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6.  Verlorene Geschichte — verlorenes Bewußtsein

Bauriedl-1988

 

159-176

Die Fähigkeit zu politischem Widerstand, der wirklich Gewalt vermindert und nicht nur wiederholt, hängt auch mit dem Geschichts­bewußtsein der einzelnen und des Kollektivs zusammen. In dieser Hinsicht »blinde« Revolut­ionen haben einen hohen Wiederholungsanteil, das heißt: Es kommen zwar unter Umständen andere Führer an die Macht, aber die Strukturen der Macht und der Gewalt bleiben sehr ähnlich. Ich möchte des­wegen auf die Bedingungen und Folgen von ahistorischen Weltbildern eingehen. Hier zeigt sich in der Psycho­therapie und in der Politik eine ähnliche Problematik.

    Die Angst vor der Vergangenheit und der Glaube an den Fortschritt   

In der Psychotherapie wie in der Politik gibt es Strömungen, die die Beschäftigung mit der Vergangenheit des Individuums beziehungsweise des gesell­schaft­lichen Kollektivs für überflüssig, ja für schädlich halten. 

Psychoanalyse erscheint von diesem Standpunkt aus wie eine teils idealistische, teils pessimistische Weltanschauung von einigen »Spinnern«, die es nicht wagen, aktiv zu werden, und die unfähig sind, positive Werte zu schaffen. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit scheint die »Bewältigung« der Zukunft auszuschließen. Und vielleicht stimmt diese These sogar, allerdings vor allem in ihrer Umkehrung, nämlich insofern, als der Glaube an den permanenten Fortschritt tatsächlich das Verständnis der Vergangenheit behindert. 

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In einem Weltbild, in dem grundsätzlich das Neue besser ist als das Alte, das Kommende besser als das Gewesene, in einem solchen Weltbild wird in der Gegenwart eine Zäsur gesetzt, die das kommende Gute gegen das gewesene Schlechte abgrenzt und schützt. Wenn man das Leben des Individuums und der Gesellschaft aber als einen kontinuierlichen Prozeß versteht, sieht man die ständigen Wiederholungen der Vergangenheit in der Gegenwart. Als Psychoanalytiker weiß man oder kann man wissen , daß nur jeweils die leidvollen Anteile der Vergangenheit sich wiederholen, die nicht »bewältigt« wurden. 

Diese Wiederholung ist allerdings unausweichlich; gegen sie hilft kein Fortschrittsglaube und kein noch so gewaltsames »Herumreißen des Ruders« in einem Strom, der nach seiner eigenen Gesetzmäßigkeit weiterfließt und in dem wir alle in dem Maße hilflos mitschwimmen müssen, in dem wir das Gewesene als »schlecht und vorbei« aus unserer bewußten Wahrnehmung der Gegenwart auszuschließen versuchen. Wer immer nur »fortschreitet«, wer sich nur auf den vermeintlichen Fortschritt konzentriert, wiederholt unbewußt die Szenen der Vergangenheit. Er schreitet also eigentlich nicht fort, denn er verändert sich nicht.

Ich habe eben den Begriff »die Vergangenheit bewältigen« verwendet, obwohl mir dieser Begriff und seine Verwendung sehr unklar und mißverständlich zu sein scheinen. Mir scheint auch, daß dieser Begriff in der politischen Diskussion häufig inhalts- und konsequenzenlos, weil mißverstanden verwendet wird. Das Wort »Bewältigung« weist für mich in seiner gewalttätigen Bedeutung auf ebensolche Vorstellungen über den richtigen Umgang mit der Vergangenheit hin, so als sei Vergangenheit etwas, womit man fertig werden muß, was man nicht länger andauern lassen darf. Die »Bewältigung« der Vergangenheit scheint jedenfalls eine Aufgabe zu sein, die schwer zu lösen ist, eine Leistung, die Anstrengung erfordert. Die Vergangenheit selbst erscheint dann fast wie ein Feind, der schwer zu »bewältigen«, schwer zu überwältigen ist. Und Vergangenheitsbewältigung erschöpft sich in der moralischen Verurteilung von Tätern, mit denen die heute Urteilenden offenbar nichts zu tun haben. 

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Ich will mich im folgenden mit den Vorstellungen und Erfahrungen der Psychoanalyse zum Vorgang der »Vergangenheits­bewältigung«, seinen Bedingungen und Folgen beschäftigen. 

Dazu meine erste These:

  Macht beruht auf Unbewußtheit  

Vom Standpunkt der Psychoanalyse aus erscheint die eben dargestellte ahistorische Haltung in Psychotherapie und Politik wie ein Prototyp der Verdrängung von Angst und Unsicherheit. Wer seine Geschichte als wesentlichen Teil seines Werdens und Seins von sich selbst abtrennen will, hat Angst vor der Abhängigkeit. 

Er hat Angst davor zu sehen, daß er schon immer in seinen Reaktionen von seiner Umgebung abhängig war und daß seine Entscheidungen zeitlebens nicht »autonome« Entscheidungen sind, sondern Reaktionen oder auch Antworten auf Rollenzuweisungen und Erwartungen von seiten seiner Bezugspersonen. Er fürchtet auch zu erkennen, daß er von seinen eigenen unbewußten Motiven abhängig ist und von unbewußten Abwehrmechanismen im Kollektiv. Diese Erkenntnis ist eine schwere Kränkung für einen Menschen, der psychisch von der Idee zu leben versucht, daß er immer Herr seines Handelns und entsprechend Herr der Situationen, in denen er sich befindet, sein kann und sein muß.

Durch die Verleugnung unbewußter Handlungsmotive beim Individuum und in der Gesellschaft, die mit der Verleugnung der geschichtlichen Abhängigkeiten einhergeht, entsteht eine Phantasie von der strategischen Kontrollierbarkeit aller Situationen, letztlich die Phantasie von der Machbarkeit der Zukunft. 

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Das strategische Denken in der Psychotherapie ist hier wie auch in der Politik immer wieder sehr attraktiv, verkünden uns doch seine Vertreter, sie wüßten jederzeit genau, wohin der richtige Weg führt und wie kritische Situationen garantiert sicher zu bewältigen sind. In diesem Denken scheint es so, als müßte man mit aus dem Unbewußten stammenden Hindernissen dann nicht rechnen, wenn man sie einfach nicht wahrnimmt. Eine Scheinwelt der Machbarkeit und der Regeln für die Herstellung von erwünschten Zuständen hilft uns allen, nicht nur den Psychoanalyse-Gegnern, immer wieder von der Angst und Unsicherheit unserer wirklichen Welt Abstand zu gewinnen.

Jedes Kind lernt schon in den ersten Lebensjahren, sich eine solche Scheinwelt der Machbarkeit nach dem Muster der Scheinwelten der Erwachsenen aufzubauen. Es lernt, falsche Begründungen für ein bestimmtes Verhalten anzugeben. Es lernt zu glauben, daß die Welt und das Leben eigentlich große Rechenaufgaben sind, in der es die richtigen Lösungen zu finden gilt, was immer das Kriterium für die Richtigkeit solcher Lösungen dann auch sein mag. Das Leben kann man nur »bewältigen«, so lernt das Kind, wenn man »effektiv« ist, wenn man Macht entwickelt, wenn man die anderen unter Ausnutzung von deren Abwehrmechanismen dazu bringt, das zu tun, was man will. 

Da seine wirklichen Wünsche und Gefühle den Erwachsenen Angst machen und deswegen überhört und bestraft werden, lernt es, sich in seiner Argumentation dieser Scheinwelt der Erwachsenen anzupassen und den Ausdruck von wahren Wünschen und Gefühlen aufzugeben. Wäre es nur auf den Ausdruck dieser seiner wirklichen Gefühle, also auf sein »wahres Selbst«, angewiesen, dann wäre es abhängig von der Zuneigung und dem selbstverständlichen Wunsch seiner Umgebung, ein kleines Kind zu versorgen. Es hätte keine Macht, es könnte seine Umgebung nicht manipulieren. Also entwickelt es eine Methode, die ihm die Teilnahme an der Macht der anderen ermöglicht, indem es wichtige Teile seiner selbst unbewußt werden läßt.

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Jede Machtbeziehung zwischen Menschen beruht auf Unbewußtheit und kann prinzipiell durch Aufhebung dieser Unbewußtheit aufgelöst werden.1) In der Scheinwelt der Rationalisierungen und der »Sachzwänge« bleiben die wirklichen Gefühle unbewußt. Ebenso wird in der Scheinwelt der zwischen­menschlichen Manipulation die Abhängigkeit des manipulierenden Subjekts vom manipulierten Objekt unbewußt gehalten. Die Mutter scheint vom Kind nicht abhängig zu sein, der Staat nicht von seinen Bürgern. Es sieht auch so aus, als hatte das manipulierende Subjekt keinerlei Schaden davon, wenn es das manipulierte Objekt zu dem für das Subjekt günstigen Verhalten bringt. Der Psychotherapeut scheint nicht Schaden zu nehmen, wenn er seinen Patienten nur manipulativ behandelt und sich dabei die Auseinandersetzung mit ihm erspart. Der Politiker scheint nur davon zu profitieren, wenn er mit geschickter Propaganda die Wahlen zu seinen Gunsten beeinflußt. Wenn ich etwas erreichen kann, was ich gut finde und was mir nützt, warum sollte ich es nicht versuchen?

In der Psychotherapie wie in der Politik wird zumeist auch noch diese eigennützige Motivation des Subjekts, also das Machtbedürfnis des Therapeuten und des Politikers, verschleiert. Man mystifiziert sein Verhalten, indem man jede angestrebte Veränderung nur unter dem Gesichtspunkt »zum besten des Patienten« oder »zum besten des Volkes« interpretiert. Die Interessen des Therapeuten und auch die des Politikers müssen unbewußt bleiben, weil er sonst seine Macht über den Patienten beziehungsweise über seine Wähler verlöre. Würde deutlich, daß der Psychotherapeut oder der Politiker eigentlich für sich selbst sorgt, dann würden Patienten und Wähler bemerken, daß sie selbst für sich sorgen müssen. Das würde zu Auseinandersetzungen führen, die jeweils beiden Seiten nur gut tun könnten. 

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Aber die Mystifizierungen würden aufgehoben und mit ihnen die Macht, die auf diesen Mystifizierungen beruht. Psychotherapeuten und Politiker würden die gegenseitige Abhängigkeit erleben, also auch ihre jeweils eigene psychische Abhängigkeit vom Patienten beziehungsweise von den Strömungen und Tendenzen in der Bevölkerung.

Wird diese Gegenseitigkeit nicht gesehen, dann entsteht das Gefühl und im Gefolge auch die Realität von Macht des einen über den anderen. Wer seine Abhängigkeit verleugnet, wird dadurch mächtig, aber auch einsam. Er sieht Beziehungen nur unter den Kategorien von Tätern und Opfern, von Schuldigen und Unschuldigen. Und diese einseitige Sicht führt oft zur Wiederholung von Gewalttätigkeit, sie führt zum Kampf zweier Lager, der Verständigung ausschließt. Da immer das Opfer als gut, der Täter als böse angesehen wird, achten verständlicherweise beide Seiten darauf, die Gegenseitigkeit ihrer Abhängigkeit voneinander nicht wahrzunehmen. Nur unter dieser Voraussetzung kann weiterhin mit »gutem« Gewissen Macht ausgeübt werden. Die Illusion, nicht Täter oder Mittäter zu sein, befreit uns von dem Gefühl der Schuld und von dem Bewußtsein der Verantwortung für das Mißlingen und für das Unbehagen in der Beziehung. Gleichzeitig ist diese Illusion aller Beteiligten, Opfer und nicht auch Täter zu sein, eine wichtige Grundlage für die ständige Wiederholung von Szenen der Vergewaltigung und der Unterdrückung, in unseren Familien ebenso wie in unseren gesellschaftlichen und politischen Beziehungen.

Dabei wissen wir sehr wohl — zumindest unbewußt — , daß der andere von uns abhängig ist und reagieren muß. Auf raffinierte Weise veranlassen wir ihn z.B. zu besonderer Gewalttätigkeit oder Bösartigkeit, um dann selbst unter dem Deckmantel des scheinbaren Rechts gewalttätig werden zu können. So »rüsten« sich Polizei und Demonstranten, Verfassungsschutz und Terroristen gegenseitig »auf«.

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Jeder verschafft sich Legitimität und »Arbeit« oder »Sinn«, indem er den anderen dazu bringt, besonders hart gegen ihn selbst vorzugehen. In Paarbeziehungen, in denen die Partner resigniert haben, ist derselbe Vorgang zu sehen. Die Abhängigkeit des anderen von uns selbst müssen wir dabei natürlich unbewußt halten, damit der Schein der Rechtmäßigkeit unseres Verhaltens bleibt. Es sieht dann für jede Seite so aus, als wäre sie immer nur gezwungen, auf einen »bösartigen« oder »gewalttätigen« Menschen zu reagieren. Nur wenn niemand mehr bemerkt, daß ich selbst meine »terroristischen« Gegner zu ihrem »böswilligen« Verhalten mit veranlaßt habe, kann ich behaupten, mit meiner eigenen Gewalttätigkeit lediglich auf die schon vorher bestehende Gewalttätigkeit der anderen zu reagieren.

In der Wissenschaft sind ähnliche Vorgänge zu erkennen. Um Macht über den »Gegenstand« zu gewinnen, um ihn skrupellos ausbeuten und manipulieren zu können, ist es nötig, die Erkenntnisinteressen der Forscher, ihre wahren Motive und die Art ihrer Beziehung zum Forschungsgegenstand unbewußt zu halten. Soweit sich Psychotherapie an solchen »naturwissenschaftlichen« Erkenntnissen und Methoden orientiert, blendet sie ebenfalls den Psychotherapeuten als wichtigen Teil des psychotherapeutischen Geschehens aus. Seine persönliche Geschichte, seine Abhängigkeit von dieser Geschichte, seine eigenen Wiederholungszwänge sind nicht Gegenstand der Betrachtung. Statt dessen beschäftigt man sich ausschließlich oder vorwiegend mit den Möglichkeiten der Veränderung des Patienten. Das technische »Know-how« wird dann auch in der Psychotherapie zum Orientierungspunkt des Handelns. Man glaubt, dadurch unabhängig zu werden, und wird doch gerade dadurch abhängig, denn man sieht die eigene Abhängigkeit nicht mehr und kann sie deswegen auch nicht auflösen.

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Gewalt gegen das Forschungsobjekt in der wissenschaftlichen Fragestellung und in der Methode stößt höchstens beim Menschen neuerdings auch andeutungsweise bei Tieren , aber in jedem Fall nur in sehr oberflächlicher Weise auf ethische Schranken. In fast allen Wissenschaften scheint es selbstverständlich zu sein, daß ein Forscher sein Objekt ausschließlich zu dem Zweck studiert, es in den Griff zu bekommen, es manipulieren oder vergewaltigen zu können. Die Abhängigkeit der Wissenschaftler und aller anderen Menschen von der Reaktion der derart untersuchten und manipulierten Objekte wird erst allmählich bewußt, da wir unser eigenes Leben durch die mit Hilfe solcher »unbewußten« und ahistorischen Wissenschaft verursachte Zerstörung der Umwelt gefährdet sehen.

Auch in der Politik beruhen Macht und Gewalt auf Unbewußtheit. Auch hier entsteht durch das Unbewußtwerden der Tatsache, daß alle Menschen auch die politischen Gegner einander zum Überleben brauchen, eine Scheinwelt. Die weitaus meisten Aussagen von Politikern dienen der Propaganda, der Manipulation mit Hilfe unbewußter Ängste und Abwehrmechanismen der Bevölkerung. Feindbilder werden produziert, um Macht aufrechtzuerhalten oder zu gewinnen. Sie würden sich auflösen, wenn das Wissen um die Abhängigkeit von guten Beziehungen zu den Feinden als wichtigste politische Maxime aus der Verdrängung zurückkehren könnte. Sie würden sich auflösen, wenn die Szenen der Wiederholung von Gewalt bewußt und wenn nicht immer wieder Vergangenheit als schlecht, Gegenwart und Zukunft als gut oder besser angesehen würden. Wenn die Kinder entdeckten, daß sie die Gewalt ihrer Eltern blind wiederholen, wenn die Mitglieder der RAF, aber auch die Verantwortlichen der gegen sie kämpfenden staatlichen Gewalt, erkennen könnten, daß sie die Brutalität z.B. der Nationalsozialisten wiederholen, dann könnte sich an diesen Wiederholungsszenen und auch an den Feindbildern etwas ändern.

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Damit würde sich allerdings auch die Macht der entsprechenden Propaganda und der so agierenden Politiker auflösen. Die Wiederkehr des Verdrängten löst überall dort, wo sie nicht behindert wird, Machtstrukturen auf. Und diese Machtstrukturen sind die verhärteten und gefährlichen Stellen unserer persönlichen und politischen Beziehungen. Meine zweite These:

 

Die Angst vor dem Leben verhindert das Bewußtwerden der wirklichen Welt  

 

Nach Freuds schönem Bild vom »natürlichen Auftrieb des Unbewußten«2) kann und braucht diese Veränderung nicht mit Hilfe irgendwelcher (psycho­therap­eutischen) Strategien herbeigeführt zu werden. Das heißt allerdings nicht, daß sie von selbst geschieht. Aber es heißt, daß sich im Gesamtsystem etwas verändert, wenn sich an einer Stelle des Systems ein Beteiligter, zum Beispiel der Psychotherapeut, nicht mehr auf die Mechanismen der Macht, sondern auf den Prozeß der Auseinandersetzung verläßt. 

Der natürliche Auftrieb des Unbewußten entspricht den psychischen Gesundungs­tendenzen des einzelnen und der Gesellschaft. Man kann einen Menschen, eine Familie oder auch eine Gesellschaft nicht gesund machen. Man kann aber versuchen, das Auftauchen der wirklichen Welt mit ihren Gefahren und Möglichkeiten in sich selbst und bei anderen möglichst wenig zu behindern. Die beste Unterstützung im Prozeß der Gesundung ist die Aufklärung im Sinne des Bewußtwerdenlassens bisher abgespaltener Wünsche und Gefühle, der wahren Motive unseres privaten und politischen Handelns.

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Aber diesem natürlichen Auftrieb des Unbewußten, der spontanen Wiederkehr des Verdrängten stehen Ängste entgegen, nämlich die Ängste, die Unbewußtheit und Macht bisher produziert und aufrechterhalten haben. Das kleine Kind verzichtet, wie schon gesagt, im Lauf seiner Sozialisation darauf, sich seinen wahren Wünschen und Gefühlen entsprechend zu verhalten, ja es beginnt selbst, diese seine wirkliche Welt, sein »wahres Selbst« nicht mehr wahrzunehmen. Wo es seiner selbst doch noch bewußt wird, lernt es seine Wünsche und Gefühle, die die Machtbeziehungen in seiner Umwelt in Frage stellen würden, zu diffamieren. Das ist ein Grund dafür, daß es uns im psychotherapeutischen und im politischen Bereich so schwer fällt, die Abwehr unserer Umgebung nicht mitzumachen.

Aber was fürchten wir denn, wenn wir es nicht wagen, das wahrzunehmen, zu denken und zu sagen, was wir eigentlich von der wirklichen Welt sehen und wissen könnten? Wenn wir das kleine Kind betrachten, sehen wir zunächst den Grund, daß es eine einmal erlebte Frustration seiner Wünsche, ein einmal erfahrenes Mißverständnis seiner Gefühle in Zukunft vermeiden will. Es geht das Risiko nicht mehr ein, mit seinen Gefühlen abgelehnt zu werden, keine adäquate Resonanz zu finden. Anstatt zu bitten, stellt es Forderungen, oder es erfindet »Sachzwänge«, die sein Verhalten und seine Machtansprüche vor den Augen der Welt legitimieren.

Ein anderer Grund, weshalb wir selbst den natürlichen Auftrieb des Unbewußten, das Erkennen der Nacktheit des »Kaisers mit den neuen Kleidern« vermeiden, wird zumeist erst in zweiter Linie oder gar nicht gesehen. Ich meine die Angst vor der Erweiterung unserer Lebensmöglichkeiten, vor der Freiheit und der Selbstbestimmung im mitmenschlichen Zusammenleben. 

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Die Wiederkehr des Verdrängten eröffnet die Gefängnistore in eine sehr riskante Freiheit, in ein Leben, das weniger Absicherungen gegen Frustration und auch gegen bisher gemeinsam vermiedene Befriedigung enthält als das Gefängnis der Selbst- und Fremdmanipulation. Man riskiert dort nicht nur, mit seinen Wünschen und Gefühlen abgelehnt zu werden, man riskiert auch, angenommen zu werden. Man riskiert, im politischen Widerstand erfolgreich zu sein, was immer auch bedeutet, daß man sein bisheriges Weltbild korrigieren muß und »Feinde« verliert.

Diese Angst vor dem Erfolg im politischen Widerstand ist fast nie bewußt. Im Gegenteil: Politische Passivität oder auch politische Gewalt werden fast immer damit begründet, daß es andere Möglichkeiten nicht gebe. Die Resignation dient dazu, die Angst vor der Freiheit zu verschleiern. Immer neue Begründungen und Sachzwänge werden angeführt, wenn die Freiheit, aber eben auch der Verlust der Feindbilder und der Macht »droht«. (Man vergleiche die vielen Sachzwänge, die unseren Politikern derzeit für die Aufrechterhaltung der Kernkraftnutzung einfallen.) Die »selbstverschuldete Unmündigkeit«3 wird so lange aufrechterhalten, wie sie subjektiv sicherer zu sein scheint als das Leben außerhalb des Gefängnisses der Unbewußtheit.

Die Befreiung aus diesem Gefängnis bedeutet in allen Fällen auch den Verzicht auf die Macht über sich selbst und über andere. Ohne diesen Verzicht ist keine Freiheit möglich. »Freiheit herrscht nicht«, sagt Erich Fried.4) Gewaltsame Objektbeziehungen, Entwertung und Unterdrückung des anderen ist im selben Maße nicht mehr möglich, in dem man auf die Unterdrückung und das heißt auf die Unbewußtheit in sich selbst verzichtet. Deshalb sind sensible und psychisch lebendige Psychotherapeuten und Politiker im Wettkampf der Macht zumeist unterlegen. Sie können keine Strategien zur Unterdrückung des anderen entwickeln und durchführen, zumindest fällt ihnen das viel schwerer als anderen. Statt dessen können sie sich leichter einlassen auf die natürlichen Gesundungs­tendenzen der einzelnen und der Gesellschaft.

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In dieser Haltung tragen sie allerdings mehr zur grundsätzlichen (strukturellen) Veränderung der Patienten beziehungsweise der Gesellschaft bei als ihre strategisch denkenden Kollegen und Konkurrenten. Ohne Wiederkehr des Verdrängten kann Veränderung immer nur in der Umschichtung von Machtbeziehungen und von deren symptomatischem Ausdruck bestehen. Ohne Bewußtseinsveränderung werden wir vergeblich auf die Auflösung unserer Machtsymptome warten, wie zum Beispiel der Kernkraftwerke, der Waffenarsenale, der Gewalt in Politik und Wirtschaft und der Umweltzerstörung. Die ständige Wiederholung der Gewaltszenen in unserem privaten und öffentlichen Leben ist nur zu beenden, wenn die wirklichen Gefühle und Wünsche der Menschen wieder bewußt und dadurch für das äußere Verhalten bedeutsam werden.

Meine dritte These:

 

Die Erforschung der Vergangenheit dient 
dem Verständnis und der Veränderung der Gegenwart 

 

Psychoanalyse wird oft als »Vergangenheitstherapie« mißverstanden und abgewertet. Freud untersuchte die Entstehung der Unbewußtheit in der Kindheit und fand auf diese Weise einen Zugang zu den abgewehrten Wünschen und Gefühlen seiner Patienten. Diese Erkenntnis wird, wie schon erwähnt, von manchen Kritikern der Psychoanalyse, der psychoanalytischen Familientherapie und auch der politischen Psychoanalyse als ein für die Heilung im Hier und Jetzt völlig überflüssiges Beiwerk angesehen.

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Diese Psychoanalyse-Kritik übersieht die Bedeutung des Wiederholungszwanges und die Chance, die ständige Wiederholung derselben destruktiven Szenen im Leben des Individuums und der Gesellschaft dadurch zu vermeiden, daß man die in den schon abgelaufenen Szenen unbewußt gebliebenen Anteile hier und jetzt bewußt werden läßt.

Aus der Geschichte lernen heißt psychoanalytisch verstanden: die Verdrängung von damals und ihre Folgen als notwendig akzeptieren. Das bedeutet nicht, das damalige Geschehen zu entschuldigen, sondern das damalige Geschehen in seiner Psychodynamik und Soziodynamik zu begreifen. Dabei werden Ängste bewußt, die damals zur Gewalttätigkeit führten, die aber mit Hilfe der Gewaltausübung damals unterdrückt wurden und unentdeckt blieben. Und gleichzeitig werden die damals unterdrückten Wünsche wieder bewußt. Denn die Symptomatik damals und jetzt ist ein Kompromiß aus nicht erlebten Wünschen einerseits und Ängsten andererseits. Es geschieht also in diesem Vorgang immer beides: Das Verlorene wird wiedergefunden, und in diesem Wiederfinden entsteht nicht etwa die Vergangenheit wieder; es entsteht etwas Neues, das noch nie da war, es entsteht eine Verbindung zwischen dem Erleben und dem Verhalten und damit ein neues Bewußtsein von Verantwortlichkeit.

Im politischen oder gesellschaftlichen Zusammenhang bedeutet das: Wir haben nicht dann aus der Vergangenheit gelernt, wenn wir unsere heutigen Feinde mit den »Bösen« aus früherer Zeit (z.B. den Nationalsozialisten oder den Kommunisten) gleichsetzen und diese Gleichsetzung als Grund für den Kampf gegen diese unsere heutigen Feinde angeben. Nicht die alten Feinde kehren wieder, eventuell in neuer Gestalt, sondern die Gewalt zwischen den Menschen als Ausdruck einer individuellen oder auch kollektiven Erkrankung kehrt immer wieder. 

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Wir haben aus unserer Vergangenheit dann gelernt, wenn wir am Schicksal unserer Vorfahren oder auch an unserem eigenen Schicksal erkannt haben, daß die Spaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen in Freunde und Feinde das Problem ist, das immer wiederkehrt. Wir lernen dann aus der Geschichte, wenn wir erkennen, weshalb früher ebenso wie heute Minderheiten unterdrückt wurden und werden, weshalb die Gefährlichkeit von bestimmten Entwicklungen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik weitgehend unbewußt bleibt und weshalb Widerstandskräfte gegen solche Entwicklungen nicht rechtzeitig in Gang kommen. Ein ahistorisches Weltbild, das die Vergangenheit als Chance, sich selbst und die Menschheit zu begreifen, nicht nützt, führt zur blinden Wiederholung der immer gleichen Szenen, eventuell mit zunehmender Gefährdung für den einzelnen und für das Kollektiv.

 

In der Geschichtswissenschaft geht es derzeit um die »Historisierung« unserer nationalsozialistischen Vergangenheit. Man möchte aus der Be- und Entschuldigung herausfinden und die damaligen Geschehnisse »objektiv« betrachten (vgl. das nächste Kapitel). Der sogenannte Historiker-Streit hat die Schwierigkeiten deutlich gemacht, die mit diesem Versuch, die Dynamik einer so hemmungslosen Gewalttätigkeit zu verstehen, verbunden ist. Ich sehe die Schwierigkeiten dieses Versuchs in Parallele zu der Schwierigkeit, die Lebensgeschichte eines sehr schwer gestörten Patienten zu erarbeiten. Die Spaltungen in Gut und Böse, in Opfer und Täter sind hier so stark, daß man immer wieder in dieses Schema verfällt oder auch von anderen nur unter diesem Schema verstanden werden kann. Ich werde diese Vorgänge noch näher darstellen.

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In der Psychoanalyse hilft bei der »Historisierung« einer Lebensgeschichte die Vorstellung, daß jeder Mensch sowohl Produkt als auch Produzent seiner Umwelt ist — also nicht nur Produkt im Sinne von Opfer. Diese doppelte oder dialektische Sicht des Menschen hebt die einseitige Klage gegen »die Gesellschaft« auf, wie sie in vielen soziologischen Theorien enthalten ist. Sie verschiebt diese Klage aber auch nicht auf eine Anklage gegen die »pathogenen Eltern«, wie man es häufig in einem Mißverständnis der Psychoanalyse zuschreibt. Es geht vielmehr um ein Verständnis der Antwort des damaligen Kindes, um ein Verständnis der Antwort des heutigen Erwachsenen auf seine Umgebung. Die Zwangsläufigkeit und Unausweichlichkeit der damaligen Antwort wird dabei ebenso anerkannt wie das Bedürfnis, heute diese Zwangsläufigkeit und die Notwendigkeit ständiger Wiederholungen in Frage zu stellen.

Doch auch die entwertende Beschuldigung des einzelnen als »Neurotiker« oder »Psychotiker« entfällt, wenn man den Menschen und seine Geschichte in diesem Sinne dialektisch versteht. Diagnostische Kategorien bekommen deutlicher beschreibenden Charakter. Sie werden zu Hilfsmitteln der Beschreibung von Not und von Notlösungen. Die Minderwertigkeit sogenannter neurotischer Reaktionen im Vergleich zu sogenannten normalen Reaktionen wird fraglich, wenn man erkennt, daß das Sosein eines jeden Menschen in jedem Fall die für ihn bestmögliche Lösung der Konfliktkonstellationen ist, in denen er bisher gelebt hat. Von diesem Standpunkt aus ist es unsinnig, ihn — oder auch sich selbst — mit einer wie auch immer gearteten besseren Normalität zu vergleichen und auf diese Norm hin zu behandeln. Es geht in der Psychotherapie wie in der Politik um Befreiung zu mehr Lebendigkeit, nicht um bessere Anpassung.

Es stehen sich also in beiden Gebieten zwei diametral entgegengesetzte Formen der Veränderung gegenüber: die Veränderung durch aufdeckendes Verstehen von Konfliktlösungen und die Veränderung durch Manipulation — und das heißt: unter Beibehaltung und Ausnutzung der bestehenden Abwehrmechanismen.

Ich glaube, daß beide Veränderungsformen sich ständig in allen Psychotherapieformen wie auch in allen zwischenmenschlichen Beziehungen mischen, daß also der aufdeckende oder aufklärende Weg weder auf die Psychoanalyse beschränkt ist noch durch eine solche Behandlung garantiert wird. Welche Veränderung möglich ist, hängt erst in zweiter Linie von der Behandlungsmethode ab. 

In erster Linie ist es eine Frage der Angst und der Angsttoleranz, ob wir, auch als Psychoanalytiker, bisherige Machtpositionen aufgeben können, ob wir es wagen, unsere eigenen Positionen immer wieder in Frage zu stellen, unsere eigene Geschichte und die Geschichte unserer Patienten beziehungsweise unseres ganzen Volkes immer wieder neu zu verstehen. Wenn man in dieser Geschichte irgendeine Person nur als Täter und damit als Feind ausgemacht hat, ist das zunächst einmal ein Zeichen dafür, daß man Angst hat, die Spannung auszuhalten, die in der betrachteten Szene liegt und die schon damals nicht ausgehalten wurde. Dies ist kein Plädoyer gegen Feindbilder, aber eine Anregung, das Entstehen von Feindbildern als Ausdruck von Angst, auch von eigener Angst zu verstehen.

Leider gelingt uns die manipulative oder repressive Veränderung in allen unseren Lebensbezügen allzu oft und allzu leicht. So haben wir es häufig scheinbar nicht nötig, uns auf die der Symptomatik zugrundeliegenden Probleme einzulassen. Wir können unerwünschtes oder abweichendes Verhalten kurzfristig einfach »abstellen«, indem wir dieses Verhalten (zum Bespiel bei unseren Kindern oder bei unseren Patienten) direkt oder indirekt bestrafen oder das erwünschte Verhalten belonen. Der einfache Weg, störende Symptome durch Drohungen oder Versprechungen zu beseitigen, ist in der Erziehung, in der Psychotherapie und in der Politik oft so viel attraktiver als der beschwerliche und riskante Weg der Auflösung von Unbewußtheit und Macht. 

Deshalb dreht sich unsere große und kleine Politik auch so ausdauernd im Kreis, und deshalb bleibt auch manche Psychotherapie in dieser Kreisbewegung gefangen. Dann wird immer wieder versucht, ein Übel mit einem anderen zu beseitigen, anstatt grundsätzlich zu fragen: »Was ist hier eigentlich los?«

Im Vergleich dazu kommt die Aufklärung, nach Kant »der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«5), nur sehr langsam voran. Aber wenn man sieht, daß dieses langsame Vorankommen der individuellen und kollektiven Bewußtseinsveränderung der einzige wirkliche Fortschritt ist, dann kann man sich auch darüber, oder vielleicht nur darüber freuen.

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 Thea Bauriedl    Das Leben riskieren   Psychoanalytische Perspektiven des politischen Widerstandes