Teil 2

Utopien der Renaissance

 

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Maresch-2004

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Vom griechischen idealen Gemeinwesen gehen wir nun über zur Renaissance. Das bedeutet nicht, daß währ­end der Zeitspanne von fünfzehn Jahrhunderten der menschliche Geist sich nicht mehr für die Errichtung imagin­ärer Gesellschaften interessierte, und ein vollkommener Überblick über den utopischen Gedanken müßte seine Manifestationen während des Römischen Reiches und vor allem während der folgenden Periode beschreib­en, die im allgemeinen und zu Unrecht das finstere frühe Mittelalter genannt wird. In vielen Legenden jener Zeit findet man, daß der utopische Traum eine Form annimmt wie in den frühen griechischen Mythen.

Mit dem theologischen Denken des Mittelalters wurden die idealen Gemeinwesen auf eine Welt nach dem Tod projiziert, entweder in der mystischen und philosophischen Art von Augustinus' <Vom Gottesstaat> (De Civitate Dei) oder in der poetischen und naiven Form der Erzählung des großen irischen Reisenden St. Brandan. Dieser unerschrockene Mönch erzählt, wie sein Schiff auf einer seiner Reisen gen Norden getrieben wurde und wie er und seine Kameraden nach fünfzehn Tagen ein Land erreichten, wo sie kristallene Kathedralen sahen und wo ein Tag dem anderen folgte ohne Nacht dazwischen, und sie landeten auf einer Insel, die die Wohnstätte der Seligen war. Obwohl in dieser Legende des sechsten Jahrhunderts Utopia mit dem Paradies gleichgesetzt wird, ist die Verbindung einer tatsächlichen Reise mit der Vorstellung einer idealen Insel ein Merkmal, das man in vielen späteren Utopien vorfindet.

Wenn die utopischen Schreiber der Renaissance viel der griechischen Philosophie verdanken, so stehen sie ebenfalls in der Schuld der Kirchenväter und späterer Theologen. Thomas von Aquins <Über die Regierung der Fürsten> (De Regimine Principum), verfaßt im 13. Jahrhundert, enthält einige Passagen, die es wert sind, zitiert zu werden, denn es werden darin Ideen ausgedrückt, die fast allen Utopien der Renaissance gemeinsam sind. Erstens hängt das Glück der Menschheit sowohl von ethischen Prinzipien als auch von materieller Sicherheit ab:

Damit ein einzelner ein gutes Leben führt, wird zweierlei gefordert: Das eine, Hauptsächliche, ist das Handeln nach der Tugend (denn die Tugend ist es, die das Wesen des "guten Lebens" ausmacht) und das zweite, mehr Neben­sächliche und gleichsam als Hilfsmittel Anzusehende, das genügende Vorhandensein des körperlichen Gutes, dessen Gebrauch zu einem Akt der Tugend notwendig ist.

Die Selbstversorgung der Stadt und des umliegenden Landes ist das erstrebenswerte Ziel:

Es gibt nun zwei Wege, auf denen die Stadt über einen Überfluß an allen Dingen verfügen kann. Der eine, von dem wir schon sprachen, ist, daß eine Gegend durch ihre Fruchtbarkeit selbst alles reichlich hervorbringt, was die Notwend­igkeit des menschlichen Lebens verlangt.


Der zweite bedeutet den Gebrauch des Handels, durch den alle Lebensnotwendigkeiten von verschiedenen Orten an diesen Platz gebracht werden. Und es läßt sich in unbedingter Klarheit dartun, daß der erste Weg der zweckentsprechendere ist. Denn ein Ding ist um so mehr wert, je mehr es als sich selbst genügend befunden wird; was eines anderen bedarf, beweist eben darin einen eigenen Mangel. Diese Selbstgenügsamkeit aber wird eine Stadt, der die umliegende Gegend für ihre Lebensbedürfnisse genügend zu bieten vermag, in weit vollerem Maße besitzen, als jene, die es nötig hat, das erst von ändern auf dem Wege des Handels zu erhalten. Und die Stadt, die aus ihrem eigenen Gebiete Überfluß an allen Dingen hat, ist wertvoller als eine Stadt, die nur durch die Tätigkeit der Kaulleute in dieser Lage ist. Zudem scheint das auch eine größere Sicherheit zu bieten. Durch Zufälligkeiten der Kriege oder die verschiedenen Unsicherheiten der Verkehrswege kann es sich leicht ereignen, daß die Zufuhr der Lebensmittel unterbunden wird und die Stadt durch den Mangel daran zugrundegeht.

Thomas von Aquin erkannte die zerstörerische Wirkung des Handels auf die Gemeinschaft:

Sind anderseits wieder die Bürger selbst mit dem Handel beschäftigt, so ist einer ganzen Zahl von Lastern der Weg in die Stadt offen. Da das Streben der Kaufleute sich vor allem auf den Gewinn richtet, wird durch den Betrieb des geschäftlichen Verkehrs die Begehrlichkeit in den Seelen der Bürger erweckt. Die nächste Folge daraus ist, daß im Staate alles käuflich wird, sich alles Vertrauen verliert und für jeden Betrug Platz ist, daß jeder in Verachtung des Gemeinwohls nur seinem persönlichen Vorteil folgt und jedes Bemühen um die Tugend schwindet, da die Ehre, sonst ihr allein als Lohn vorbehalten, nun allen dargeboten wird. In einer solchen Stadt muß das öffentliche Leben notwendig zugrundegehen.

Es wäre für die Schreiber der Renaissance unmöglich gewesen, ihr ideales Gemeinwesen nach dem Vorbild der griechischen Denker zu formen, denn die Gesellschaftsstruktur, die sie vor Augen hatten, war von der des antiken Griechenland grundsätzlich verschieden. Die Städte Athen oder Sparta mit ihrer undurchlässigen Trennung zwischen Bürgern und Sklaven, ihrer primitiven, fast ausschließlich auf Ackerbau begründeten Ökonomie, konnten nicht auf die Gesellschaft des sechzehnten Jahrhunderts übertragen werden, ohne einige radikale Veränderungen durchzumachen.

Die bedeutendste Veränderung betraf die Handarbeit. Für Plato war Handarbeit eine bloße Lebensnotwendigkeit und konnte den Sklaven und Handwerkern überlassen werden, während eine besondere Kaste sich mit den Staatsangelegenheiten beschäftigte. Die Erfahrung der mittelalterlichen Stadt hatte dagegen gezeigt, daß die ganze Gemeinschaft in der Lage war, sich durch ihre Zünfte und Stadträte selbst zu regieren, und daß diese Gemeinschaft ausschließlich aus Produzenten bestand. Somit hatte die Arbeit eine wichtige und geachtete Stellung eingenommen, die sie auch mit dem Zusammenbruch der städtischen Institutionen nicht ganz verlor.

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Alle Utopisten der Renaissance bestehen darauf, daß Arbeit die Pflicht aller Bürger ist, und einige von ihnen, wie Campanella und Andreae, sind der Ansicht, daß alle Arbeit, auch die niedrigste, ehrenhaft ist. Dies war auch nicht nur eine bloße Grundsatzerklärung, sondern spiegelte sich in den Institutionen, die dem Arbeiter wie dem Handwerker, dem Bauern wie dem Schulmeister gleiche Rechte gaben. Diesen utopischen Institutionen nahm man den gewinnsüchtigen Charakter, indem man die Löhne und den Handel abschaffte, und weiterhin war man bestrebt, die Arbeit angenehmer zu machen, indem man die Zahl der Arbeitsstunden verringerte. Diese Institutionen, die uns sehr modern anmuten, gab es in der mittelalterlichen Stadt tatsächlich, wo es praktisch keine gekaufte Arbeitskraft gab und Handarbeit kein Zeichen von Minderwertigkeit war, wie es in der mittelalterlichen Verordnung von Kuttenberg ausgedrückt ist: Jedermann muß an seiner Arbeit Freude haben, und niemand soll sich mit Nichtstun aneignen, was andere mit Fleiß und Arbeit geschaffen haben, weil die Gesetze den Fleiß und die Arbeit beschirmen müssen.* Die utopische Vorstellung von einem kurzen Arbeitstag erscheint uns, die wir gewöhnt sind, in Vorstellungen des neunzehnten Jahrhunderts zu denken, sehr radikal, doch sie ist keine Neuerung verglichen mit einer Verordnung von Ferdinand I. bezüglich der königlichen Kohlenbergwerke, die den Arbeitstag des Bergmanns auf acht Stunden festsetzte. Und Thorold Rogers zufolge arbeiteten die Engländer des fünfzehnten Jahrhunderts fünfundvierzig Stunden in der Woche.

Während des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts verloren die Städte nach und nach ihre Unabhängigkeit, ihr Reichtum begann zu schrumpfen, und bald herrschte unter dem arbeitenden Volk die jämmerlichste Armut. Doch die Erinnerung an die freien Städte war nicht verloren und wurde bewußt oder unbewußt mit der Verfassung eines idealen Staates gleichgesetzt.

Die Utopien der Renaissance führten jedoch einige wichtige Neuerungen ein. Der mittelalterlichen Stadt war es nicht gelungen, sich mit der Bauernschaft zu vereinigen, und dies war eine der Hauptursachen für ihren Verfall. Die Bauern verharrten im Zustand der Sklaverei, und obwohl die Leibeigenschaft in England abgeschafft war, lebten die Bauern in den meisten europäischen Ländern unter Bedingungen, die denen der Heloten in Sparta nicht unähnlich waren. Wie vorher Thomas von Aquin Stellten die utopischen Schreiber des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts fest, daß eine stabile Gesellschaft Stadt und Land, Handwerker und Bauer integrieren und daß die Landarbeit, genau wie das andere Handwerk, eine geachtete Stellung erhalten muß.

Die Bedeutung, die die wissenschaftliche Kultivierung des Landes in den utopischen Schriften erhielt, wurde wahrscheinlich angeregt von der Arbeit der Klöster** auf diesem Gebiet. Andere Wesenszüge des Klosterlebens, wie zum Beispiel die rigiden Stundenpläne, die gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten, die Gleichförmigkeit und Strenge der Kleidung, die beträchtliche Menge von Zeit, die Studium und Gebet gewidmet wurde, waren ebenfalls in den Verfassungen der idealen Städte enthalten.

  *  Zitiert nach: Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Berlin 1975, (Anm. d. Ü.) 
**  Siehe hierzu: Adolf Holl, Der letzte Christ, Stuttgart 1979, (Anm. d. Hrsg.)

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Von größerer Bedeutung als die Erfahrungen der Vergangenheit war jedoch der unmittelbare Einfluß, den die Bewegung der Renaissance und der Reformation auf utopisches Denken ausübte. Dieser Einfluß ist vielschichtig, denn obwohl die Utopien von Thomas Morus, Campanella und Andreae in großem Ausmaß den Geist der Renaissance verkörpern, sind sie gleichzeitig eine Reaktion dagegen.

Die hervorragende künstlerische und wissenschaftliche Bewegung der Renaissance wurde begleitet von einem gesellschaftlichen Zerfall. Die Erklärung der menschlichen Individualität, die Entwicklung seiner kritischen Fähigkeiten, die Erweiterung der Kenntnisse hatten die Zerstörung des Gemeinschaftssinns des Mittelalters weiter vorangetrieben und die christliche Welt unterwandert. Die Renaissance hatte darüberhinaus zur Bildung einer Klasse von "Intellektuellen" geführt, indem sie eine Trennung zwischen Arbeiter und Techniker, Handwerker und Künstler, Maurer und Architekt schuf. Eine neue Aristokratie war geboren; sie beruhte nicht in erster Linie auf Reichtum und Macht, sondern auf Intelligenz und Wissen. Burckhardt, ein begeisterter Verfechter der Renaissance, gibt zu, daß diese Bewegung gegen das Volk gerichtet war, daß Europa durch sie zum ersten Mal scharf in gebildete und ungebildete Klassen geteilt wurde.

Die Trennung beschleunigte den gesellschaftlichen Zerfall. Die wachsende Macht des Adels und der Könige konnte von den Gemeinden nicht mehr aufgehalten werden und führte zu ständigen und erschöpfenden Kriegen. Die alten Vereinigungen waren auseinandergebrochen und nichts trat an ihre Stelle. Die Lebensbedingungen des Volkes verschlechterten sich in wachsendem Maße bis zu jener jämmerlichen Armut, die in Morus' Utopia so überzeugend beschrieben ist.

Die Utopien der Renaissance stellten eine Reaktion gegen den extremen Individualismus dar und waren bestrebt, eine neue Einheit unter den Nationen herzustellen. Zu diesem Zweck opferten sie die gehegtesten Errungenschaften der Renaissance; Thomas Morus, der Gelehrte und Humanist, der Schutzherr der Maler und Freund von Erasmus, schuf eine Utopie, wo der Mangel an Individualität offensichtlich ist — von der Gleichförmigkeit der Häuser und Kleidung bis zu einem streng geregelten Arbeitsablauf; wo künstlerische Darstellung vollkommen fehlte; wo der "einzige" Mensch der Renaissance durch einen "genormten" Menschen ersetzt wurde. Bis auf Rabelais, der eine eigene Kategorie bildet, sind alle utopischen Schreiber ebenso rigide wie Morus, wenn es um die Zulassung persönlicher Freiheit geht.

Wenn diese Utopien eine Reaktion gegen die Bewegung der Renaissance darstellen, so antizipieren sie ebenfalls ihre logische Folge. Die Entwicklung der Individualität hatte bei einer Minderheit auf Kosten der Mehrheit stattgefunden. Eine Kathedrale, die nach dem Plan eines Künstlers erbaut wird, drückt klarer seine Individualität aus als eine andere, die durch gemeinsame Anstrengungen einer Gruppe erbaut wird, doch die Arbeiter haben dabei weniger Möglichkeiten, ihre Persönlichkeit zu entwickeln.

Auf dem Gebiet der Politik ist die Initiative ebenfalls vom Volk auf wenige Individuen übergegangen. Die Condottieri, die Fürsten, Könige und Bischöfe sprachen Recht, führten Kriege, schlössen Bündnisse und regelten Handel und Produktion: alles Aufgaben, die vorher von den Gemeinden, Gilden oder Stadträten ausgeführt wurden.

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Die Renaissance, die die Entwicklung des Individuums erlaubt hatte, schuf auch den Staat, der zur Negation des Individuums wurde.

Die Utopien der Renaissance suchen nach Lösungen für die Probleme einer Gesellschaft, die sich im Prozeß der Entwicklung einer neuen Organisationsform befindet. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß die Entdeckung der Neuen Welt dem utopischen Denken neuen Anstoß gab, doch das spielte nur eine untergeordnete Rolle, und man kann mit Sicherheit annehmen, daß Morus, wenn er Vespuccis Reisen nie gelesen hätte, sein ideales Gemeinwesen an einem anderen Schauplatz angesiedelt hätte, wie auch Campanella oder Andreae sich nicht die Mühe machten. Reisebeschreibungen zu befragen, bevor sie ihre idealen Städte errichteten. Der Hauptanstoß ergab sich durch die Notwendigkeit, die Vereinigungen und die philosophischen und religiösen Systeme des Mittelalters durch neue zu ersetzen.

Neben den Utopien finden wir wie in Griechenland unter ähnlichen Bedingungen die Ausarbeitung idealer Verfassungen, die eine Lösung eher in politischen Reformen als in der Errichtung eines vollkommen neuen Gesellschaftssystems suchten. Unter den Schöpfern idealer Verfassungen jener Zeit übte wahrscheinlich Jean Bodin den größten Einfluß aus. Der französische Philosoph widerstand tapfer der Versuchung, eine Republik errichten zu wollen nur in der Vorstellung und ohne Auswirkungen, so wie Plato und Thomas Morus, der Kanzler von England, sie sich vorgestellt haben. Wie Aristoteles war er der Meinung, daß Privateigentum und die Institution Familie unangetastet bleiben sollten, daß jedoch ein starker Staat geschaffen werden sollte, der in der Lage wäre, die Einheit der Nation aufrechtzuerhalten. 

Zu der Zeit, als Bodin* La Republique schrieb (1557^ war Frankreich von Religionskriegen zerrissen, und es wuchs eine Bewegung zugunsten eines monarchistischen Staates heran, der stark genug wäre. Religionskämpfe zu verhindern, der jedoch gleichzeitig politische und religiöse Freiheit zuließe. Bodins Theorien über den Staat waren eine Antwort auf diese Probleme und seine Werke wurden in ganz Europa mit Interesse gelesen. Er selbst übersetzte La Republique 1586 ins Lateinische, nachdem sie schon ins Italienische, Spanische und Deutsche übersetzt worden war. Seine Ideen müssen ähnlichen Interessen in England entgegengekommen sein, denn als Bodin 1579 dort hinkam, wurden sowohl in London als auch in Cambridge private Vorlesungen abgehalten, um sein Werk zu erläutern.

Wir haben in diesem Abschnitt nur Werke aufgenommen, die als ideale, imaginäre Gemeinwesen oder Gemeinschaften bezeichnet werden können, und nicht solche, die wie Bodins Republique Abhandlungen über Regierung und Politik sind. Obwohl die folgenden Utopien alle von Denkern entworfen wurden, die von den Ideen der Renaissance zutiefst beeinflußt waren, sind sie in vieler Hinsicht sehr davon verschieden. 

Thomas Morus schafft das Eigentum ab, doch behält er die Institution Familie und die Sklaverei bei; Campanella ist zwar ein strenggläubiger Katholik, will aber Ehe und Familie abschaffen; Andreae entlehnt viele seiner Ideen von Morus und Campanella, setzt jedoch sein Vertrauen auf eine neue religiöse Reformation, die tiefer gehen sollte als die von Luther angeregte; Bacon will Privateigentum und monarchistische Regierung bewahren, glaubt jedoch, daß das Glück der Menschheit nur durch wissenschaftlichen Fortschritt erreicht werden kann. 

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 *  Jean Bodin (1530-1596), Les six livres de la republique, (A.d.H.) 

 

 

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