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11. Das Potential für
eine erneute Umgestaltung
der Gesellschaft

 

"Es hat seine Logik, daß der Apparat den isolierten Repräsentanten der Emanzipation mit der Irrenanstalt droht."  Seite 375

361-414

Wem die Kulturrevolution notwendig und von ihren wesentlichsten objektiven Bedingungen her möglich erscheint, der muß selbstverständlich mehr oder weniger deutlich ihr Subjekt schon mitgedacht haben.

Andernfalls trüge er sich mit bloßer privater Illusion. Nur wenn sich das Notwendige und Mögliche als ein Feld von Aktionsbedürfnissen, -erfordernissen und -zwängen konkreter sozialer Kräfte erweist, bedeutet es eine wirkliche Perspektive. 

Ich will also versuchen, den subjektiven Resonanzboden für eine kommunistische Alternative in den Ländern des real existierenden Sozialismus, nicht zuletzt auch in der Sowjetunion selbst, sichtbar zu machen, und zwar nicht anhand politischer, militärischer oder gar geheimpolizeilicher Konjunkturen, sondern aufgrund der polit-ökonomischen Ansätze, die ich skizziert habe. 

Das Potential, das für eine Alternative bereitsteht, wird im allgemeinen total unterschätzt, ja geradezu übersehen, nicht allein, weil es sich infolge unserer Verfassungs­wirklichkeit kaum öffentlich artikulieren kann, sondern vor allem, weil seine sozialökonomische Dimension nicht erkannt wird. Deshalb werden auch seine indirekten Äußerungen nicht verstanden. 

Beispielsweise ist allenthalben eine Akkumulation von Mißstimmungen und Unzufriedenheiten im Arbeitsalltag zu bemerken. Aber sie werden erst dann in ihrer symptomatischen Bedeutung klar, wenn man sie in ihrem Zusammenhang mit den gesetzmäßig auftretenden Disfunktionen der bürokratisch-zentralistischen Staats- und Wirtschaftsleitung sieht.

Unter den bestehenden Verhältnissen muß sich das progressive Potential regelhaft in der verstellten Form unproduktiver Emotionen abreagieren, die es einigermaßen unkenntlich macht. Einmal jedoch in den sechzig Jahren seit der russischen Oktoberrevolution sind die Kräfte, die nach einer neuen Organisation der nichtkapitalistischen Industriegesellschaft drängen, voll in das Licht der Geschichte getreten. Zwar war der Augenblick kurz, aber sie konnten sich wenigstens so weit positiv entfalten, daß ihr wirkliches Profil, ihre realen Möglichkeiten und Perspektiven annähernd abschätzbar wurden. 

Das war in den für alle am sozialistischen Fortschritt in den osteuropäischen Ländern interessierten Menschen unvergeßlichen acht Monaten des Jahres 1968 in der Tschechoslowakei. Spätestens damals wurde offenbar, daß es im real existierenden Sozialismus generell einen latenten, nach der Richtung seiner wesentlichen Kraftlinien progressiven Interessenblock gegen die bestehende politische Verfassung, d.h. gegen die Diktatur der Politbürokratie gibt. Mehr noch, es wurde klar, daß die Mehrheit der aktiven Parteimitglieder auf einen Aufbruch zu neuen Ufern wartet. Letztlich wurde in Prag und Bratislava nichts geringeres nachgewiesen als die Lebensfähigkeit unserer Gesellschaftsordnung ohne politbürokratische Diktatur.

Es ist und bleibt das größte politische Verbrechen der sowjetischen Führung nach dem II. Weltkrieg, die Völker Osteuropas, einschließlich des eigenen Landes, und die ganze fortschrittliche Menschheit um die unersetzlichen Erfahrungen gebracht zu haben, die mit dem Ausreifen des tschechoslowakischen Experiments gewonnen worden wären. 

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Bis zu dem Zeitpunkt seines gewaltsamen Abbruchs deutete nichts auf ein Scheitern, auf irgendeine akute Gefahr für die nichtkapitalistischen Fundamente hin. Die brüderlichen Helfer in Moskau und Berlin haben nicht zufällig in aller Öffentlichkeit um ein paar antikommunistische Pogrome gebetet, die ihre ultima ratio plausibler gemacht hätten. Doch sie waren darauf angewiesen, selbst dilettantisch »Beweise« für geplante konterrevolutionäre Anschläge zu verstecken. 

Die Führung der SED hat neben der sowjetischen eine besonders schwere Verantwortung auf sich geladen, als sie entschied, daß die Nationale Volksarmee der DDR an der Aggression gegen die Bestrebungen eines slawischen Nachbarlandes teilnahm, das erst dreiundzwanzig Jahre zuvor aufgehört hatte, ein hitlerdeutsches Protektorat zu sein. Die deutschen Kommunisten haben es noch vor sich, der tschechoslowakischen Nation in aller Form ihre Distanzierung von der Mitwirkung an diesem Akt internationaler politbürokratischer Reaktion anzutragen. 

Nur von dem Standpunkt, daß es bei der Reformpolitik der KPC unter Alexander Dubcek um die gemeinsame Sache all derer ging, die eine erneuerte kommunistische Bewegung im Einklang mit den Bedürfnissen und Hoffnungen ihrer Völker wollen, hat es Sinn und ist es zugleich notwendig, sich nüchtern und kritisch Rechenschaft über Erfolge, Probleme, Gefahren und Schwächen der Nachjanuarpolitik zu geben (eine Analyse, die ich hier nicht umfassend unternehmen will). 

Hier gilt die berühmte Devise der Friedrich Wolfschen »Matrosen von Cattaro«: »Kameraden, das nächste Mal besser!« Läßt man sich außerhalb dieser Voraussetzung auf Diskussionen über vermeintliche oder tatsächliche innere konterrevolutionäre Tendenzen ein, begibt man sich auf den Boden der polit­büro­kratischen Meinungs­manipulation, wo die Rechtfertigung der Intervention zur Ermessensfrage wird, wie groß nun eigentlich die Gefahr gewesen sei.

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Die Mächte der Intervention sind zutiefst daran interessiert, jede Gefährdung ihrer Herrschaftsform als einen Anschlag auf die sozialökonomischen Fundamente der nichtkaptalistischen Industriegesellschaft darzustellen. 

In diesem Punkt kommt, es auf eindeutige Parteinahme an: Gefahr wofür und für wen? 

Gefährdet war jener »Sozialismus«, der nur existieren kann unter der Kontrolle eines allmächtigen Parteiapparats, bei der schwach verhüllten Allgegenwart von Geheimpolizei und Zensur. Jene Leute, die es für selbstverständlich halten, in ihrem Herrschaftsbereich jede abweichende Position mit politischer Polizei und innerparteilicher Inquisition zu unterdrücken, hatten darüber zu lamentieren, daß nun die Massen die letzten »gesunden« Verfechter der alten Prinzipien und Methoden mit Repressalien bedrohten — mit Repressalien, die bei näherem Hinsehn nur darin bestanden, sie eine Zeitlang nicht zu Wort kommen zu lassen. 

Gefährdet, ja politisch bereits verloren war die Machtposition der alten Politbürokratie. Der bevorstehende XIV. Parteitag der KPC, der dann in der »Illegalität« von Vysocany tagen mußte, war gewählt, ihr den Totenschein auszustellen, weshalb sein Termin den Zeitpunkt der Intervention bestimmte. Mit dem Schlagwort von der Konterrevolution meinte die politbürokratische Reaktion stets in erster Linie die konsequente Reformpolitik selbst.

Was die Frage konterrevolutionärer Tendenzen im wirklichen gesellschaftlichen Leben der Tschechoslowakei im Jahre 1968 betrifft, so handelte es sich um nationalistische Stimmungen, die auf eine Restauration der institutionellen Formen aus der Zeit der bürgerlichen Republik abzielten. Natürlich melden sich in einer Phase, da die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte politisch entfesselt werden, auch jene Elemente zu Wort, die das Rad der Geschichte zurückdrehen möchten. Es fragt sich, welches Gewicht sie.haben. In der CSSR waren sie zwanzig Jahre nach der Revolution von 1948 sozialökonomisch völlig zersplittert und überaltert. Ihre Intention beruhte auf dem angehäuften Ressentiment der in der vorigen Etappe teils notwendig, teils unnötig Beleidigten aus praktisch allen, vornehmlich aber doch aus den ehemals kleinbürgerlichen Schichten.

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Sie hatten keine echte politische Chance, zumal die internationale Bourgeoisie aus wohlverstandenem Interesse gar nicht daran dachte, die tschecho­slowakische Wirtschaft rekapitalisieren zu wollen (man denke an den Analogiefall Jugoslawien!).

Das echte Problem stellte die Differenzierung innerhalb des progressiven, positiv auf dem Boden des real existierenden Sozialismus stehenden Blocks dar, bei der sich mindestens zwei verschiedene Richtungen abzeichneten, ohne schon definitiv kristallisiert zu sein. Neben der im Aktionsprogramm der KPC festgelegten Politik formierte sich spontan jene Richtung, die die Sonderinteressen der Intellektuellen, der Wirtschaftler und Techniker in den Vordergrund stellte. Ihr Kennzeichen war der oberflächliche und ungeduldige politische Radikalismus, der sich in verschiedenen Dokumenten, vielen Kommentaren niederschlug und letztlich dem Zweck diente, die uneingeschränkte, unkontrollierte Entfaltung dieser privilegierten Kräfte auf den Fernsehschirmen, in der Kultur, im Staatsapparat, in den Direktorensesseln der Wirtschaft zu sichern. 

Das war die Richtung der »glorious revolution«, der Aneignung der politischen Macht nach »Kompetenz«, nach dem effektiven sozialökonomischen Status, den ihre Vertreter in den zwei Jahrzehnten seit 1948 erlangt hatten. Sie brauchte kein spezielles Programm außer dem des »Vorantreibens«. Sie war keineswegs zur Partei formiert, nicht einmal zum klar abgrenzbaren Flügel innerhalb der KPC. Sicher konnten sich die bürgerlich-restaurativen Stimmungen hier Windschutz leihen. Übrigens ist zu bedenken, daß die politische Problematik dieser Richtung kaum an ihren Losungen als solchen erkennbar ist, die sich heute teilweise ausgesprochen »eurokommunistisch« lesen. Sie lag vielmehr in deren Gebrauch in einer bestimmten Situation, in der es um die Alternative zwischen dieser »glorious revolution« und der Konsolidierung einer neuen Art von ideologischer Hegemonie mit kommunistischer, d.h. kulturrevolutionärer Perspektive ging.

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Die Ideologen, die sich vom Apparat lösen, und die Massen, die sich hinter ihnen in Bewegung setzen, falls sie der Apparat nicht selbst gegen sich in Bewegung setzt, repräsentieren bei aller Unterschiedlichkeit der Motive von vornherein ein allgemeines Interesse, das in die Richtung der umfassenden Kulturrevolution weist: die Intention zur Ablösung der politbürokratischen Diktatur als conditio sine qua non jeder weiteren Perspektive. Allein damit ist noch nichts darüber gesagt, wie weit eine entsprechende Entwicklung sogleich über den unmittelbaren politischen, zunächst vorwiegend negativen, stürzenden Impuls hinausgehen würde. 

Auf den ersten Blick ist in unseren Ländern wohl in bezug auf die Sphäre der politischen Institutionen ein oppositionelles Potential vorhanden — das hat die Tschechoslowakei 1968 hinreichend bestätigt; aber kaum für den Kampf um die Überwindung der Subalternität in dem vorhin dargelegten weitgreifenden Sinne. Diese oberflächlich-politische — nicht politökonomische, sozialökonomische, kulturelle — Opposition antwortet reaktiv auf die anachronistischen Erscheinungsformen der politbürokratischen Diktatur. Ihre gemeinsamen Stichworte sind Demokratisierung, oft mit dem Beiwort sozialistisch, und Menschen- bzw. Bürgerrechte. Je länger der gegenwärtige Zustand anhält, je mehr der Apparat die denkenden Elemente der Gesellschaft zur Verzweiflung bringt, je konsequenter er ihre rechtzeitige Selbstverständigung über mögliche Änderungen verhindert, desto mehr werden alle Energien nur darauf verwiesen, ihn zu vernichten, und desto größer muß nachher zunächst der Wirrwarr der Konzeptionen, desto größer die Gefahr bloßer Desorganisation sein.

Leider ist es sogar in einem gewissen Maße wahrscheinlich, daß sich das Minimalprogramm einer demokratischen Revolution gegen die Politbürokratie historisch verselbständigt, eine eigene Etappe für sich beansprucht. 

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In der Tschechoslowakei ist die Kontinuität der kommunistischen Idee nach dem 21. August offensichtlich so schwer getroffen, daß das Volk bei der nächsten Gelegenheit wahrscheinlich erst einen längeren Umweg politischer (trotz allem selbst dann nicht sozialökonomischer) Restauration einschlagen wird. Es wäre freilich wünschenswert, hierin geirrt zu haben. Die demokratischen Forderungen sind, trotz der bürgerlich-restaurativen Form, die sie leicht annehmen, weil das Erbe der bürgerlichen Demokratie noch nicht aufgehoben ist, notwendige Momente der anstehenden Veränderungen, aber sie reichen nicht tief und treffen nicht den Kern. Sie spiegeln allzusehr die Misere wider, die sie hervorgebracht hat. De facto bedeuten sie eben Selbstbeschränkung der Bewegung auf spezifische Intellektuelleninteressen .

Der real existierende Sozialismus muß die bürgerliche Demokratie nicht als besondere, einseitig auf ihre »Garantien« fixierte und eben deshalb formell restaurative Phase nachholen. Demokratisierung ist ein allzu vieldeutiges, nicht selten irreführendes Wort. In meinen Augen hat es vor allem im Zusammenhang mit der fünften der genannten Hauptrichtungen der Kulturrevolution (Vergesellschaftung des Erkenntnis- und Entscheidungsprozesses zu den allgemeinen Angelegenheiten) seine aktuelle und praktische Bedeutung für uns. Die sogenannte Liberalisierung avanciert ohnehin; sie ist einfach das natürliche Zerfallsprodukt des alten Überbaus. 

Die zunehmende Berührung unserer höheren Funktionärsschichten mit dem gegnerischen Management in der Kooperation zwischen den Blöcken nimmt der Orthodoxie rasch den letzten subjektiven Gehalt. Wenn diese Liberalisierung ihr Ziel erreicht, werden sich unsere Intellektuellen einer ähnlichen repressiven Toleranz erfreuen, wie sie ihre westlichen Kollegen bereits weitgehend genießen. Dorthin zielen heißt zu kurz zielen, zu wenig wollen. Es heißt, über einem scheinaktiven und seiner Natur nach zersplitterten Potential für kurzfristige Ausfälle das wirklich potente historische Subjekt verkennen, vielleicht nicht einmal wahrnehmen (daher unter anderem der Defaitismus so, vieler Intellektueller nach dem militärisch gestoppten Anlauf von 1968).

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Die kommunistische Minderheit (denn es ist zunächst eine Minderheit, die erst einmal das Problem erkennt und zu ihrer Sache macht) wird natürlich gegen die Verselbständigung der demokratischen Revolution, für die Permanenz der Bewegung, für ihren Übergang in die Kulturrevolution kämpfen.

Bei der Einschätzung des Kräfteverhältnisses in der CSSR während der letzten Monate vor dem 21. August darf nicht außer acht gelassen werden, daß die sowjetische Führung, sekundiert von der Führung der DDR, alles Erdenkliche getan hat, um den Prozeß der ideologischen Neuorientierung zu vergiften. Mit provokatorischen Militärmanövern, mit der üblichen Taktik konzertierter Nicht- und Fehlinformation, mit ultimativen Ratschlägen und mit der atmosphärisch immer stärker spürbaren Interventionsdrohung hat sie die »rechten« Stimmungen kontinuierlich angeheizt und ihren politischen Sprechern den geeigneten nationalistischen Resonanzboden verschafft. Auf diese Weise wurde die andere, die kommunistische Richtung in der Partei unter Druck gesetzt. 

Von der anderen Seite ließen die Interventen die getarnten Konservativen im Präsidium und Zentralkomitee drücken. So gewann die Partei des Aktionsprogramms — denn das war die Kommunistische Partei — nicht genügend Spielraum für die volle Entfaltung der beabsichtigten Gesellschaftsreform und blieb praktisch in den noch nicht ganz präzise formulierten Anfangsgründen ihrer Politik stecken. Sie sah daher in manchen Punkten schwächlich-zentristisch aus, einfach weil sie nicht genügend dominierte. Natürlich hatte sie recht, ihre Zuflucht nicht erneut in den »bewährten« Methoden polizeistaatlicher Repression zu suchen. Ohne den Druck von außen, das heißt vor allem von den anderen Warschauer-Pakt-Staaten, wäre keine nennenswerte »konterrevolutionäre Gefahr« aufgetreten, soweit sie überhaupt existierte. Sie mußte geschaffen werden, damit man eingreifen konnte. Das Aktionsprogramm der KPC ist durch die Intervention in keiner Weise widerlegt worden.

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Zum ersten Mal seit dem jugoslawischen Beispiel hatte eine herrschende kommunistische Partei definitiv viele notwendige Vorschläge aufgenommen, die schon lange zu den Forderungen marxistischer Oppositionen gegen die Politbürokratie gehören. Die Position der neuen Kommunistischen Partei war — anders als in allen anderen Ländern des Warschauer Pakts in Osteuropa — fest in den Massen verwurzelt. Es fehlte nur noch der Schlußstrich, der Hinauswurf der schwankenden Elemente aus Präsidium und Zentralkomitee, um der Partei eine in jeder Kampfrichtung geschlossene Führung zu geben, eine Aufgabe, mit der — wie dann am 21. August offenbar wurde — allerdings zu lange gewartet worden war. 

Hier mangelte es der Gruppierung um Alexander Dubcek an der letzten Entschlossenheit, was insbesondere mit Illusionen über die Sowjetunion, über das soziale Wesen und die Interessenlage der Moskauer Führung zusammenhing. Es sahen einfach zu wenige Leute so klar wie Josef Smrkovsky. Sonst wäre es möglich gewesen, das Experiment zu retten, die Intervention zu verhindern, indem man nach dem Beispiel, das Tito mehrmals gab, das Land mobil gemacht und die potentiellen Kollaborateure in Schlüsselpositionen vorübergehend verhaftet hätte.

Sicherlich ging die Entschlußschwäche Dubceks und seiner Genossen, ging speziell ihre Fehleinschätzung des sowjetischen Verhaltens zugleich auf Lücken der theoretischen Analyse zurück. Seit 1953 haben sich die progressiven kommunistischen Kräfte — auch abgesehen von ihrer objektiven Schwäche in der jetzt abgelaufenen Periode des Kalten Krieges — immer wieder als ungenügend vorbereitet erwiesen. Sie standen im Grunde immer noch auf demselben politisch-theoretischen Boden wie ihre Gegner und ließen sich ideologisch von ihnen erpressen mit dem gemeinsamen Interesse an der Autonomie des nichtkapitalistischen Weges. Vor allem waren sie schlecht über das Terrain verständigt, auf dem sie kämpften. 

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Die verschiedenen Aktionsprogramme beruhten mehr auf temporären Negationen als auf sozialökonomischer Analyse. Hier machte sich der durch die politbürokratische Unterdrückung bedingte Mangel an theoretischer Diskussion und Synthese bemerkbar. Auch in dem Aktionsprogramm der KPC bestand noch Unklarheit über die »Widersprüche im Volke«, über die Sozialstruktur der nichtkapitalistischen Industriegesellschaft, demnach über die objektiven Bedingungen und Erfordernisse des Vormarschs zum Sozialismus. Daraus resultierte zum großen Teil die taktische Unsicherheit der Reformpolitik sowohl gegenüber den »Rechten« als auch gegenüber den »Konservativen«.

Heute kann und muß man an der tschechoslowakischen Entwicklung studieren, wie sich das reformatorische Potential an der politischen Oberfläche darstellt, um von dort auf seine tief verwurzelte sozialökonomische Interessenbasis zurückzugehen. Denn der Ablauf der politischen Mobilisierung vor und nach der Januarentscheidung über den Wechsel an der Parteispitze läßt Rückschlüsse auf Wesen und Struktur der handelnden Kräfte sowie auf die Natur ihres Konflikts mit dem Machtapparat zu. Er rechtfertigt die Analyse der Sozialstruktur, die ich im Zweiten Teil gegeben habe, weist jedoch darüber hinaus auf eine Perspektive hin. Es lohnt sich, diesen Ablauf zu rekapitulieren.

Die Bewegung setzte nicht an der Basis, sondern bei dem Personal des Überbaus ein, genauer: bei den Ideologen im engeren Sinne! Am Anfang stand die Unzufriedenheit unter den Spitzen der Schriftsteller, Künstler, Gesellschaftswissenschaftler mit den Bedingungen des geistigen Lebens, mit der Zensur gegen die kritische Aufdeckung der Widersprüche. Parallel mit den Ideologen kamen immer mehr profilierte Naturwissenschaftler, Techniker und Ökonomen zu dem Schluß, daß die eingeleitete Wirtschaftsreform ohne Gesellschaftsreform, d.h. als bloße »Strukturveränderung« innerhalb des dirigierenden Apparats und seines Planungsmechanismus, keine ausreichende Initiative auslösen wird, um über die mittelmäßige Effektivität und den Schlendrian hinauszukommen.

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Der Druck der beiden Gruppierungen verunsicherte die beweglicheren Elemente innerhalb des zentralen Partei- und Staatsapparates und machte Eroberungen unter ihnen. Er reichte aus, um Novotny und vor allem Hendrych, mit dessen Kopf der Erste Sekretär zu denken pflegte, aus dem Tritt zu bringen.

Bei der Ablösung Novotnys verfolgte die Mehrheit des Zentralkomitees anfangs wohl nur den Zweck, die Wogen zu glätten und die Bedingungen für eine ersprießliche Zusammenarbeit mit der Intelligenz wiederherzustellen. Nur ein paar lose verschworene Minderheiten, die ihre Spitze bereits in die Führung vorgeschoben hatten, wollten den Stein so ins Rollen bringen, wie es in der Praxis mit diesem Beschluß geschah. 

Aber nach dem Januarplenum erfaßte die Umorientierung in rasendem Tempo, faktisch im Stile einer evozierten Erhebung, zuerst den ideologischen Teil der Intelligenz (die Masse der Künstler, Gesellschaftswissenschaftler, Journalisten), darauf ohne Pause die gesamte übrige Intelligenz (mit Ausnahme der eingefleischtesten Bürokraten) und nicht zuletzt die Jugend, voran die Studentenschaft. Und diese mächtige, heute mit vielen Wurzeln fest im materiellen Reproduktionsprozeß verankerte soziale Kraft wirkte als Transmission zu den Arbeitern in den Betrieben und zu den übrigen Schichten der Gesellschaft. Man kann also zusammenfassen, die Wendung begann bei den Ideologen und die Mobilisierung für die Reform lief als Kettenreaktion durch die Bildungsstruktur von oben nach unten ab.

Da sie alle entscheidenden Schichten und Gruppen des Gesamtarbeiters erfaßte und dabei auch das Personal des Apparats selbst nicht ausließ, muß es ein Interesse geben, das weit über die unmittelbaren Aspirationen der Intellektuellen hinaus vereinigend wirkt. Dieses gemeinsame Interesse zeigte sich darauf gerichtet, das Privileg der Meinungsbildung und Entscheidung über die allgemeinen Angelegenheiten, also im Kern die staatliche, bürokratische Form der Verfügung über die Produktivkräfte und über den ganzen sozialen Lebensprozeß zu überwinden.

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Politisch-psychologisch äußerte es sich in dem Verlangen, die unausgesetzte Bevormundung der Gesellschaft durch den Staat, die permanente Behandlung der Menschen (Individuen wie Kollektive) als unmündige Erziehungsobjekte aufzugeben. Positiv ging es um das Vordringen der gesellschaftlichen Selbstverwaltung auf allen Ebenen und in allen Bereichen, weitgehend identisch mit der im vorigen Kapitel dargestellten Forderung nach Vergesellschaftung des sozialen Erkenntnisprozesses, in dem sich die Menschen über die Werte, Ziele und Wege ihres Zusammenlebens verständigen. 

Diese Forderung betrifft insofern einen sekundären Aspekt der Kulturrevolution, als sie nicht direkt auf die Veränderung der Basis abzielt. Doch kommt ihr nach aller Erfahrung die Rolle eines Schlüssels und Hebels für die Einleitung des Umgestaltungsprozesses zu. Dies aus dem einfachen Grunde, weil sie sich gegen die entscheidende Schranke richtet, die sich dem Fortschritt der allgemeinen Emanzipation in den Ländern des real existierenden Sozialismus in den Weg legt: gegen die Monopolisierung der allgemeinen Angelegenheiten in einem besonderen Apparat, der der Gesellschaft als äußerliche fremde Macht gegenübersteht.

Das überschüssige Bewußtsein bildet die Substanz des gemeinsamen Interesses, das die Mobilisierung gegen die polit-bürokratische Diktatur trägt. Ehe die Frage der allgemeinen Emanzipation erneut in ihrer ganzen Komplexität und Tiefe aufgeworfen wird, konzentriert sich das emanzipatorische Interesse auf die Durchsetzung der politischen Bedingungen dafür. Die Politbürokratie muß entmachtet, die Herrschaft des Apparats über die Gesellschaft beseitigt, das Verhältnis von Gesellschaft und Staat neu geregelt, die kommunistische Bewegung, die der Gesellschaft von innen heraus die Perspektive der Kulturrevolution eröffnen soll, neu konstituiert werden. 

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Genau dieser Prozeß, der den Zugang zu der umfassenden Kulturrevolution erschließt, meist — eben etwas ungenau — als Demokratisierung bezeichnet, hatte 1968 in der Tschechoslowakei begonnen. Das Potential, das dort zur Wirkung kam, ist natürlich unvermindert da. Zwar hat sich seine unmittelbare politische Stoßrichtung, die aus nur zu naheliegenden Gründen ambivalent war, infolge der Militäraktion vom 21. August inzwischen merklich nach rechts verschoben. Aber an seiner progressiven sozialen Qualität und langfristigen Perspektive ändert das nichts. 

Wir sahen, die verschiedenen Schichten des Gesamtarbeiters in der Tschechoslowakei engagierten sich nach dem Maß des in ihnen akkumulierten überschüssigen Bewußtseins, und zwar in einem Umfang, der den Massencharakter dieses Phänomens unterstreicht. So erbrachten sie den Beweis, daß die Reihe der Zeitalter zu Ende geht, in denen die Leitungs- und Entwicklungsfunktionen der Gesellschaft von einer privilegierten Korporation wahrgenommen werden mußten.

Nach dieser Überlegung muß sich eine revolutionäre Strategie auf ein ganz bestimmtes Kräfteverhältnis innerhalb des gesellschaftlichen Bewußtseins, genauer, innerhalb der Gesamtmasse an akkumulierter Qualifikation, subjektiver Produktivkraft einstellen, auf das Kräfteverhältnis zwischen dem überschüssigen und dem absorbierten Bewußtsein. Der letztgenannte Begriff mag den psychischen Aufwand kennzeichnen, der einerseits in der Hierarchie des bürokratischen Wissens, andererseits in den Routinefunktionen der täglichen Produktion und Reproduktion gebunden ist. In dem überschüssigen Bewußtsein hatte ich bereits im vorigen Kapitel emanzipatorische und kompensatorische Bedürfnisse bzw. Interessen unterschieden. Ich gehe also von folgendem Einteilungsschema aus (Tafel 3, S. 374).

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Politisch entscheidend ist das Verhältnis zwischen den emanzipatorischen Interessen und dem im Apparat gebundenen Bewußtsein. Das sind die Pole, und die Kräfte, die sich dort kristallisieren, kämpfen um die Dominanz ihres Einflusses auf die dazwischenliegende Masse des in notwendiger Arbeit und kompensatorischen Befriedigungen gebundenen bewußten Potentials. Sie müssen danach streben, ihren Antipoden ideologisch zu isolieren.

Solange der Apparat dominiert» sehen sich die emanzipatorischen Interessen mit der überwiegend subalternen Verhaltenstendenz aller übrigen drei Fraktionen des gesellschaftlichen Bewußtseins konfrontiert. Subalternes Verhalten ist dann »normales« Verhalten. Die Individuen unterwerfen sich der entfremdeten Autorität und greifen nach den von ihr ausgesetzten Wohlverhaltensprämien.

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Es hat seine Logik, daß der Apparat den isolierten Repräsentanten der Emanzipation mit der Irrenanstalt droht. In der Kulturrevolution aber, deren Voraus­setzungen heranreifen, gilt es umgekehrt den herrschenden Apparat von allen übrigen Fraktionen des gesellschaftlichen Bewußtseins zu isolieren. Das ist ein konstruktiver Prozeß: das Vordringen der integralen, auf die Einordnung ins Ganze und auf seine positive Aneignung durch die Individuen gerichteten Verhaltenstendenz in dem Kräftefeld des gesellschaftlichen Bewußtseins beraubt die Apparatherrschaft allmählich aller raison d'etre. Es macht nämlich die notwendigen organisatorischen Funktionen, deren Institutionalisierung der Apparat ursprünglich war, der gesellschaftlichen Selbstverwaltung zugänglich, d.h. es stellt die subjektiven Dispositionen dafür bereit, so daß sich ihre bürokratische und etatistische Verhaftung auf den Selbstzweck bloßer Machterhaltung reduziert.

Ich will noch einmal darauf eingehen, wodurch es theoretisch gerechtfertigt ist, das Potential für die nächste soziale Umgestaltung in dieser Weise von einer Struktur des gesellschaftlichen Bewußtseins her zu analysieren. Bewußtsein interessiert hier nicht in seiner Widerspiegelungsfunktion, sondern als ein Faktor des gesellschaftlichen Seins, dessen wachsende Rolle selbst »bewußtseinsbestimmende«, nämlich seinen Inhalt verändernde Bedeutung besitzt, was sich in der Ausbreitung der emanzipatorischen Bedürfnisse bzw. Interessen ausdrückt. Wie gesagt, differenziert die alte Arbeitsteilung die Menschen gerade über das Niveau der Bewußtseinskoordination, das ihre Arbeitsfunktionen und sozialen Tätigkeiten verlangen. Das hatte ich im Zweiten Teil im Hinblick auf den Bereich der absorbierten Qualifikation gezeigt. 

In dem hier untersuchten Zusammenhang wird das gesellschaftliche Bewußtsein in seiner Eigenschaft als Voraussetzung jeglicher menschlicher Tätigkeit, »freier« wie »notwendiger«, als Inbegriff der subjektiven Produktivkraft der Gesellschaft betrachtet, also als eine durchaus materielle, ökonomische Realität, auf die sich jetzt die Aufmerksamkeit konzentriert, weil die Aneignung der Genuß- und Entwicklungsmittel bzw. -bedingungen in den Vordergrund der sozialen Kämpfe rückt.

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Man kann sagen, es geht um einen neuen Typ der informationellen Regelung für den gesamtgesellschaftlichen Prozeß, um eine neue soziale Organisation der Erkenntnisarbeit und ihres institutionellen Gerüsts. Der Apparat, der Staat selbst ist bekanntlich »ideologischer Überbau«, ist seiner Substanz nach entfremdetes, herrschaftlich funktionierendes Bewußtsein, hierarchisch organisierte »Wissenskraft« (um einen Ausdruck von Marx zu gebrauchen). Da der Apparat der prominente Gegenstand der Umgestaltung ist, kann man es nur natürlich finden, daß der potentielle Block seiner Gegenspieler erst recht mit dem Kopf antritt. Das geistige Leben der Gesellschaft überhaupt, mit dem Schwerpunkt des Informations- und Entscheidungsprozesses über den Reproduktions­prozeß und seine Ziele, ist das Kampffeld der Kulturrevolution. Der Fortschritt der Weltgeschichte drückt sich darin aus, daß das Ringen in den industriell entwickelten Ländern bereits in der Sphäre der eigentlich menschlichen Wesenskräfte ausgetragen wird, nicht mehr hauptsächlich um Leib- und Magen-, Kleidungs- und Wohnungsfragen.

Das Kräfteverhältnis zwischen überschüssigem und absorbiertem Bewußtsein, und insbesondere zwischen emanzipatorischen und Apparatinteressen, tritt politisch viel ungleichgewichtiger in Erscheinung, als es sozialökonomisch ist. Die Ursache besteht darin, daß das absorbierte Bewußtsein seinem Wesen nach durchgängig institutionalisiert ist, eben in der Pyramide der gesellschaftlichen Arbeitsorganisation und -leitung, die ich im Zweiten Teil analysiert habe, während demgegenüber das überschüssige Bewußtsein vorsorglich atomisiert gehalten, darüber hinaus polizeilich an jeglicher politischen Artikulation und Organisation gehindert wird. Die Möglichkeit der politischen Organisation ist von entscheidender sozialpsychischer Bedeutung.

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Der Apparat bietet den Individuen monopolistisch einen mächtigen Komplex sich wechselseitig bestätigender und stützender Verhaltensweisen an, von denen sie sich als Individuen nur in der subjektiven Ausnahme distanzieren können, und auch dann in der Regel nur über die psychohygienisch riskante Technik der reservatio mentalis. Der Einfluß dieser Verhaltensmuster reicht auf dem Gebiet der kompensatorischen Interessen weit in das überschüssige Bewußtsein hinein, wo er meist mehr mit seinem westlichen Pendant als mit den emanzipatorischen Kräften beider Systeme konfrontiert wird. Der Masse der Individuen bleibt gar nichts anderes übrig, als sich mindestens formell in der Subalternität einzurichten, solange es keine sozialpsychisch wirksame Operationsbasis für die emanzipatorischen Interessen gibt. Gerade deshalb wird auch die tschechoslowakische Erfahrung, daß die entwickeltsten Elemente aller sozialen Schichten und Gruppen individuell für eine Veränderung sind, von dem Oberflächenphänomen ihrer politischen Unterordnung nicht annulliert. »Am Grunde der Moldau, da rollen die Steine...«

Wer ist eigentlich der Apparat?  

Ist er eine weitere soziale Schicht oder Gruppe neben den anderen? Das gilt höchstens für das Personal seiner eigentlichen Kommandostruktur, d.h. vor allem (natürlich mit individuellen Ausnahmen) für die Linienfunktionäre in Partei, Staat und Wirtschaft. Sie sind ja die Repräsentanten des hierarchischen, bürokratischen Wissens gegen das überschüssige Bewußtsein in der Gesellschaft. Psychologisch stellen sie erstens, da Gehorsam die Vorbedingung der Berufung ist, von vornherein eine typologische Auswahl von besonders anpassungsbereiten und autoritären, intellektuell und moralisch weniger anspruchsvollen Leuten dar. Und sie sind zweitens täglich gezwungen, sich in Gegensatz zu den widerwilligen Massen zu bringen. Die Erfahrungen, die sie dabei machen, nähren die Offiziersmentalität, den Wunsch nach stärkeren Disziplinierungsmitteln. 

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Nur diese bestimmte, mehr oder weniger dafür disponierte Minderheit läßt sich in ihrem gesamten Lebensprozeß vom Apparat absorbieren, jedenfalls in den wesentlichen Beziehungen. Diese und nur diese Leute, die also auch subjektiv durchbürokratisiert sind, so daß ihnen nachher keine produktive Existenzform mehr offenstünde, sind jetzt die Feinde jeglicher Veränderung, weil sie unvermeidlich ihre Leidtragenden werden. Sie allein sind die politbürokratische Reaktion. Und sie sind ideologisch so isoliert, daß sie zu ihrer Sicherheit ständig der latenten militärischen Intervention zu ihren Gunsten bedürfen. Die Gesellschaft gehorcht allein der Gewalt, die sie loszulassen vermögen.

Natürlich ist auch dieses Element nicht homogen, und je jünger die neue Ordnung noch ist, desto weniger, weil in der frühen Phase jeweils noch gewissenhafte, von Gesinnungen statt von Karriere inspirierte Menschen herangezogen wurden, die jetzt — nicht selten mit verborgenem Gewissenszwiespalt — mittlere und höchste Ränge bekleiden, soweit sie nicht ausgeschieden wurden. 

Ich habe schon betont, daß es ganz falsch wäre, die exponierten Bürokraten nur nach ihrer offiziellen Physiognomie und den mit ihrer Funktion verbundenen Ritualhandlungen und Verhaltenstechniken zu beurteilen. Je mehr sich die Bürokratie dann später aus der Intelligenz rekrutiert, um so häufiger wird sich nun aus diesem anderen Grund ein ambivalentes, distanziertes Verhältnis zu den vorgegebenen Rollen einstellen, so daß eine Kapazität für kritische Reflexion frei wird. Langfristig gesehen bleibt also selbst dieses Kernelement der Bürokratie seiner personellen Substanz nach »unzuverlässig«. Das Wesen der ganzen Situation besteht ja eben darin, daß auf den verschiedensten Ebenen des Gesamtarbeiters ein Überschuß menschlichen, auf kein abstraktes Funktionieren für begrenzte Zwecke reduziblen Bewußtseins frei wird, das über die bestehende Arbeitsteilung hinausdrängt. 

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Die Masse der im Apparat beschäftigten Menschen ist freilich gefährdet, durch die Mühen des Funktionierens absorbiert, d.h. um die Entfaltung des überschüssigen Bewußtseins und insbesondere der emanzipatorischen Interessen gebracht zu werden. Die Absorption ist ein sehr realer Prozeß psychophysischen Energieverbrauchs und -verschleißes. Solange die Gesellschaft nur wenig Qualifikation, nur eine kleine Elite erzeugt, absorbiert der Apparat den größten Teil der von der unmittelbaren Produktion freigesetzten psychischen Energien und Kapazitäten und kann den Rest weitgehend durch die Bereitstellung der Bedingungen von produktiver Muße oder parasitärer Konsumtion korrumpieren. Heute jedoch produziert die Gesellschaft — und zwar, obwohl der Apparat die Entwicklungsrate drückt — eine solche Masse an allgemeiner Fähigkeit, daß sie unmöglich direkt vom Apparat beschäftigt werden kann. 

Die Gesellschaft hat unter den bestehenden Verhältnissen einfach keine ausreichende Verwendung für diese subjektiven Produktivkräfte. Daher die unentwegte Anstrengung der Politbürokratie, das unverwendete überschüssige Bewußtsein auf kompensatorische Interessen festzulegen. Es ist dies der innerste Gehalt der »Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik« (nicht etwa Gesellschaftspolitik), wenn man sie von ihrer machtpolitischen Funktion her betrachtet. Doch selbst wenn in der psychischen Struktur der meisten Betroffenen die kompensatorischen Bedürfnisse überwiegen, so daß es nur zu einer Flucht in die verschiedensten Privatbefriedigungen kommt, entziehen sie sich jedenfalls innerlich der offiziellen Autorität. Und die Reduktion auf ein Nummerndasein hört nicht auf, der Individualität Schmerzen zu bereiten.

Im ganzen gesehen darf man also das Personal des Apparats keineswegs mit diesem selbst gleichsetzen (umgekehrt gibt es natürlich auch außerhalb des Apparats Menschen mit der Mentalität von Bürokraten). Die Einteilung erfolgt nur sehr bedingt nach Maßgabe des Angestelltenverhältnisses. Die Front geht durch die meisten mitten hindurch. 

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Man kann ohnehin davon ausgehen, daß alle Individuen mehr oder weniger an allen vier genannten Fraktionen des gesellschaftlichen Bewußtseins teilhaben. Es fragt sich nur, von welcher jeweils die Motivationsstruktur beherrscht wird. Gerade das ist gegenwärtig das Kampffeld, nicht — wie man unreflektiert meinen sollte — das reale Verhalten in der manipulierten Öffentlichkeit des Arbeitslebens, das bloß die Machtverhältnisse widerspiegelt, nicht den ideologischen Prozeß, der die Entwicklung der subjektiven Produktivkräfte ausdrückt. 

Ich sprach von der Tendenz zur Bürokratisierung der Intelligenz, also zur Eingliederung gerade derselben Kräfte in den Apparat, aus denen sich das reformatorische Potential vornehmlich rekrutiert. Prinzipiell umfaßt der Apparat ja das gesamte Leitungspersonal der Gesellschaft, weil jede noch so kleine Leitungsfunktion, und sei es die des Gewerkschaftsvertrauensmanns, politisch nicht in erster Linie als Bestandteil des kollektiven Basisprozesses erscheint, für den sie notwendig ist, sondern als Ausfluß der Gesamtleitung, der Regierungsgewalt. Mehr noch, wie ich zeigte, treten den Ausführenden nicht nur die administrativen Funktionen, sondern auch die bloßen Verwaltungserfordernisse und sogar die technologischen Notwendigkeiten, so gegenüber. 

In Gestalt von Leitung, Verwaltung und Produktionsvorbereitung ist tatsächlich nahezu alles für den Reproduktionsprozeß direkt relevante Wissen dem unmittelbaren Arbeits- und Lebensprozeß gegenübergestellt. Die Individuen jedoch, die diese zunehmend standardisierten Unterfunktionen wahrnehmen, sind subjektiv größtenteils nicht mehr mit den entsprechenden Tätigkeiten und Positionen identifiziert. Das heißt, der Apparat vermag sie nur noch so weit zu integrieren, wie er ihre abstrakte Arbeitskraft beansprucht, während sich ihre Subjektivität seinem Zugriff immer mehr entzieht. 

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Diese Tendenz schließt gewiß nicht aus, daß die Erfahrungen, die für die Ausführenden beliebiger Leitungsfunktionen aus der Kontraposition des Apparats zur Gesellschaft entstehen, dennoch alle, die irgend etwas zu leiten haben, in gewissem Umfang solidarisieren. Diese spontane korporative Solidarität kann aber durch kritische Reflexion der Gesamtverhältnisse leicht unterhöhlt werden und hält insbesondere dann nicht stand, wenn sich soziale Widersprüche politisch zuspitzen. Dann verlassen viele Funktionäre rasch die, Position des hierarchischen Wissens und lassen sich von den Entfaltungsbedürfnissen ihres überschüssigen Bewußtseins leiten. Genau das haben wir in der Tschechoslowakei gesehen.

Besonders tief geht der Widerspruch zwischen dem Apparat und dem überschüssigen Bewußtsein in der Sowjetunion, weil die dortige Politbürokratie infolge der ererbten halbasiatischen Mentalitätsrückstände weniger kultiviert und anpassungsfähig ist, weniger durchlässig, um sich die neuen gesellschaftlichen Kräfte bis zu einem gewissen Grade in Kompromissen zu assimilieren. Die sowjetische Statistik spricht davon, daß etwa drei Fünftel der Werktätigen in der Industrie jetzt Hoch-, Fach- oder Oberschulbildung haben. Aber die qualifizierten Elemente werden politisch ähnlich väterlich betreut und bevormundet wie der letzte Kolchosbauer, der noch den Zaren erlebte. 

Auch die Befähigtsten werden in jeder Hinsicht als untergebene Spezialisten behandelt, als Rädchen und Schräubchen in dem riesigen Uhrwerk der Staats­wirtschaft, das durch die anonyme Betriebsamkeit der Bürokratie aufgezogen wird. Zweifellos gibt es seit Stalins Tod atmosphärische Veränderungen in den Betrieben und Institutionen, die äußerst wichtig sind; aber um so reaktionärer wirkt die Aufrecht­erhaltung des alten Prinzips. Das ist der Hauptgrund, weshalb die Produktivität der sowjetischen Wirtschaft und Wissenschaft in so eklatantem Mißverhältnis zu der Menge der aufgebotenen Qualifikation steht. Die vielen Millionen Kader haben — wenn auch am spezialisierten Fall — das Abstraktions- und Differenzierungsvermögen erworben, das sie zur Mitbestimmung über die Geschicke des Landes, über die Perspektiven der gesellschaftlichen Entwicklung befähigt.

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Aber sie dürfen ihren Kopf nicht dazu gebrauchen. Noch wird der größte Teil dieser potentiellen Energie durch die Fortdauer des Mangels und durch den Ausschluß von den allgemeinen Angelegenheiten auf kompensatorische Interessen abgelenkt oder auf den überlieferten Stumpfsinn zurückgeführt, wie es ihn schon immer auf allen Ebenen der russischen Gesellschaft gab, nicht nur in der Kate, sondern auch im Gutshaus. Der Dichter Jurij Kasakow hat vor einigen Jahren in seiner Erzählung <Larifari> ein neues Symbol für diese ins Leere verpuffende Energie geschaffen. Aber der Überschuß ist viel zu groß, um sich durch irgendwelche Ventile verflüchtigen zu können, und er konzentriert sich in den industriellen und administrativen Knotenpunkten des Landes, um die sich auch die wissenschaftlichen und künstlerischen Kräfte sammeln. 

Ich will noch einmal den Charakter des jetzigen Widerspruchs zwischen dem sowjetischen Überbau und den neuen Produktivkräften als historisch gewordenen betonen. Die Sowjetunion begann — genau wie später China — mit einer Minorität von Kadern, die einer Majorität von manuellen Arbeitern (vor allem der Landwirtschaft) gegenüberstand. Die Form der alten ökonomischen Despotie hing maßgeblich auch mit der Größe oder vielmehr Kleinheit, mit der Qualifikation und mit den Reproduktionsgesetzen der verfügbaren Elite zusammen. 

Aber damals wurde diese durch die Dualität von ideologischer (priesterlicher) und administrativer (beamtlicher) Autorität gekennzeichnete Qualifikation bloß im Maßstab der einfachen Reproduktion jeweiliger Herrschaftsverhältnisse erzeugt. In der materiellen Produktion trat ja kaum Bedarf nach intellektueller Arbeit auf. Dagegen hat die ökonomische Revolution, die der Lenin-Stalinsche Apparat in der Sowjetunion initiierte, selbst die neuen subjektiven Produktivkräfte geschaffen, die ihm jetzt über den Kopf wachsen und gegen seine Kontrolle protestieren. Zuerst hat sie eine neue Arbeiterklasse »an sich« geschaffen. 

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Da die Industrie für diese Massen ganz neu war, selbst für die jungen Spezialisten der dreißiger Jahre, die sich überstürzt (doch in einem nahezu romantischen Geist!) nur das allernotwendigste Wissen aneignen konnten, wurde ihre Qualifikation im großen und ganzen von ihrer Tätigkeit absorbiert. Heute sind das die sowohl biologisch als auch historisch älteren Schichten des Gesamtarbeiters. Wie die Dinge liegen, brauchen sie nun zu ihrer Emanzipation die Vermittlung entwickelterer Kräfte. Objektiv ist ihre soziale Stellung (sofern es sich nicht um aufgestiegene Individuen handelt) — nächst der der Mehrheit der Kolchosbauern — am schlechtesten, ihr Gegensatz zum Apparat am größten. Subjektiv sind sie seine passive, resignierte Massenbasis. Diese beiden Pole entsprechen einander, sind Fleisch desselben Körpers, eben des sowjetischen Gesellschaftskörpers der dreißiger Jahre.

In den anderen osteuropäischen Ländern ist die Tendenz zur Unterordnung der äquivalenten Schichten unter den Apparat auch vorhanden, aber sie dringt nicht derartig durch, weil der Apparat ja nicht zusammen mit diesen Schichten, als ihr kommandierender Überbau, gewachsen ist, sondern ihnen gegenüber die von den vorigen Chefs verlassenen Positionen bezog. In der DDR entspricht dieser sowjetischen Schicht am ehesten jene Generation, die 1945 jung genug für einen relativen Neuanfang aus dem Kriege kam. Doch bestand hier nicht die in der Sowjetunion noch zu beobachtende patriarchalische Verbundenheit, die durch den Kampf gegen die Faschisten noch verstärkt wurde.

Aber wie dem auch sei, die Perspektive liegt bei historisch jüngeren, entwickelteren Gruppen. Die industrielle Revolution des XIX. Jahrhunderts geht in der Sowjetunion direkt in die wissenschaftlich-technische Revolution des 20. Jahrhunderts über. Die sozial und intellektuell besser gestellten Schichten und Gruppen des Gesamtarbeiters können auch besser kämpfen, zumal sie, wenn man von der in der Sowjetunion besonders überalterten Leitungspyramide absieht, auch die Energie und die Hoffnung der Jugend für sich haben. 

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Sie sind mit der modernsten Produktion und deren Vorbereitung verbunden, sind selbst die Personifikation der neuen Produktivkräfte. In der jungen Generation spiegeln sich naturgemäß am stärksten die sozialen Veränderungen wider, die die ganze Gesellschaft durchgemacht hat und hinter denen der Apparat, als wesentlich stationäre Struktur, zurückgeblieben ist. Auch in der Sowjetunion werden sich zuerst diejenigen Elemente regen, die, obwohl auch (und weil z.T. sogar künstlich) der alten Arbeitsteilung unterworfen, doch nicht gänzlich von deren Herrschaftsbereich absorbiert werden können, die also deren ökonomischen Zwängen am wenigsten unterworfen sind, so daß sie den politischen Zwang, die politische Beschränkung um so heftiger spüren.

Insofern ist eine Entwicklung symptomatisch, die sich inzwischen in allen Ländern des real existierenden Sozialismus abzeichnet, daß nämlich der Apparat das für seine Herrschaft gefährlichste Element direkt an seinem Busen zu nähren gezwungen ist. Ich spreche von der Gruppierung seiner eigenen Ideologen, die er zu ausführenden Agitations- und Propagandaspezialisten degradiert. Aus dieser Gruppierung kommen gesetzmäßig die geistigen Führer des antibürokratischen Blocks. Die Ideologen sind als erste in der Lage, ihre Frustration durch das bürokratische Rollensystem, das die Entwicklung ihrer Persönlichkeit deformiert und jeden wesentlichen Ausdruck ihrer Individualität verhindert, zu reflektieren und auf die sozialen Ursachen zurückzuführen. Sie sind durch die Partei, die das aus bereits erwähnten Gründen nicht lassen kann, wenigstens mit den Grundzügen des Marxismus bekannt gemacht worden. Je mehr sie durch ihre Auftragsarbeit und deren Widersprüche dahin gelangen, Marx und Lenin wirklich zu lesen, um so nachhaltiger werden sie von dem für die bestehenden Verhältnisse ausgesprochen subversiven Geist und Temperament dieser revolutionären Lehrer berührt. 

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Das unverwendete Potential an allgemeiner, d.h. aufs Allgemeine gerichteter Intelligenz war immer rebellisch, und — vor dem Hintergrund neuer Produktiv­kräfte — revolutionär. Die »Philosophen«, die Ideologen können sich nicht damit abfinden, auf den Status gehorsamer Spezialisten für die Manipulation des gesellschaftlichen Bewußtseins nach päpstlichen Rezepten beschränkt zu werden. 

Die in Partei- und Staatsbeamtenrollen gedrängten Ideologen aller Art, von den Sozialwissenschaftlern bis zu den Journalisten, von den Künstlern bis zu ihren Zensoren, von den Strategen der Naturwissenschaft bis zu den Lehrern der Geschichte — sie alle werden fortwährend, direkt und indirekt, durch die Vorschriften, durch die Rügen und durch das Lob der anmaßenden Politbürokraten (der großen und noch mehr der kleinen) gedemütigt. Um den Normen und Riten des offiziellen »geistigen Lebens« gerecht zu werden, müssen die meisten von ihnen ein Pensum öffentlicher Selbstdarstellung als armselige Kretins absolvieren. Man mutet ihnen zu, angesichts einer ganzen Gesellschaft, die das ideologische Schattenspiel mehr oder weniger durchschaut, diensteifrig an des Kaisers neuen Kleidern zu weben. 

Während ihr Leben und ihre Arbeit sozial nur damit zu rechtfertigen ist, daß sie die Wahrheit über gesellschaftliche Zusammenhänge erkennen und verbreiten, müssen sie ihre Einsichten verbergen, das Volk ohne den gewünschten Effekt belügen und seine wachsende Verachtung dafür in Kauf nehmen. Ihre Produktivität wird in den ewigen kleinlichen Anpassungszwängen, in der zynischen Selbstzensur, in den Mühen, einen vorsichtigen neuen Gedanken unter einem genügend großen Haufen des üblichen Kartoffelkrauts zu verstecken, aufgezehrt und entwertet. Die Menschen klagen diese ideologischen Funktionäre nicht einmal, wie es vielfach zuträfe, des Parasitismus an. Sie sagen nur: »Die müssen ja so reden.« Und sind sie nicht tatsächlich bestochen?

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In diesem unglücklichen Bewußtsein, das in allen sowjetisch beeinflußten Ländern immer weiter aufgeladen wird und nicht nur vor den Toren der ZK-Gebäude, sondern vor den Türen der Politbüros lauert, besteht die Spitze des reformatorischen Potentials. Es läßt sich nach der tschechoslowakischen Erfahrung (übrigens lehrte schon Ungarn 1956 dasselbe) mit großer Sicherheit sagen: Je näher irgendeine soziale Sphäre dem Politbüro ist, d.h. je näher sie entweder intellektuell oder funktionell der Verfügungsgewalt über die informationellen Regulierungsmechanismen steht, ohne wirklich zu ihr zugelassen zu sein, desto mehr und desto gefährlichere Feinde hat dort die Apparatherrschaft. Im entscheidenden Augenblick wird sich auch immer ein Kopf im Politbüro selbst finden, der sich aus welchen Motiven auch immer in den Dienst einer einleitenden personellen Machtverschiebung stellt. Es ist dies nur eine Frage der historischen Gelegenheit; die Ablösung der politbürokratischen Diktatur ist sozialökonomisch überfällig. Die Gesellschaft wird sich von diesem Residuum einer früheren Epoche befreien, auch die sowjetische. 

Wenn man die russische Geschichte des 19. Jahrhunderts liest — war es nicht eine ähnliche Entwürdigung der Intelligenzija, aus der sich die Generationen russischer Revolutionäre bis hin zu den Begründern des Bolschewismus erhoben haben? Aber welcher Unterschied! Damals, im 19. Jahrhundert, war die Schicht der Intelligenzija sozial isoliert, und immer auf der Suche nach einem mächtigen Resonanzboden. Sie paßte sich zunächst den wirklichen oder vermeintlichen Bedürfnissen der russischen Bauernschaft an, um schließlich in der jungen Arbeiterklasse ihre Armee zu finden. Jedenfalls mußte sie ein Bündnis mit ganz anders gearteten Kräften eingehen. Heute befinden sich die Ideologen, die von der Zielsetzung und Sinngebung des sozialen Prozesses ausgeschlossen sind, nur exponiert in einer Situation, die immer größere Teile der ganzen Gesellschaft als Zumutung empfinden. Das überschüssige Bewußtsein ist eben ein — wenn auch ungleich starkes — Kontinuum

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Längst bringen auch die unmittelbaren Produzenten, zumindest durch ihren passiven Widerstand gegen das gesamte intellektuelle Personal der Leitung, Verwaltung und oft auch Produktionsvorbereitung, für das sie meist summarisch den Terminus »Bürokraten« verwenden, die tiefe Unzufriedenheit mit ihrer Rolle als subalterne Teilarbeiter zum Ausdruck, die ihrem Bildungsstand immer weniger entspricht. Und besonders stark ist das reformatorische Potential bei den Spezialisten in dem sozialen Strukturelement der Stäbe, die den bürokratischen Kommandolinien aller Zweige zur Seite stehen. Dort wird sowohl analytische als auch synthetische Arbeit geleistet, die oft von gewissen gesellschaftspolitischen Idealvorstellungen oder wenigstens von dem Bedürfnis nach technisch-ökonomischer Rationalität im Detail getragen ist. 

Aber die Möglichkeit der Initiative bleibt diesen Spezialisten im allgemeinen vorenthalten, und das ruft gerade deshalb ihren Unmut hervor, weil sie vom Gegenstand her meist eine relativ befriedigende Tätigkeit haben. Ihr Produkt wird ebenso entfremdet wie das der unmittelbaren Produzenten. Sie sind von den Realisierungsbedingungen ihrer Schöpferkraft getrennt. Noch näher steht den unzufriedenen Ideologen das Massenheer der zukünftigen Spezialisten, weil die studentische Jugend noch nicht von den allgemeinen Idealen enttäuscht ist, die die Leitsätze der offiziellen Weltanschauung ausmachen, und ihre Verwirklichung fordert. Sie ahnen dunkel, daß sie ihr Ausbildungsweg in die Enge und Subalternität der alten Arbeitsteilung zurückführen wird, der sie im Augenblick noch kaum unterworfen scheinen. Besonders im Hinblick auf die Jugend, die im Durchschnitt eine passable, wenn auch beschränkte Fachausbildung erhält, gibt es praktisch überhaupt kaum noch eine Schicht, die nicht über ein Minimum an freier Bewußtseinskapazität verfügte. 

Vor diesem Hintergrund will ich noch einmal zusammenfassend wiederholen: Die Konfrontation in unserer Gesellschaft kann nicht in den Kategorien der traditionellen Klassenwidersprüche verstanden werden. Das Subjekt der Emanzipationsbewegung findet sich in den energischen, schöpferischen Elementen aller sozialen Schichten und Bereiche. 

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Allerdings besteht das Problem darin, daß diese Schichten und Bereiche, schon bedingt durch den für unsere Verhältnisse charakteristischen Mechanismus der sozialen Differenzierung im Entwicklungs- und Erziehungsprozeß der Individuen, nicht den gleichen Anteil solcher aktiven Elemente aufweisen. Lenin warf einmal ein, »ob wir die <gesamte> unterdrückte <Menschheit> befreien werden, das weiß ich noch nicht: z.B. die Unterdrückung der Charakter­schwachen durch diejenigen, die einen recht festen Charakter haben« (LW 6/40). 

Die Auslese bedient sich bei uns unvermittelter als in anderen Formationen psychischer Mechanismen, die sich im Sinne eindeutiger Präferenzen für die gebildeteren Schichten auswirken. Heute weiß man, daß selbst die charakterliche Differenzierung mit den sozialen Ungleichheiten zu tun hat. Insbesondere korrespondiert die motivationale Atmosphäre in der immer noch für die spätere Entwicklung weitgehend maßgeblichen Herkunftsfamilie mehr oder weniger mit den »objektiven Anforderungen« der Bildungsinstitutionen und des bei ihnen approbierten pädagogischen Stils — je nachdem, welche Ausbildung und Tätigkeit den Erwachsenen zuteil geworden ist. 

Das hat Konsequenzen für die Verteilung des emanzipatorischen Potentials Zuungunsten der unmittelbaren Produzenten, und zwar sind diese Konsequenzen um so größer, je stärker in unserer Schule das Leistungsprinzip durchgesetzt wird. Es ist zwar richtig: »Ihre unterprivilegierte Stellung in der arbeitsteiligen Produktion und ihr Platz in der Pyramide des <demokratischen Zentralismus> sind es, die nach Veränderung drängen und das Bewußtsein der Notwendigkeiten produzieren werden«, wie Volker Braun schon 1968 notierte (publiziert 1975). Jedoch fragt sich, bei wem bzw. bei wem zuerst dieser Effekt eintreten kann. Braun fuhr damals fort: »Die Arbeiter als Klasse sind am stärksten an Veränderungen interessiert, und das wird zu etwas führen 

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Es gibt aber bisher keine Anzeichen, übrigens auch in Polen nicht, daß »die Arbeiter« unter unseren Verhältnissen »Klasse für sich« sein könnten und daß ihre »objektiven Interessen« den nächsten Schritt der allgemeinen Emanzipation bewirken würden. Das Maß an Hoffnungen, das sich an gesellschaftliche Veränderungen knüpft und das Engagement für sie motiviert, hängt — sofern nicht ganz extreme Pressionen zur Erhebung zwingen — von den angestauten Kräften ab, die sich entfalten wollen. Dieser wesentlich psychische Mechanismus der Aktivitätsdifferenzierung spielte in Umbruchsituationen von jeher eine wichtige Rolle. Solange sich noch Klassen gegenüberstehen, kann er freilich nur die Verteilung der Initiative innerhalb dieser verschiedenen Klassen erklären. 

Anders in den Übergangsperioden am Anfang und am Ende der Klassengesellschaft, in denen die soziale Differenzierung nach den Funktionsniveaus der gesellschaftlichen Arbeit viel unvermittelter an die natürlichen und quasi-natürlichen psychischen Unterschiede anknüpft. Weniger denn je werden die Letzten die Ersten sein. Diese ganze Denkweise greift nicht mehr. Die Perspektive ist anders: Die Veränderungen werden ausgehen auch von den objektiven Widersprüchen, von den Belastungen, die für die ganze Gesellschaft und ihren Reproduktionsprozeß mit der Existenz subaltern gehaltener Schichten gegeben sind. Aber die Initiative dazu kann nur von den mit den Entwicklungsfunktionen und -tendenzen der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse verbundensten Elementen ausgehen. Dies ist nicht Forderung, sondern Realität. Fordern kann man, und muß man, daß sich diese Elemente nicht in ihren Sonderinteressen abschließen, sondern alle veränderungswilligen Kräfte anziehen und um sich formieren.

Hier mag man die Frage aufwerfen, ob bei einem solchen Aktivierungsmuster etwas anderes herauskommen kann, als bloß eine neue Machtverteilung zugunsten der Intellektuellen, der Wissenschaftler und der Wirtschaftsleiter. Das ist eine viel breitere Schicht als die Politbürokratie, die gegenwärtig immerhin deren Appetit in Schranken hält. 

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Die Politbürokratie braucht das Wohlverhalten der werktätigen Massen und ist daher zu sozialpolitischen Kompromissen bereit; sie ist da auch an einen ideologischen Restbestand aus der Vergangenheit der Arbeiterbewegung gebunden. Was wird geschehen, wenn die Technokraten, aller Kontrolle ledig, nur noch für ihren technisch-ökonomischen Erfolg arbeiten werden? — Das ist die Stimme der inoffiziellen politbürokratischen Apologetik, die den bestehenden Zustand als kleineres Übel für »die Arbeiter« ausgibt. Ganz ähnlich ließ vor 200 Jahren der patriarchalische Ausbeuter vor dem kapitalistischen warnen.

Abgesehen davon, daß der gerade noch gezügelte selbstherrliche Technokrat bei uns die Züchtung des Politbürokraten ist, daß der also mit dem Knüppel droht, den er zuvor geschnitzt hat (ich erinnere noch einmal an Lipatows »Mär vom Direktor P.«), wäre die Emanzipation der Gesellschaft von der politischen Vormundschaft nach aller historischen Logik selbst dann ein Fortschritt, wenn sich die schlimmsten Unkenrufe der Novotnys zunächst bewahrheiten sollten. Wir hätten dann wenigstens die ungehemmte Entfaltung der sozialen Widersprüche. Die werktätigen Massen würden sehr schnell lernen, daß auch noch eine andere Kontrolle der Direktoren möglich ist als die politbürokratische.

In Wirklichkeit geben die von der Politbürokratie präsentierten Exemplare des »verantwortungslosen Journalisten«, »egoistischen Wissenschaftlers«, »unsozialen Technokraten« usw. natürlich ein tendenziöses Zerrbild von den Perspektiven einer Gesellschaft, in der die intellektualisierten Schichten des Gesamtarbeiters einstweilen zwangsläufig den Ton angeben werden. Die Apologeten des bestehenden Zustands können freilich die emanzipatorischen Interessen und deren künftige politische Organisation bei ihrer präventiven Kritik nicht in Rechnung stellen! Die teils offene, teils unterschwellige Stimmungsmache gegen die Intellektuellen im weitesten Sinne geht von einer engen Korporation aus", die selbst aus reaktionär gewordenen, bürokratisierten Intellektuellen besteht, welche die ganze soziale Macht für sich usurpiert haben. 

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Der Machtapparat versucht, während er sein Personal von der Intelligenz ausnimmt und zur Avantgarde der Arbeiterklasse erklärt, die begreiflichen Ressentiments der traditionellen Arbeiterschichten gegen die Träger vorwiegend geistiger Arbeit auszunutzen und appelliert dabei speziell an den volkstümlichen Haß auf die von ihm selbst organisierte Korruption der Intellektuellen, Wissenschaftler, Ärzte, Künstler usw. 

Dabei kann er die erzwungene bürokratische Integration der oppositionellen Elemente ausnutzen. Vor dem Sturz der Novotnys können sich diese Elemente (deren Kern typischerweise innerhalb der Partei heranreift und selbstverständlich auch Funktionäre des Apparats einschließt) nur intern artikulieren, also nicht allgemeinverständlich von der Apparatherrschaft abgrenzen. Man. hat in der CSSR gesehen, daß es gerade in der jüngeren bis mittleren Generation kaum einen Funktionär gibt, den man vor einer Offenlegung der politischen Kräfte ohne persönliche Bekanntschaft zuverlässig eingruppieren könnte. 

Die profiliertesten Kader müssen sich, wenn sie oppositionell eingestellt sind, besonders undurchsichtig tarnen und oft den Advokaten des Teufels spielen. Die meisten Oppositionellen agieren zwangsläufig in irgendeiner Weise als Diener des Apparats. Indem der Apparat den Schein der Einheit aufrechterhält und so gut er vermag die Integration der gesamten intellektuellen Arbeit in die Leitungshierarchie betreibt, behält er die für siGh lebenswichtige Möglichkeit, die beiden Flügel des Gesamtarbeiters unter seinen Fittichen gegeneinander auszuspielen. 

Aber diese Möglichkeit existiert eben nur so lange, wie sie polizeilich und militärisch abgesichert ist. Die CSSR hat gezeigt, daß unsere soziale Struktur, jedenfalls in den westlichen Ländern des sowjetischen Blocks einschließlich Ungarn und Polen, reif für eine Umkristallisation ist. Sobald die Politbürokratie »nicht aufpaßt« (wie sie es selbst sieht), sobald sie eine schwache Stunde hat, funktioniert sofort die faktische Hegemonie der intellektuellen Elemente über den gesamten sozialen Block, der sich in seinem überschüssigen Bewußtsein von ihnen angesprochen fühlt.

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Die werktätigen Massen akzeptieren dann sehr schnell die neue, entscheidende Frontbildung zwischen »Progressiven« und »Konservativen«, eine Scheidung nach negativer oder positiver Einstellung zum bisherigen herrschenden Apparat, der dann jählings in der vollkommenen Isolierung dasteht, die sonst sein unsichtbares Stigma ist. Die auf den Apparat festgelegte Gruppierung fürchtet mit Recht, die ganze Hand zu verlieren, wenn sie den Weinen Finger gibt, um den Erwartungen der Gesellschaft entgegenzukommen. Sie schätzt ihre eigene politisch-ideologische Stärke und die des unter der Oberfläche gegen sie bereitstehenden Potentials durchaus richtig ein. Sie muß ihre speziellen politischen und damit ökonomischen Machtpositionen als verloren betrachten, sobald sie ins Rutschen geraten. Gerade das hat das tschechoslowakische Beispiel sichtbar gemacht. Daher trifft eine ernsthafte Opposition der Intellektuellen, wenn sie einige Breite erlangt, bei uns so schnell den Nerv des Machtapparates.

Nun bedeutet das Vorhandensein eines revolutionären Potentials an sich noch keine revolutionäre Situation, sondern nur ihre Möglichkeit. Ihr Eintreten setzt eine spezifische Zuspitzung der inneren Krisenmömente und ihre Ausnutzung darüber hinaus eine günstige internationale Konstellation voraus. Es gibt eine Frage, in der die offizielle Apologie immer noch einigermaßen massenwirksam ist. Nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege reagieren besonders die Angehörigen der älteren Generation spontan angstvoll auf jede scheinbare oder tatsächliche Störung des Gleichgewichts zwischen den Machtblöcken, ja auf die bloße Möglichkeit einer solchen Störung. Zweifellos nimmt, die Erbitterung über die erpresserische Manier zu, in der das Verfügungsmonopol über alle Ressourcen, die der real existierende Sozialismus der NATO entgegenstellen kann, zur Herrschaftssicherung nach innen ausgenutzt wird. 

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Aber zahlreichen durchaus unzufriedenen Menschen, nicht zuletzt unter den Parteimitgliedern, wird der tägliche Kompromiß durch die Befürchtung erleichtert, eine Schwächung der Machtstruktur, die unsere Wirtschaft wie unsere Kriegsmaschine" kontrolliert, könnte das momentane Vakuum schaffen, in das die NATO hineinstößt. Konsequent verfolgt, verbietet dieser Gedanke jede Aktivität, jede Initiative, die in irgendeiner Weise die politbürokratische Diktatur schwächen könnte. Dazu ist zunächst zu sagen, daß die tschechoslowakische Entwicklung derartige Befürchtungen nicht bestätigt hat. Nach den Lehren von 1968 besteht die unmittelbare militärpolitische Aufgabe der Reformkräfte einfach darin, die Armeeführung für eine zumindest neutrale, tolerierende Haltung zu den Veränderungen zu gewinnen und dadurch zu sichern, daß die Streitkräfte während des Machtwechsels nach außen uneingeschränkt funktionsfähig bleiben. Genau dies ist in der CSSR erfolgreich exerziert worden. 

Eine ausführliche Analyse der militärpolitischen Situation ist nicht die Aufgabe dieses Buches. Festzuhalten ist jedoch, daß es nicht das geringste Anzeichen für eine Einstellung des Rüstungswettstreits gibt und daß die bestehende politische Verfassung der Warschauer-Vertrags-Staaten nicht die Möglichkeit bietet, in der Frage der Abrüstung effektiv in die Offensive zu gehen. Die Apparate können solche Entwicklungen wie Truppenabbau und Truppenrückzug schon wegen ihres spezifischen innenpolitischen Risikos nicht sehr weit vorantreiben. Eine wirkliche Abrüstungsinitiative setzt die Schaffung einer Einheits­front der progressiven Kräfte in beiden Blöcken voraus, um die politisch-militärischen Komplexe koordiniert unter Druck zu setzen. Anders ist von Verhandlungen dieser Komplexe untereinander keinerlei tiefgreifender Fortschritt zu erwarten. Gesellschaftliche Veränderungen sowohl in den kapitalistischen als auch in den nichtkapitalistischen Ländern Europas sind also die Vorbedingung, um das unfruchtbare Universum der Rüstungsplaner und Abrüstungs­diplomaten zu sprengen und eine Eskalation beiderseitiger Abrüstung in Gang zu setzen.

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Ein gewisses Risiko, das mit der kaum völlig auszuschließenden Ungleichmäßigkeit der innenpolitischen Entwicklungen hüben und drüben verbunden sein wird, muß in Kauf genommen werden, um der totalen Gefährdung zu entgehen, die in der sonst unaufhaltsamen Fortsetzung des Wettrüstens liegt. Der Sänger Wolf Biermann hat eine Formel gefunden, die die Dialektik dieser Situation vom Standpunkt der revolutionären Kräfte präzise zum Ausdruck bringt: »Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt drin um.«

Auch noch in anderer Hinsicht gehen die Entmutigungsreaktionen der progressiven Elemente, die dem gewaltsamen Abbruch des 1968er Aufschwungs folgten und noch nicht hinreichend überwunden sind, darauf zurück, daß viele den Blick noch nicht über die vordergründig imponierenden machtpolitischen und speziell militärischen Realitäten zu erheben vermögen. Die unzufriedenen Geister scheiden sich an der Frage der Möglichkeit und des Sinnes einer kommunistischen Opposition, zumal in den osteuropäischen Ländern außerhalb der Sowjetunion. Die Überlegungen der denkenden Menschen tendieren, was die Beschreibung unserer Verhältnisse betrifft, alle in die Richtung meiner Analyse. Aber man scheut sich, zu Ende zu denken, weil man sich vor den Konsequenzen fürchtet. 

Echte Sorge um das politisch-militärische Gleichgewicht in Europa springt da dem individuellen Bedürfnis nach sozialer Sicherheit bei. Jedenfalls ist es — abgesehen von mancher diskussionswerten Argumentation im einzelnen — zunächst einmal das Bequemste, den Gedanken einer konsequenten Opposition als illusorisch oder sogar provokatorisch abzutun. 

»Können wir uns denn bewegen? Und sollen wir uns bewegen? Ist es nicht besser, die Entwicklung abzuwarten? Womit sonst könnte die Bewegung gerade in dem unwahrscheinlichen Falle eines Anfangserfolges enden als mit dem Aufmarsch der überall und jederzeit präsenten sowjetischen Panzer? Sieh die CSSR heute an, das kommt bei solchen Versuchen heraus!«

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Man hätte also, wie Lenin nach 1905 zuhören bekam, wieder einmal »nicht zu den Waffen greifen«, 1968 den politischen Kampf gar nicht erst aufnehmen sollen ... Diese historische Erinnerung ist vor allem deshalb berechtigt, weil hinter der heutigen Resignation ebensowenig Verständnis für das strategische Kräfteverhältnis steckt wie damals bei den russischen Menschewiki und Liquidatoren. Der sowjetischen Führung würde der analoge Entschluß ein weiteres Mal noch bedeutend schwerer fallen als 1968, und sie dürfte inzwischen bereit sein, einen wesentlich höheren Preis als damals dafür zu zahlen, daß sie gar nicht erst vor eine solche Alternative gestellt wird. Obwohl das Trauma von 1968 noch psychologisch nachwirkt, haben die übrigen Länder des sowjetischen Machtbereichs heute einen größeren innenpolitischen Spielraum. Die Möglichkeiten oppositioneller Aktivität haben in jüngster Zeit (Helsinki, Berliner Konferenz der europäischen kommunistischen Parteien) erheblich zugenommen. 

Die Fähigkeit, militärisch gegen Volksbewegungen in anderen Ländern vorzugehen, kann überhaupt nur sehr bedingt von einem technologischen Standpunkt aus beurteilt werden. Sie ist — wie das Militär überhaupt — nach aller bisherigen Erfahrung eine von vielem abhängige Variable. Man verzichtet auf den historischen Materialismus, wenn man vergißt, daß Truppen auf die Dauer nicht neue, höhere Produktivkräfte in Schach halten können, von denen überdies ihre Ausrüstung abhängt. Und die internationale Situation macht es selbst für kürzere Fristen nicht wahrscheinlich, daß die Sowjetführung ihre Rolle als regionaler Gendarm aufrechterhalten kann, während die USA als Weltpolizist gescheitert sind. Eine erneute Intervention wie 1968 würde ihre gesamte Außenpolitik einschließlich des Kompromisses mit den westeuropäischen kommunistischen Parteien zerstören. Nicht zuletzt wird die innere bürokratische Stabilität durch jede weitere politische Polizeiaktion großen Stils tiefer erschüttert als durch die vorige.

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Der Mißbrauch der jungen Sowjetsoldaten geht nicht spurlos an der Moral der Armee und besonders ihres Offizierskorps vorüber. Bekanntlich war der Sieg über Novotny nicht ohne die Mitwirkung solcher Offiziere wie General Prchlik möglich. Ohne Zweifel besteht die sowjetische Generalität nicht aus lauter Reaktionären. Auch in Moskau wird sich neben einem sowjetischen Dubcek ein sowjetischer Prchlik finden.

Worin liegt eigentlich — wenn man das Psychologische beiseite läßt — der neuralgische Punkt, aus dem die Entmutigungsreaktion erwächst, d.h. der Fehler der politischen Einschätzung? Liegt er nicht in der nationalistischen Beschränktheit der oppositionellen Konzeptionen? 

Das nationale Phänomen ist eine sehr bedeutende Tatsache. Die Wurzel liegt in den historischen und aktuellen Entwickhungsungleichheiten der Völker, die das Gegeneinander der nationalen Interessen bewirken. Die sowjetische Führung ruft innerhalb und außerhalb ihres Landes den gegen sie gerichteten Nationalismus nach genau denjenigen Rezepten an, die Lenin 1922, als er über den Konflikt in Georgien sprach, so entschieden verworfen hatte (LW 36/590 ff.). Sie kann offenbar nicht anders, noch nicht zumindest. 

Der Nationalismus spielt objektiv eine notwendige Rolle bei der Zersetzung der Heiligen Allianz der Parteiapparate, insofern er zeigt, daß sie nicht produktiv mit der nationalen Frage fertig werden; sie sind sich dabei, wie in so vielen Dingen, einfach selbst im Wege. Doch wer fortwährend die sowjetischen Panzer beschwört, überläßt es den Apparaten, der Welt ihren »Internationalismus« vorzuführen, stellt sich selbst auf einen Standpunkt, der bloß die Kehrseite der großmachtpolitischen Komponente in der sowjetischen Außenpolitik ist. Die Opposition wird es lernen, über ihre jeweiligen nationalen Bedingungen hinaus die gesamte osteuropäische Szene als ihren Kampfboden anzusehen und sich dabei von jeder Art nationalistischer Vorurteile und Stereotype freizuhalten. 

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Nicht zuletzt wird sie sich auf aktive Solidarität mit den progressiven Kräften in der Sowjetunion einstellen, die je nach der politischen Entwicklung in Osteuropa Behinderung oder Förderung erfahren. Die sowjetische Opposition braucht Unterstützung durch ermutigende Beispiele. Maßgebend sind nicht die nationalen Unterschiede und Animositäten, maßgebend ist der fundamentale Widerspruch zwischen den sozialen Interessen aller Völker Osteuropas und den Interessen ihrer politischen Bürokratien. Die Völker der Sowjetunion brauchen ebenso wie die Völker der Tschechoslowakei, Polens, Ungarns usw. eine neue politische Lebensordnung.

Sicherlich kann heute auch in Moskau, Leningrad oder Kiew niemand sagen, »wie spät es ist« und wie schnell die Uhr läuft. Bei dem Charakter unseres Überbaus ist es die Regel, daß lange angehäufter Zündstoff »plötzlich« aufflammt, weil die sich zuspitzenden Widersprüche "keine Organe haben, in denen sie sich rechtzeitig äußern können. Sogar in der CSSR, wo man 1966/67 vieles erahnen konnte, überraschten dann Tempo, Breite und. Tiefe der Umgestaltung. Jedenfalls hat sich die Situation für den Interventionismus, für die Doktrin der beschränkten Souveränität außen- wie innenpolitisch verschlechtert, und der Apparat muß neue Wege suchen, auch gewisse neue Risiken eingehen, um Zuspitzungen vorzubeugen. 

Mehr als früher läßt er sich innerhalb der bestehenden Verhältnisse durch Bevölkerungsstimmungen beeinflussen, vorantreiben oder auch zurückdrängen, wie jetzt wieder in Polen. Die Erfahrung zeigt, daß er gern über bloß negative, restriktive Maßnahmen hinauskommen möchte. Es ist nicht auszuschließen, daß es zu wenigstens teilweisen Regenerationen kommt, etwa auf der Linie der Versöhnungsstrategie, die die ungarische Parteiführung nicht ohne Erfolg nach 1956 versuchte. Es gibt mehr als einen möglichen Ablauf historischer Ereignisse. Der Standpunkt »Je schlimmer, desto besser« liegt jedenfalls nicht im Interesse der Massen. Es fragt sich nur, ob die traditionellen Mächte Aufschübe noch nutzen können. 

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Bürokratien, die ihren Zenit überschritten hatten, haben selten anders reformiert als nach dem Rezept »zu wenig und zu spät«. Aber besonders die sowjetische Bürokratie steht heute unter dem Druck immer bedrohlicherer innerer und äußerer Widersprüche, für die es im Rahmen der bisherigen Antwortmuster keine Lösungen mehr gibt. Das Politbüro, das Zentralkomitee, der ganze verzweigte Apparat können auf die Dauer nicht bei den alten Standpunkten einig bleiben, die sich als zunehmend uneffektiv erweisen, im praktischen Leben und im ideologischen Kampf versagen. Der aufgeklärtere Teil des politbürokratischen Personals wird zwangsläufig danach streben, sich von dem Ballast der starrsten, reaktionärsten Elemente zu befreien.

Auf jeden Fall wird die in letzter Instanz alternativlose Entscheidung der Sowjetführung für die ausgedehnte industrielle und wissenschaftliche Kooperation mit Nordamerika, Westeuropa und Japan genau diejenigen Kräfte im eigenen Lande stärken, die in der CSSR die Hauptrolle im Kampf gegen das Novotny-Regime gespielt haben. Die spwjetischen Wissenschaftler, Techniker, Ökonomen werden nachhaltiger denn je und mit immer kürzerer Frequenz auf die prinzipielle Unangemessenheit des alten Überbaus zu den neuen Produktivkräften stoßen. 

Andererseits sind die fortschrittlichen Künstler, Gesellschafts­wissenschaftler und Journalisten längst dabei, das offizielle apologetische Selbstbild der Sowjetgesellschaft zu zersetzen und die grundsätzlich davon abweichende Wirklichkeit des Lebens zur Sprache zu bringen. Auch diesen Prozeß kann der Vergleich mit der Außenwelt nur beschleunigen. Das Klima der friedlichen Koexistenz, das offenbare Zurücktreten des unmittelbaren Überlebensproblems, wird sich in einer unaufhaltsamen Hinwendung zu den herausfordernden inneren Widersprüchen der neuen Gesellschaft auswirken. Zeitweilig mag die »große Kooperation« die herrschenden Gruppierungen beider Systeme etwas entlasten; insbesondere in der Sowjetunion kann sie einige überschüssige Kräfte durch relativ sinnvolle Beschäftigung zufriedenstellen. 

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Auf die Dauer wird die damit eingeleitete Evolution das große Bündnis der kulturrevolutionären Kräfte gegen beide Staatsmonopolismen auf den Plan rufen. Das unvermeidliche Pendeln der Führer zwischen Lockerlassen und Anziehen der Schrauben, die das geistige und kulturelle Leben der nichtkapitalistischen Industriegesellschaft unter Druck halten, wird das Seine dazu beitragen, die notwendige kritische Masse von Unzufriedenheit und Empörung aufzuladen. Der Apparat » kann da seinem Wesen und seiner Lage nach nichts mehr »richtig« machen.

Alles in allem genommen sind die tschechoslowakischen Erfahrungen hoffnungsvoll gerade dann, wenn man bei ihrer Bewertung den nationalen Rahmen überschreitet. Sie verweisen die Opposition nicht nur darauf, sie ermutigen sie dazu, die politische Hegemonie im Rahmen des ganzen sowjetischen Blocks anzustreben. Die echte große Chance unserer nichtkapitalistischen Basis kann auf diesem größeren Terrain viel wirksamer zum Tragen kommen. Mindestens wäre zu erreichen, daß es bei der nächsten nationalen Konfrontation eine grenzüberschreitende Solidarität gibt, die sich nicht nur stimmungsmäßig bemerkbar macht, sondern die Handlungsfreiheit der repressiven Kräfte einschränkt. 

Die revolutionäre Bewegung hat seit dem I. Weltkrieg immer wieder ihre bitteren Erfahrungen mit der Tiefe des kapitalistischen Verteidigungssystems gemacht, zuletzt erst 1968 in Frankreich und neuerdings in Portugal. Dagegen hat unsere Politbürokratie nur einen einzigen Graben, wie die CSSR wieder eindeutig erkennen ließ. Wird sie von den polizeilichen und militärischen Machtmitteln abgeschnitten, wird dieser Repressionsapparat auch nur neutralisiert, so ist der Weg innen frei für die sozialistische Neugestaltung des gesellschaftlichen Systems. Es war schon Substanz in der »Anfrage an den Sender Jerewan« nach dem 21. August, woher denn die Truppen gegen einen sowjetischen Dubcek kommen würden.

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Man kann dem sowjetischen Volk nur wünschen, daß es in Moskau rechtzeitig zu einer Führung kommt, die fähig ist, einen gesteuerten, gebremsten Reform­prozeß einzuleiten, um ihm eine spontane, zerstörerische Rebellion zu ersparen, und dies nicht zuletzt aus Gründen der internationalen Situation. Die Berliner Konferenz der europäischen kommunistischen Parteien hat die Sowjetunion und ihre Bündnispartner auf eine Herausforderung aufmerksam gemacht, die im allgemeinen Interesse eine positive, konstruktive Antwort verlangt, eine Antwort, wie sie nur die progressiven Kräfte in den Ländern des Warschauer Pakts gemeinsam finden können. 

Wie jeder weiß, ist die Form des politischen Überbaus, mit dem die antikapitalistischen Umgestaltungen in Osteuropa, nach 1945 durchgesetzt wurden, den Völkern dieser Region oktroyiert worden. Sie ist weder nach Substanz noch nach Gestalt noch nach dem Zeitpunkt die Konsequenz ihrer eigenen, nationalen Entwicklung, sondern das Ergebnis des überragenden sowjetischen Anteils am Sieg der Anti-Hitler-Koalition und der schon vorher durch die Komintern verwirklichten Unterordnung der übrigen kommunistischen Parteien unter die sowjetischen Staatsinteressen. Der Export des sowjetischen »Modells« hatte ursprünglich eine revolutionäre und progressive Bedeutung. 

Auch in seiner inadäquaten Gestalt hat dieser Überbau zunächst vornehmlich seine Rolle als Instrument des sozialen und industriellen Fortschritts in Osteuropa gespielt, relativ am wenigsten begreiflicherweise in den ökonomisch entwickeltsten Ländern. Im Falle der DDR tritt der Grad des ökonomischen Funktionierens in seiner Bedeutung ohnehin hinter die Tatsache zurück, daß der deutsche Imperialismus ein Drittel seines Einflußbereichs verloren hat. Jedenfalls hielt die geschichtliche Situation nicht etwa eine bessere Lösung für Osteuropa bereit. Die Sowjetunion gab hier, was sie nach der Logik ihrer eigenen inneren Bedingungen geben konnte, und zwar durchaus bis an die Grenze ihrer Möglichkeiten. 

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Hätte sie auf ihre Initiative verzichtet, wäre der industrielle Aufbruch Osteuropas verzögert, der halbkoloniale Status der meisten dieser Länder verlängert, die bürgerliche Struktur wiederhergestellt worden. Jedoch ist der so geschaffene neue Staat in keinem Falle (Jugoslawien natürlich ausgenommen) über die Konstellation einer den immanenten Bestrebungen der nationalen Gesellschaft äußerlichen Macht hinausgekommen. In der Sowjetunion ist die despotische innere Form und sittliche Verfassung des Staatswesens nicht aufgepfropft, sondern im Rahmen eines ganz bestimmten Maßverhältnisses von »Revolution-Restauration« (Gramsci) organisch durch die halbasiatische ökonomische und politische Tradition bedingt. Die despotische Apparatherrschaft ist dort drückend wie jemals und inzwischen deutlich entwicklungshemmend, aber sie ist nicht fremd. Darum ist die Aufgabe der progressiven Kräfte viel schwerer.

 

Anders liegen die Dinge in Osteuropa, zumindest in der Tschechoslowakei, in Polen und Ungarn. Anders — ungeachtet der preußischen militaristisch-bürokratischen Tradition, die hier tatsächlich die Diskrepanzen mildert — auch in der DDR. Diese Länder gehören ganz oder vorwiegend der westeuropäischen Zivilisation an. Ihre ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse verlangen für den vollen Durchbruch zum Sozialismus einen institutionellen Überbau, in dem diese sehr von der russischen verschiedene Tradition ihre Aufhebung findet. Sie brauchen jetzt nicht nur — wie die Sowjetunion auch — schlechthin eine Neuanpassung des Überbaus an die weitaus entwickelteren Produktivkräfte, sondern zugleich eine »nationale Restauration«, d.h. die Wiederherstellung der nationalen Kontinuität hinsichtlich der Art der gesellschaftlichen Institutionen. Letzten Endes geht es darum, die Institutionen der durch eine bestimmte geschichtliche Entwicklung geprägten allgemeinen Individualitätsform anzumessen, die ja die eigentliche Substanz des sogenannten Nationalcharakters ist. 

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In diesem Sinne hatten die tschechoslowakischen Massen recht, die gesuchte neue nationale Verfassung als »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« aufzufassen und zu bejahen; d.h. der Humanitätsbegriff hat hier einen ganz bestimmten westeuropäisch-nationalen Inhalt, natürlich auch mit den entsprechenden Schranken und Vorurteilen. 

Die gesellschaftspolitische Rolle der nachstalinschen Apparatherrschaft in der Sowjetunion gegenüber Osteuropa besteht heute, wie seit dem 21. August geschichtsnotorisch ist, darin, die Völker dieser Region am Voranschreiten zum Sozialismus in der ihnen gemäßen Form zu hindern und sie dadurch in der ferneren Konsequenz einer politischen Restauration in die Arme zu treiben. Sie ist in dieser doppelten Hinsicht in der Tat konterrevolutionär. Der zunehmende Nationalismus — und das heißt konkret »Antisowjetismus« — in den osteuropäischen Ländern hat soweit eine progressive Funktion, wie er sich gegen die Fesseln richtet, die die Hegemonie des sowjetischen Apparats ihrer inneren gesellschaftlichen Entwicklung anlegt. Das Wesen des Souveränitätsproblems, sein springender Punkt besteht für die osteuropäischen Völker in der Notwendigkeit, den eigenen sozialistischen Fortschritt weitestgehend von der andersgearteten und für sie zu langsam sich wandelnden inneren sozialen Situation in der Sowjetunion unabhängig zu madhen. Genau darum ging es 1968 in der CSSR. Genau darauf hat die Moskauer Führung, wie der Zarismus in seiner Einflußsphäre im XIX. Jahrhundert in analogen Fällen, mit einer militärischen Polizeiaktion geantwortet; und charakteristischerweise haben das die aktivsten kommunistischen Parteien Westeuropas aufgrund ihrer eigenen existentiellen Interessen nicht akzeptiert. 

Im Lichte der Berliner Konferenz drängt sich die Überlegung auf: Sobald es praktisch einen westeuropäischen Weg zum Sozialismus gibt, wird der politische Prozeß in den osteuropäischen Ländern nicht nur verstärkt auf eine unabhängigere Außenpolitik, sondern vor allem auf die bisher unterdrückte institutionelle Reform zusteuern. Eine Reaktion gegen den bestehenden Zustand ist unvermeidlich. 

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Die Kontinuität der Revolution und die Stabilität des europäischen Friedens erfordern, daß sich die Kommunisten rechtzeitig darauf einstellen, ihr eine konstruktive und allmähliche Form zu geben. Die osteuropäischen Völker wollen mit Sicherheit politische Verfassungen jenes Typs, wie sie Berlinguer, Marchais und Carillo auf der Berliner Konferenz entworfen haben. Wenn bis dahin nicht von beiden Seiten des 1968er »innerkommunistischen« Konflikts reale Lehren gezogen sind, muß es über der dann unvermeidlichen Loslösungsbewegung in Osteuropa und den entsprechenden Pressionen aus Moskau zum offenen Bruch zwischen den beiden Strömungen kommen, der nur den ungünstigsten Einfluß auf die europäische Situation im allgemeinen und auf die inner sowjetische Situation im besonderen ausüben könnte.

Die osteuropäischen Kommunisten haben dringend darüber nachzudenken, ob sie der Notwendigkeit innenpolitischer Änderungen strategisch defensiv nachgeben oder offensiv gegenübertreten wollen. Defensiv hieße, langfristig der Loslösung aus dem sowjetischen Bündnissystem entgegenzusehen, einer Stunde sowjetischer Schwäche, auf die dann eine nationale Befreiungsbewegung reagieren würde — mit unabsehbaren Gefahren für den europäischen Frieden. Offensiv hieße, auf eine Umkehr des Einflußgefälles hinzuarbeiten, d.h. der sowjetischen Führungsschicht von der entwickelteren, fortgeschritteneren Peripherie außerhalb und innerhalb ihrer Grenzen her aktiv solche Probleme zu stellen, die sie zwingen, grundlegende innenpolitische Umgestaltungen im eigenen Lande vorzunehmen. Mir scheint die zweite Strategie nicht nur produktiver, auch für die sowjetische Entwicklung, sondern auch aussichtsreicher, und zwar besonders im Lichte der neuen sozialistischen Offensive im romanischen Westeuropa. 

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Sobald die nichtkapitalistischen Länder Osteuropas in ihrem Streben nach einem adäquaten Überbau de« weiteren sozialistischen Fortschritts reale demokratische Übergangsprozesse in Frankreich, Italien, Spanien im Rücken haben werden, wird der sowjetische Überbau nicht mehr umhin können, sich neu anzupassen. Die sowjetische Intelligenz wird dabei eine ausschlaggebende Rolle spielen, weil sie auf einem qualitativ neuen Niveau erneut die Funktion der aktiven, »westlerischen« Anpassung an die fortgeschritteneren westeuropäischen Verhältnisse übernehmen muß.

Andernfalls würde die Sowjetunion höchstwahrscheinlich ihre westliche Peripherie verlieren, ich meine völlig verlieren, denn in ihrem heutigen Status minderer Souveränität ist sie auf keinen Fall zu halten. Aus der Sicht der wohlverstandenen sowjetischen Zukunftsinteressen, die sich die dortige Opposition zu eigen machen wird, geht es gerade darum, die osteuropäischen Länder rechtzeitig präventiv zu entlasten und sie so in ihrer Funktion als zuverlässige Partner der ökonomischen Kooperation und freiwilligen Integration zu bestärken. 

Die sowjetische Führung sollte nicht zu spät begreifen, daß ein solcher »proletarischer Internationalismus«, wie er von den Tribünen der letzten SED-Parteitage zu vernehmen war, wegen der antisowjetischen Stimmungen, die er provoziert, die langfristigen Bündnisinteressen viel mehr gefährdet als ein zeitweilig etwas überkompensierender »Nationalkommunismus« wie in Rumänien. Die Sowjetunion könnte den osteuropäischen Völkern Gelegenheit geben, die wirklichen Vorteile des Bündnisses, insbesondere seine äußerst weitreichenden ökonomischen Perspektiven zu erkennen, die gegenwärtig wegen des tief eingewurzelten Mißtrauens und wegen kurzsichtiger sowjetischer Entscheidungen (Ölpreise) zu wenig wahrgenommen werden. Eine planmäßige Evolution in Osteuropa wäre das sicherste Mittel, einer späteren europäischen Kollision um diese Zone vorzubeugen, die sonst nicht auszuschließen ist.

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Eines der wesentlichsten Momente einer sinnvollen Evolution ist der aktive Kampf um die offene und öffentliche Präsenz einer alternativen kommunistischen Position und Diskussion in unseren Ländern. Im Ergebnis der Berliner Konferenz, die man als einen Meilenstein ansehen kann, wird diese Orientierung an Boden gewinnen. Nach der Reaktion der italienischen Parteiführung auf den jüngsten Zusammenstoß in Polen und auf die Bitte des Genossen Jacek Kuron um politische Hilfe kann offenbar auf eine wirksamere Solidarität der westeuropäischen Kommunisten mit einer ernsthaften und verantwortungsbewußten Opposition in den Ländern des real existierenden Sozialismus gerechnet werden. 

Wenn sich jetzt größere Gruppen oppositionell eingestellter Genossen und andere Sympathisierende ohne viel Konspiration, vielmehr mit Wissen einer bestimmten, interessierten Öffentlichkeit zu Diskussionen, beispielsweise über die Materialien der Berliner Konferenz, versammeln und ihre Ergebnisse in verschiedenen Formen verbreiten würden, stünden die herrschenden Apparate vor einem schwierigen Problem. Die wichtigsten Reden auf der Berliner Konferenz sind z.B. in der DDR, obwohl sie im Zentralorgan der Partei veröffentlicht wurden, de facto illegal; aber das soll nicht eklatant werden. Die Apparate möchten nicht gezwungen werden, hierin Farbe zu bekennen. 

Nachdem sie anerkannt haben, daß es zwischen den Parteien unterschiedliche Standpunkte zu ganz entscheidenden Problemen geben kann, werden sie sich mit der Forderung konfrontiert sehen, das gleiche für das innerparteiliche und innergesellschaftliche Leben anzuerkennen. Die Vertreter der neuen Standpunkte in der europäischen kommunistischen Bewegung sind daran interessiert, daß die Ergebnisse der Berliner Konferenz nicht als eine Art Augsburger Religionsfrieden ausgelegt werden können: cuius regio, eius religio* — wessen Land, dessen Religion. Die Apparate bemühen sich deutlich darum, nun die Abgrenzung von den avancierten westeuropäischen kommunistischen Parteien einzuleiten, in der klügsten Variante mit dem Argument der »ganz anderen Bedingungen«. Diese Abgrenzung kann auf lange Sicht nicht gelingen. 

* (d-2013:)  wikipedia  Cuius_regio,_eius_religio  

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Absolut notwendig ist es, eine die Nichteinmischungsmentalität in ideologischen Angelegenheiten beiseite lassende Diskussion in der internationalen kommunistischen Presse zu führen. Es könnte versucht werden, die Zeitschrift »Probleme des Friedens und des Sozialismus« aus einem Organ der vorsichtigen Monologe nach dem Augsburger Rezept in eine Tribüne zu verwandeln, auf der außer den offiziellen Standpunkten der beteiligten Parteien die Ansichten einzelner Genossen und kommunistischer Gruppen zur Diskussion gestellt werden. Andernfalls müßte eine neue internationale kommunistische Revue geschaffen werden, deren Spalten selbstverständlich auch für den Dialog mit anderen progressiven Strömungen offenzuhalten wären. 

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Initiative dreier jugoslawischer theoretischer Zeitschriften zur Gründung einer »Internationalen Tribüne des Sozialismus in der Welt«. Nach Angaben der Belgrader Internationalen Politik (Heft 628, 5. 6. 1976) versammelt sie marxistische und sonstige sozialistische Theoretiker, Kämpfer für den Sozialismus aus verschiedenen Ländern, Bewegungen und Orientierungen zwecks gemeinsamer theoretischer Diskussion, wobei ausdrücklich Einzelpersonen, also nicht offizielle Repräsentanten von Bewegungen, Parteien oder Ländern, eingeladen sind. Die Beiträge und die Diskussion der jährlichen Treffen werden publiziert.

In den zurückliegenden Jahren haben sich auch die inneren subjektiven Bedingungen für eine effektivere Formierung der oppositionellen Elemente verbessert. Noch ist es mehr eine sozialpsychische als eine politische Realität, mehr der Ausdruck einer politischen Forderung, wenn von einer kommunistischen Opposition bei uns gesprochen wird. Darüber braucht sich niemand hinwegzutäuschen. Jedoch bewegt sich die ideologische Entwicklung auf einen qualitativen Umschlag zu. Bis gegen Ende der sechziger Jahre war das Auftreten einzelner, voneinander isolierter Persönlichkeiten typisch, die aber auch schon nicht mehr völlig außerhalb der Legalität gestellt werden konnten, so viele Schikanen es auch gab und gibt. 

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In den letzten Jahren halten nun, soweit man sehen kann, beispielsweise in Ungarn und in Polen bereits größere Gruppen Sympathisierender halboffen Kontakt miteinander und sind vor allem ideologisch keineswegs isoliert, gewinnen Einfluß auf die kritischen Individuen wesentlicher Zweige des Funktionärs­apparats. In der CSSR hat der energische Kern der Bewegung für die sozialistische Erneuerung seit 1968 nicht kapituliert; in dieser Hinsicht ist es symptomatisch, daß Alexander Dubcek nichts von seiner Nachjanuarposition preisgegeben hat — die moralische Autorität der Reformpolitik ist ungebrochen. Auch in der Sowjetunion kann es sich — da z.B. das bekannte Buch von Roy Medwedjew verschiedene Standpunkte zitiert und diskutiert — nicht mehr um Einzelgänger handeln. (Von Bulgarien und Rumänien muß ich aus Mangel an Informationen schweigen).

In der DDR geschieht bisher — neuerdings hat der Fall Biermann die Szene anders beleuchtet — am wenigsten, aus einer ganzen Reihe von Gründen, die ich hier nur stichwortartig andeuten will: ihre exponierte Stellung gegenüber der BRD, ihr verhältnismäßig gutes ökonomisches Funktionieren, die preußisch-deutsche Tradition des Staatsgehorsams, die Dichte, Wachsamkeit und relative Effizienz des ganzen sozialen Kontrollsystems. Aber auch hier nimmt spürbar die Zahl der engagierten Menschen zu, die in der Gesamtanlage der bestehenden Verhältnisse, in ihrer bloß allmählichen, an den Symptomen kurierenden Ausgestaltung keine lohnende Perspektive mehr sehen. 

Das Bedürfnis nach Loslösung vom Apparat, nach persönlicher Distanzierung von den bürokratischen Rollen greift um sich, ein subjektiver Drang, der Öffentlichkeit, wenigstens der jeweils nahen, das wirkliche Gesicht zu zeigen. Dieses auf den ersten Blick bloß psychologische Phänomen hat einen durchaus faßbaren soziologischen Boden: Jetzt steht in der DDR diejenige Generation am Scheideweg, die als erste das Glück hatte, weitgehend unberührt von Faschismus und Schützengraben zu bleiben und deshalb — in ihrem psychosozial dafür disponierten Teil — eine ungebrochene »idealistische« Jugendentscheidung für die kommunistische Idee treffen konnte. Man mag da etwa an die Subjektivität denken, die sich in der Dichtung Volker Brauns äußert.

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Die Aktivisten dieser Generation leiden nach ihren fünfzehn bis zwanzig Jahren Dienst am Apparat und im Apparat, der ihre Initiative hemmt, kanalisiert und standardisiert, an einem Stau nach innen abgelenkter Energie. Bei dem Grad an Verbundenheit mit der Sache der Partei, der für diese Menschen kennzeichnend war, konnte der Prozeß der Ablösung natürlich nicht auf erborgten Einsichten, sondern nur auf schubweise vertiefter Erfahrung beruhen. Er brauchte also seine Zeit. 

Wem die Sache des Kommunismus, das heißt der realen Gleichheit und der allgemeinen Emanzipation, jemals wirklich ernst war, wer also den »realpolitischen« Ausflüchten, die zum Stillhalten nötig sind, von vornherein mißtraut, der kann gar nicht umhin, sich nun die Sinnfrage neu zu stellen. Wozu, wofür weitere zwanzig, dreißig Jahre ohne Inspiration in einem System funktionieren, das den eigenen Hoffnungen und Idealen keine Nahrung mehr gibt?

So lebt in einer Gruppe, die gewichtiger ist als ihre Zahl, die latente Bereitschaft, ja, die moralische Nötigung, »auszusteigen«, wie man sagt, aufzubrechen, etwas zu unternehmen. Woran es noch mangelt, ist die Initiative zur Sammlung, zum Zusammenschluß für den bewußten, zielstrebigen Dialog. Gewiß wird es sich zunächst um vorwiegend theoretisch-ideologische und propagandistische Zirkel handeln, noch nicht um eine Massenbewegung. Die Aufgabe besteht erst einmal darin, die Mehrheit der politisch am Sozialismus interessierten Menschen innerhalb und außerhalb der Partei mit dem Gedanken an die Möglichkeit einer Alternative vertraut zu machen. Schon die Präsenz entsprechender Gruppen wäre ein wichtiger Beweis. 

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Die Zeit ist reif, um die Menschen zusammenzuführen — natürlich nicht nur aus dieser einen Generation — , die die neuen subjektiven Produktivkräfte mit dem höchsten Grad an Bewußtheit repräsentieren, Geduld und Mut für das Eindringen in die Probleme mitbringen, welche eine tiefgreifende Umgestaltung der nichtkapitalistischen Industriegesellschaft aufwirft. 

Zu Ende gedacht, ist das, was da beginnen soll und in Ansätzen bereits begonnen hat, eine andere Kommunistische Partei. Ich werde von einem Bund der Kommunisten sprechen, schon um für jene Fälle die Unterscheidung zu erleichtern, in denen sich die herrschenden Parteien kommunistisch nennen. Wie dieser Kommunistische Bund aus solchen Anfängen hervorgehen soll, muß der Entwicklung der Bewegung selbst überlassen bleiben, um so mehr, als hier — nicht nur wegen der nationalen Unterschiede — verschiedene Abläufe denkbar sind. Insbesondere wird die oppositionelle Gruppierung in statu nascendi keineswegs sogleich die Aufgabe haben, selbständige Parteiorganisation im strengen Sinne zu werden, was nur der Gefahr sektiererischer Abkapselung und Dogmenstreiterei Vorschub leisten würde.

Die herrschenden Parteien sind ideologisch hohl genug, als daß man von vornherein die Möglichkeit der Machteroberung »von innen« ausklammern müßte. Sie sind längst von den sprengenden emanzipatorischen Interessen her »angesteckt« und »unterwandert«, die die große Mehrheit ihrer denkenden Mitglieder einschließlich vieler Funktionäre bewegen. Es ist nur der scheinbaren Alternativlosigkeit für das reale Verhalten geschuldet, daß sie sich bloß in privaten Unwillenskundgebungen äußern können. Wenn es aber heute in allen osteuropäischen Ländern mehr und mehr Menschen gibt, die trotz der sicheren Aussicht auf jahrelange Unannehmlichkeiten Ausreiseanträge stellen, dann ist es für die kommunistische Minderheit an der Zeit, sich dafür zu exponieren, daß sich hier das Leben ändert. (Das könnte übrigens einen qualitativ wesentlichen Teil der Ausreiseentschlossenen dazu veranlassen, sich für einen anderen, fruchtbareren Weg der Selbstverwirklichung zu entscheiden.)

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Die Perspektive einer innerparteilichen Machtverschiebung, für die die jugoslawischen, ungarischen, tschechoslowakischen und auch die polnischen Erfahrungen sprechen, darf eben nicht länger in dem opportunistischen Sinne des langen Schleich- und Schweigemarsches durch die Institutionen verstanden werden, jener täglichen Anpassungskleinkunst, nur nicht aufzufallen, um nicht hinausgeworfen zu werden — bis das Zentralorgan einen Nachruf für treue Dienste druckt. Die Anfänge der neuen Vereinigung können nur außerhalb der bestehenden Parteistruktur liegen — formell, weil man die offenbaren Oppositionellen sofort aus den Parteien und von Fall zu Fall für gewisse Zeit auch aus der Gesellschaft ausschließen wird, und essentiell, weil die Brennpunkte einer neuen, veränderten Bewußtheit ihren Ort objektiv nicht im Bannkreis des parteioffiziellen »Wissens« haben. 

Die herrschenden Verhältnisse schreiben den Weg direkt vor. Die geltenden Parteistatuten belegen die »Fraktionsmacherei«, d.h. in der Praxis jegliche Artikulation von Strömungen, jegliche Gruppenbildung zu Diskussionszwecken mit Sanktionen. Jeder denkende Kommunist, der sich mit zwei weiteren denkenden Kommunisten zum Gedankenaustausch trifft, muß sich als parteirechtlich Ausgeschlossenen betrachten. Dagegen garantieren die Verfassungs­texte den Bürgern immerhin die Versammlungsfreiheit. Da keine öffentlichen Räume verfügbar sein werden, müssen also zunächst die Wohnungen als Versammlungslokale dienen. Die Politbürokratie wird zweifellos mehr als eine Methode der Unterdrückung dagegen probieren. Aber die Umstände werden ihr nicht erlauben, zu den äußersten Mitteln zu greifen. Sobald sie auf den Entschluß einer auch nur kleinen Gruppe von Menschen trifft, eher auf Familienleben, Wohlstand und Wohlgelittensein als auf einen übergeordneten Daseinszweck zu verzichten, muß ihre ganze Abwehrmaschinerie kläglich versagen. 

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Die Opposition wird sich diesem Goliath als unbesiegbare Hydra erweisen, der immer drei Köpfe nachwachsen, wo es ihr einen ins Gefängnis oder außer Landes verschlagen hat. Gerade in dem Augenblick; da ich dies schreibe, sind es Hunderte, wenn nicht Tausende in der DDR, die das Beispiel des einen Sängers nicht ruhig schlafen läßt. Es geht eine Ahnung um, daß der Zug der Geschichte sich zur nächsten Station in Bewegung setzt und daß es an der Zeit sein könnte, aufzusteigen. 

Noch hat der Apparat einigen Erfolg mit seiner erprobten Taktik, jeder grundsätzlichen Kritik die öffentliche Artikulation in der eigenen Gesellschaft unmöglich zu machen und zugleich ihr Lautwerden außerhalb der ideologischen Bannmeile als Beweis ihres Außenstehens auszugeben. Warschau z. B. erklärt in solchen Fällen gleich ganz Polen für verloren. Die Opposition soll die Alternative haben, entweder zu schweigen — und das heißt politisch inexistent zu sein — oder »dem Feind zu dienen«. Wie leicht zu erkennen ist, handelt es sich hier um einen Effekt, den die Diktatur selbst macht, weil sie zutiefst daran interessiert ist, die inneren Widersprüche zu äußeren zu verfremden. Wir haben es in diesem Punkt mit der letzten ideologischen Sicherung der politbürokratischen Vormundschaft über die Gesellschaft zu tun. 

Im Hinblick darauf ist es an der Zeit, rücksichtslos den Trennstrich zwischen der Loyalität zur nichtkapitalistischen Basis und der Loyalität zu ihrem überholten Überbau zu ziehen. Es ist außerordentlich wichtig, alle Möglichkeiten der Kommunikation im eigenen Lande zu nutzen und möglichst ein eigenes Netz dafür aufzubauen. Aber man darf sich auch nicht scheuen, im politischen Kampf die Technik des anderen Machtblocks zu gebrauchen. Wem gehörte der plombierte Waggon, der Lenin aus der Schweiz nach Rußland brachte, und wer gab das grüne Licht für diese Fahrt? Entscheidend blieb, was der »deutsche Spion« in Petrograd aus der Tasche zog. Damals waren das die berühmten Aprilthesen.

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Aufgrund ihrer Autonomie werden schon die ersten konsistenten Kerne des neuen Bundes ihren Auftrag erfüllen, alle individuell kommunistischen Elemente geistig und emotional an sich heran- und von der offiziellen Struktur abzuziehen. Der Parteiapparat kann sie nicht halten, denn er steht seinem Wesen als starre Pyramide nach still, während die denkenden Elemente, von den Widersprüchen des Lebens angetrieben, dahin tendieren, immer »exzentrischere« Positionen einzunehmen. Das bedeutet zunächst Zerstreuung, aber nur solange es keinen Sammelpunkt gibt, auf den sie sich orientieren können. 

Es geht gar nicht darum, diesen Ablösungsprozeß der Individuen künstlich zu forcieren, Brüche zu erzwingen, die Genossen, die in ihre Krise eintreten, unter politisch-moralischen Entscheidungsdruck zu setzen. Das besorgt, wenn die Widersprüche reif sind, die Situation selbst. Die Funktion des Katalysators kann vorläufig hinreichend effektiv von einer entschiedenen Minderheit ausgefüllt werden. Außerdem nimmt eine solche, im Apparatverstande unorganisierte, Form des Drucks und der Einflußnahme, die sich ideologischer Mittel bedient, viel von der späteren, entfalteten Wirkungsweise des Kommunistischen Bundes vorweg. Ob sich dieser Kommunistische Bund im Ergebnis der ideologischen Kräfteverschiebung als eine neue Partei neben der alten formieren oder ob er in die Gestalt einer erneuerten alten schlüpfen wird, ist der Geschichte nicht vorzuschreiben. 

Allerdings könnte gefragt werden, wie weit sich die Kontinuität der Parteiidee als solcher von selbst versteht. Folgt aus der Existenz und dem Niedergang der alten Partei, daß es einer neuen oder erneuerten bedarf, um das progressive Potential zusammenzufassen? Wie ich gezeigt habe, ist die vorgefundene Ordnung quasi:kirchlich formiert, so daß es naheliegt, für die Perspektive der Partei das Muster der Reformation in Anspruch zu nehmen. Das Wort drängt sich ja auch immer wieder auf. Man muß wissen, was man damit sagt. Reformation erreicht vielleicht nicht unbedingt, aber sie beabsichtigt immer Rekonstruktion, Wiederherstellung und Regeneration, Wiedergeburt, ist also wesentlich »positiv«, nicht selten jedoch mit letztlich konservativer Konsequenz wie beim Luthertum. 

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Es ist eine Konstante jeglicher Kirchenorganisation, daß ihre Reformation von ihren gläubigsten Ketzern ausgeht: Den Tempel zerstören, um ihn schöner wieder aufzubauen; die Wechsler austreiben, damit sich wieder die Gläubigen einfinden können. Ohne Zweifel spielt dieses psychostrukturelle Muster in der gegenwärtigen Situation des rapiden ideologischen Machtverfalls der »katholischen« Partei eine Rolle. Wie Kirchenreformation die christliche, so setzt Parteireformation die kommunistische Gesinnung voraus. Um so wichtiger ist es für ihre Aktivisten, sich dieser ihrer historisch und pragmatisch durchaus notwendigen »Glaubensverhaftung« kritisch bewußt zu sein, damit nicht nur eine neue, protestantisch verinnerlichtere Orthodoxie zustande kommt. 

Die Partei hat keinerlei metaphysische Notwendigkeit. Ihre Existenzerneuerung ist an eine — wenngleich verhältnismäßig langfristige — bestimmte historische Situation gebunden, zu deren Veränderung und Überwindung sie das noch immer unersetzliche Werkzeug darstellt, das also mit dieser Situation selbst vergeht und bis dahin stets neu an seiner Zweckmäßigkeit gemessen werden muß, dem nächsten Fortschritt der allgemeinen Emanzipation zu dienen. Die Ungleichheit der menschlichen Entwicklungsbedingungen auf den verschiedenen Funktionsniveaus der Arbeit macht einstweilen noch eine soziale Autorität unerläßlich, die relativ souverän über allen speziellen, partikularen Interessen steht. 

Ohne eine organisierte ideologische Hegemonie der emanzipatorischen Interessen kann man keine Umwälzung einer Gesellschaft haben, die noch durch die erst zu überwindende ungleiche Verteilung der Arbeit und des Wissens charakterisiert ist. Falls sich die Interessen der privilegierten Schichten allzusehr durchsetzen sollten, würden sich viele Menschen von ihren subalternen Verhaltenstendenzen her sogar nach dem alten Despotismus zurücksehnen. 

Es darf also sowohl aus prinzipiellen als auch aus politischen Erwägungen nicht zugelassen werden, daß sich die ohnehin mit Präferenzen versehenen Gruppen anarchisch en masse anschicken, den Staat unter sich zu verteilen. 

Der »Schutz der Schwachen« wäre übrigens nicht zu einer der ersten und hartnäckigsten Rechtfertigungen des frühen despotischen Staates geworden ohne einen ursprünglich rationalen Kern, auf dem die Herrschaft wuchern konnte. Im real existierenden Sozialismus spielen die »Interessen der Arbeiterklasse« dieselbe Rolle. Und sie müssen dadurch in der Kulturrevolution aufgehoben werden, daß die Gesellschaft ihre größten Anstrengungen dem Aufholen ihrer weniger entwickelten, benachteiligten Schichten und Gruppen widmet. Dies zu sichern ist eine, wenn auch die traditionellste der Aufgaben, für die es weiterhin einer führenden Kommunistischen Partei bedarf. 

 

Das nachfolgende Kapitel soll die objektive Funktion eines Bundes der Kommunisten in der protosozialistischen Gesellschaft breiter, d.h. aus dem ganzen Zusammenhang der bisher dargelegten Analyse begründen. Und es soll die Schlüsselprobleme hervorheben, auf die es bei seiner Konstituierung ankommt. Es soll klar werden, daß sich dieses Werkzeug tiefer von dem überlieferten Parteityp, gerade auch von dem bolschewistischen, unterscheiden muß als jede reformierte Kirche von ihrer Vorgängerin. 

Wie die Kommunisten ihre heutige Aufgabe in den Ländern des real existierenden Sozialismus begreifen, das wird darüber entscheiden, welche Gestalt sie ihrer Organisation geben. Natürlich werden »Programm« und »Statuten« ihrer kulturrevolutionären Tätigkeit auch von den Bedingungen abhängen, unter denen sie den Kampf aufnehmen, nicht allein von »letzten« Zielen und Werten. Eben wegen dieser Bedingungen — die sich nach meiner Überzeugung bald als temporär erweisen werden — liegt gegenwärtig der konkrete Weg zur Formierung des Kommunistischen Burides noch etwas im Dunkeln, sobald man über die ersten, experimentellen Schritte hinausdenkt, die ich angedeutet habe. Aber dafür gibt es Präzedenzfälle, die nur unterstreichen, daß es um so dringlicher ist, Gestalt und Auftrag einer von grundauf veränderten Avantgardeorganisation zu antizipieren.

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Rudolf Bahro 1977 Die Alternative Zur Kritik des real existierenden Sozialismus