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1  Günter Fritzsch  --  Das ungeborene Kind als Erpressungsmittel

 

Günter Fritzsch wurde als junger Physiker 1971 von der Stasi ohne jeden Anlaß verhaftet. Weil er sich weigerte, als Spitzel für die Stasi zu arbeiten, wurde er zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Das in dieser Zeit geborene erste Kind durfte er nicht sehen, bis er im Rahmen einer Amnestie freigelassen wurde. Doch die Stasi ließ ihm keine Perspektive: Er mußte schließlich mit seiner Familie ausreisen.

 

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Der Plan der Stasi war hinterlistig, und er sollte schließlich sogar fast teuflisch werden: Unter allen Umständen wollte der SED-Geheimdienst den jungen Doktor der Physik Günter Fritzsch als Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) werben, um ihn als Spitzel am »Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebens­bedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt« bei Prof. Carl Friedrich von Weizsäcker in Starnberg (Bayern) zu benutzen.

Vier seiner Bekannten waren in den letzten eineinhalb Jahren wegen »versuchter Republikflucht« verhaftet worden. Außerdem war Günter Fritzsch Mitwisser einer spektakulären Protestaktion gegen die Sprengung der Leipziger Universitätskirche 1968 gewesen.

Aber das wußte die Stasi im Frühjahr 1971 gar nicht so genau. Ein paar Informationen reichten für den ehrgeizigen und skrupellosen Leutnant Püchner, der sich bei seinen Vorgesetzten mit der Werbung eines neuen IM profilieren wollte. Und weil es keine wirklichen Hochverräter in Leipzig gab, produzierte er einen.

Da wurde auf nichts Rücksicht genommen, im Gegenteil: Zu den schriftlichen Festlegungen für die Vernehmung »mit dem Ziel der Werbung«, gutgeheißen mit der Unterschrift des Leiters der Abteilung XX (Politischer Untergrund, Kirchen), Major Etzold, zählte ausdrücklich: »Bindung des Fritzsch an seine Ehefrau ausnutzen (führt eine gute und harmonische Ehe – könnte durch Inhaftierung zerstört werden).«

Was die Stasi nicht wußte, weil es selbst die jungen Eheleute Fritzsch noch nicht wußten: Sie erwarteten ihr erstes Kind. Als die Stasi es dann erfuhr, wurde die Erpressung teuflisch: Sie drohten mit der Verhaftung der hochschwangeren Frau, und sie drohten, daß Günter Fritzsch sein Kind auf Jahre hinaus nicht sehen dürfe, wenn er nicht endlich einwilligte, IM zu werden.

Der Plan des Stasi-Leutnants Püchner war einfach: Fritzsch wurde konspirativ festgenommen, während seine Frau als Stimmführerin der zweiten Geigen im Leipziger Rundfunk-Sinfonieorchester probte. 

»Für die Prüfung der Bereitschaft des F. zur ehrlichen Zusammenarbeit mit dem MfS stehen 13 Stunden (8.00-19.00 Uhr)* zur Verfügung. Wenn die Überwerbung des F. nicht erfolgen kann, wird offiziell das EV** eingeleitet.« 

*  Rechnen konnte der Stasi-Leutnant offenbar nicht.
** EV bedeutet Ermittlungsverfahren – die Stasi ersetzte in der DDR bei »politischen Verbrechen« die Staatsanwaltschaft.

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Am Dienstag vor Ostern des Jahres 1971 schlug die Stasi zu: Marion und Günter Fritzsch verließen ihre Wohnung in Leipzig. Die Wohnung war seit dem frühen Morgen überwacht worden, die Stasi-Agenten folgten dem Paar, das wie immer die Straßenbahn bestieg. Als Marion ausgestiegen war und Günter Fritzsch umsteigen mußte, wurde er in ein wartendes Auto gezwungen.

Für Fritzsch begann eine schreckliche Zeit: 14 Monate in der Untersuchungshaft der Staatssicherheit. Die späteren Monate mit Schwerverbrechern im Zuchthaus waren dagegen, so urteilt er rückblickend, »trotz der Schwerstarbeit fast Erholung«.

Vom ersten Tag seiner Haft an beugten und verletzten die Stasi-Offiziere das Recht der DDR. Sie ließen Fritzsch über seine Rechte als Beschuldigten im unklaren, nahmen ihn zu Dritt sofort ins Kreuzverhör. »Wer hat vor drei Jahren das Plakat in der Kongreßhalle angebracht?« »Wer hat Sie beauftragt, hervorragende Wissenschaftler aus unserer Republik in den Westen zu schleusen?« »Nennen Sie die Mitarbeiter Ihrer staatsfeindlichen Gruppe!« »Decken Sie Ihre Kontakte zu westlichen Geheimdiensten auf!« »Nennen Sie uns Ihre Verbindungen zur Konterrevolution 1968 in der CSSR!«

Vorwürfe, Unterstellungen, Anklagen wie in einem Hochverräterprozeß. Sie kannten alle seine Freunde und Bekannten, tischten unzählige Einzelheiten auf. Fassungslos versuchte Fritzsch erst einmal, alles zu sortieren. »Was meinen Sie mit >beauftragt< und >tarnen<?«
»Sie haben hier kein Recht, Fragen zu stellen, hier fragen wir!« fauchte ihn einer der Stasi-Offiziere an.
»Aber wir leben doch in einem Staat mit entwickelter Demokratie?!«
»Nein«, brüllte der Offizier, »Sie täuschen sich, hier drinnen herrscht keine Demokratie, bei uns herrscht Diktatur, die Diktatur des Proletariates. Das ist unversöhnlicher Klassenkampf. Sie sind unser Klassengegner.

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Mit Ihnen verhandeln wir nicht über Recht oder Demokratie. Welche Rechte Sie haben, bestimmen wir. Wagen Sie es nicht noch einmal, Fragen zu stellen. Sonst lernen Sie uns von einer ganz anderen Seite kennen. Hier kommt Politik vor Recht! Wir werden Sie so lange vernehmen, bis die Wahrheit auf dem Tisch liegt. Je eher Sie gestehen, desto besser für Sie.«

Und dann kam die Drohung, die bei Fritzsch Übelkeit verursachte, besonders seit er von der Existenz seines Kindes wußte: »Dann holen wir eben Ihre Frau rein!«

Fritzsch wurde klar: Hier ging es nicht um unvoreingenommene Ermittlungen, wie sie die Strafprozeßordnung der DDR vorschrieb, es ging nicht um Recht oder Gesetz. Nein, bei der Stasi in Leipzig ging es um persönliche Vorteile der Stasi-Offiziere, um ihre Beförderung, um Privilegien, die kein normaler Bürger der DDR je erträumen konnte. Es war Erpressung, Freiheitsberaubung der schlimmsten Art. Doch Fritzsch hatte keine Chance: Er war ihnen ausgeliefert.

»Denken Sie an Ihre Bekannten: Manche sitzen schon über ein Jahr hier in Untersuchungshaft. Wollen Sie das alles durchmachen? Wir halten Sie für klüger. Denken Sie an Ihren Beruf, an Ihre Frau! Wollen sie nicht endlich die Seite wechseln? Auf der Seite des Klassengegners haben Sie keine Chance!«

Doch Fritzsch lehnte ab. Eine Zusammenarbeit mit der Stasi kam für ihn nicht in Frage. Aber wie konnte er seine Frau heraushalten? Die drei Vernehmer drohten ihm mit langen Haftstrafen, wenn er nicht mitmache. »Danach sieht die Welt anders aus. Ehen gehen während einer solchen Zeit kaputt. Wenn Sie wüßten, was wir da schon erlebt haben. Und beruflich wäre eine solche Haftzeit für Sie sowieso das Aus. Ihr Doktorgrad, den Sie seit einem Jahr haben, wird Ihnen aberkannt!«

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So ging es Schlag auf Schlag. Sie warfen ihm die Mitgliedschaft in der Evangelischen Studentengemeinde, die Fluchtvor­bereitungen seiner Bekannten vor. Mal schrien sie, mal warben sie, doch ohne Erfolg: Günter Fritzsch lehnte die Zusammenarbeit ab. Gegen Abend wurde er in eine Zelle eingeschlossen. Nach neun Stunden war ihm klar, ohne daß es ihm jemand offiziell mitgeteilt hätte: Er war verhaftet.

Doch nach wenigen Minuten ging das Verhör weiter, bis Mittemacht. Dann legte der Leutnant mehrere Blatt Papier auf den Tisch: Fritzsch sollte mit seiner Unterschrift bestätigen, daß jedes seiner Worte in dem Vernehmungsprotokoll zutreffend wiedergegeben war.

Schockiert schaute er auf das Machwerk - was er unterschreiben sollte, ging weit über das hinaus, was man ihm vorgeworfen und was er in diesen langen Stunden bestritten hatte.

»Mir waren nicht nur die Worte im Mund umgedreht worden, es war alles von den Füßen auf den Kopf gestellt.« Vorbehalte gegen Partei und Regierung wurden zur »staatsfeindlichen Hetze«, ein Abend mit Freunden wurde zum »Treff«, Freunde aus Westdeutschland waren »Kuriere«. Das lief auf Hochverrat hinaus!

Seine Forderung, das Strafgesetzbuch und die Strafprozeßordnung ausgehändigt zu bekommen, wurde abermals abgelehnt, obwohl dies – ebenso wie die Belehrung über seine Rechte als Beschuldigter – vor der ersten Vernehmung hätte stattfinden müssen.

So konnte Fritzsch nicht wissen, welche Rechte er auch nach DDR-Gesetz hatte - in der Theorie jedenfalls: Unterschrift verweigern, Anwalt kommen lassen, Beschwerden einreichen. Nichts davon ließen die Stasi-Vernehmer gelten, selbst das Nachlesen der gesetzlichen Rechte eines Beschuldigten in den DDR-Gesetzen verhinderten sie.

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»Sie unterschreiben das so, wie es da steht! Wollen Sie mit der Verweigerung Ihrer Unterschrift Ihre Lage Zweiter verschlimmern? Ich hole sofort Ihre Frau rein, wenn Sie nicht unterschreiben. Ich kann die Vernehmung unter ganz anderen Bedingungen fortsetzen. Mit Leuten wie Ihnen mache ich kurzen Prozeß!«

Fritzsch sagte trotzdem: »Dies kann ich nicht unterschreiben.« Er bat, die Begriffe »Schleuserbrücke« und »Konterrevolution« zu streichen. Der Vernehmer tobte, aber ließ es neu schreiben. Wieder sagte Fritzsch: »Das sind nicht meine Worte.«

Da kam die Keule: »Wissen Sie, was Sie mit Ihrer starren Haltung erreicht haben? Wir haben Ihre Frau reingeholt«.

Draußen dämmerte der Morgen. Todmüde fällte er drei Entscheidungen: Mitarbeit mit der Stasi kam nicht in Frage. Persönliche Freiheit, berufliche Entwicklung und Familienleben verloren jede Priorität. Aber das Lügenprotokoll wurde unterschrieben, um seine Frau zu retten. Fritzsch unterschrieb.

Aber weil er sich der Mitarbeit bei der Stasi verweigerte, kam er nun auch offiziell in Haft. Zunächst drei Tage lang Vernehmungen von früh morgens bis spät in die Nacht. Nachts wurde das Licht in der Zelle jede Viertelstunde angeknipst, zur Kontrolle.

Fritzsch konnte vor Anspannung keine Minute schlafen. Am dritten Tag brach er mit Heulkrämpfen zusammen. Da wurden die Vernehmer »großzügig«: Er durfte sich mittags eine Stunde lang auf die Holzpritsche in der Zelle legen, was tagsüber sonst streng verboten war.

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Der Haftrichter spulte nur das Paragraphenungeheuer vom Menschenhandel herunter, beantwortete eine Frage und beendete den Termin sofort.

Acht Wochen lang wurde Fritzsch Tag für Tag verhört. Schon vor seiner Verhaftung stand für die Stasi fest, was für ein Verbrecher er war: »Ziel der Klärung des Persönlichkeitsbildes ist die Herausarbeitung, daß Dr. Fritzsch eine staatsfeindliche Einstellung besitzt und auf Grund dieser Einstellung strafbare Handlungen begangen hat.«

Ohne ihn je gesehen oder gesprochen zu haben, war für Leutnant Püchner alles bereits vor der Verhaftung geklärt gewesen. Formal war zwar vor dem Urteil noch ein Ermittlungsverfahren notwendig (das die Stasi - nicht die Staatsanwaltschaft! - auch am 6.4.1971, dem Tag der Festnahme, verfügte), doch war die Rechtsbeugung selbst des DDR-Gesetzes von Anfang an schon dadurch vorgegeben, daß die Stasi seine politische Einstellung als »staatsfeindlich« festlegte, ohne dies beweisen zu können. Und als sich Fritzsch dann in ihren Klauen befand und sich weigerte, zur Vermeidung einer Strafe als IM zu arbeiten, hatte die Stasi schon gar kein Interesse daran, ihn ungestraft davonkommen zu lassen.

Im Winter litt Fritzsch in der ungeheizten Zelle an heftigen Nierenkoliken, doch ihm wurde selbst eine Wärmflasche verweigert, erst viele Stunden später brachte man ihn zu einem Gefängnisarzt. Schlimmer als diese körperliche Folter waren die seelischen Torturen:

»Aber sie schlugen mit seelischen Foltern hemmungslos auf mich ein. Püchner drangsalierte mich immer wieder mit dem Hinweis auf jahrelanges Gefängnis und die verheerenden Folgen für meine akademische Entwicklung. Besonders gern drohte er mir mit der Aberkennung des Doktorgrades.

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Als alles nichts half, verlegte er sich schließlich auf die Drohung, meine schwangere Frau verhaften zu lassen«, erinnert sich Fritzsch.

»Wenn wir nur so an die Wahrheit kommen, greifen wir auch zu diesem Mittel.«

Später kam die Stasi auf die sanfte Tour: Nach dem brutalen Vernehmer Püchner nun der verständige, leise sprechende Hauptmann Henke. Nach relativ harmlosen Vernehmungen war das Protokoll für Pritzsch eine faustdicke Überraschung: Dort stand beinahe das, was er gesagt hatte! Und Hauptmann Henke übernahm fast alle Änderungswünsche!

»Wenn Sie wollen, können wir Ihre Handlungen anders beurteilen«. Und: »Jetzt machen Sie fast ein Jahr bei uns voll. Draußen wartet Ihre Frau. Inzwischen haben Sie einen Sohn bekommen. Wollen Sie den nicht einmal sehen?«

Wie eine Spinne flocht Hauptmann Henke sein Netz. Fritzsch wurde klar: Jetzt, kurz vor der Anfertigung der Anklageschrift, gab es zwei Protokollversionen: Die des Vernehmers Püchner bedeutete viele Jahre Zuchthaus unter Schwerverbrechern, keine Frau, keinen Sohn, keine Wissenschaft. Und danach lebenslange Unterdrückung und gesellschaftlicher Absturz.

Die Protokollversion vom Hauptmann Henke plus eine Zusage der Stasi-Mitarbeit ermöglichte eine zwar harte, aber sichere Landung.

Püchner hatte es mit Brutalität versucht. Henke mit Raffinesse. Den neugeborenen Sohn hatten sie ihn nicht sehen lassen, um seinen Drang nach Freiheit unerträglich werden zu lassen.

Wie hatte der Teufel im Neuen Testament gesagt? »Dies alles will ich Dir geben, so Du niederfällst und mich anbetest.«

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Doch in der Zelle entschied sich Fritzsch abermals: »Dem Teufel würde ich mich nicht beugen. Von diesem Tag an empfand ich nie wieder Furcht vor dem Staatssicherheitsdienst.« Tatsächlich haben sie es auch nie wieder versucht, ihn zur Mitarbeit zu erpressen.

Aber die »Strafe« für seine Geradlinigkeit und Unbestechlichkeit war hart: Sechs Jahre Zuchthaus, die längste der gegen »staatsfeindliche Gruppen« mögliche Strafe, lautete das Urteil des Richters am Freitag, dem 2. Juni 1972 – vierzehn Monate nach der Festnahme. Die Gerichtsverhandlung vor dem Bezirksgericht war geheim, weil es angeblich um vertrauliche und geheime Vorgänge ging, die den Fortbestand des Staates DDR und des Sozialismus aufs äußerste gefährdeten. Selbst seine Frau durfte nicht teilnehmen.

Fritzschs Sohn war zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Monate alt, und sein Vater mußte in der Gewißheit zurück in seine Zelle, daß er ihn zum ersten Mal sehen dürfte, wenn der Sohn kurz vor der Einschulung stand.

Überhaupt: Der Prozeß! Die Anklageschrift trug die Handschrift des Leutnants Püchner und seiner verfälschten und erpreßten Vernehmungs-»Protokolle«. Die gerichtliche Würdigung von Oberrichter Poller wies den gleichen Wortlaut auf.

Seinen Verteidiger, der Fritzsch über Rechtsanwalt Vogel an die Seite gestellt wurde, sah Fritzsch vor dem Prozeß nur drei Mal – und nie durfte über den Prozeß oder die Vorgänge in der Untersuchungshaft gesprochen werden. »Das war für mich gespenstisch: Man durchlebt psychische Höllenqualen und darf mit seinem einzigen Helfer und Anwalt nicht darüber sprechen«, erinnert sich Fritzsch heute.

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Die Anklageschrift erhielt der Anwalt erst wenige Tage vor Prozeßbeginn. Die verbliebene Besuchszeit war dann so kurz, daß sie nicht einmal dazu reichte, daß Fritzsch die Vorgänge aus seiner Sicht gründlich erklären konnte. Zuvor hatte Fritzsch durch eine halb offene Tür gesehen, wie neben dem Raum, in dem er mit dem Anwalt sprechen durfte, die Tonbandgeräte der Abhöranlage liefen. Rechtsbeugung also selbst bei dem nach DDR-Gesetz vertraulichen Anwaltsgespräch.

Der Angeklagte durfte die Anklageschrift einmal für drei Stunden in einer Einzelzelle einsehen, mußte aber anschließend auch seine Notizen abgeben.

So hatte der Anwalt wenig Durchblick - und leider noch weniger Mut. Fritzsch mußte sich daher selbst verteidigen. Nicht einmal in Prozeßpausen durfte er sich mit seinem Anwalt ungestört unterhalten, immer war ein Stasi-Offizier dabei. Ohnehin war es einem Anwalt in der DDR verboten, vor Gericht über entlastende Beweismittel zu reden, wenn diese nicht zuvor vom »Untersuchungsorgan«, also Stasi oder Staatsanwaltschaft, eingebracht worden waren.

Leider, so der Richter zu Beginn der Verhandlung, habe er den gesetzlich vorgesehenen »gesellschaftlichen Vertreter« seit Tagen nicht erreichen können. Tatsache war, daß drei Professoren es abgelehnt hatten, Fritzsch zu denunzieren. Ein vierter Professor, Fritzschs Doktorvater, erklärte sich aber bereit. Erst kurz vor Prozeßbeginn wurde sein Sekretariat über den Beginn der Verhandlung informiert - es sei aber nicht schlimm, wenn er Wichtigeres zu tun habe.

Professor Fritz Pliquett hatte nichts Wichtigeres zu tun. In lässiger Laborbekleidung eilte er in das Bezirksgericht und hielt eine einstündige, geschickte Verteidigungsrede zugunsten des Angeklagten Fritzsch. Doch

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obwohl er offiziell geladen war und über eine Stunde das Wort erteilt bekam, tauchte er im Prozeßprotokoll mit keinem Wort, noch nicht einmal als Sitzungsteilnehmer auf. Auch an anderer Stelle wurde das Verhandlungsprotokoll verfälscht, um entlastendes Material zu unterdrücken.

Nach der Urteilsverkündung gingen die systematischen Rechtsbeugungen weiter: Fritzsch wurde es verweigert, mit einem Anwalt darüber zu beraten, ob er schon wegen der haarsträubenden Urteilsbegründung in die Berufung gehen sollte.

Aber dafür war jetzt bald die schreckliche Zeit in der Untersuchungshaftanstalt zu Ende, Fritzsch wurde in den »normalen« Strafvollzug der DDR eingeliefert. Als er sich, wie in der bisherigen MfS-Untersuchungshaft gewohnt, bei der Begegnung mit einer anderen Sträflingskolonne im Gang mit dem Gesicht zur Wand stellte, wurde er belehrt: »Kommen Sie von drüben? Wir haben hier eine andere Ordnung. Hier bleiben wir mit dem Rücken zur Wand stehen.« Und flüsternd fügte der Wachtmeister hinzu: »Wir sind hier nicht bei der Gestapo.«

Dennoch wurde die Zeit in dem Zuchthaus Brandenburg hart. Eingesperrt mit zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Schwerverbrechern, mußten die politischen Gefangenen körperliche Zwangsarbeit verrichten.

Doch Fritzsch hatte »Glück«: Eine Generalamnestie zum Staatsgründungstag 1972 versprach ihm wie allen politischen Gefangenen die Freiheit. Anfang November 1972 wurde er nach Chemnitz (damals: Karl-Marx-Stadt) gebracht. Von dort aus gingen in diesen Tagen viele Häftlingstransporte nach Westdeutschland ab.

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Zwischen Bonn und Ost-Berlin wurde gerade der Grundlagenvertrag verhandelt. Da zeigte sich die DDR großzügig mit Ausreisen von Häftlingen, ließ sich das aber von Westdeutschland gut bezahlen: Jeder Häftling brachte etwa 80.000 D-Mark für die DDR-Staatskasse ein. Die vielen Kriminellen unter den Gefangenen konnten ihr Glück kaum fassen: »Wenn du klaust und kleine Mädchen schändest, kommst du in den Westen!«

Aber in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1972 trat plötzlich Ruhe ein: Kein Transport ging mehr. Später erfuhr Fritzsch, daß der Grundlagenvertrag in Bonn paraphiert wurde. »In dem Augenblick, als Egon Bahr* unterschrieben hatte, stoppten sie in Chemnitz die Ausreisen. Ich habe das fast auf die Stunde genau verfolgen können.«

So entpuppte sich der Straferlaß als ausgeklügelter Plan, mit dem der Westen kurz vor einer wichtigen Bundestagswahl zu Zugeständnissen bei der gegenseitigen Anerkennung bewogen werden sollte. Gleichzeitig hatte sich der DDR-Staat einer großen Gruppe krimineller und sozial gestörter Personen entledigt und sie gegen viel Geld dem Westen überlassen.

Fritzsch mußte noch mal in den normalen Strafvollzug nach Chemnitz, seine Arbeitskraft wurde noch bis zum 12. Dezember 1972 ausgebeutet. Dann kam er frei.

Sein Sohn war ein Jahr und einen Tag alt, als er ihn das erste Mal sehen durfte.

Entgegen den gesetzlichen Vorschriften der DDR erhielt Dr. Günter Fritzsch von der Stasi und den Behörden keine Chance auf Wiedereingliederung in die DDR-Gesellschaft. Seine alte Stelle an der Universität, die er laut Amnestieerlaß wieder antreten durfte, wurde ihm verweigert.

* Damals Staatssekretär im Bundeskanzleramt unter Willy Brandt (SPD).

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Der promovierte Physiker mußte in einem Fernmeldewerk arbeiten – in der Gießerei. Als er sich weigerte, wurde er als Spulenprüfer eingesetzt. Dort wurde er argwöhnisch von der Parteileitung beaufsichtigt.

Professoren hielten Stellen für ihn an der Universität frei, doch die Partei verhinderte mit aller Macht, daß er eine verantwortungs­volle Stellung bekam. Der Eintrag in seiner Kaderakte war eindeutig: »Staatsfeind«.

Ein Partei-Funktionär aus seinem Werk lallte nachts im betrunkenen Zustand an einer Straßenbahnhaltestelle in Leipzig-Gohlis: »Sie haben überhaupt keine Chance. Die machen Sie hier fix und fertig. Die wollen ein Exempel statuieren. Versuchen Sie, nach drüben zu kommen, hier gehen Sie vor die Hunde.«

Fritzsch, inzwischen ernsthaft krank, entschloß sich fast vier Jahre nach der Entlassung aus dem Gefängnis zur Ausreise mit seiner Familie nach Westdeutschland. Die Genossen im Rundfunk-Sinfonieorchester wollten seine Frau umstimmen und schlugen ihr eine Scheidung vor. Doch die nun um eine Tochter angewachsene Familie konnte 1976 ausreisen. In Westdeutschland gelang Fritzsch mit Unterstützung westlicher Kollegen ein neuer Start in der Wissenschaft.

Wie zuvor in der Bundesrepublik, wurde das Urteil gegen ihn im Juni 1991 auch in Leipzig aufgehoben. In der Rehabilitations­urkunde heißt es, daß »dem Antragsteller schweres Unrecht zugefügt« worden sei.

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Literatur 
Günter Fritzsch: Gesicht zur Wand. Willkür und Erpressung hinter Mielkes Mauern.  
St. Benno-Verlag Leipzig, 3. Auflage 1996.

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Stasi-Akten

 

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