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  Chronik eines Hungerstreiks 

 

Dieses Dokument registriert Fragmente aus dem Leben der Häftlinge des Permlagers WS 385-35 in den Monaten Oktober, November und Dezember 1974. Die zweite Hungerstreikaktion hatte zum Ziel, den Status von politischen Gefangenen zu erkämpfen. Der Hungerstreik vom Sommer 1974 war eine spontane Protestaktion gegen die brutale Behandlung von Häftlingen durch die Lagerorgane.

 

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10.10.74:  Z. Antonjuk, Sl. Glusman, I. Switlytschnyj und W. Balachanow (seit dem 26. August 1974 im Hungerstreik) haben sich an A. Sacharow, als bekannten Vertreter der demokratischen Bewegung, mit der Bitte gewandt, alles in seiner Macht liegende zu tun, damit die Forderungen der Gefangenen, d. h. die Anerkennung des Status als politische Gefangene erfüllt würden.

19.10.74:  I. Switlytschnyj wird am 54. Tag des Hungerstreiks aus dem Lager abtransportiert.
Die Antwort auf ein Schreiben vom 14.11.74 an die Staatsanwaltschaft des Gebietes Perm lautet: »Auf Anordnung höherer Instanzen Überführung in den Strafisolator der Stadt Perm zur ärztlichen Beobachtung.«

22.10.74:  Z. Antonjuk wird nach einem weiteren Kollaps aus dem Strafisolator in das Lagerhospital überführt. Er hat den Hungerstreik unterbrochen (am 56. Tag, nachdem 10 kg Gewichtsabnahme festgestellt wurden). Die Ärztin Solmina behauptet, er werde zwei Wochen lang Grießbrei bekommen und längere Zeit im Hospital bleiben müssen. Es geht ihm sehr schlecht. Er hat heftige Magen- und Leberschmerzen, leidet an Schlaflosigkeit.

31.10.74:  Z. Antonjuk wird offensichtlich auf Befehl des KGB in eine Unterkunft überführt, die einer Gefängniszelle entspricht. Am gleichen Tag hat Antonjuk eine Unterredung mit dem KGB-Chef Dechternikow, mit dem Bevollmächtigten des KGB für Lagerangelegenheiten, Hauptmann Utir, sowie mit dem Lagerkommandanten Major Pimenow. Sie beschuldigen Antonjuk und Switlytschnyj »staatsfeindlicher Umtriebe«, da sie Wladimir Balachanow zum Hungerstreik überredet hätten. Sie teilen Antonjuk den Beschluß mit, ihn für 4 Monate in eine Gefängniszelle zu verlegen.
Zum Zeichen seiner Solidarität mit den Streikenden nimmt Antonjuk den Hungerstreik wieder auf.

4.11.74:  Z. Antonjuk wird künstlich ernährt. Wie zuvor wird allen einmal in drei Tagen künstlich Nahrung zugeführt.

6.11.74:  Antonjuks Sonde ist nach der Nahrungszufuhr blutig - ein Zeichen für Magengeschwüre. Er hat heftige Schmerzen in der rechten Lunge - wahrscheinlich eine Verschärfung seiner TB. Starkes Bluten der Hämorrhoiden. Nacht jeder künstlichen Nahrungszufuhr heftige Magenschmerzen. Es werden keine Arzneien verabreicht.

9.11.74:  S. Glusman hat einen Herzanfall. Alle Streikenden gehen nicht mehr an die Luft, sie können nicht mehr aufstehen. Der Hungerstreik dauert am 10.11.74 bereits 75 Tage.

Am 10.12.74 wird im Straflager WS 395-35 der traditionelle Tag der sowjetischen Konzentrationslager begangen. Es ist der Tag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die 1948 von der UNO angenommen wurde. Die Gefangenen protestieren dagegen, daß den Bürgern der UdSSR die Menschenrechte vorenthalten werden. Sie verlangen die Anerkennung ihres Status als politische Gefangene, sie fordern Maßnahmen, um das Leben der am Hungerstreik Beteiligten zu retten. Alle Forderungen haben sie schriftlich an das Präsidium, des Obersten Sowjet der UdSSR und der Föderalrepubliken gerichtet. Es sind insgesamt 35 Erklärungen, 24 Verfasser legen zur Bekräftigung ihrer Forderungen einen Hungertag ein.

Am 24.10.74  kommen Vertreter der ukrainischen Öffentlichkeit aus dem Gebiet Ternopil (Westukraine) ins Lager WS 389-35. Es sind: der Vertreter des Instituts für Volkswirtschaft, Kwatyra, ein Meister aus der Lederfabrik von Ternopil, ein Agronom der Kolchose »Bilschowyk« aus dem Bezirk Borschtschiw und ein Vertreter des KGB von Ternopil. Sie halten eine »Lektion« mit dem Titel: »Der Sieg der Nationalitätenpolitik Lenins in der Ukraine«. 

Nach der Lektion erklärt der Häftling M. Horbal:

»Es spricht der politische Strafgefangene M. Horbal. Er verbüßt seine Haftstrafe dafür, daß er das Poem »Duma« (episches Heldenlied - A.d.Ü.) verfaßt und es einem Kollegen zum Lesen gegeben hat. Er hat damit keinen einzigen Punkt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verletzt, die von der UNO angenommen und auch von der UdSSR mitunterzeichnet wurde. Das hat das KGB von Ternopil nicht daran gehindert, ein Verfahren gegen mich einzuleiten. Das Gebietsgericht hat folgendes Urteil gegen mich gefällt: 5 Jahre strenge Lagerhaft und 2 Jahre Verbannung in der ASSR Koma.

Doch es geht nicht darum. Das hat mit dem Sieg der Nationalpolitik Lenins gar nichts zu tun, und die Ukrainer werden sich nicht damit abfinden, daß sie für die Verwegenheit, an die Freiheit auch nur zu denken, mit Freiheitsentzug rechnen müssen. Ich möchte Sie als Ukrainer und Landsleute, als Vertreter einer souveränen Republik fragen, warum Ukrainer ihre Haftstrafen in Mordowien, Sibirien und im Uralgebiet absitzen müssen? Wie lange wird Sibirien und der Ural für die Ukraine Symbol für Katorga und Freiheitsentzug bleiben? Können Sie nichts unternehmen, können Sie nicht auf die Regierung der Ukrainischen SSR einwirken, uns in die Ukraine zu überführen, wenn wir ein angeblicher souveräner Staat sein sollen?«

Antwort: »Wir sind dazu nicht bevollmächtigt.« »Noch eine Erklärung: Um die Gelegenheit einer Begegnung mit Landsleuten zu nutzen - ich stamme nämlich selbst aus dem Gebiet von Ternopil -, möchte ich Sie als Vertreter der ukrainischen Öffentlichkeit informieren: in der Periode der »Blütezeit von Lenins Nationalpolitik«, in einem Land, in dem Erklärungen zufolge »der Mensch so frei atmet« (Verszeile aus der Nationalhymne der UdSSR - A. d. Ü.), befinden sich heute in unserem Lager schon 55 Tage im Hungerstreik: der Literaturkritiker Iwan Switlytschnyj (Ukrainer), der Wirtschaftswissenschaftler Z. Antonjuk (Ukrainer), der ehemalige Mitarbeiter der UNO Wladimir Balachanow (Russe), der Psychiater S. Glusman (Jude) - alle aus Protest gegen die Mißachtung der Menschenwürde, gegen die Willkür und Gewalt der Lagerorgane. Das Leben dieser Menschen ist gefährdet, und Sie werden es auf dem Gewissen haben.«

Horbal gab seine Erklärung in ukrainischer Sprache ab.

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   Aufruf einer Gruppe politischer Gefangener aus dem Permlager WS 389/36  

 

Wir sind eine Gruppe politischer Gefangener aus dem Konzentrationslager Nr. 36 am Ural und wollen die Regierungen aller Länder, die Vereinten Nationen und alle anständigen Menschen der Welt auf die unerträglich schweren Haftbedingungen der politischen Gefangenen in der UdSSR hinweisen. Wir bitten, auf die Regierung der UdSSR einzuwirken, diese Bedingungen zu ändern und den politischen Gefangenen gegenüber Gesetze anzuwenden, die den internationalen Normen über den Status politischer Gefangener entsprechen.

Da die machtausübenden Organe dieses Landes die Existenz einer Opposition gegen das herrschende Regime sowie die Existenz einer nationalen Befreiungsbewegung der Völker der UdSSR leugnen, bestreiten sie auch die Existenz von politischen Gefangenen in der UdSSR und ignorieren die Rechte, die uns als politischen Gefangenen zustehen.

Unsere Haftbedingungen sind schärfer als die von Kriminellen. Wir werden gezwungen, schwere physische Arbeit zu leisten, an die die meisten von uns nicht gewöhnt sind.

Unsere Lager liegen Tausende von Kilometern von unserer Familien entfernt, oft außerhalb der Republiken, in denen wii vor unserer Verhaftung gelebt haben. Also können wir weger der großen Kosten und Schwierigkeiten der Reise unsere An. gehörigen nicht einmal zwei, dreimal im Jahr sehen. Außerden wird die Besuchserlaubnis aus beliebigen Gründen gestrichen Es genügt der entsprechende Hinweis eines KGB-Vertreters.

Unser Briefwechsel wird besonders scharf zensiert. Die Abgangs- und Auslieferungstermine der Post werden systematisch überzogen. Nichtrussen werden gezwungen, russisch zu schreiben. Viele Briefe, die eingehen oder abgehen, werden unter dem Vorwand beschlagnahmt, »inhaltlich verdächtig« zu sein. Viele Beschwerden und Erklärungen werden nicht weitergeleitet unter dem Vorwand, in ihnen sei die sowjetische Wirklichkeit entstellt, oder aber die Verwaltung adressiert sie willkürlich um. Unsere Beschwerden werden in der Regel formell-bürokratisch und höhnisch beantwortet.

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Wir müssen erniedrigende Leibesvisitationen ertragen. Auch unsere Angehörigen, sogenannte freie Bürger, werden bei ihrem Besuch während der Durchsuchung gezwungen, sich ganz auszuziehen. Haarschneiden und Rasieren erfolgen zwangsweise. Wir müssen schlechte, einheitliche Häftlingskleti» düng mit Kennzeichen auf der Brust tragen.

Unsere Speziallager sind nicht nur für Vertreter des Auslandes, sondern sogar für die sowjetische Öffentlichkeit gesperrt. Wir haben keine Möglichkeit, mit ausländischen Korrespondenten oder Juristen, mit Vertretern des Internationalen Roten Kreuzes oder der Vereinten Nationen zu sprechen und sie zu informieren über unsere Haftbedingungen, über unsere Überzeugungen, über die meist vorfabrizierten Anklageschriften, über die Geheimprozesse und die groben Verletzungen der Gesetze und unserer Rechte von Seiten der Gerichts- und Untersuchungsorgane der UdSSR.
Während der Transporte werden wir (zur Provokation) zusammen mit Kriminellen, mit gefährlichen Rückfallverbrechern untergebracht und ihrer Brutalität ausgesetzt. In den Lagern müssen wir mit Kriegsverbrechern und auch mit Kriminellen zusammenleben - und das nicht ohne bestimmte Absicht. Aus beliebigen Anlässen werden wir scharf bestraft, wir werden mit Nahrungsentzug gequält, wir werden unter physischen und psychischen Druck gesetzt, wir werden auf verschiedene Weise verhöhnt. Die elementarsten Bürgerrechte und die. Menschenwürde werden vollkommen ignoriert. 
Durch ständige Verfolgungen und Verbote schafft die Lagerleitung eine unerträgliche Atmosphäre, eine angespannte Lage, die bei vielen von uns schwere Erkrankungen verursacht und manche sogar zum Selbstmord treibt.
Das Ideal des gesamten Systems der sogenannten Umerziehung ist ein denationalisierter, stummer und demütiger Sklave, der nicht denkt, sondern gehorsam alle Befehle der Vorgesetzten ausführt.
Die medizinische Versorgung ist schlecht; die ekelerregende Nahrung besteht aus minderwertigen, oft verdorbenen Lebensmitteln ohne tierisches Eiweiß.

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Eine Antwort auf dieses System der Gewalt und Verfolgung sind die ständigen Hungerstreikaktionen, auf die die Behörden mit verschärften Repressionsmaßnahmen reagieren. Schon seit vielen Jahren fordern die politischen Gefangenen der UdSSR die Anerkennung ihres Status und entsprechende international übliche Haftbedingungen.

Eine Gruppe politischer Gefangener aus dem Lager Nr. 35 (Switlytschnyj, Glusman u. a.) haben einen über dreimonatigen Hungerstreik durchgeführt, um ihre Forderungen durchzusetzen. Die Behörden haben ihren Protest ignoriert.

Dem politischen Gefangenen W. Kalynytschenko drohen sie für die gleichen Forderungen mit der Einweisung in eine psychiatrische Anstalt. So wird jeder, der die Rechte fordert, die ihm zustehen, für psychisch krank erklärt.

Wir beginnen den Kampf um unsere Anerkennung als politische Gefangene und um unsere Rechte, und wir sind uns dessen bewußt, daß schon in den nächsten Tagen die ganze Staatsmaschinerie gegen uns in Gang gesetzt wird. Doch wir sind fest entschlossen, unser Ziel weiterzuverfolgen — die Erfüllung unserer berechtigten Forderungen.

Wir sind weder Diebe, noch Räuber, Banditen, Rowdys oder Betrüger. Wir haben keine kriminellen Delikte begangen. Wir sind nur für unsere Überzeugungen verurteilt worden. Deshalb sind wir überzeugt, daß alle anständigen Menschen der Welt unseren Aufruf unterstützen werden. Wir hoffen, daß auf der nächsten Generalversammlung der Vereinten Nationen die Lage der politischen Gefangenen der UdSSR endlich zur Sprache kommt. Die Propagandaorgane der UdSSR verurteilen entschieden einzelne Länder wegen der unmenschlichen Behandlung ihrer politischen Gefangenen. Wir glauben, daß das die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit nicht von der elenden Lage der politischen Gefangenen in der UdSSR ablenkt, von den brutalen Verletzungen ihrer Rechte durch die Behörden der UdSSR.

Jakiw Suslenskyj 
Anatolij Zdorowyj 
Pawlo Kampow 
Witalij Kalynytschenko 
Juri Horodezkyj 
Stepan Sapeljak 
Mykola Bondar

 

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Ich klage an 

Erklärung des politischen Gefangenen Wassyl Stus

 

Schon mehrfach habe ich die offiziellen Stellen gebeten, die Personen zur strafrechtlichen Verantwortung zu ziehen, die für die Massenvernichtung der Vertreter einer ganzen Generation der ukrainischen Intelligenz verantwortlich sind. Doch auf meine Erklärungen habe ich entweder gar keine Antwort bekommen, oder die Staatsanwälte schickten unsachliche Antworten von der Art: »Rechtens verurteilt und daher keine Notwendigkeit, das Verfahren wieder aufzunehmen«. Deshalb sehe ich mich gezwungen, mich an die Öffentlichkeit zu wenden und die Gründe zu nennen, die mich zu diesem Schritt bewogen haben.

 

1. Bei mir wie auch bei vielen anderen, die im Januar 1972 verhaftet und später verurteilt worden sind, wurde aufgrund eines provokativen Befehls, unterschrieben vom Staatsanwalt Malychin (Lwiw), eine Hausdurchsuchung vorgenommen. Der Grund: wir seien an der sogenannten Dobosch-Affäre beteiligt (Jaroslaw Dobosch — ein belgischer Student ukrainischer Abstammung, der im Januar 1972 in Lwiw wegen angeblicher Agententätigkeit verhaftet wurde — Anm. d. Übers.).

Fast alle Opfer des KGB-Überfalls, bei denen auf der gleichen Basis eine Hausdurchsuchung durchgeführt wurde, hatten weder eine Beziehung zu Dobosch selbst noch zu seinem »Fall«. Ich fordere deshalb, die Personen zur Verantwortung zu ziehen, die diese Hausdurchsuchungen und Verhaftungen aufgrund falscher Vorwände sanktioniert haben. Vom Beginn der Ermittlungen an haben die KGB-Leute mit mir kein einziges Mal über Dobosch gesprochen, weil ich Dobosch niemals gesehen hatte.

Der Dobosch-Fall ist nämlich eine billige Fälschung, ausgedacht, um die Verhafteten vor der Öffentlichkeit zu diskreditieren, um zumindest für eine gewisse Zeitspanne die öffentlichen Proteste zu lahmen. Wieweit der Fall Dobosch von Anfang an konstruiert war, zeigt der Umstand, daß die ukrainischen Prozesse von 1972-73 nach dem Muster der Prozesse aus den dreißiger Jahren veranstaltet und mit Jeschow-Berija-Methoden durchgeführt wurden.

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Das Ausmaß der Konstruktion spricht dafür, daß die Urheber dieses mörderischen Schauspiels in der beim Ministerrat der Ukrainischen SSR etablierten KGB-Leitung zu suchen sind. Ich beschuldige sie deshalb der bewußten Verleumdung mit dem offensichtlich verbrecherischen Ziel, die wegen ihrer Überzeugung verfolgten Personen öffentlich zu diskreditieren.

 

2. Während der Hausdurchsuchung wurde bei mir alles beschlagnahmt, was ich in den 15 bis 17 Jahren meiner literarischen Arbeit verfaßt habe: Gedichte, literaturkritische Artikel, Prosa, Übersetzungen. Von den Werken junger ukrainischer Autoren haben die KGB-Leute Gedichte von Wiktor Kordun, Mykola Cholodnyj, Ihor Kalynez, Hryhorij Tschubaj, etliche Werke von W. Symonenko, M. Winhranowskyj, L. Kostenko, I. Dratsch beschlagnahmt, ebenso handschriftliche Manuskripte von M. Brajtschewskyj, L. Tanjuk, I. Dzjuba, S. Teinjuk; Werke ukrainischer Autoren, die im Ausland leben - die Gedichtbände von W. Wowk und E. Andijewska; desgleichen einzelne Werke von Pasternak, Jewtuschenko, Gorki, Solschenizyn, Berdjajew und Karl Marx, K. Jung und Ortega y Gasset. Die KGB-Leute haben demonstriert, daß sie die Werke von Schriftstellern und Philosophen der ganzen Welt für ihre Feinde halten.

Deshalb fordere ich, daß sie als Feinde der ukrainischen Kultur und des ukrainischen Volkes, als Feinde des Humanismus, der Weltkultur, als Feinde der ganzen Menschheit vor Gericht gestellt werden.

 

3. Meiner Anklageschrift beigefügt wurden zahlreiche Texte über die Repressionen der zwanziger, dreißiger und späterer Jahre, über die Ausrottung der ukrainischen Bauern 1933, über die Vernichtung der ukrainischen Intelligenz 1937, über die materielle Not der Kolchosbauern in den Jahren 1930-40 und in den folgenden Jahrzehnten.

Während der Ermittlungen und der Gerichtsverhandlung wurde meine Behauptung, daß die Lage der Bauern, die keine Personalausweise haben und ihren Wohnort nicht verlassen dürfen, eine Form der Leibeigenschaft sei, als antisowjetische Behauptung klassifiziert.

Als antisowjetisch wurde auch meine Behauptung ausgelegt, daß der Zeitraum 1961-71 eine Periode der systematischen Verschlechterung der Lebensbedingungen des Volkes in materieller und geistiger Hinsicht, ein Voranschreiten der Reaktion gewesen sei.

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Antisowjetisch sei auch mein Gedicht »In Marjinka steht der Mais« über die bekannte Tatsache aus der Vergangenheit, als die Kolchosbauern praktisch unentgeltlich arbeiteten.

Indem sie die erwähnten Texte als antisowjetisch einstuften, haben die KGB-Leute die Rolle der unmittelbar Schuldigen auf sich genommen, der Verantwortlichen für diese blutige Periode der Vergangenheit, die Rolle der Teilnehmer der grausamen Ausbeutung des Volkes durch den Staat. Indem sie heute solche Behauptungen als Vergehen einstufen, indem sie bekannte Tatsachen beispielloser Repressionen der Vergangenheit geheimhalten, beweisen sie ihre Verwandtschaft mit der Jeschow und Berijaclique und nehmen die Verantwortung für all die Verbrechen auf sich, die ihre Vorgänger in den vergangenen Jahrzehnten begangen haben.

Ich habe das KGB eine parasitäre, ausbeuterische und schädliche Organisation genannt, die Millionen Erschossener, zu Tode Gequälter und Verhungerter auf dem Gewissen hat.

 

4. Man hat mir das Fehlen eines klassenbewußten Standpunktes im literarischen Werk zur Last gelegt, ich sei parteilos und ein vom Schriftstellerverband nicht erfaßter Autor, ich hielte mich nicht an die Prinzipien der kommunistischen Parteilichkeit und an den sozialistischen Realismus, ich verträte Positionen des abstrakten Humanismus, und in manchen meiner Werke klängen existentialistische Töne an. Somit wird schon als Verbrechen empfunden, wenn ein Mensch andere Ansichten hat als kommunistische. So einem Menschen wird einfach verboten zu existieren.

5. Während der Untersuchungshaft erhielt ich keine einzige Gesetzesausgabe, die mich über die Rechte eines Angeklagten informiert hätte. Im Lauf der Ermittlungen habe ich täglich um ein Strafgesetzbuch gebeten. Ich weigerte mich schließlich, zu den Verhören zu erscheinen. Die KGB-Leute drohten, sie würden mich auch gegen meinen Willen vorführen. Als ich mich daraufhin weigerte, mit dem Untersuchungsrichter zu reden, wies er mich in eine psychiatrische Anstalt ein.

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Als ich im Gefängnisflur schrie, daß man mich in die Irrenanstalt bringe, stürzten sich der Leiter des Untersuchungsgefängnisses, Saposchnikow, und der diensttuende Offizier mit Fäusten auf mich und schlugen mich zusammen.

Um mich psychisch zu brechen, vereinten die Untersuchungsrichter und Staatsanwälte Makarenko, Pohorilyj und Malyj ihre Kräfte; sie tragen auch die Verantwortung für das Volksgericht, das in den Amtszimmern der Untersuchungsrichter veranstaltet wurde, in dem die elementarsten Regeln des Ermittlungsverfahrens mißachtet wurden. Ich wurde von vom KGB beeinflußten Zeugen - Mazkewytsch, Sidorow, Kyslynskyj - beschuldigt, obwohl ich sie von Anfang an als KGB-Klientel, dazu noch chauvinistischen Typs, eingestuft hatte.

»Ich habe sofort erkannt, daß Stus Nationalist ist, weil er die ganze Zeit nur ukrainisch spricht«, erklärte Sidorow bei der letzten Gegenüberstellung.

Um andere Verhaftete zu belügen, wurden die psychisch und moralisch zusammengebrochenen Z. Franko und A. Seleznen-ko als »Zeugen« ausgenutzt. Der letztere erklärte vor Gericht, ich hätte auf ihn den Eindruck eines echten Nationalisten gemacht. Als ich diese Behauptung als völlig grundlos zurückwies, nahm Seleznenko sie zurück. Daraufhin drohte der Richter Dyschel Seleznenko mit dem Gefängnis. Seleznenko hielt diesem Druck nicht stand. Das gleiche geschah mit dem Zeugen I. Kalynytschenko. Das KGB hatte von ihm eine falsche Aussage über eines meiner Gedichte erpreßt, die er dann während der Verhandlung zurücknahm. Daraufhin begann der Richter ihn ausfallend zu beschimpfen und ihm zu drohen, daß er für sein Verhalten seinen Arbeitsplatz und seinen wissenschaftlichen Titel verlieren werde. Während des Prozesses verlangte ich eine öffentliche Verhandlung, was jedoch abgelehnt wurde. Ich weigerte mich, den Pflichtverteidiger zu akzeptieren, und verlangte literarische Expertisen - alles vergeblich. In Zusammenhang damit klage ich die ganze Ermittlungsabteilung des KGB an, den Gefängnisleiter Saposchnikow, das Richterkollegium, die Staatsanwälte Makarenko, Malyj, Pohorilyj, die dieses verbrecherische Volksgericht über mich und meine Kollegen inszeniert haben.

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6. Ich klage die internen KGB-Rezensenten an, die Gutachten über die beschlagnahmten Werke ukrainischer Autoren verfaßt haben. Aus dieser Reihe kann ich A. Kaspruk nennen (Institut für Literatur an der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften), der meinen Gedichtband und meine literarkriti-schen Artikel rezensiert hat, ferner A. Kowtunenko (Institut für Literatur an der Akademie der Wissenschaften der Ukr.SSR), den Verfasser der Rezension auf den Gedichtband »Schrei aus dem Grab« von M. Cholodnyj, die Verfasser der Kollektivrezension über Dzjubas Werk »Internationalismus oder Russifizierung?« I. Skaba, W. Jewdokimenko, J. Sbanaz-kyj, W. Kosatschenko, L. Nahorna (Institut für Parteigeschichte), P. Nedbajio (Dozent am Lehrstuhl für Journalistik der Universität Lwiw). Als Grundlage für ihre Heranziehung zur strafrechtlichen Verantwortung können ihre Rezensionen mit polizeilichen verleumderischen Erklärungen dienen. Ich glaube, daß ihre Schuld in der Durchführung der Massenrepressionen genausogroß ist, wie die des etablierten KGB-Apparates. Sie sind ebensolche Schreibtischmörder wie die Untersuchungsrichter und Richter.

 

7. Ich klage die KGB-Leute der physischen Mißhandlung der ukrainischen Gefangenen an. 1972 haben sie Walentyn Moros mit einigen Messerstichen lebensgefährlich verletzt. Anfang 1975 haben sie Ossadtschyj in einer Zelle in Potma schwer mißhandelt. Wenig später trieben sie Wjatscheslaw Tschornowil am 6. Tag seines Hungerstreiks mit Gewalt barfuß und gefesselt auf eine Marschroute in den Schnee hinaus. Physischen Leiden werden auch die ukrainischen Frauen ausgesetzt - so Nina Strokata und Stefania Schabatura, die im Januar 1975 im Gefängnis auf Hungerrationen gesetzt wurden, die sie an den Rand der Erschöpfung brachten. Anderen Gefangenen verkürzen sie das Leben methodisch durch Kälte, Hunger und fehlende medizinische Versorgung. Ich klage die KGB-Leute an, die schon vier Jahre lang die ukrainischen Gefangenen M. Plachotnjuk, W. Kowtschar, W. Ruban, Luponos, L. Pljuschtsch, Terelja, Krasiwskyj und andere in psychiatrischen Kliniken gefangen halten.

Der beim Ministerrat der Ukrainischen SSR etablierte KGB-Apparat ist eine böswillige Organisation, die in den Jahren 1972-73 Repressionen in bislang in der UdSSR unbekannten Maßstäben durchgeführt und dem ukrainischen Volk und der ukrainischen Kultur einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zugefügt hat.

Ich klage das KGB als offensichtlich chauvinistische und antiukrainische Organisation an, die meinem Volk die Sprache und Stimme genommen hat. Die Prozesse der Jahre 1972-73 in der Ukraine haben das Denken, die Denkfähigkeit, den Humanismus, die Liebe treuer Söhne zu ihrem Volk gerichtlich verurteilt.

Die Generation der jungen ukrainischen Intelligenz, die eine Generation von politischen Gefangenen wurde, ist im Geiste des Humanismus, der Gerechtigkeit und Freiheit erzogen worden. Darin liegt ihre ganze Schuld, ihre böse Absicht. Doch nur auf solche Menschen kann ein Volk stolz sein - heute und für alle Zeiten.

Ich bin sicher, daß sich das KGB früher oder später als verbrecherische, offensichtlich volksfeindliche Polizeiorganisation wird strafrechtlich verantworten müssen. Doch ich bin nicht sicher, ob ich diesen Prozeß noch erleben werde. Deshalb bitte ich, meine Erklärung den Anklägern dieser verbrecherischen Organisation zu übergeben. In der vielbändigen Anklageakte soll meine Aussage nicht fehlen.

1975
Wassyl Stus 
KZ Dubrowlag

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