Kartei unvermeidlich ist, wenn eine moderne Utopie erreicht werden soll; er glaubt offenbar, daß ohne sie die Wanderarbeiter einer modernen Utopie alle Monsieur Verdoux nacheifern und minderwertige Menschen würden, die ihre grobe Phantasie aufrecht erhalten und nähren, indem sie gewöhnliche Frauen freien, betrügen, mißhandeln und manchmal sogar ermorden.

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Nachdem man uns drastisch die Gefahren vor Augen geführt hat, wenn die Möglichkeit bestünde, Decknamen anzunehmen, sagt man uns auch, daß wir den Verlust unserer Privatsphäre nicht zu fürchten brauchen.

 

Nur der Staat, sagt Wells, ist in das kleine Geheimnis eines jeden eingeweiht. Für den Liberalen des achtzehnten Jahrhunderts, für den überkommenen Liberalen des neunzehnten Jahrhunderts, das heißt für alle überzeugten Liberalen, die gegen die Regierung aus Prinzip erzogen worden sind, ist diese organisierte Hellseherei die verhaßteste aller Vorstellungen... Doch nehmen wir an, die Regierung ist nicht notwendig schlecht und das Individuum nicht notwendig gut — und die Hypothese, mit der wir praktisch arbeiten, hebt beide Alternativen auf — dann ändert sich der Fall ganz und gar. Die Regierung einer modernen Utopie ist nicht die Vervollkommnung von Absichten, die unwissentlich die Welt beherrschen...

Sobald wir mehr über seine moderne Utopie erfahren, stellen wir fest, daß Wells' Plan für eine allgemeine Registratur nicht nur auf seine scheinbar übertriebene Vorliebe für Karteien zurückzuführen ist, sondern daß er tatsächlich, wie er sagt, für sein utopisches System unumgänglich ist. Der Staat wäre nicht in der Lage, die Weltbevölkerung zu kontrollieren, wenn er nicht eine solche Maschinerie zur Verfügung hätte. Dies ist nicht nur notwendig, um die Arbeit zu steuern, sondern auch, um das Wachstum und die Qualitätsverbesserung der Bevölkerung zu kontrollieren. 

Wells lehnt es ab, daß der Staat die Bevölkerung züchtet, was "für Plato noch ein vernünftiger Vorschlag war angesichts der biologischen Kenntnisse seiner Zeit und der rein vorläufigen Natur seiner Metaphysik; doch für jeden nach Darwin ist er grotesk." Doch während er die Zwangspaarung ablehnt, gibt er dem Staat das Recht, bestimmte allgemeine Beschränkungen aufzuerlegen:

Bevor jemand der Gemeinschaft Kinder hinzufügt, die die Gemeinschaft erziehen und zum Teil unterhalten muß, ist der Staat berechtigt, ein bestimmtes Maß persönlicher Leistungsfähigkeit vorzuschreiben, und dies muß durch Zahlungsfähigkeit und eine unabhängige Stellung in der Welt bewiesen werden; du mußt ein bestimmtes Alter und eine gewisse körperliche Reife erreicht haben und frei sein von ansteckenden Krankheiten. Du darfst kein Verbrecher sein, außer du hast das Vergehen bereits gesühnt. 

Falls du diese Eigenschaften nicht besitzt und dich trotzdem mit einer Person heimlich zusammenfindest und die Bevölkerung des Staates vermehrst, werden wir aus humanitären Gründen das unschuldige Opfer deiner Leidenschaften übernehmen, doch wir werden darauf bestehen, daß du auf besonders dringliche Weise in der Schuld des Staates bleibst, und einmal wirst du sicherlich bezahlen, auch wenn wir das Geld zwangsweise aus dir herausholen müssen; es ist eine Schuld, deren letztendliche Sicherheit deine Freiheit ist, und wenn darüberhinaus diese Sache ein zweites Mal vorkommt oder wenn du Krankheit oder Schwachsinn vermehrt hast, werden wir eine absolut sichere Maßnahme ergreifen, daß sich weder du noch dein Partner noch einmal in dieser Angelegenheit vergehen.

Wenn Bürger vor der Ehe die vom Staat gesetzten Bedingungen erfüllen, d.h. die Fähigkeit, ein bestimmtes Einkommen zu verdienen, Alter (21 für Frauen, 26-27 für Männer), eine bestimmte körperliche Reife und keine ansteckenden Krankheiten, segnet der Staat ihre Ehe. 

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Die Karteikarte spielt hier selbstverständlich eine wichtige Rolle; jede der beiden Parteien der zukünftigen Ehe...

...erhält eine Kopie der Karteikarte des zukünftigen Ehegatten, worauf sein oder ihr Alter verzeichnet ist; frühere Ehen, gesetzlich bedeutsame Krankheiten, Nachkommen, Wohnungen, öffentliche Ämter, Vorstrafen, eingetragene Eigentumszuweisungen und so weiter. Eventuell wäre es ratsam, für jede Partei eine kleine Feierlichkeit zu veranstalten, jeweils in der Abwesenheit des anderen, wobei die Karteikarte in Gegenwart von Zeugen vorgelesen werden könnte zusammen mit einer Art vorgeschriebenen Ansprache oder Beratung in dieser Angelegenheit. Dann würde eine angemessene Zeitspanne zur Überlegung und zum Rückzug für beide Seiten folgen. Im Falle, daß die beiden Leute auf ihrem Entschluß beharren, teilen sie dies nach der Mindestzeitspanne dem Stadtbeamten mit, und im Register wird die notwendige Eintragung vorgenommen.

Männer und Frauen, die vor ihrer Vereinigung diese Bedingungen nicht beachten, werden auch vom Staat nicht beachtet, solange keine unehelichen Kinder geboren werden.

Der Staat ist berechtigt, vollständig festzulegen, wozu ein Mann und eine Frau nach ihrer Heirat verpflichtet sind und wozu sie nicht verpflichtet werden können, denn es ist für den Staat von vorrangiger Bedeutung, um erstens gesunde Geburten und zweitens gute häusliche Bedingungen zu sichern, daß diese Verbindungen weder frei noch promiskuitiv noch praktisch allgemein unter der erwachsenen Bevölkerung sind. Da das Ziel der Ehe in erster Linie die Fortpflanzung ist, können kinderlose Ehen nach einigen Jahren geschieden werden, doch Verbindungen, die Kinder zur Folge haben, müssen weiterbestehen, da die Familie für die Aufzucht der Kinder die günstigste Bedingung darstellt.

In der modernen Utopie wird Mutterschaft als ein Dienst am Staat betrachtet, und eine Mutter erhält bei der Geburt eines Kindes eine bestimmte Gratifikation. Der Staat bezahlt ihr auch in regelmäßigen Abständen ausreichende Summen, damit sie und ihr Kind unabhängig leben können. Wells stellt sich ein merkwürdiges Prämiensystem vor, wobei der Staat mehr bezahlt, wenn das Kind geistig oder körperlich deutlich über bestimmte minimale Eigenschaften hinauswächst. Dies soll sorgfältige und tüchtige Mutter­schaft zu einem lohnenden Beruf machen, und wenn das Kind in seiner Entwicklung unter den gesundheitlichen, körperlichen und geistigen Mindeststandard absinkt, werden die staatlichen Zuwendungen eingestellt.

 

Wells' utopischer Staat wird alles in seiner Macht Stehende tun, um die Minderwertigen auszurotten: Der Prozeß der Natur, wobei die Starken die Schwachen kaltblütig umbringen, wird durch die Mittel und Wege der modernen Menschen ersetzt. Die utopische Gesellschaft muß die Idioten und Geisteskranken, Perversen und Lebensuntüchtigen, Trunksüchtigen, Drogenabhängigen, Personen mit ansteckenden Krankheiten, Diebe, Betrügerund Verbrecher ausrotten, doch sie greift nicht zur Todesstrafe, und in Utopia gibt es keine Gefängnisse

Der Staat schickt sie ins Exil auf Inseln, die abseits der Seewege liegen, und er versichert sich, daß sie keine Kinder bekommen können, indem die Frauen von den Männern getrennt werden, und es gibt Mönchs- und Nonnenklöster auf der Insel.

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Die Komplexität der utopischen Organisation fordert eine mächtigere und wirksamere Regierungsart, als das Wahlsystem sie bietet. Wie in Platos <Staat> wird eine Klasse von Wächtern - die Samurai - mit der Aufgabe betreut, das Land zu regieren. Ihre Stellung verdanken sie weder Wahlen noch Geburt; sie sind ein "selbsternannter Adel".

Alle tatsächliche Macht der Welt liegt in den Händen der Samurai. Alle Schulleiter und Universitätsdekane, alle Richter, Rechtsanwälte, Arbeitgeber jenseits einer bestimmten Kapazität, alle Ärzte und Gesetzgeber müssen Samurai sein; alle Exekutivkomitees, die eine wichtige Rolle bei der Organisation der gesellschaftlichen Angelegenheiten spielen, werden durch Los ausschließlich unter ihnen bestimmt. Die Samurai sind Freiwillige, jeder intelligente Erwachsene in angemessener gesundheitlicher und leistungsfähiger Verfassung und älter als fünfundzwanzig Jahre kann Samurai werden und sich an der allgemeinen Kontrolle beteiligen. Die Samurai müssen bereit und in der Lage sein, dem Gesetz zu folgen, das dazu bestimmt ist, die Stumpfsinnigen auszuschließen und die Minderwertigen abzuschrecken. Ziel des Gesetzes ist es, die Impulse und Emotionen zu disziplinieren, eine moralische Haltung zu entwickeln und einen Menschen in Zeiten von Anstrengung, Müdigkeit und Versuchung zu unterstützen, ein Maximum an Zusammenarbeit aller Menschen mit guten Absichten zu fördern und letztlich alle Samurai in einem Zustand moralischer und körperlicher Leistungsfähigkeit zu halten.

 

Das Gesetz besteht aus drei Teilen. Es gibt eine Aufzählung von Qualifikationen einschließlich bestandener Universitätsexamen als Beweis für Zielstrebigkeit, Selbstkontrolle und Unterwerfung; es gibt die Aufzählung von Verboten und die Aufzählung von Verpflichtungen. Viele kleine Vergnügen, die keinen großen Schaden anrichten, sind verboten, um die Genußsucht auszumerzen.

Die Samurai müssen sich gesund ernähren und dürfen niemals in Tabak, alkoholischen Getränken und Drogen schwelgen. Sie dürfen keinen Handel treiben, der dazu neigt, unsoziale Verhaltensweisen hervorzubringen; Schauspielen, singen und vortragen ist ihnen auch verboten, denn das schwächt die Seele. Sie dürfen keine Diener sein noch welche halten", sie dürfen weder spielen noch beim Spielen zuschauen. Es gibt ein Gesetz der Keuschheit, jedoch kein Zölibat — Ehe zwischen Gleichen wird als die Pflicht der Samurai gegenüber der Menschheit betrachtet, doch wenn ein Samurai eine Frau liebt, die nicht zum Orden gehört, muß er entweder die Samurai verlassen, um sie zu heiraten, oder sie dazu bringen, das Gesetz der Frauen anzuerkennen. 

Der Paragraph des Gesetzes, der die Verpflichtungen der Samurai behandelt, schreibt ein einfaches, ja spartanisches Leben und zahlreiche kleinere Verpflichtungen vor, wie zum Beispiel mindestens zehn Minuten täglich das Buch der Samurai zu lesen, welches dazu dient, isolierte Zuneigung, jegliche physische und intellektuelle Trägheit und vielfältige unsoziale Vorurteile zu zerbrechen. Jedes Jahr müssen die Samurai eine Woche lang allein in die Berge, Wälder oder an irgendeinen abgelegenen Ort gehen, wo sie unter freiem Himmel schlafen, sie dürfen weder Bücher noch Waffen, weder Feder noch Papier noch Geld mitnehmen. Gestärkt an Körper und Geist kehren sie zurück. 

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Wir haben keinen Raum, um hier noch weitere Aspekte der modernen Utopie zu beschreiben, das Erziehungssystem, die Industriegebiete und Wohnviertel, die Veränderungen in Architektur und Industrieanlagen; die Synthese von Kulturen und Rassen in einem einzigen Weltstaat. 

Zu all diesen Fragen macht Wells interessante Vorschläge, ohne zu versuchen, die einzige und endgültige Lösung anzubieten, anders als so viele utopische Schriftsteller vor ihm. Seine Utopie ist nicht statisch und läßt andere Utopien zu, und abschließend sagt er: 

Es wird viele Utopien geben. Jede Generation wird ihre neue Version von Utopia haben, etwas gewisser und vollständiger und realer, wobei die Probleme immer näher an den Problemen des Werdenden liegen. Bis schließlich aus utopischen Träumen funktionierende Pläne entstehen und die ganze Welt den endgültigen Weltstaat bildet, den gerechten, großen und fruchtbaren Weltstaat, der nicht mehr nur bloße Utopie ist, sondern diese Welt. 

H.G. Wells selbst erfüllte diese Prophezeiung und beschrieb in <Menschen Göttern gleich> (Men Like Gods) eine weitere Utopie, die in der Form eines Romans verfaßt ist und worin er viele der praktischen Überlegungen, die in seinem vorherigen Buch vorherrschten, beiseite läßt. In <A Modern Utopia> hatte er gesagt: 

Wenn wir die Freiheit unserer ungehinderten Wünsche besäßen, würden wir vermutlich Morris in sein Nirgendwo folgen, wir würden die Natur des Menschen und die Natur der Dinge gleichzeitig verändern; wir würden die ganze Menschheit weise, tolerant, edel, vollkommen machen — einer großartigen Anarchie entgegensehen, wo jeder Mensch tut, was ihm gefällt und niemand gern Böses tut, in einer Welt, die so gut ist wie ihre ursprüngliche Natur, so reif und sonnig wie die Welt vor dem Sündenfall. 

<Menschen Göttern gleich> ist Wells' <Kunde von Nirgendwo>, ein Nirgendwo, das für Morris' Geschmack zu wissenschaftlich und stromlinienförmig gewesen wäre, worin jedoch ein großer Teil der Bürokratie, der Gewalt und des moralischen Zwangs fehlt, die in <A Modern Utopia> vorherrschen.

 

Die Utopie der <Menschen Göttern gleich> ist ebenfalls auf einem anderen Planeten angesiedelt, der unserem ähnlich ist. Es ist ein Schwesteruniversum, das zeitlich etwas fortgeschrittener ist als unser eigenes, doch anders als die <Moderne Utopie> hat es überhaupt keine Zentralregierung. Es gibt keinen Rat oder ein Büro, in dessen Händen die endgültige Entscheidung in Fällen kollektiver Handlung zum allgemeinen Wohl liegt,.. keinen obersten Sitz oder oberstes Organ der Souveränität... keine Konzentration der Autorität...; in der Vergangenheit hatte es das gegeben; doch es war schon seit langem an die Allgemeinheit zurückgegeben worden. Entscheidungen bezüglich jeder besonderen Angelegenheit werden vom Volk getroffen, das genau darüber Bescheid weiß. Es gibt keine Gesetze, wie wir sie kennen, und keine Macht, die sie erzwingen könnte: Wenn jemand sich zum Beispiel weigert, eine Anordnung bezüglich der öffentlichen Gesundheit zu befolgen, wird die Anordnung nicht erzwungen, sondern wenn sie nachforschen, warum er oder sie sich nicht daran gehalten hat, stellen sie vielleicht fest, daß es einen besonderen Grund gibt; ist das nicht der Fall, wird seine geistige und moralische Gesundheit untersucht.

Die herrschende Klasse der Samurai hat kein Pendant in dieser Utopie, wo alle Menschen dieselben Rechte und Pflichten haben und wo Eigentum, das vorher als wesentlicher Bestandteil der Freiheit betrachtet wurde, verschwunden ist:

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"Die Aktivitäten unserer Welt", sagt der utopische Sprecher, "sind so koordiniert, daß sie die allgemeine Freiheit sichern. Wir haben zahlreiche Nachrichtendienste, die auf die allgemeine Psychologie der Rasse und die Interaktion der kollektiven Funktionen gerichtet sind."

"Aber bilden diese Nachrichtendienste nicht eine herrschende Klasse?" fragt einer der Erdlinge.

"Nicht in dem Sinne, daß sie willkürliche Gewalt ausüben", sagt der Utopier. "Sie beschäftigen sich mit den allgemeinen Beziehungen, das ist alles. Doch sie stehen nicht höher und sind in dieser Hinsicht nicht vorrangiger als ein Philosoph gegenüber wissenschaftlichen Spezialisten..."

"Wir stellten schließlich fest, daß Privateigentum außer an ganz persönlichen Dingen eine unerträgliche Plage der Menschheit ist. Wir schafften es ab. Ein Künstler oder Wissenschaftler hat die vollständige Kontrolle über alle notwendigen Materialien, wir alle besitzen unsere Werkzeuge und Hilfsmittel, doch es gibt kein Eigentum für Handel und Spekulation. All dieses militante Eigentum, dieses Manövereigentum, ist ganz abgeschafft worden."

Diese utopische Gesellschaft ist möglich geworden durch eine Veränderung im Denken der gesamten Bevölkerung:

Eine wachsende Zahl von Menschen sah allmählich ein, daß inmitten der mächtigen und leicht freizusetzenden Kräfte, die Wissenschaft und Organisation in menschliche Reichweite gebracht hatten, die alte Konzeption des gesellschaftlichen Lebens im Staat als ein begrenzter und legalisierter Kampf von Männern und Frauen um den eigenen Vorteil zu gefährlich geworden war, ebenso wie die wachsende Grausamkeit moderner Waffen die eigenständige Souveränität der Nationen zu gefährlich werden ließ. Es waren neue Ideen und neue Konventionen menschlichen Zusammenlebens notwendig, wenn die Geschichte nicht in Katastrophe und Zusammenbruch enden sollte...

Die Idee des Eigentumswettbewerbs als die herrschende Vorstellung des Zusammenlebens erwies sich wie ein unkontrollierter Dampfkessel, der die Maschine, die er vorher angetrieben hatte, zu verschlingen drohte. Die Idee des kreativen Dienstes mußte sie ersetzen. Der menschliche Geist und Wille mußte sich dieser Idee zuwenden, wenn das gesellschaftliche Leben gerettet werden sollte. Vorschläge, die in früheren Zeiten als beflügelter und begeisterter Idealismus erschienen wären, wurden nun allmählich nicht nur als nüchterne psychologische Wahrheit, sondern als praktische und dringend notwendige Wahrheit anerkannt.

Die utopische Gesellschaft wurde nicht durch eine plötzliche Revolution herbeigeführt, sondern durch eine allmähliche Ausbreitung des Lichts, eine Dämmerung neuer Ideen. Langsam hatte sich die Menschheit veredelt, sowohl körperlich als auch intellektuell, und sie veredelte sich auch weiterhin dank der Verbesserung der ökonomischen Bedingungen und des Fortschritts im Studium der Eugenik und Erziehung.

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Einer der Erdlinge, die sich plötzlich in Utopia wiederfanden, war beeindruckt von der Schönheit der unbekleideten Körper der Einwohner, doch nachdem er sich wenige Stunden mit ihnen unterhalten hatte, stellte er fest, daß die Überlegenheit ihrer Körper nichts war verglichen mit der Überlegenheit ihres Geistes:

Es liegt in der Natur der Sache, folgendermaßen zu beginnen: Der Geist dieser Kinder des Lichts war unbeschadet von jeglichen so grausamen Spannungen, Verheimlichungen, Zweideutigkeiten und Unwissenheiten aufgewachsen, die den sich entwickelnden Geist eines Erdlings verkrüppeln. Sie waren klar und offen und direkt. Sie hatten nie jenen abwehrenden Argwohn gegenüber dem Lehrer, jenen Widerstand gegen Belehrung entwickelt, womit man natürlicherweise auf einen Unterricht antwortet, der eine halbe Aggression ist. Sie waren wunderbar unbedacht in ihren Gesprächen. Die Ironien, Verheimlichungen, Unaufrichtigkeiten, Nichtigkeiten und Angebereien irdischer Konversation schienen ihnen unbekannt.

Die gesellschaftliche Organisation von <A Modern Utopia> offenbart Wells' Mißtrauen gegenüber der menschlichen Natur und dem instinktiven Leben, doch in <Menschen Göttern gleich> verurteilt er die Unterdrückung der animalischen Instinkte und Gelüste:

Ganz allmählich hatte Utopia seine gegenwärtige Harmonie in Gesetz und Erziehung entwickelt. Der Mensch war nicht mehr verkrüppelt und unterdrückt; man gestand ihm zu, daß er im wesentlichen ein Tier war, und daß er im täglichen Leben seine Gelüste befriedigen und seine Instinkte ausleben mußte. Der Alltag des utopischen Lebens bestand aus verschiedenem und abwechslungsreichem Essen und Trinken, aus freier und unterhaltender Übung und Arbeit, aus süßem Schlaf und dem Reiz und Glück furchtloser und nicht gehässiger Liebe. Verbote waren auf ein Minimum reduziert. Erst wenn das Tier befriedigt und besänftigt war, begann die Macht der utopischen Erziehung. Das Juwel auf dem Haupt des Reptils, das Utopia aus den Wirren menschlichen Lebens herausgebracht hatte, war Neugier, der Spieltrieb in das Erwachsenenleben verlängert und ausgedehnt als ein unersättlicher Wissensdurst und ein ständiger schöpferischer Drang. Alle Utopier waren wie kleine Kinder, Lernende und Schaffende.

 

Die Erziehung hat nicht mehr die Entwicklung der Selbstkontrolle und Unterwerfung des Kindes zum Ziel, sondern sein natürlicher Spiel- und Lerntrieb werden gefördert... das Wachstum seiner Phantasie wird beobachtet und ermutigt... es wählt die Arbeit, die ihm Spaß macht und die es tun will. Das heißt nicht, daß man den natürlichen Lauf aller Instinkte zuläßt. 

Wells macht einen liberalen Gebrauch von der Sublimation, wie Psychoanalytiker es ausdrücken würden: Die sexuellen Leidenschaften des Kindes werden gegen seine Selbstsucht gerichtet, seine Neugier erblüht zu wissenschaftlicher Leidenschaft, seine Kampfeslust richtet sich gegen die Unordnung, sein angeborener Stolz und Ehrgeiz bemühen sich um einen ehrenhaften Anteil an den gemeinsamen Errungenschaften.

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Die brutalen Steuerungsmethoden in <A Modern Utopia> sind durch die raffiniertesten Erziehungs­methoden ersetzt worden. So gibt es zum Beispiel in Utopia keine Bestrafung für die Müßigen, sie werden jedoch keine Liebhaber finden, denn niemand in Utopia liebt jemanden, der weder Energie noch Würde besitzt. Strenge Ehegesetze sind hier nicht vorhanden; Verbindungen werden frei geschlossen und frei aufgelöst, Frauen sind nicht verpflichtet, Kinder zu gebären und tun es nur nach reiflicher Überlegung und Vorbereitung. In Utopia gibt es keine Fesseln. Körperliche Liebe wird als etwas Natürliches und Schönes betrachtet, und Kinder reden darüber ohne ein Gefühl der Befangenheit. Die Regierung ist in Utopia durch die Erziehung ersetzt worden:

Utopia hat kein Parlament, keine Politik, kein Privateigentum, keinen Handelswettbewerb, weder Polizei noch Gefängnisse, keine Idioten, weder Schwachsinnige noch Krüppel, und zwar deshalb nicht, weil es Schulen und Lehrer gibt, die alles sind, was Schulen und Lehrer sein können. Politik, Handel und Wettbewerb sind die Steuerungsmethoden einer rohen Gesellschaft. Solche Steuerungsmethoden sind in Utopia vor mehr als tausend Jahren abgeschafft worden. Erwachsene Utopier brauchen weder Gesetz noch Regierung, denn jegliches Gesetz und jegliche Regierung, die sie benötigen, haben sie in ihrer Kindheit und Jugend erhalten.

Die Kinder werden in großen Siedlungen erzogen, wo sie sorgfältig von Angst, schlechten Einflüssen und Schrecken für ihre Phantasie abgeschirmt werden, und man lehrt sie Sauberkeit, Wahrheitsliebe, Hilfsbereitschaft, Vertrauen in die Welt und ein Zugehörigkeitsgefühl zum großen Ziel der Menschheit. Mit neun oder zehn gehen die Kinder hinaus in die Welt, und während ihre Erziehung bis zu diesem Alter hauptsächlich in den Händen von Kinderfrauen und Lehrern liegt, spielen anschließend die Eltern eine größere Rolle bei der Erziehung ihrer Kinder. Obwohl die Eltern praktisch keine Macht über einen Sohn oder eine Tochter haben, werden sie natürlicherweise die Fürsprecher und Freunde ihrer Kinder.

Jeder junge Utopier lernt die fünf Prinzipien der Freiheit. Das erste ist das Prinzip der Privatheit: Das heißt, daß alle individuellen persönlichen Fakten privat sind zwischen dem Bürger und der öffentlichen Organisation, der er sie anvertraut, und nur zu seinem Vorteil und mit seinem Einverständnis benutzt werden können... solche Fakten sind zu statistischen Zwecken zugänglich, jedoch nicht als individuelle, persönliche Fakten.  

Dieses Prinzip wird umso dringlicher hervorgehoben, da Wells, wie in <A Modern Utopia>, darauf besteht, daß jeder in der Kartei erfaßt wird und daß der Aufenthaltsort jeder Seele auf dem Planeten der utopischen Organisation bekannt ist. Die offensichtlichen Gefahren der Einmischung und Erpressung seitens derer, die sich im Besitz dieser intimen persönlichen Daten befinden, muß verhindert werden, indem man die Privatheit zu einem heiligen Recht macht.

Das zweite Prinzip ist die Freizügigkeit: Ein Bürger, der seine öffentlichen Verpflichtungen gebührend erfüllt, darf sich ohne Erlaubnis oder Erklärung an jeden Ort des Planeten begeben. Alle Verkehrsmittel stehen ihm frei zur Verfügung. Jeder Utopier darf seine Umgebung, Klima und soziales Umfeld wechseln, wenn er will.

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Das dritte Prinzip ist Unbegrenztes Wissen: Alles, was in Utopia bekannt ist, außer individuellen, persönlichen Daten über lebende Personen, ist aufgezeichnet und so leicht zugänglich, wie es perfektionierte Karteien, Bibliotheken, Museen und Auskunftsbüros möglich machen.

Das vierte Prinzip der Freiheit ist: Lüge ist das schlimmste Verbrechen; die ungenaue Behauptung von Tatsachen und sogar die Unterdrückung wesentlicher Tatsachen wird in Utopia als Lüge betrachtet.

Das fünfte Prinzip ist die Freie Diskussion und Kritik; jeder Utopier kann alles im ganzen Universum frei kritisieren und diskutieren, vorausgesetzt, er lügt nicht; er kann so respektlos sein wie er will und jeden noch so subversiven Vorschlag machen. Obwohl Wells in <Menschen Göttern gleich> viele seiner bürgerlichen Konzeptionen opfert, kann er sich nicht mit einem kommunistischen System anfreunden. 

Geld in Form von Münzen oder Scheinen wird nicht mehr benutzt, da alle Transaktionen von Banken vorgenommen werden. Jedes Kind erhält bei seiner Geburt aus dem gemeinsamen Fond eine Summe, die ausreichend ist für seine Erziehung und für seinen Lebensunterhalt bis zum Alter von fünfundzwanzig Jahren, doch dann erwartet man von ihm, daß er einen Beruf wählt und seinen Betrag ersetzt. Tatkräftige und schöpferische Leute erhalten oft umfangreiche Stipendien, um ihre Arbeit durchzuführen, und Künstler werden manchmal reich, wenn große Nachfrage nach ihren Werken besteht. Die Beibehaltung der Löhne scheint in Utopia eine geringe Rolle zu spielen und nur darauf zurückzuführen zu sein, daß Wells Kommunisten wie William Morris nicht nachgeben will.

 

Er scheint sich jedoch eine gleichermaßen fundamentale Frage gestellt zu haben, denn trotz allem, was er in <A Modern Utopia> gesagt hatte, hat er eine weise, tolerante, edle, vollkommene Rasse beschrieben, die sich jedoch nicht fundamental von unserer eigenen unterscheidet. In Utopia, sagt er,

hatte es in den letzten zwölf Jahrhunderten eine gewisse bewußte Ausrottung der häßlichen, bösartigen, engstirnigen, dummen und beschränkten Typen gegeben; doch abgesehen von der besseren Realisierung seiner latenten Möglichkeiten, unterschied sich der gewöhnliche Mensch in Utopia kaum von den durchschnittlich tatkräftigen und fähigen Leuten in einer Gemeinschaft der späten Steinzeit und frühen Bronzezeit. Sie waren unendlich viel besser ernährt, geübt und ausgebildet, und ihre geistige und körperliche Verfassung war einwandfrei und kerngesund, doch sie waren aus demselben Fleisch und Blut wie wir.

<Menschen Göttern gleich> ist die letzte Utopie in der klassischen Tradition, und man mag sich wohl fragen, ob Wells sich nicht auch als der letzte utopische Schriftsteller erweisen wird. Das Interesse an utopischer Literatur ist jedoch bei weitem nicht vom Aussterben bedroht. Lewis Mumford hat eine umfangreiche Studie der <Geschichte der Utopien> gewidmet, worin er eine kritische Analyse mit einigen interessanten eigenen Vorschlägen verbindet. Erst kürzlich gab Ethel Mannin in <Brot und Rosen> einen Überblick über die verschiedenen Utopien und stellte uns ihre eigene vor.

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Diese Schriftsteller bekräftigen weiterhin den Willen zur Utopie und wiederholen Oscar Wildes berühmten Ausspruch: "Eine Weltkarte, auf der Utopia nicht verzeichnet ist, ist noch nicht einmal einen flüchtigen Blick wert, denn auf ihr fehlt das einzige Land, wo die Menschheit immer landet. Und wenn die Menschheit dort landet, hält sie Ausschau, und wenn sie ein besseres Land sieht, setzt sie die Segel. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien."

Der Trend in der modernen Literatur wird nichtsdestoweniger in wachsendem Maße anti-utopisch. Utopia wird nicht mehr als idealer, nicht zu verwirk­lichender Traum betrachtet, sondern als schon teilweise realisiert oder im Begriff der Realisierung. Es bedeutet nicht mehr Glück, Vollkommenheit und Fortschritt; für viele ist der Traum zum Alptraum geworden.

Die Prophezeiung von Nikolaj Berdjajew scheint Wirklichkeit zu werden: Utopien, sagt er,

erscheinen heute sehr viel realisierbarer als in der Vergangenheit. Und wir sehen uns einem sehr viel beunruhigenderen Problem gegenüber: Wie können wir ihre endgültige Realisierung verhindern?... Utopien können realisiert werden. Das Leben marschiert auf die Utopie zu. Und vielleicht beginnt ein neues Jahrhundert, ein Jahrhundert, in dem die Intellektuellen und die gebildeten Klassen von den Mitteln träumen, mit denen Utopien verhindert werden können und wie wir zu einer nicht utopischen Gesellschaft zurückkehren können, die weniger 'vollkommen' ist und freier.

Die Behauptung, das zwanzigste Jahrhundert lebe die Utopien der Vergangenheit, ist vielleicht ungerechtfertigt. Eine Welt, die innerhalb einer Zeitspanne von dreißig Jahren zwei große Kriege erlebt hat, eine von Epidemien und Hunger verwüstete Welt, kann wohl kaum mit den Utopien verglichen werden, die Armut und Arbeitslosigkeit abschaffen und sogar eine Weltregierung errichten wollen, die dem Krieg ein Ende macht. 

Doch es entspricht wohl zum großen Teil der Wahrheit, daß die Struktur der Gesellschaften, die frühere Utopisten befürwortet hatten, Wirklichkeit geworden ist, und da die Ergebnisse uns kaum an die versprochenen Erwartungen erinnern, mag man wohl mit einigem Recht vermuten, daß die Struktur falsch ist.

Wenn das zwanzigste Jahrhundert versucht hat, die utopischen Pläne der Vergangenheit durchzuführen, hat es elendig versagt; es hat allmächtige Staaten geschaffen, die die Kontrolle über Produktions- und Distributionsmittel besitzen, die jedoch den Hunger nicht abgeschafft haben; Staaten, die wissenschaftliche Entdeckungen fördern und die Produktion entwickeln, es jedoch nicht schaffen, jedem Bürger einen anständigen Lebensstandard zu sichern; Staaten mit dem Anspruch, vollkommene Gleichheit zu errichten, die jedoch neue privilegierte Klassen und neue Ungleichheiten hervorgebracht haben, die vielleicht noch erschreckender sind als die alten; Staaten, die die Menschen in taylorisierte Roboter verwandelt haben, die den Maschinen, die sie bedienen, untergeordnet sind und von der Propaganda verroht werden; Staaten, die Bedingungen geschaffen haben, wo jegliches individuelle Denken als ein Verbrechen betrachtet wird, wo Literatur, Musik und Kunst nicht mehr ein individueller Ausdruck sind, sondern stattdessen das Regime preisen, wo die Sklaverei unter der alten Religion durch die Sklaverei unter dem Staat und seinen neuen Göttern ersetzt wurde.

Haben diese Utopien tatsächlich den Geist der Menschen verraten, die sie entwarfen?

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Diese Menschen liebten Autorität, sie waren überzeugt, daß man dem Volk sagen mußte, was gut für es war, sie wollten Ordnung um jeden Preis, auch den der Bürokratie, sie haßten Individualität, sie hatten einen engstirnigen, inhumanen Geist. Wir können uns vorstellen, daß Gäbet Beatrice und Sidney Webb auf ihrer Reise in das Land der Sowjets begleitet, und aller Wahrscheinlichkeit nach wäre sein Bericht ebenso begeistert ausgefallen wie ihrer. Für Bellamy hätten wohl das faschistische Italien und Nazi-Deutschland viele verführerische Züge gehabt, und sicherlich hätte er Englands Arbeitsdienst, die Verstaatlichung der Industrien, das Rationierungssystem und andere neuere Entwicklungen bewundert.

Doch diese Utopien sind nicht nur durch die Brille der Nachfolgeutopisten des neunzehnten Jahrhunderts betrachtet worden, wohlmeinende Fabier oder kommunistische Geistliche. Manchmal sind sie von Journalisten betrachtet worden, die auf der Suche nach Fakten waren und über ihre Mission in Utopia berichteten, oder von Schriftstellern mit einem kritischen Geist bezüglich gesellschaftlicher Fragen, die, wie Andre Gide, nicht zögerten, ihre Enttäuschung über das Land auszudrücken, wo, wie sie geglaubt hatten, sich die Utopie auf dem Weg der Realisierung befand. Diese Bücher verärgerten jene, deren Ordnungsliebe untrennbar ist von ihrer Vorliebe für Tyrannen*, doch sie schufen auch ein weitverbreitetes Mißtrauen gegenüber dem Staatssozialismus, wie ihn die Utopisten des neunzehnten Jahrhunderts befürworteten.

Die Hauptrichtung in der Literatur zwischen den beiden Weltkriegen war äußerster Skeptizismus bezüglich der Möglichkeit des Staates, die Gesellschaft zu transformieren. Das Entstehen neuer Regierungssysteme, offen kommunistisch oder verwaschen sozialistisch, jedoch immer totalitär und stets bereit, das Individuum den Interessen des Staates zu opfern, zwang die Intellektuellen, entweder eine Haltung vollständiger Unterwerfung unter den Staat anzunehmen und somit kaum mehr zu sein als bezahlte Propagandisten oder trotzig die Rechte des Individuums zu behaupten.

Es fand auch eine Abwendung vom Glauben an die Unvermeidlichkeit des Fortschritts statt. Für die meisten Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts führten wissenschaftliche Entdeckungen und industrielle Entwicklung automatisch zu größerem Glück der Menschheit, doch moderne Generationen sehen sowohl die Vorteile als auch die Gefahren, die der Fortschritt mit sich bringen kann. Die Maschinen erscheinen nicht mehr als die Befreier der Menschheit, indem sie, wie Oscar Wilde es erträumte, die Sklaven der Menschen würden; eher erscheinen sie als die Herren über die Menschen. 

Der moderne Arbeiter erkennt sich in Charlie Chaplin wieder, der verzweifelt gegen die Höllenmaschinerie der <Modernen Zeiten> ankämpft. Und wir haben die Befürchtung, daß uns sogar Lord Lyttons gehorsame Roboter aus den Händen gleiten. Diese Befürchtung ist in Dutzenden von Romanen, Filmen, Schauspielen und sogar Comic Strips geäußert worden, von Capeks R.U.R. bis zu einer kürzlich erschienenen amerikanischen Geschichte mit dem Titel Gefaltete Hände (Folded Hands), die eine Invasion der Erde durch Roboter von einem fremden Planeten beschreibt. Sie gehorchen einer "obersten Direktive", die sie zwingt, alle unangenehmen und gefährlichen Aufgaben zu übernehmen, die sonst von Menschen verrichtet wurden. Die Menschheit erhält die Freiheit zur Muße, doch es überkommt sie die Verzweiflung.

* Tocqueville, Über Demokratie in Amerika, zitiert von Andre Gide in Back from the U.S.S.R.

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Dies ist nicht der Ort, das Problem Mensch kontra Maschine zu diskutieren; es soll nur darauf hingewiesen werden, daß der Glaube an die Maschine als ein Mittel zum menschlichen Glück, der in den Utopien des neunzehnten Jahrhunderts eine so wichtige Rolle spielt, durch ein Mißtrauen und sogar Furcht vor der Maschine verdrängt worden ist und diese Utopien ihres Glanzes beraubt hat.

 

Ein weiterer Schlag ist der utopischen Literatur versetzt worden, als moderne Schriftsteller darauf bestanden, das Problem Mensch kontra Staat zu diskutieren. Die Mehrzahl der Utopien nahm an, daß die Interessen des Individuums sich mit denen des Staates trafen und daß ein Konflikt zwischen den beiden undenkbar wäre. Moderne Schriftsteller haben dagegen alle möglichen Konflikte zwischen Staat und Individuum behandelt. 

Das Individuum mag einer der cafoni sein, die Ignazio Silone* beschrieben hat, oder einer der hungernden, von Malaria befallenen Bauern, die Carlo Levi in Süditalien kennengelernt hat; es mag ein Dichter sein, der eher Selbstmord begeht, als ein Hindernis in der Propagandamaschine zu werden; es mag ein Soldat Schwejk sein; es mag ein alter Revolutionär sein, der auf die Verleugnung seiner Ideale reduziert wird; es mag Beamter oder SA-Mann sein; oder es mag einer von Kafkas Charakteren sein, der gegen Autorität, gegen die blinde Dummheit von Gesetz und Bürokratie kämpft. Wir alle haben uns schon das eine oder andere Mal gefühlt wie K. in <Der Prozeß>, verloren und wehrlos, vollkommen unfähig, die Bedeutung der Maschinerie zu verstehen, die unser Leben regelt und oftmals beherrscht. Kafkas Gesellschaftskritik richtet sich nicht gegen irgendeinen besonderen Staat, sondern seine Kämpfe sind die jedes modernen Menschen.

Utopische Schreiber haben gern vergessen, daß die Gesellschaft ein lebender Organismus ist und daß ihre Organisation ein Ausdruck des Lebens sein muß und keine tote Struktur. Die Erkenntnis dieser Tatsache führte zeitgenössische Schriftsteller zu Angriffen gegen den Staat und jede Form von Autorität, ob sie nun von der Religion oder von politischen Parteien ausgeht, und sie kehrten zum Ideal der unabhängigen Gemeinschaften zurück, die in freier Vereinigung verbunden sind und die besten Möglichkeiten für die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit bieten. 

Sie haben wieder die Notwendigkeit einer wahren Ethik geltend gemacht, die nicht wie ein Katechismus in der Schule gelehrt wird und sich auf Gehorsam gegenüber Autoritäten gründet, die nicht Opfer und Kompromisse zum Wohle der Gemeinschaft rechtfertigt, sondern das Recht des Individuums auf eigenständiges Denken und Wahrung seiner Freiheit bekräftigt, denn ein Mensch, der nicht frei ist, kann kein würdiges Mitglied der Gemeinschaft sein; wenn er seine Individualität, seine Initiative, ja sogar seinen rebellischen Geist opfert, schadet er der Gemeinschaft, anstatt ihr zu dienen.

Dieser Abschnitt aus Silones Schule der Diktatoren richtet sich zwar gegen bestehende Institutionen, aber er könnte auch eine Verurteilung autoritärer Utopien sein:

Maschinen, die Instrumente des Menschen sein sollten, versklaven ihn, der Staat versklavt die Gesellschaft, die Bürokratie versklavt den Staat, die Kirche versklavt die Religion, das Parlament versklavt die Demokratie, Institutionen versklaven die Gerechtigkeit, Akademien versklaven die Kunst, die Armee versklavt die Nation, die Partei versklavt ihre Sache, die Diktatur des Proletariats versklavt den Sozialismus.

* Das zum Thema "Utopie" passende Buch von Silone: "Das Abenteuer eines arme Christen", Köln/Berlin 1969 (Anm. d. Hrsg.).

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Noch nachdrücklicher sagt es Herbert Read

Ich glaube, die einzige Idee von einer Gesellschaft, die die persönliche Integrität garantieren könnte, ist die Negation der Idee von Gesellschaft. Jedem Schritt auf die Gemeinschaft zu muß eine Bestätigung der individuellen Freiheit folgen. Jedes Gesetz muß seine Überschreitung zulassen. Dem Geringsten muß die größte Macht verliehen werden. Jede Regierungshandlung muß mit einem begrenzten Dienst und einem vorübergehenden Amt verbunden sein. Die Kontinuität des Lebens sollte so unsichtbar sein wie der vorherrschende Wind. Keine dröhnenden Trommeln, keine wehenden Fahnen; kein Salutieren, kein Niederknieen, keine marschierenden Truppen, keine singenden Chöre; nur die leise kleine Stimme und der üppige Weizen.

Politiker und Staatsmänner führen uns jeden Tag näher an die Realisierung der Utopien, indem sie immer sorgfältiger das Leben der Individuen überwachen.

In diesem Land ist die Regierung noch nicht so weit gegangen wie in Ikarien, eine Liste von Nahrungsmitteln herauszugeben, die die Nation essen oder meiden soll, doch durch Rationierung und Importkontrollen bestimmt sie in großem Maße, was wir essen sollen; während des Krieges beschränkte sie die Frauenmode mehr aus nützlichen als aus ästhetischen Gründen, und sie veränderte sogar die Männerkleidung; durch die Papierkontrolle hat sie ein beträchtliches Mitspracherecht bei dem, was gedruckt werden soll, und der Arbeitsdienst läßt uns zwar mehr Hintertürchen als in Utopia, aber er führt die Arbeitspflicht für jeden Bürger, ein. 

Mit der Sozialversicherung kommt ein weiterer Lieblingsgrundsatz der meisten Utopien zur Anwendung, nämlich daß die Gemeinschaft für die Kranken, Alten, Arbeitslosen und Kinder verantwortlich ist — hier natürlich auf das kümmerliche Niveau des Beveridge Plans reduziert. Auf industriellem und wissenschaftlichem Gebiet sind die utopischen Erfindungen erreicht und sehr oft übertroffen worden. Doch je utopischer die Welt wird, desto wahrer wird Berdjajews Prophezeiung: Intellektuelle träumen davon, die Verwirklichung von Utopien zu vermeiden und zu einer weniger vollkommenen, doch freieren Gesellschaft zurückzukehren.

 

Die oben zitierten Schriftsteller sind keine Einzelkämpfer für eine antiutopische Welt.

Jean-Paul Sartre, Andre Breton und Camus in Frankreich, Henry Miller und Dutzende junger Dichter und Schriftsteller, Katholiken wie Eric Gill und Georges Bernanos, Soziologen und Biologen wie Lewis Mumford und Patrick Geddes, Romanschriftsteller wie E.M. Forster, Rex Warn er und Graham Greene in Amerika — sie alle führten den Kampf des Individuums gegen den Staat. 

Einige haben sogar satirische Utopien verfaßt, Visionen der zukünftigen Welt, wo der Mensch das Gefühl seiner Einzigartigkeit vollständig verloren hat, vollkommene Gesellschaften, wo die Menschen leistungsfähige Maschinen geworden sind, unfähig zu jeglichem starken Gefühlserleben. Es ist schwer zu sagen, in welchem Ausmaß diese Antiutopien gegen die Utopien der Vergangenheit oder gegen die Realisierungen und Trends unserer modernen Gesellschaft gerichtet sind.

Samjatins <Wir>, Ende der zwanziger Jahre in Rußland erschienen, hatte offensichtlich das Sowjetregime zum Vorbild, und Aldous Huxleys <Schöne neue Welt>, zum ersten Mal 1932 erschienen, die in vieler Hinsicht an Samjatins Roman erinnert, soll eine Satire auf das moderne Amerika sein. <Farm der Tiere> von George Orwell (1945) konnte nur von jenen als satirische Utopie angesehen werden, die nicht die Geschichte Rußlands während der letzten dreißig Jahre verfolgt haben.

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Samjatins Antiutopie ist eine Antizipation. Er beschreibt die Gesellschaft, wie sie vermutlich tausend Jahre nach der Errichtung des Einzigen Staates über die ganze Welt bestehen wird, am Vorabend der Eroberung des gesamten Universums dank einer gewaltigen Maschine, die zu anderen Planeten reisen kann. 

Im Einzigen Staat wird das Leben mit mathematischer Präzision geregelt, alles wurde auf mathematische Gleichungen zurückgeführt; Männer und Frauen tragen eine deutlich sichtbare Goldplakette mit ihrer Nummer: Kein Mitglied der Gesellschaft ist ,einer', sondern ,einer unter', 'einer von', so sehr gleichen wir uns. Der Staat wird von einem <Wohltäter> regiert, dessen Gehilfen, <die Wächter>, als wahre Erzengel gelten; sie kennen jede Bewegung und sogar jeden Gedanken jedes Bürgers, denn sie erfüllen sowohl die Rolle des Beichtvaters als auch die des Polizeispitzels. 

Ein Stundenplan hat in jedem Raum die Ikone ersetzt; arbeiten, essen, schlafen, Geschlechtsverkehr werden vom Stundenplan streng geregelt. Auf der Rückseite der Goldplakette, die jeder Bürger trägt, befindet sich eine Uhr, die schon fast Bestandteil des menschlichen Mechanismus geworden ist; auch unter dem Eindruck, starker Gefühle kann er die Zeit dazu innerhalb weniger Minuten veranschlagen. 

So etwas wie Privatleben des Individuums gibt es nicht; es wird nicht nur seine Post geöffnet, bevor er sie erhält, er ist nicht nur verpflichtet, den Wächtern alle Unregelmäßigkeiten zu melden, sondern ein geschickt versteckter akustischer Apparat zeichnet alle Unterhaltungen auf der Straße für das Büro der Wächter auf. Die Aufgabe der Wächter wird darüber hinaus vereinfacht durch die Tatsache, daß alle Häuser gläserne Wände haben, so daß sie auf den ersten Blick erkennen können, was in jeder Wohnung vor sich geht. Nur während der Sexualitätsstunde ist es erlaubt, die Vorhänge zuzuziehen: 

Nur an den Sexualitätstagen dürfen wir die Vorhänge benutzen. Sonst leben wir immer öffentlich in unseren durchsichtigen Wänden, scheinbar eingesponnen in die glitzernde Luft, gebadet in Licht, denn wir haben nichts zu verbergen, und diese Sitte macht die Aufgabe des Wohltäters weniger anstrengend und beschwerlich. Denn wer weiß, was sonst geschehen könnte? Vielleicht waren die undurchsichtigen Häuser der Vorfahren für die Entstehung ihrer elenden Zellenpsychologie verantwortlich.

Das Sexualleben findet nach wissenschaftlichen Prinzipien statt. Das Büro für Sexualität analysiert die Hormone jedes Bürgers und erstellt eine Tabelle der Sexualitätstage. Eine Person erklärt anschließend, daß er oder sie diese oder jene Nummer oder Nummern haben möchte und erhält ein Heft mit rosa Karten, von denen jede zu einer Sexualitätsstunde berechtigt. Die rosa Karte kann für jede "Nr." benutzt werden, denn es gilt der Grundsatz, daß einer allen gehört und alle einem. Frauen dürfen nur dann Kinder bekommen, wenn sie bestimmten Normen entsprechen und wenn sie dagegen verstoßen, werden sie mit dem Tode bestraft.

Das Ideal dieser Gesellschaft der Zukunft ist es, so "vollkommen wie eine Maschine" zu werden; das Taylorsystem wird nicht nur bei der Arbeit, sondern auf das ganze Leben angewandt, bei jedem Schritt, bei jeder Bewegung. Die Menschen essen synthetische Nahrung, tragen eine synthetische Uniform, werden in der Schule von Robotern unterrichtet, hören synthetische Musik, die von einem Musikometer produziert wird, mit Hilfe dessen jeder, durch Betätigung eines Hebels, bis zu drei Sonaten in der Stunde produzieren kann.

282


Es werden zwar noch Wahlen durchgeführt, doch man kann sich schon denken, daß der Wohltäter immer hundert Prozent der Stimmen erhält, und der Wahltag heißt zutreffend Tag der Einmütigkeit. Freiheit gilt nicht nur als unnötig, sondern als gefährlich:

Freiheit und Verbrechen sind so eng miteinander verbunden, wie zum Beispiel die Bewegung eines Flugzeugs mit seiner Geschwindigkeit. Wenn die Geschwindigkeit eines Flugzeugs gleich null ist, bleibt es bewegungslos; wenn die Freiheit eines Menschen gleich null ist, kann er zweifellos kein Verbrechen begehen. Der einzige Weg, einen Menschen vom Verbrechen zu erlösen, ist, ihn von seiner Freiheit zu erlösen.

Es gibt jedoch auch tausend Jahre nach der Errichtung des Einzigen Staates noch Rebellen gegen das System, Menschen, die die Gesetze brechen oder unorthodoxe Ideen äußern, Frauen, die sich Kinder wünschen, obwohl sie einen Zoll kleiner sind als die Norm vorschreibt; doch mit diesen Aufsässigen gibt es kein Mitleid. Wenn sie nicht bereit sind, ihr Verbrechen zu gestehen, werden sie unter riesige Glocken gesetzt, in denen die Luft das eine Mal verdünnt, das andere Mal durch besondere Gase ersetzt wird. Das führt entweder zu einem Geständnis oder zum Tod. Spektakulärere Hinrichtungen werden öffentlich von der Maschine des Wohltäters durchgeführt, eine Art monumentaler elektrischer Stuhl, der den menschlichen Körper innerhalb von wenigen Sekunden auf ein paar Tropfen Wasser reduziert. Er wird vom Wohltäter selbst bedient, der somit die Rolle des Vollstreckers ausfüllt.

Einer der seltsamsten Züge des Einzigen Staates ist, daß jede Stadt von einem Grünen Wall umgeben ist, und niemand darf sich außerhalb aufhalten. In dem Niemandsland zwischen den einzelnen Städten leben Männer und Frauen, die scheinbar einer anderen Spezies angehören, Überreste der alten Zivilisation. Sie sind die Überlebenden des freien, instinktiven Lebens, und sie haben ihre Verbündeten innerhalb der Stadtmauern, Männer und Frauen, die besessen sind von einer Sehnsucht nach der Vergangenheit, dem Wunsch nach Gefahren, Leiden und Abenteuer. Als diese versuchen zu revoltieren, führt der Staat eine längst überfällige Reform durch — die zwangsweise Zerstörung der menschlichen Vorstellungskraft, eine einfache Gehirnoperation, die für immer jedes Verlangen nach Freiheit, jeden unbefriedigten Wunsch, alle Skrupel und Gewissensbisse ausrottet.

Samjatins Satire ist von einer Heftigkeit und Verbitterung, die man in Huxleys <Schöne neue Welt> nicht findet und die vermuten läßt, daß sie mehr als eine akademische Antizipation war. Die Rolle der Polizei, die Folter- und Hinrichtungsmethoden, die bedrückende Atmosphäre offizieller und halb-offizieller Informanten werden offensichtlich auf der Grundlage genauester Kenntnis beschrieben. 

Obwohl das Buch mit dem vollständigen Sieg des Einzigen Staates endet, der die Vorstellungskraft aller seiner Bürger zerstören kann, zeigt der Rückgriff auf dieses äußerste Mittel die Schwäche des Totalitarismus. Tausend Jahre Propaganda haben es nicht geschafft, die Menschen in vollkommene Maschinen zu verwandeln; um das zu erreichen, ist eine Gehirnoperation notwendig.

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Noch drastischere Mittel sichern die Stabilität in Huxleys <Schöne neue Welt>: erstens gibt es die Konditionierung der Retortenbabies, dann die Konditionierung durch Hypnopädie, die Vermittlung moralischer Werte während des Schlafs, die Neo-Pawlowsche Konditionierung der kindlichen Reflexe, und für Erwachsene gibt es Soma, die wunderbare Droge, die jegliche Unzufriedenheit, schlechte Laune, Unmut oder Verbitterung heilt. 

Das hat zur Folge, daß die Korrektive sehr viel milder sein können als in Samjatins Einzigem Staat; es gibt keine Folterinstrumente oder Henker, die Verbrecher gegen den Staat werden auf eine weit entfernte Insel geschickt, wo, wie man sich denken kann, das Leben wenig reizvoll ist, wo Aufstände durch Somagas und aufputschende Lautsprecherreden unterdrückt werden.

Utopien haben für ihre Bewohner oft rigide Stundenpläne aufgestellt und sogar ihre Freizeit geplant.

In <Schöne neue Welt> hat der Mensch theoretisch die Freiheit, seine Freizeit zu nutzen, wie es ihm beliebt, doch auf Grund seiner Konditionierung ist er nicht in der Lage, mit sich allein zu sein oder in Eigeninitiative ein persönliches Glück zu verfolgen. Alle Vergnügungen werden passiv genossen. Es ist noch nicht einmal mehr notwendig, die Vorstellungskraft zu bemühen, wenn man eine Liebesszene im Kino genießen will, denn durch einen bestimmten Apparat werden die visuellen Bilder automatisch in Empfindungen des Hörens, Riechens oder Fühlens übersetzt. Liebe darf es natürlich in einer Gesellschaft, wo heftige Leidenschaften als Gefahr für die Stabilität des Staates gelten, nicht mehr geben; sie ist durch promiskuitiven Geschlechtsverkehr ersetzt worden, der eher als eine hygienische Maßnahme oder nur "aus Spaß" stattfindet, als aus heftiger Leidenschaft.

Doch auch das erstaunliche System der Konditionierung funktioniert nicht immer reibungslos, und es gibt ein paar Leute, die mit der Gesellschaft unzufrieden sind, hier und da ein Individuum, das mehr es selbst sein möchte, "nicht nur eine Zelle im gesell­schaftlichen Körper". Es gibt auch einen Wilden, der durch Zufall aus dem Reservat gekommen ist, wo die Überreste der alten Zivilisation im Interesse der Wissenschaft aufbewahrt werden. Der Wilde ähnelt natürlich sehr einem modernen zivilisierten Menschen mit einem unnatürlichen Verlangen nach Leiden, dem Glauben an selbstverschuldete Unfähigkeit, der Verachtung des Körpers, die ihn schließlich zum Selbstmord treiben.

Sowohl Samjatin als auch Huxley haben eine äußerst gelungene Satire auf das erzwungene Glück, das von totalitären Staaten verordnet wird, geschrieben, doch anstatt das Recht auf freies Glück zu fordern, das aus der Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit resultiert, fordern sie das Recht zu leiden. 

Die Vorstellung, daß Leiden und Enttäuschung schöpferische Notwendig­keiten sind, daß die Seele gedemütigt werden muß, liegt ihrer Utopiekritik zugrunde. Sie sähen gerne eine Rückkehr zur Vergangenheit oder zur Gegenwart, wo die Menschen an Sühne glauben, wo körperliche Liebe sündig ist, wo Eifersucht, Begierde und andere niedrige Leidenschaften den Menschen zur Tat treiben.

Diese Schriftsteller kritisieren die Utopie, weil in ihr kein Raum für Hamlet oder Othello ist, und vergessen, daß zwischen Hamlet und einem menschlichen Roboter noch Raum ist für ein Individuum, das weder Hamlets neurotisches Temperament hat noch ein Roboter ist.

Die autoritären Utopien des 19. Jahrhunderts sind hauptsächlich verantwortlich für die unter heutigen Intellektuellen vorherrschende antiutopische Haltung. Doch Utopien haben nicht immer nur reglementierte Gesellschaften, zentralisierte Staaten und Nationen von Robotern beschrieben.

Diderots <Tahiti> oder Morris' <Kunde von Nirgendwo> waren Utopien, wo die Menschen frei waren, sowohl von körperlichem als auch von moralischem Zwang, wo sie nicht aus Notwendigkeit oder Pflicht­gefühl arbeiteten, sondern weil die Arbeit für sie eine angenehme Tätigkeit war, wo Liebe keine Gesetze kannte und wo jeder Mensch ein Künstler war. 

Utopien waren oft Pläne mechanisch funktionierender Gesellschaften, tote Strukturen, erfunden von Ökonomen, Politikern und Moralisten.
Doch sie waren auch die lebendigen Träume von Dichtern.

284-285

E n d e 

 

 

 

 

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