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Linsen und Kanonen

 Amery 1972 (1985)

 

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Heute scheint man weniger denn je sicher zu sein, ob die Entfaltung von Wissenschaft und Technik etwas mit dem christlichen Entwicklungsschema der weißen Welt zu tun hat oder nicht. Das gängige Geschichtsbild (meist nicht mehr als ein fertig bezogener Druck aus der Firma Progress&Co.) will es jedenfalls haben, daß mit dieser Entfaltung die Geschichte erst richtig in Schwung kommt. 

Danach ging nach einem Jahrtausend, welches die Kirche kräftig im Dunkeln hielt (Dark Ages heißt es schlicht auf englisch), die Sonne der Bildung wieder auf, die einst so fröhlich Hellas und Rom beschienen hatte; die italienische Renaissance, der deutsche und holländische Humanismus, das elisabethanische England der Abenteurer und Dichter fegte den Himmel von den alten düsteren Projektionen frei.

Das neue Zeitalter hat seine Märtyrer: Galileo Galilei, Giordano Bruno. Sie sind die Winkelriede, die sozusagen auf ihrer nackten Brust die Speere der Reaktion zusammenziehen und der Freiheit eine Gasse bahnen. Durch sie bricht unwiderstehlich die Welt der Naturwissenschaften und der Technik ein, macht zum ersten Mal seit den Tagen der Antike die Erde wieder bewohnbar und das Leben eine Lust.

 wikipedia  Arnold_Winkelried

Nun, schon die vorigen Kapitel sollten gezeigt haben, daß es mit diesem Schema nicht ganz stimmen kann. Tatsächlich sind eine Reihe von Differenzierungen notwendig, und zwar sowohl grundsätzliche wie historisch-praktische.

Fassen wir den Stier bei den Hörnern, gehen wir das spektakulärste Phänomen zuerst an: den Fall Galilei. Wer oder was erledigte Galilei? Das Establishment seinerzeit, zweifellos, und an seiner Spitze die Kirche. Nun war aber ausgerechnet jener Barberini, der später als Papst seine Unterwerfung erzwang, ursprünglich einer seiner Förderer gewesen, und zwar schon als Kardinal der römischen Kirche. Unter welchen Druck - so ist also weiterzufragen - geriet der Papst, der nicht auf dem Kardinal gelastet hatte? Oder wurde er unter dem Einfluß des Alters und Amtes konservativer, als er seinerzeit als Förderer gewesen war?

Der Druck, unter den der Barockpapst geriet, war der Druck eines Establishments; aber nicht eines theologischen (jedenfalls nicht in erster Linie), sondern eines philosophisch-akademischen. Das Gespenst, das ihn beeindruckte, der Dunkelmann, war weder Moses noch der Autor des Buches der Richter, auch nicht irgendein alter Kirchenvater, sondern das Gespenst hieß Aristoteles.

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Und zwar der Aristoteles, den der scholastische Schulbetrieb heiliggesprochen hatte. Wenn man den Herd der Repression, die Galilei zermalmte, lokalisieren will, dann hieß er nicht Rom, sondern Paris: jene Sorbonne, die sich bis ins 17. Jahrhundert hinein als praeceptor ecclesiae, als Lehrmeisterin der Kirche fühlte. Ihr Schulbetrieb bestand auf einem geschlossenem Weltbild, einem Weltbild, das Offenbarung und Welterkenntnis stimmig vereinte. Die Scholastik war damit durch eine Hintertür wieder auf den Königsthron gelangt, den in der Antike die philosphische Spekulation eingenommen hatte: den Königssitz der Welterklärung, der Deutung des Lebenssinnes.

Thomas von Aquin hatte der Kirche in einem Augenblick höchster geistespolitischer Bedrohung diesen Bundesgenossen Aristoteles verschafft - und die Kirche hat sich an ihn wie an ein Rettungsfloß viel zu lange geklammert. Die Scholastik hatte sich selbst zur philosophia perennis, zur ewigen Philosophie, ernannt, und es gelang ihr bis in die Tage Pius' XII., die Reputation zumindest offiziell beizubehalten. Noch der halbherzige Widerruf des Galilei-Urteils durch das Zweite Vatikanische Konzil hat diesen Tatbestand nicht zu berühren gewagt.

Mit den wichtigeren Entwicklungen der Renaissance hatten Naturwissenschaften und Technik zunächst sehr wenig zu tun. Das Mittelalter hatte an sich gegen Technologie gar nichts; im Gegenteil, es war technologisch fortgeschrittener als die Spätantike. Daß wir den Erfinder des Pferde-Brustgeschirrs, die Erfinder so vieler kunstvoller Wassermühlen werke nicht kennen, ändert nichts an der epochalen Bedeutung dieser Neuerungen. (Bemerkenswert ist, daß fast alle mittelalterlichen Erfindungen >umweltfreundlich< waren; das historische Instrumentarium, das uns erlauben würde, zu untersuchen, ob hier ein Zufall oder eine Kausalität vorliegt, steht noch aus.) Auch Bergbau und Landwirtschaft machten wichtige Fortschritte.

Was jedoch den praktischen Fortschritt des Mittelalters in Grenzen hielt, war die nicht-ökonomische Orientierung der Gesellschaft. Sowohl in der feudalen wie in der kirchlichen Rangordnung rangierten Erwerbstätigkeiten auf der untersten Stufe der sozialen Leiter. Sicher war die Arbeit gottgefälliger, als sie je in der Antike gewesen war - dafür sorgten schon die Orden.

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Aber solange die Kirche als etablierter Heilsapparat die Gleichheit der Menschen in der Welt des Jenseits sicherstellte, war kein großes Bedürfnis nach Sicherung des diesseitigen Reiches vorhanden.

Notwendig war also zunächst ein geistiger Umschwung; das ist das Körnchen Wahrheit, welches das progressive Geschichtsbild enthält. Dieser Umschwung hat aber nicht unmittelbar mit der Geistesblüte der Renaissance zu tun. Die Renaissance, genauer gesagt, der Humanismus, befaßte sich eben gerade nicht mit Naturwissenschaft. Er war ausschließlich geisteswissenschaftlich interessiert und setzte auf dem Gebiet der Philologie, der Literaturwissenschaft, der Kunst und Dichtung die Normen, die fast bis in unsere Tage gelten oder galten. Wenn die Renaissance (insbesondere die italienische) entscheidende Ansätze zu moderner Lebensgestaltung erarbeitete, dann lagen sie auf zwei Gebieten: der Politik und der Finanzwirtschaft.

Auf beiden Gebieten aber hat sich das päpstliche Rom vorurteilsfrei, man muß schon sagen skrupellos betätigt. Machiavelli, der verbitterte Idealist, der sich schließlich darauf verlegte, Politwissenschaft als Verhaltensforschung im Raubtiergehege zu betreiben, bezog sein bestes Material aus dem Tigerkäfig der Borgias. Und anerkannte Autorität auf dem Finanzsektor war Venedig, eben jene Serenissima, die eigentlich immer außerhalb des Christentums Politik gemacht hatte: ihre beste und gewissenloseste im Bündnis mit Rom gegen das christliche Byzanz.

Noch bezeichnender für die Renaissance ist das Fehlen jeder eigentlichen Fortschrittsideologie. Sie empfand ihr Werk als Befreiung, aber als Befreiung von einem finsteren Rückschlag der Menschheit. Sie wollte los von Gotik, germanischem Feudalismus, Hinterwäldlern und Hinterwelten. Ihre zentrale Parole lautete: adfontes - zurück zu den Quellen!, und zwar zu denen der Antike, die nur als klassische Norm für alles dienen sollte. Solche Geschichtsauffassung reproduziert die alte Idee des rollenden Rades - und tatsächlich gehört das Rad der Fortuna, der Glücksgöttin, zu den beliebtesten Emblemen der Renaissance und des Manierismus.

Die Literaten schrieben wie Cicero, die Architekten bauten

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wie Vitruvius, und die Malerei griff auf dem Olymp der Griechen und Römer zurück, auch da, wo es um christliche Gegenstände ging.

Der Fortschritt der Naturwissenschaften, jedenfalls ihr entscheidender Anstoß, kam aus einer anderen Ecke der Welt. Er kam aus dem Westen und dem Nordwesten Europas, aus den Kreisen der Frommen, die jeweils auf ihre Art zur christlichen Frömmigkeit zurückgefunden hatten; aus den Reihen der spiritualistischen und fundamentalistischen Kämpfer um ein wahres Heil des Menschen. Sie hatten die Brüderlichkeit wiederentdeckt, die so lange unter der Decke der Heils-Institutionen geschlummert hatte. Durch Erforschung der Natur und ihrer Gesetze hofften sie schon in dieser Welt einen Schimmer dessen sichtbar zu machen, was eine erlöste Menschheit sein und bedeuten konnte. Manche dieser Männer - so Giordano Bruno, aber auch Francis Bacon und Isaac Newton -neigten esoterischen Geheimlehren zu, aber die meisten dieser neuen Wissenschaftler waren überzeugte, ja fromme Christen: Ihr Typus findet sich bei Leibniz, Pascal, den Mitgliedern der Royal Society.

Die erste Hochblüte dieser naturwissenschaftlichen Intelligenz liegt erst in der Barockzeit - was aus mehreren Gründen bezeichnend ist. Nach dem Schock der Kirchenspaltung wandte sich die Theologie zunehmend der augustinischen, also einer >existentiellen< Tradition zu und entdeckte, daß sich in ihrem Zusammenhang viele der Fragen, an denen die Scholastik gescheitert war, völlig anders beantworten ließen. Pascal war Jansenist, das heißt, unmittelbar von dieser neuen augustinischen Theologie beeinflußt; Leibniz unternahm ernsthafte Anstrengungen zur Wiedervereinigung der Kirchen: Insgesamt war das 17. Jahrhundert, eben das der wirklich epochemachenden Entdeckungen, christlich >engagierter< als der Humanismus und die Renaissance.

Freilich, es wäre ein mühsames Unternehmen, die neue, exakte Wissenschaft als Ganzes taufen zu wollen. Unsere Methode erlaubt es uns, ziemlich genau festzustellen, warum so viele Zeitgenossen - abgesehen von ihrer respektablen Neugier -ihr Interesse diesem neuen Zweig menschlicher Bemühung zuwandten.

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In der Satzung der britischen Royal Society findet sich eine verräterische Bemerkung, die sinngemäß etwa folgendes besagt: Die Mitglieder, aufrechte Christen allesamt, beugen sich dem Anspruch der Kirchen, über letzte Dinge des Menschen zu entscheiden; sie konzentrieren deshalb ihre Arbeit auf die Gesetze der Natur und ihre Anwendung um auf solche Weise Gott zu ehren und das Los ihrer Mitmenschen zu verbessern.

Die Tendenz ist klar. Nach den Geisteskämpfen der Renaissance und Reformation, die nicht nur Gut und Blut, sondern auch seelische und intellektuelle Energie vertan hatten, einigten sich Theologie und Wissenschaft stillschweigend auf die ihnen zukommenden Positionen. Nach dem Bruch des >ewigen< Bundes mit Aristoteles, der nicht nur die naturwissenschaftliche Forschung durch seine auctoritas blockiert, sondern auch die Theologie an die Kette gelegt hatte, verzichtet die Kirche auf Sanktionierung bestimmter Weltbilder, während sich die Wissenschaft aus allen theologischen Kontroversen heraushält, auf rosenkreuzerischen Mummenschanz, mystische Alchemie und dergleichen verzichtet und sich auf die neue exakte Methode konzentriert, welche wägbare, meßbare Stoffe isoliert und analysiert und nur das wiederholbare Experiment als Maßstab des Erreichten gelten läßt.

Der Vorteil dieses ausgesprochenen oder stillschweigenden Arrangements wurde schnell begriffen. Überall in Europa wandten sich die Geister- sozusagen erleichtert aufatmend dem Experiment, der neuen Wissenschaft zu. Konfessionen spielten dabei keine Rolle; Jesuiten und Benediktiner waren so eifrige Forscher wie Calvinisten und Lutheraner, Freigeister so aktiv wie Christen.

Verständigung war zwischen allen möglich - ob sie nun ad majorem Dei gloriam forschten oder nicht; eine Verständigung auf einem weiten Feld, das des Schweißes der Edlen wert und dem Zugriff irgendeines Heiligen Büros entzogen war. Nicht einige wenige Märtyrer, sondern ein stattliches Heer von Konformisten aller Richtungen brachte die Wissenschaften zügig voran.

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Wichtig war nur, daß man sich strikt von jeder philosophischen Spekulation und jedem Weltdeutungsversuch fernhielt. Die mathematische Formel, die physikalische Gleichung, das wiederholbare chemische Experiment mußten für sich sprechen und für sonst nichts oder niemand. Rückbeziehung zu irgendeiner geistigen oder geistlichen >Mitte< war nicht nur schwierig oder unmöglich, sie war gar nicht wünschenswert; denn die >Mitte< hielt nach wie vor irgendein Heiliges Büro besetzt. Der >nihilistische< oder >positivistische< Zug der Naturwissenschaft, ihre Tendenz zur Weltentgötterung, die so viele gute Christen beklagt haben und beklagen, ist auch in diesem strategischen Verhältnis zu den etablierten Kirchen angelegt.

Was die Wissenschaftler ohne weiteres aus dem Christentum übernahmen, war die in den Klöstern erstmals entwickelte Arbeitsform. Es ist bezeichnend, daß der Streit um die Freiheit der Wissenschaft, um das Recht oder Unrecht des totalen Experiments, eigentlich nie zu Ende geführt werden kann, daß aber der wissenschaftlichen Arbeit auch heute noch und ganz selbstverständlich dieser Arbeitsstil zugemessen wird, den man mönchisch nennt. Eine hohe Disziplin, eine Verachtung aller Zerstreuungen, ein Lustgewinn durch härteste Bewährung und durch Versenkung in den angestrebten oder umworbenen Gegenstand sind Kennzeichen wissenschaftlicher Arbeit, die die Verwandtschaft mit dem Ethos der Abteien und Kollegien nicht verleugnen.

Wenn in den protestantisch-nonkonformistischen Teilen Europas dieser Arbeitsstil und die daraus resultierenden Erfolge besonders stark bemerkbar sind, wenn sie sich einen klaren Vorsprung vor ihren katholischen Nachbarn gesichert haben, dann gerade deshalb, weil sie die Klöster aufgelöst hatten. Der puritanische way of life hatte die Zweigleisigkeit christlicher Existenz, ihre saubere soziologisch-ethische Teilung in einen disziplinierten und (wenn möglich) frommen Mönchsklerus und ein ziemlich leichtsinnig-lasterhaftes Laienvolk, voller Empörung abgeschafft.

Das mittelalterliche Establishment hatte die Ethik des Verzichts und des ständig re-investierten Mehrwerts in den Klöstern isoliert und den armen Bauern ihre naiven fleischlichen Genüsse, ihr In-den-Tag-Hineinleben gegönnt; jetzt, im nonkonformistischen Protestantismus,

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wird die Verzichtethik zur christlichen Ethik schlechthin. Wahrend mühsam arrivierte Herren des katholischen Europa schleunigst zum Lebensgenuß übergingen (oft ohne über die nötigen Mittel zu verfügen), verweigerte der Puritanismus sogar seinen Millionären den arglosen Genuß ihrer Mühen.

Aber lassen wir dieses bekannte Elend beiseite und sprechen wir über den düsteren Glanz des Puritanismus! Er hat die Welt mehr als jede andere Version des Christentums verändert, er hat die effektivste Basis für die industrielle Ausbeutung des Planeten aufgebaut. Die säkularisierte, besser gesagt laisierte mönchische Arbeitsethik, der greifbare Erfolg des brüderlichen Reiches im Diesseits haben für die Naturwissenschaft erbracht, was sie zur Umsetzung ihrer Erkenntnisse (ja, teilweise zur Erarbeitung dieser Erkenntnisse) brauchte: die technologische Basis.

Sie wuchs fast geographisch genau an Standorten, die mit dem protestantischen Nonkonformismus identifiziert sind: an den Ufern des Clyde in Schottland und in den Niederlanden. In diesen wirtschaftlich nicht sehr günstigen Gebieten wurde die Erde zum ersten Mal vom Menschen >gemacht< das heißt wirtlich gemacht. John Knox und seine Jünger errichteten in Schottland ihr System des Gewerbefleißes und der allgemeinen Schulbildung und sicherten einen Lebensstandard, der weit über den natürlichen zeitlichen und landschaftlichen Gegebenheiten lag. Spektakulärer noch war die Entwicklung in Holland: Hier entrissen die Frommen ihre Erde buchstäblich dem Meer und schufen eine Kultur, die alle anderen Länder des Jahrhunderts in einer Hinsicht weit übertraf: Es war die erste Kultur des gemeinen Mannes. Im üppigen Frankreich lebten damals die Bauern unter Umständen, die ein russischer Muschik als schlimm empfunden hätte; in Holland erfreute sich der letzte Bürger eines Komforts und eines Wohlstandes, der ihm die Teilnahme an allgemeinen Kulturgütern sicherte. Hier entstanden die besten Bücher, die ersten Mikroskope; am Clyde wurden Schiffe gebaut und Kanonen gegossen. Die Welt als Werkstatt; in der nordeuropäischen Achse von Brabant bis Schottland wurde sie zur Wirklichkeit.

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Was der Untergang der Armada einleitete, vollendete der Produktionsvorsprung der protestantischen Mächte. Der Kapitalismus moderner Prägung wurde im Silberberg von Potosi in Bolivien geboren, aber er wurde nicht in Spanien ermöglicht: Die Flotten des Königs waren oft schon auf hoher See an einen Geizkragen in Amsterdam verpfändet oder fielen den englischen Freibeutern in die Hände.

Schlüsseljahr für den endgültigen Triumph ist 1688. Mit der Glorreichen Revolution in England war Frankreich, der übermächtige kontinentale Gegner, von einer britisch-holländischen Personalunion in Schach gehalten. Die Produktions- und Expansionskräfte des Nordens mit seinem puritanischen Ethos, seiner Organisation kirchlicher Brüderlichkeit, seinem Surplus an geistiger, moralischer und wirtschaftlicher Investitionskraft konnte darangehen, das diesseitige Reich zu errichten.

Das nötige Territorium war vorhanden. Denn wie seinerzeit dem Abraham, hatte Gott seinen Erwählten in diesen Tagen zugerufen: »Verlasse deine Heimat und ziehe aus in das Land, das ich dir geben werde!« 

Der Name des Landes war Amerika. 

 

 

               Magnalia Christi Americana              

 

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»Ich beschreibe die Wunder der christlichen Religion, die aus den Verderbnissen Europas an den amerikanischen Strand floh.« Mit diesem fast virgilischen Satz beginnt die erste Geschichte der neuenglischen Kolonien. Sie wurde im 17. Jahrhundert von einem geistlichen Führer Bostons, dem Pastor Cotton Mather verfaßt. Er nannte sie Magnalia Christi Americana, das heißt »Großtaten Christi in Amerika«.

Die Verderbnisse Europas: Die sah der strenge Divine ganz richtig. Durch die Hellenisierung und die Romanisierung der Kirche; durch die nie besiegten griechisch-philosphischen, römisch-rechtlichen, germanisch-magischen Unterströmungen der europäisch-mittelmeerischen Kultur war ja die Radikalität der Botschaft immer verwässert und gefälscht worden. Die Puritaner hatten dies schon in der Heimat erkannt; es schien ihnen ausgeschlossen, den alten Strukturen zu entrinnen, solange sie unter gesalbten Königen in den Ländern der Pharaonen hausen mußten. Ihr innerer Exodus hatte, genau wie der des Volkes Israel, vor der physischen Auswanderung begonnen.

Sie hatten das Alte Testament nicht nur wiederentdeckt, sondern leidenschaftlich aufgesogen. Hier, in der Geschichte eines kleinen, aber auserwählten Volkes, sahen sie ihr eigenes Schicksal inmitten der Unreinen vorgeprägt. Der lange Marsch durch die Wüste schien der einzig mögliche Weg in die Freiheit. Und sie traten ihn ohne Zaudern an. Das Ziel war gegeben: Amerika, das neue Gelobte Land.

Wir sind heute an ein Amerika gewöhnt, das ein Teil unserer Zivilisation ist; mit allen Problemen, die uns bedrängen, und einigen speziellen dazu. Es fallt uns schwer, nachzuvollziehen, was dieser Kontinent, grün und jungfräulich den Wassern entstiegen, ein gedeckter Tisch, für die drangvoll ringenden Völker Europas bereitet, den Zeitgenossen des 16. und 17. Jahrhunderts bedeutet haben muß. Sie haben ihn nicht nur als geographische, sondern auch als theologische Sensation empfunden. Handfest und greifbar war die alte Verheißung bestätigt; nie würde die Erde aufhören, Saat und Ernte zu geben, immer hielt der Gott der Bündnisse neue gelobte Länder bereit, um sein Volk zahlreich zu machen, Abrahams Samen auf ewig.

Was die Christenheit, gold- und landhungrig, im Vollgefühl ihrer Erwählung, dort vorfand, war nichts als Natur, biologische wie menschliche. Wir wissen erst heute, was daraus geworden ist. Amerika ist der christliche Kontinent schlechthin - in seinen Erfolgen wie in seinen Katastrophen.

Es ist notwendig, kurz das Schicksal Spaniens zu streifen. 

Es hatte das Unglück, auf gold- und silberstrotzende, hochorganisierte Großreiche zu treffen, die unter dem Stoß weniger, legendär tapferer wie verruchter Abenteurer sofort zusammenbrachen. Die Folgen für das Mutterland waren katastrophal. Hätte es in Mexiko und Peru nicht Gold gefunden, wäre es gezwungen gewesen, nach der Vertreibung der Juden eine eigene Mittelklasse aufzubauen oder sofort als Macht zu verschwinden. Das Gold der Inkas und der Azteken, der Silberberg von Potosi verschafften ihm die Illusion, daß seine Macht unbegrenzt durch Edelmetall verlängert werden könne.

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Gold war Gold, und Silber war Silber: Das Gesetz von Angebot und Nachfrage haben die stolzen Granden nie ganz begriffen. Sie verstanden bis ins 18. Jahrhundert hinein nicht, warum das Geld immer wertloser wurde und in den produktionsmächtigen Territorien des Nordens verschwand. Immerhin schafften sie es, daß Südamerika das problematischste Territorium der Gegenwart geworden ist.

Eines allerdings muß man den Spaniern zugute halten: Sie brachten es nicht fertig, die Kulturen der Eingeborenen so total auszulöschen, wie dies den Langen Messern in Nordamerika gelang. Trotz der Millionen, die sie hinschlachteten, blieben Mischkulturen von hohem Reiz enthalten, die für die Zukunft von großer Bedeutung sein sollten.

Neben der physischen und psychologischen Unfähigkeit spielt dabei ein religiöser Faktor eine Rolle, der in Nordamerika nie wichtig wurde: die Macht des katholischen Naturrechts - und das Gewissen des Kaisers Karl V. Unter dem Eindruck der schauerlichen Berichte des großen Dominikaners Las Casas erließ er im Jahre 1542 ein Gesetzeswerk, die sogenannten <Nuevas Leyes>. Sie waren mit Jahrhunderten Vorsprung das sozialste Gesetzeswerk der Neuzeit: Verbot von Frauen- und Kinderarbeit, Achtstunden-Tag für alle Indianer, Anerkennung ihres Status als freie und unmittelbare Untertanen.

Das Gesetz war atemberaubend, aber es hatte einen Nachteil: Es war nicht durchzusetzen. Als einziges, von der Madrider Krone zäh festgehaltenes Resultat der Nuevas Leyes blieb die Bestimmung in Kraft, daß kein Kreole, das heißt, kein in Lateinamerika gebürtiger Weißer, hohe Staatsämter bekleiden durfte. Diese Bestimmung mehr als alles andere (mehr jedenfalls als die Ideale der Französischen Revolution, die als Alibi genommen wurden) löste die kreolische Unabhängigkeitsbewegung des 19. Jahrhunderts gegen Spanien aus.

Ganz anders und für die Zukunft viel entscheidender verlief die Entwicklung in den weiten Räumen Nordamerikas. Hier stand den Stämmen des neuen Exodus, die mit dem Alten Testament im Marschgepäck auf Landnahme zogen, keine Hochkultur gegenüber; keine Ischtar, kein Baal, der den Israeliten so viel zu schaffen machte. 

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Kein geistlicher Führer mußte sich mit der Magna Mater oder mit Platon herumschlagen. Und dieses Land war hundertmal, tausendmal größer als die kleine Provinz am Jordan. Der einzige wahre Feind, die Pharaonen Alt-Europas, lag hinter ihnen. Den Hunderttausenden, bald Millionen bruderschaftlich organisierter Protestanten waren alle Mittel zur Hand.

Was die Einwanderer allerdings nicht zurückgelassen hatten, war ein anderes europäisches Erbe: Das Widerspiel zwischen Orthodoxie und Ketzerei. Es begann nun wieder auf amerikanischem Boden. Immer neue Sekten lösten sich aus der Selbstgerechtigkeit und dem strammen Kirchenregiment des neuenglischen Ostens und zogen, ihrerseits ein erwähltes Volk, dem Reich Gottes im Westen entgegen. 

Ohne dieses Widerspiel wäre die Expansion und der Raubbau wesentlich langsamer verlaufen.

Nun gab und gibt es amerikanischen Konservatismus - und es gab Ureinwohner. Ihre Problematik trifft in einer literarischen Figur zusammen: dem liebenswürdigen James Fenimore Cooper, uns und vielleicht einigen unserer Kinder als Verfasser der Lederstrumpfgeschichten bekannt. Er gehörte der landed gentry, den begüterten Kreisen des Staates New York an, und er hat in einem kaum bekannten Roman wütend Stellung genommen gegen die heuchlerische Raffgier der puritanischen Pioniere. Etwas von dieser Leidenschaft klingt auch im Band vier der Lederstrumpf-Serie »The Pioneers« an. Aber seine Modellfigur, der Lederstrumpf Natty Bumppo, kämpft von vornherein auf verlorenem Posten gegen die alles verschlingende Zivilisation und flieht mit seinen roten Schicksalsgenossen innerhalb einer Lebenszeit aus dem Hudsongebiet in die Prärien des Mittelwestens. Natty versucht, auf der Basis der Rousseauschen Theorien, so etwas wie ein Koexistenzprogramm mit den Indianern zu entwerfen (die Passagen werden in den gekürzten deutschen Ausgaben in der Regel weggelassen - ein Indiz für ihre Wirkungslosigkeit).

Aber insgesamt herrschte für die Indianer totales anthropologisches Unverständnis, das erst heute durch die Film- und Buchindustrie etwas revidiert wird. Zu kraß war das Gefälle zwischen den Kulturen, zu stark die Lockung einer riesenhaften Landmasse, die von den Ureinwohnern offenbar überhaupt nicht als Ausbeutungsobjekt gewürdigt wurde. 

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Das bißchen Konservatismus, das sich aus Europa nach Amerika stehlen konnte, hatte keine Chance gegen den Planwagen, die Büchse, die bruderschaftlich verfaßte Sektengemeinde. Die Fülle der Güter, das diesseitige Reich, das Zusammenfassen von Schöpfungsangebot und menschlicher Nachfrage schien endlich in den Blick der einen Generation gerückt. In der Philosophie Thomas Jeffersons fand dieses Pathos auf amerikanischem Boden seine erste säkularisierte Form; von ihm stammt der Satz, der heute den Lesesaal im modernen Annex der Kongreßbücherei zu Washington schmückt: »Wir behaupten, daß die Erde und ihre Fülle der gegenwärtigen Generation zur Nutznießung überantwortet ist.« Der Farmer Hector de Crevecceur, ein interessanter früher Sozialchronist Amerikas, prognostizierte um 1800, daß es noch acht Generationen dauern werde, bis Amerika von Küste zu Küste durchdrungen sei; keine vierzig Jahre genügten, um ihn zu widerlegen.

Jefferson war, wie wir wissen, kein Christ mehr. Aber dennoch ist Amerika bis in unsere Tage der christlichste Kontinent geblieben. Es hat, dank des Mangels an anderen Traditionen auf amerikanischem Boden (die der Sioux und Komantschen zählen nicht) verschiedene Entwicklungslinien der christlichen Geschichte am reinsten ausgeprägt. Sie werden im folgenden - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - nachzuzeichnen versucht.

 

Erstens - der europäische Bauer ist bis vor kurzer Zeit paganus, das heißt Heide, geblieben. Für ihn haben die alten, etablierten Kirchen den Fundus magisch-mantischer Praktiken möglichst reich in ihrem eigenen Brauchtum reproduziert. 

Der autarke und auf jahrhundertelange Kontinuierlichkeit bedachte Wirtschafts- und Familienverband bestimmte seine Existenz; Mobilität war ihm unbekannt, der Wert eines gesunden Stücks Vieh rangierte über dem eines kranken Großvaters, und der aller Hausgenossen - ob Mensch ob Vieh - weit über dem aller Außenstehenden. Noch die toten Verwandten verdienten eine Aufmerksamkeit, die keinem lebenden Fremden zustand. 

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Die Liturgie des Jahres, die Weihtümer in Haus und Feld, die Familiarität mit den Geistern von Wald und Flur sicherte wenn nicht Wohlstand, so doch Auskommen. Da er bis zur Schwelle des 19. Jahrhunderts praktisch unfrei war, trennten ihn erbitterte Existenzkämpfe von seinen feudalen Herren - aber einig war er sich mit ihnen in der Bewahrung der Tradition als einer lebenssichernden Oberinstanz über alle Entscheidungen auch der wirtschaftlichen Praxis.

Der amerikanische Farmer trat von vornherein unter anderen Gesetzen an. Die Erde, die er in Besitz nahm, war >God's Own Country<, sonst nichts. Die Indianer, die vorher unnützerweise darauf herumwanderten, hatten ganz offensichtlich keinen Anspruch darauf - denn sie wußten nichts damit anzufangen. Man konnte sie taufen oder töten (oder beides): Zur Integration in eine sinnvolle und rentabel planende Wirtschaft waren sie untauglich. Nur so ist die blutdürstige Erbitterung zu erklären, mit der >hochanständige< Kirchgänger dieses rothäutige Ungeziefer jagten und auslöschten.

Die Farm, das Land, ist Wirtschaftsbetrieb, sonst nichts. Mehr denn jemals zuvor (mehr auch als in jüdischer Zeit, wo Kanaan durch die uralten Gedenkstätten des Volkes bis in Abrahams Zeit geheiligt war) ist die Welt zuhandenes Zeug, RohstofFund sonst nichts. Formen der gewalttätigen Natur - das Klima mit seinen enormen Schwankungsbreiten, die Stürme und Regengüsse, die giftigen Pflanzen und die Insektenplage -trugen auch dazu bei, ein romantisches Verhältnis zur bukolischen Umwelt hintanzuhalten; das konnte konservativen Neuengländern wie James F. Cooper und David Thoreau überlassen bleiben.

(Es ist bezeichnend, daß in den USA [mit Ausnahme der einst spanischen Gebiete] keine klimatisch sinnvolle Architektur entstanden ist: In unseren Tagen wurde sie durch die technische Klimaanlage überflüssig gemacht.)

Gab die Farm nichts mehr her, wandte man sich entweder einer anderen Beschäftigung zu - oder man suchte sich neues Land im Westen, wo es praktisch umsonst zu haben war. Umsonst - aber mit Widerhaken. Denn die Landspekulation setzte in Amerika ebenfalls sehr früh und sehr vehement ein. Für die Finanziers im Osten, die vor allem hinter den großen

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Eisenbahnprojekten standen, waren Tausende von Quadratkilometern abstrakte Chiffren des finanziellen Kalküls, sonst nichts. Über Nacht konnte ein freier homesteader, der herrenloses Land okkupiert hatte, zum Hintersassen einer Finanzkompanie werden, deren Herren zweitausend Kilometer entfernt in New York oder Boston wohnten. Dieses Faktum hat zu den großen und bitteren Parteiungen des 19. Jahrhunderts geführt - aber weder Finanziers noch homesteaders waren sich über die gemeinsame Wurzel ihres Strebens klar.

Zweitens - Alle sonstige wirtschaftliche Aktivität stand unter den gleichen Gesetzen der Mobilität und Rentabilität: free enterprise, für europäische Fortschrittler des 18. und W.Jahrhunderts ein politisches Ziel, für das sie hartnäckig kämpften, war für Amerika von Anfang an eine wirtschaftliche Realität. Schon bei Benjamin Franklin erscheint Arbeit als quantifizierbare, nach den Regeln des Mehrwerts vorauszuberechnende Tätigkeit. Zünftlerische Ansätze waren unbekannt und entstanden - ein amerikanisches Kuriosum - erst als Folge einer mehr oder weniger siegreichen Gewerkschaftsbewegung, die - im Gegensatz zu Europa - das zünftlerische Prinzip des closed shop, also der zwangsweisen Mitgliedschaft, in vielen Branchen durchsetzte. Jede nicht-ökonomische Wertung menschlicher Realitätsveränderung wurde nicht nur als unvernünftig, sondern als sozial und geistig gefährlich beargwöhnt.

Nur so ist die Wut zu erklären, mit der sich Generationen von Yankees gegen die europäische Aristokratie und ihre Werte wandten. Auch das, was man amerikanischen Sozialismus nennen könnte (<Populismus> wäre wohl richtiger), war viel zu stark von dieser Fixation bestimmt, um sich an die neuen wissenschaftlichem Klassifizierungen des Marxismus gewöhnen zu können. 

Thorstein Veblens Angriffe auf die conspicuous consumption, das ostentative Erwerben von aristokratischen Statussymbolen, sind ein Dokument dieses egalitären Kampfes; aber seine erschreckendsten Dokumente finden sich bei Mark Twain. Er hat ein Buch geschrieben, in dem sich vulgäre Diffamierung europäischer Vergangenheit mit den kuriosesten Zwängen zu ihrer Rezeption mischt: »A Yankee at King Arthur's Court« - ein Yankee am Hofe König Arthurs. 

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Die Fabel, eine Art von Science-fiction, spielt kaum eine Rolle; es genügt zu sagen, daß ein aus Neuengland ins britische Mittelalter zurückkatapultierter amerikanischer fixer, ein vielgewandter Pfiffikus, das Reich des alten Königs total umkrempelt. 

Ich stehe nicht an, es als eines der unmenschlichsten Bücher des 19. Jahrhunderts zu bezeichnen; man muß nur einmal nachlesen, mit welcher Wonne der Yankee seine gepanzerten Feinde an einem Hochspannungsdraht verschmoren läßt. Psychoanalytisch höchst aufschlußreich ist der Schluß des Buches: Merlin gewinnt seine Zaubermacht zurück, das rationale Experiment versinkt im Chaos. Mark Twain, der entschiedene Atheist, mochte keinen Teufel fürchten, aber der keltische Untergrund der angelsächsischen Seele hat ihn schließlich doch erwischt. 

Drittens - Diesen Seelenuntergrund hatten die stolzen Puritaner aus Europa mitgebracht. Wie einst das Volk Israel mochten sie die äußeren Symbole und Kronen der bösen Macht an fremden Küsten, hinter den Grenzen ihres Roten Meeres, des Atlantik, zurückgelassen haben: Neben dem Alten Testament schleppten sie in ihrem Marschgepäck, ohne es zu ahnen, den finstersten Gegner von allen mit: Satan. Es gibt keine Christlichkeit, die so viel aus ihm gemacht hat wie die amerikanische. In Hunderten, Tausenden von revival meetings, in unzähligen Kanzelreden war er präsent; kein süditalienisches Nest hat je so unter dem Würgegriff des Bösen gestöhnt wie die brüderlichen Gemeinden des neuen Kontinents. Und es waren keine schlauen, auf Unterdrückung bedachten Obrigkeiten, die das von oben verordneten: Es war vielmehr die unterste Ebene, die analphabetische Basis der amerikanischen Sozietät, aus der dieses Miasma emporstieg. Billy Sunday, einer der prominentesten Laienprediger des Revivalismus, verschanzte sich buchstäblich hinter seinem Pult und hielt geifernde Zwiesprache mit dem Satan, den er an einem Fixpunkt über den Häuptern seiner begeisterten Gläubigen erblickte (Billy Graham ist nur noch ein höchst verdünnter Aufguß dieser alten, kräftigen Brühe des amerikanischen Fundamentalismus). Auf karikaturistische Weise wiederholte sich hier das Phänomen der Amhaarez, der religiös besonders ansprechbaren Gesetzlosen, die alsfarm-hands, als share croppers, als Fahrer von Pferdeteams und

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Mitglieder von Landnahme-Banden jahrelang unter anarchischen Verhältnissen lebten und mit einem Schlag des Enthusiasmus, einer schweißtriefenden Schlacht in tropischer Nacht, das Heil gegen den Urfeind erkämpfen wollten. Sicher, auch hier war viel soziales Ressentiment am Werk: das Ressentiment gegen die gepflegten Kirchgänger des Establishments und ihre Divines, ihre Pastoren mit den Universitätsdiplomen von Harvard und Princeton; Ressentiment auch gegen den buchgelehrten Agnostizismus, Deismus, Unitarismus der Oberklasse. Dennoch sollten die Satanserlebnisse der amerikanischfundamentalistischen Unterschicht all denen zu denken geben, die Gottes- wie Satansglauben in direkte Relation zu Repressionsmechanismen der Herrschenden setzen: So leicht ist historischer Materialismus nicht zu haben. >Give'em hell, Harry< - >mach ihnen die Hölle heiß, Harry!< So riefen noch 1948 die kleinen Leute Amerikas ihrem Champion Harry Truman zu -und der Ruf stammt direkt aus den Revival-Zeiten des BibleBelt und des Mittelwestens.

Viertens - Auch die positiven Traditionen der ursprünglichen christlichen Einwanderer waren und sind bis in unsere Tage fühlbar. Die positivste davon ist die Tendenz zur Brüderlichkeit. Amerikas Christentum ist am wenigsten von allen Christentümern durch den alten hellenistischen Fluch gehandikapt: die Absorption der religiösen Energien in die Spekulation. In Amerika war und ist christliches Gemeindeleben ohne brüderliche Praxis unvorstellbar. Natürlich gab und gibt es elegante Umgehungen: etwa die Isolierung sozialer Schichten in arme und reiche, in schwarze und weiße Pfarreien. Diese Isolierung ist aber höchstens als Substitut für die europäische Praxis zu werten, von vornherein Überzeugung und Leben zu trennen. DerwohlhabendePresbyterianer,dernurseine imitiert-gotische Kirche im Grünen besucht, kauft sich auf eine letzten Endes treuherzigere Weise von den Implikationen der christlichen Botschaft frei als ein französischer oder deutscher Christ, der zwar Schulter an Schulter mit armen Leuten in der Kirchenbank steht, aber in der alltäglichen Existenz nicht im Traum daran denkt, hieraus praktische Folgerungen zu ziehen.

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Daneben und darüber hinaus muß betont werden, daß heute >ökumenische<, das heißt ganz einfach christliche Aktion in Amerika zu den Alltäglichkeiten gehört. Der europäische Journalist, der von seiner Geschichte einschließlich Marx daran gewöhnt worden ist, überall saubere Antagonismen am Werke zu sehen, unterschlägt und unterspielt in der Regel die Vitalität solcher Unternehmungen. Er klammert sich an Prominente (zum Beispiel auch in der Rassenfrage), die ihm aus fotogenem Exil in Frankreich oder Algerien lupenreine Theorien für seine Features und Stimmungsberichte liefern. 

Die weißen Nonnen, die das Luxusapartment einer katholischen Vorstandsdame wegen ihrer verdächtigen Haltung in der Negerfrage mit Pickets umgeben; die Black Panthers, die in Community projects, in Unternehmungen mit weißen Baptisten, Episkopalianern, Lutheranern, mit Juden und Agnostikern kooperieren; die unzähligen gesamtchristlichen Initiativen gegen den Vietnamkrieg werden übersehen oder nur dann kommentiert, wenn sie, wie im Fall der Gebrüder Berrigan, in eine Art von Dramaturgie übersetzt werden können. Und selbst in diesem Fall wird die richtige Lektion nicht gelernt, der richtige Schluß nicht gezogen, der doch auf der Hand liegen sollte: Es gibt in Europa, außer in Frankreich, keine katholischen Berrigans. Mir muß der Fall noch bekannt werden, daß christliche Kleriker oder Aktionsgruppen die Mietbücher der Hausherren zerfetzen, die unsere Gastarbeiter ausnehmen: Allein eine solche Aktion hätte Anspruch, neben der Tat der >Neun von Catonsville< halbwegs zu bestehen. (Der Abstand in der jeweiligen Relevanz solcher Aktionen ist traurig genug.) Nicht einmal der Widerstand gegen Hitler zwischen 1933 und 1948 oder der tapfere Kampf der osteuropäischen Christen um ihre Existenz ist kategorial vergleichbar; denn in beiden Fällen handelte es sich um die Verteidigung der eigenen Rechte, so respektabel das sein mag, während sich die Berrigans für den Gesamtzustand ihrer Gesellschaft engagierten.

Der Grund für solches Unverständnis ist einfach, aber für unsere Überlegungen äußerst wichtig: Jeder Europäer, ob Christ oder Atheist, ob Marxist oder Liberaler, ob Konservativer oder Progressiver, hebt seine Beurteilung der Phänomene in aller Welt letzten Endes von einer Matrix ab, die jüdisch-christliche,

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hellenistische, römische, germanisch-feudale Elemente vereinigt. Da Amerika durch das Mißverständnis einer gemeinsamen Sprache - des Englischen - mit Europa verbunden ist, und da die amerikanische Geschichte zweifellos in engem Zusammenhang mit Europa verlaufen ist, nehmen wir uns das Recht heraus, das, was in Amerika gesagt, getan, veröffentlicht wird, im Guten wie im Bösen nach europäischen Präzedenzfällen zu beurteilen.

Das ist - wie im Falle Rußlands - eine höchst fragwürdige Basis. Sie gibt zu einer Fülle von bequemen, aber mörderischen Kurzschlüssen Anlaß. Amerika ist - wiederholen wir es - viel christlicher als Europa. Natürlich hat es fast alle Elemente der gesellschaftlichen Formation von Europa übernommen, aber seine Gründungsgeschichte (nicht die politische sosehr als die soziale) hat es dazu gezwungen, die offen unchristlichen Züge der europäischen Tradition nur in gebrochener Form in seine Entwicklung einzubauen. Viele der Schwierigkeiten Amerikas in der handfest politischen Arena resultieren daraus; so haben die USA weder in Vietnam noch in Lateinamerika gewagt, offen kolonialistische Verwaltungs- und Beherrschungsmechanismen zuzugeben.

Für die Betroffenen war dies keineswegs segensreich, im Gegenteil: Britische Kolonialpraxis hätte vermutlich die meisten der Idiotien vermieden, deren Zeuge wir in Panama, in Vietnam geworden sind und (nächstens) in Thailand und ganz Lateinamerika werden. Der europäische Beobachter, an Zynismen seit Cäsar und Konstantin gewöhnt, vermag die Schwierigkeiten nicht abzuschätzen, die es der amerikanischen Politik bereitet, der eigenen Öffentlichkeit den Konsens zu einem verspäteten Kolonialismus abzuringen; und der marxistische cant, die Heuchelei, die sich über strategisch günstig gelagerte Repression entrüstet, tut das Seine dazu, die prekäre Lage des amerikanischen Bewußtseins zu verschleiern.

Ein anderes, wenig beachtetes, aber ebenso wichtiges Faktum betrifft die amerikanische Sozialstruktur. Europa ist einhellig der Meinung, daß es in Amerika keine Aristokratie gibt. Tatsache ist, daß Amerika über die einzige funktionierende Aristokratie der Welt verfügt. (Die >neue Klasse< des Sozialismus ist keine: sehr zum Nachteil der betroffenen Länder.) 

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Die amerikanische Aristokratie sind die Familien des <alten Geldes> im Osten. Interessierte seien auf die Existenz des <Grolier Club> verwiesen, einer Vereinigung von Bibliophilen, deren potenteste Mitglieder aus dieser Aristokratie stammen.

Familienbibliotheken mit 30-40.000 Rara, also Handschriften und seltenen Drucken, die von einem halben Dutzend hauptamtlicher Bibliothekare in akademischen Gehaltsstufen betreut werden, sind dort keine Seltenheit.   wikipedia  Zimelie 

Ich halte diese Evidenz für zwingend. Zudem: Wer amerikanische Literatur (etwa von Henry James, Marquand, Albee) auf soziologische Befunde >lesen< kann, findet die Daten, die auf die Existenz einer solchen Aristokratie hinweisen, in Hülle und Fülle.

Was die amerikanische Aristokratie daran gehindert hat, sich zu konstituieren, das heißt, sich politisch in aller Form als solche zu definieren, ist die Hypothek der Gründungsgeschichte - das heißt der christlichen Gründungsgeschichte.

Die amerikanische Aristokratie muß im Verborgenen operieren, weil ihre Existenz der Prämisse der nonkonformistischen protestantischen Brüderlichkeit widerspricht. Es gibt in Amerika keinen älteren Adel als die >Mayflower<; die Passagiere der >Mayflower< landeten unter dem Banner der christlichen Brüdergemeinde. Von diesem Handicap ist die amerikanische Aristokratie nie losgekommen; nur so ist es zu erklären, daß in Europa feudale Esel, deren Blut längst durch vielfältige Heiraten mit den Töchtern von Heereslieferanten aufgefrischt worden ist, noch mittelalterliche Heraldik vor sich herschleppen können, während es etwa der Familie Dulles (wir kennen die Brüder John Foster und Allan) verwehrt geblieben ist, im Gotha aufgeführt zu werden.

Sicher, vielleicht wäre es besser, wenn wir die amerikanische Aristokratie an Hand von Titeln als solche identifizieren könnten; auch manche Geheimnisse der amerikanischen Innen- und Außenpolitik wären dann leichter zu erklären. Aber worauf es hier ankommt, sind die Berechnungen, denen europäische Gesellschaftsmuster unterworfen waren, ehe sie in der amerikanischen Soziallandschaft heimisch werden konnten.

Fassen wir zusammen: 

Die meisten der positiven wie negativen Unterschiede, welche Amerika von Europa trennen, sind auf seine stärkere christlich-brüderliche Fundierung zurückzuführen. Ein Kontinent ohne alte Götter (wir sprechen hier nicht von Lateinamerika, das eine ganz andere, noch schwierigere Problematik hat), ein Naturgarten wird von Küste zu Küste durch Brüdergemeinden besetzt, die den alten Ruf plötzlich machtvoll erneuert hören: Wachset und vermehret euch, macht euch die Erde Untertan. 

Zum ersten Mal ist die Verheißung vom Endreich der Fülle in konkrete Nähe gerückt; und so entbrennt auch der Hunger nach dieser Fülle heller und heißer als irgendwo anders. Europäer, die selbst seit Jahrtausenden zu den härtesten Materialisten der Erde gehören, machen sich über die amerikanische Jagd auf den Dollar lustig; aber der Dollar ist nichts anderes als der quantitative Maßstab der Erwählung und der Verheißung. 

Nicht mehr eroberte Fahnen und Stadtschlüssel werden gezählt, sondern eroberte Quadratmeilen, praktische Errungenschaften, eroberte Produktionsziffern pro Kopf und Arbeitsstunde. Henry Ford steht ebenso in dieser Tradition wie die ersten Siedler - und jener Quäker, der als Manager der großen Braunkohlenkompanie von Kentucky mit der Bibel auf dem Beifahrersitz herumfährt, um die Zerstörung ganzer Bezirksämter durch seine haushohen Schürfmaschinen zu beaufsichtigen. 

In dem Augenblick, wo sich Europa dieser amerikanischen Errungenschaften bemächtigen konnte, hat es sie mit größerer Skrupellosigkeit als die Amerikaner praktiziert. Das Beutemachen, das Vorzeigen von wirtschaftlichen Skalpen wird hierzulande wesentlich vulgärer betrieben als drüben - schon deshalb, weil die Basis der freien Bruderschaft fehlt. 

Was an Bedenklichem in der amerikanischen politischen und gesellschaftlichen Utopie steckte, hat Tocqueville schon sehr gut beschrieben; es wäre interessant zu wissen, was er heute über Europa schreiben würde.

Amerika hat die Menschheit jahrhundertelang davon abgehalten, den Ernst ihrer Lage voll zu begreifen; heute begreifen ihn Amerikaner schneller als alle anderen. Auch davon wird noch die Rede sein müssen.

Was uns jedoch zuerst beschäftigen muß, ist der andere große Versuch, das Endreich der Verheißung im Diesseits zu errichten: der Sozialismus.

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