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Warum Jakob Altaras, Bergrun und ich die <neue Auschwitzlüge> unerträglich finden

    

 

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Ostermorgen um sieben Uhr meldet sich der 80-jährige Professor Jakob Altaras am Telefon, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Gießen, emeritierter Radiologe an der hiesigen Universität. Noch unmittelbar vor dem Kosovo-Krieg hatten wir beide lange mit unseren Frauen in der kleinen schönen Synagoge zusammen­gesessen, die in einem Nachbarort erhalten geblieben und, nach Gießen verbracht, anstelle der dort zerstörten wieder aufgebaut worden war. Warum aber der Anruf?

»Lieber Herr Richter, Sie müssen mit Ihrem Freund Oskar Lafontaine, der ja nichts mehr zu tun hat, die Friedensbewegung wieder zusammen­rufen! Dieser wahnsinnige Krieg muss sofort gestoppt werden!«

Dabei wäre Jakob Altaras doch genau einer von den Juden, die sich, wäre Fischers Auschwitz-Argument stichhaltig, darin wiederfinden sollten. Vier Jahre hatte er in der Partisanenarmee Titos gegen die Deutschen gekämpft. Vierzig jüdische Kinder verdankten ihm ihre Rettung, weil er sie — nach Bestechung eines italienischen Offiziers — mit einem Fischerboot nach Italien in Sicherheit gebracht hatte. Im Auftrag der jüdischen Organisation Delasem schmuggelte er sich in das KZ Rab ein, um dort internierte Juden vor der Deportation zu retten — eine neben anderen lebensgefährlichen Widerstandsaktivitäten, für die man ihm zu Ehren in Israel einen Hain gepflanzt hat. 

Also das ist der Mann, den jetzt der Jugoslawienkrieg so aufregt, dass er sich überall einfindet, wo zum sofortigen Stopp des Bombardements aufgerufen wird. Bei diesen Gelegenheiten treffen wir in den nächsten Wochen immer wieder zusammen. Altaras denkt immer noch an die Nazi-Gräuel in Serbien, die deutschen Massenmorde an unschuldigen Geiseln im Partisanenkrieg. Muss man da noch fragen, warum diesem Mann davor graust, dass die neuen politischen Führer des Tätervolkes sich wie selbstverständlich lauthals auf dessen Opfer berufen, um Serbien mit Krieg heimzusuchen?

Aber warum fühle ich mich selbst diesem Altaras nahe? Ich habe im Hitler-Krieg auf der Täter-Seite gekämpft, allerdings nicht in Serbien. Aber mit welchen brutalen Racheaktionen die Deutschen den serbischen Partisanen-Widerstand zu brechen versuchten, wusste ich aus Zeugenberichten und offiziellen Nachrichten. Auch die Bombardierung Belgrads ist noch in meinem Kopf. 

Dass meine Landsleute nun auf den Gedanken kommen, einen neuen militärischen Angriff gegen ein von ihnen noch kürzlich überfallenes Volk ausgerechnet mit dem größten von ihnen selbst angerichteten Verbrechen zu rechtfertigen, lässt mich schaudern. Ich frage mich: Was ist das nur für eine Generation, die diese moralische Perversion fertig bringt? 

Dankbar bin ich dafür, dass meine Kinder, etwa gleichaltrig mit den neuen rot-grünen Regierenden, deren Kriegs­propaganda nicht erlegen sind.

Es ist offenbar ein gewichtiger Unterschied, ob die Bilder des Hitler-Krieges mit seinen verbrecherischen Exzessen noch in der persönlichen Erinnerung brennen oder nur indirekt vermittelt sind. Da macht es schon eine wichtige Differenz aus, ob einer Anfang oder Ende der 20er Jahre geboren ist. Erst recht klafft ein geistiger Abstand zwischen den Kriegsteilnehmern und der 68er-Generation.

Dabei frage ich mich neuerdings, ob ich es tatsächlich so verwunderlich finden soll, dass viele jener Alt-Revolutionäre nun in der ersten Reihe der Kosovo-Krieger marschieren. Bedeutet das wirklich einen erstaunlichen Wandel, wie es oft heißt, oder nicht viel eher ein Steckenbleiben und nur eine Verschiebung des ödipalen Hasses von den imperialistischen Amerikanern auf die schurkischen Serben? Sind sie nicht immer noch die alten pubertären Rächer, die nunmehr von hohen Ämtern aus lediglich ihren alten revolutionären Kampf weiterführen, wofür sie als Bundesgenossen anstelle der unterdrückten Klasse nun die unterdrückten Kosovaren und als Repräsentanz des urbösen Vaters anstelle der USA Milosevic ausgeguckt haben?

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Bergrun und ich betrauern die Entfremdung von den einstigen Pionieren der ökopazifistischen Bewegung. Lange hatten wir uns wie deren ältere Geschwister gefühlt und diesen auch zugetraut, dass sie für ihre Versprechen in der Opposition, erst recht im Falle des Eintretens in die Verantwortung verbindlich einstehen würden. Nun dieses Versagen, verschleiert durch mehr oder weniger glänzende Rhetorik, die begründen will, warum das Zerstörungswerk der Hitler-Generation in Serbien ausgerechnet von ihren Nachfahren, noch dazu unter Verweis auf Auschwitz, fortgesetzt werden soll. Aber da melden sich nun alte Holocaust-Überlebende mit einer ganzseitigen Anzeige in der Frankfurter Rundschau zu Wort. Sie protestieren energisch gegen »die neue Auschwitzlüge«. Recht haben sie.

Für Bergrun ist es genauso selbstverständlich wie für mich, gegen den Krieg zu demonstrieren. Je deutlicher wird, dass die täglich verschärften Bomben- und Raketenangriffe vor allem die serbische Bevölkerung und kaum militärische Ziele treffen, umso mehr wächst unserer beider Empörung. Deutsche Kampfflieger gegen Brücken, gegen die Strom- und Wasserversorgung der Städte — eine Barbarei, wie sie Hitler einst mit seinen Städte-Bombardements in Holland und England begonnen hatte. Nato-Kommuniques wie Wehrmachtsberichte, genauso zynisch verlogen wie jene. 

Bergrun hält mit den »Gießener Frauen für den Frieden« im belebtesten Teil der Gießener Fußgängerzone Mahnwachen ab. Auch Vertreterinnen der »Evangelischen Frauenhilfe« sind dabei. Schon lange betreut diese Frauengruppe in Kroatien ein Lager für bosnische Flüchtlinge, wo vor allem heimatlos gewordene alte Frauen zu versorgen sind. Auch unter den Gießener Friedensfrauen, die seit 1981 aktiv sind, überwiegen die Jahrgänge, die noch den Hitlerkrieg im Kopf haben. 

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Alle sehen sie in der deutschen Beteiligung an dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in Jugoslawien einen furchtbaren Rückfall in ein militärisches Denken, gegen das sie auf der Straße und in Veranstaltungen unbeirrt protestieren. Sie wollen schlicht Zeugnis dafür ablegen, dass ihre persönliche Nazi-Erinnerung sie genau gegen eine Politik in Rage bringt, die wieder Krieg als Ersatz für rechtzeitige und energische politische Kriseninterventionen sucht. Volker Trunk von der Frankfurter Rundschau, der eine ihrer Mahnwachen besucht, schreibt anschließend über die Frauen: »Die Mischung aus Alter, Kompetenz und Unaufgeregtheit verleiht der Gruppe eine eigentümliche Aura. Es wirkt würdevoll, wie die Frauen im Halbkreis stehen, stumm vor entzündeten Kerzen.«

Mein Einvernehmen mit Bergrun über fünfzig Jahre in solchem Engagement hat sicherlich für die Tragfähigkeit unserer Ehe eine wichtige Rolle gespielt. Es war keine Verabredung, sondern das Zusammentreffen von spontanen inneren Vorgängen, die sich aus der Reaktion auf die Jahre unter Hitler ergeben hatten. Bergrun, in ihrer Familie die engste Verbündete des von den Nazis drangsalierten Vaters, hatte — wie ahnungslos auch immer — den Auftrag mit in die Ehe gebracht, den Vater mit seinen Ideen und Zielen, für die er gelitten hatte, zu rehabilitieren. Und nun fand sie einen Partner, der seinerseits von der Vergangenheit nicht loskam, von einem Krieg für Hitler, durch den er sich indirekt mitschuldig am Tod seiner Eltern fühlte, in dem er im Gegensatz zu seinen alten Freunden und einem Großteil seines Jahrgangs überlebt hatte. 

Auch mir war zunächst nicht bewusst, wo es herkam, dass ich mich besonders — angefangen von meiner philosophischen Doktorarbeit — mit Leiden, Mitleid, Versöhnung und den Problemen der sozialen Ausgrenzung beschäftigte. Bergrun hatte sich als Lehrerin eine Zeit lang für den Unterricht in »Schwererziehbaren-Klassen« zur Verfügung gestellt, wo sie es mit besonders aufsässigen, jähzornigen oder anderswie »störenden« Kindern zu tun hatte. 

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Ich hatte mich bemüht, sie durch Untersuchung der Kinder und Beratung der Familien zu unterstützen. Die Einrichtung solcher Außenseiterklassen war vom Konzept her fragwürdig. Aber für Bergrun und mich war es vor einem halben Jahrhundert so etwas wie der Einstieg in ein praktisches Engagement gewesen, in dem es um Hilfe für Schwierige, um die Re-Integration von Ausgegrenzten, im weiteren Sinne um die Förderung von Solidarität ging. Das verschaffte uns Befriedigung, geschah also nicht aus bewusst moralischem oder gar missionarischem Eifer.

In weitgehendem Gleichklang hatten wir — teils zur Rede gestellt, teils zur Begleitung ermutigt — die Herausforderung der 68er verarbeitet. Fortan waren wir unabhängig voneinander oder auch gemeinsam fast durchgängig in den verschiedenen Zweigen der sozialen Bewegung aktiv, wobei uns erst allmählich klar wurde, dass wir uns dabei noch immer im Gespräch mit der Vergangenheit befanden und dass wir auf einst überhörte, beseite geschobene oder ungenügend beantwortete Fragen nunmehr besser reagieren wollten. Deshalb sind wir, was manche Jüngere schwer verstehen mögen (die eigenen Kinder und Enkel ausgenommen), besonders hellhörig und misstrauisch, wenn sich die neuen Kriegsherren leichtfertig als angebliche Beauftragte der Nazi-Opfer aufspielen und gar noch stolz darauf sind, ein von Hitler verwüstetes Land wieder in Trümmer zu legen.

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  Zwei Auszeichnungen als Höhepunkte der eigenen Lebensbilanz  

 

 

Ich habe noch in der Frankfurter Rundschau, in der ZEIT und in einem IPPNW-Aufruf gegen den Krieg angeschrieben und in diversen Radio-Interviews, in Schulen, Volkshochschulen und Universitäten und auf einer Berliner Massen­demonstration dagegen angeredet. Ich sollte sogar in der Sonntags-Talkshow von Sabine Christiansen mitwirken, wurde aber wieder ausgeladen, als ich im Vorgespräch meine Position als entschiedener Gegner des Nato-Krieges bekannt hatte.

Warum übrigens noch immer diese deutsche Duckmäuserei — völlig unterschieden von der offenen kontroversen Behandlung des Kriegsthemas in den USA? Warum müssen die Deutschen gehorsamer sein als die Amerikaner gegenüber der eigenen Regierung? Warum bleiben die 40 Prozent der Westdeutschen und die 56 Prozent der Ostdeutschen stumm, die Mitte April die deutsche Beteiligung am Jugoslawien-Krieg ablehnten? Warum hat man es den Redakteuren eines öffentlich-rechtlichen Rundfunk-Senders einen Monat lang verboten, für die Nato-Bombardierungen im Kosovo das Wort »Krieg« zu benutzen? 

Warum getrauen sich die deutschen Medien nicht einmal zu melden, dass 75 amerikanische katholische Bischöfe in einer dramatischen Erklärung die nach wie vor von den USA betriebene Politik der nuklearen Abschreckung als moralisch verabscheuungswürdig verurteilt haben? Warum scheuen sich die Deutschen, obwohl sie mehrheitlich den Abzug der amerikanischen Atomwaffen von deutschem Boden wünschen, dies den Amerikanern über die eigene Regierung offen zu sagen? 

Wieder fällt mir die Angst der hiesigen Medien ein, als seinerzeit die Washington Post meinen von 450 Wissenschaftlern unterschriebenen Aufruf gegen den Golfkrieg voll abdruckte, was sich aber keine deutsche Zeitung getraute. Ist das nur die Angst vor dem Stirnrunzeln des großen Bruders? Oder steckt mehr dahinter? 

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Ist es nicht doch immer noch ein tiefer verankertes Identitätsproblem, nachdem die Anpassung an die große Sieger- und Schutzmacht das gemeinsame Identitäts-Vakuum nach dem Verlust Hitlers ersatzweise ausgefüllt hatte? Ist jeder Einwand gegen US-Politik, selbst wenn dieser von hoch angesehenen Amerikanern selbst vorgebracht wird, immer noch Grund zur Furcht, die Orientierung zu verlieren und sich in einem lebensgefährlichen »Sonderweg« zu verirren? Unbestreitbar bestimmen die Vereinigten Staaten die neue Welt-Ordnung oder -Unordnung. Aber gibt es nicht genügend wachsame Amerikaner, die ihre eigene Regierungspolitik kritisch begleiten und gut zuhören, wenn sie aus Europa vernünftige, unabhängige Stimmen vernehmen?

Im eigenen Land fürchte ich die Gefahr, dass diese übergefügige Anpassung gerade mit solchen hiesigen Kräften zusammentrifft, vor denen sie einst schützen sollte. Nämlich dass traditioneller deutscher Militärgeist, der sich schon in der Frontstaat-Ära des Kalten Krieges untergründig regte, eine offizielle Wiederauferstehung feiert, indem Deutschland, mit den Briten rivalisierend, sich in Europa zum Hauptstatthalter einer militärisch gestützten amerikanischen Machtpolitik aufschwingen könnte — zum Leidwesen eben jener kritischen Amerikaner, die sich von einem geeinigten Europa eine eigenständige, ausbalancierende Wirkung versprechen. Da und dort vernehme ich schon offenes Frohlocken darüber, dass das Mitschießen im Jugoslawien-Krieg so etwas wie eine Rehabilitierung des Militärischen überhaupt und des Krieges als politisches Mittel bedeute — nachdem es schon einmal als eine feststehende Einsicht schien, dass dieses Land, das die Welt im ausgehenden Jahrhundert in das Elend zweier verheerender Kriege gestürzt hatte, auf Dauer zu einer besonderen friedensschützenden Verantwortung verpflichtet sei.

In der eigenen Lebensbilanz halte ich jedenfalls an dieser Überzeugung fest und zähle es nach wie vor zu meinen beglückendsten Erfahrungen, dass mir die Arbeit in der Friedensbewegung einige Gelegenheiten verschafft hat, vor den Opfern ehemaliger deutscher Barbarei Zeugnis für ein anderes deutsches Denken ablegen zu können.

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So in Moskau noch während des Kalten Krieges, so in Washington oder in Coventry zum Jahrestag der Zerstörung dieser Stadt durch deutsche Bomben. Das sind die Augenblicke, die ich zu den wichtigsten meiner zweiten Lebenshälfte zähle, wenn ich leibhaftig spürte, dass ich ein wenig an Brücken mitzubauen helfen konnte, die von der Gemeinschaft, in der ich aufgewachsen war und in der ich mitfunktioniert hatte, eingerissen worden waren. Dazu ausersehen worden zu sein, angesichts der Ruine der Kathedrale von Coventry zu Engländern und später zur Erinnerung an die Wannsee-Konferenz zu jüdischen Holocaust-Überlebenden zu sprechen, das waren für mich unvergleichliche Auszeichnungen, wichtiger als vieles sonst Erreichte.

Bei diesem Zurückblicken fallen mir noch immer auch meine mit 18, 19 Jahren gefallenen Mitschüler und Freunde ein, als würde ich sie mitvertreten. Ein Foto meines besten Schulfreundes Gerhard in Uniform, der als U-Boot-Offizier gefallen war, hat mir unlängst dessen Schwester zugeschickt. Es liegt seitdem auf meinem Schreibtisch. Ich müsste es in einer Erinnerungsmappe verstauen. Aber aus irgendeinem Grund bringe ich es nicht fertig. 

Vor zwei Tagen habe ich geträumt, dass man mich irgendwo aus dem Krieg entlassen hat. Dabei händigte man mir ein von durchsichtigem Plastik umhülltes Paket aus. Es enthielt die restlichen Habseligkeiten eines gefallenen deutschen Soldaten, die sollte ich nach Hause mitnehmen. Man hat mir keine Adresse für die Ablieferung des Paketes genannt. Auch nicht den Namen des Gefallenen. Nach dem Erwachen denke ich, dass ich dieses Paket immer noch bei mir trage.

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   Wer kümmert sich um die psychischen Kriegszerstörungen?  

 

 

In Gießen treffen Gruppen von albanischen Kosovo-Flüchtlingen ein, nach und nach mehrere Hundert. Sie werden auf einem Kasernengelände einquartiert, aus dem unlängst amerikanische Soldaten ausgezogen sind. Die Albaner stammen aus einem überquellenden mazedonischen Auffanglager. Darunter sind Sippen von über zwanzig Personen, alle Jahrgänge unter ihnen vertreten. Pfarrer Leschhorn übernimmt mit ehrenamtlichen Helfern die Betreuung in der Kaserne, darunter ist die Familientherapeutin Trin Haland-Wirth, die viele Jahre am »Eulenkopf« mitgearbeitet hat. Zusammen mit ihrem Mann Hans-Jürgen, dem Analytiker, führt sie zahlreiche Gespräche mit den Ankömmlingen. Was beide erfahren, stellen sie später für einen eindrucksvollen Artikel in der Zeitschrift »psychosozial« zusammen. Auch Bergrun und ich machen Besuche in der Kaserne, wo uns eine Dolmetscherin bei der Aufnahme von Kontakten hilft.

Wir werden von vielen ernsten Augen teils scheu, teils forschend angeblickt. In den Kindergesichtern steht mehr von den durchgemachten Schrecken als in den Worten. Nur einige bringen es über sich, ausführlicher von den erlebten serbischen Überfällen und Grausamkeiten zu erzählen. Den anderen fehlt es nicht an Zutrauen, aber die Gräuel sind ihnen noch zu nahe. Gesprächiger werden sie, wenn die Rede auf die Zukunft kommt. Sofort wollen sie zurück, wenn es mit dem Schießen und den Bomben vorbei ist, ganz gleich, was sie zu Hause auch vorfinden. Ein Mittel der Kinder, sich mit ihren Erlebnissen auseinander zu setzen, sind Zeichnungen und gemalte Bilder, z.T. mit brennenden Häusern,Toten, die in Blutlachen liegen, Panzer, Erschießungsszenen.

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An einem Sonntag organisieren zwei Lehrer, die bisher in ihren Dörfern in Wohnhäusern improvisierten Schulunterricht abgehalten hatten — die offiziellen Schulen seien den Serben vorbehalten gewesen —, eine Ausstellung der von den Kindern angefertigten Bilder. Der eine Lehrer begrüßt die Besucher, bedankt sich, wie auch schon zuvor manches Mal, für die erfahrene Anteilnahme und Betreuung. Und dann der Höhepunkt: Nacheinander werden kleine Mädchen und Jungen — Acht-, Zehn-, Zwölf-Jährige — aufgerufen, um kürzere Texte vorzutragen. Es wird nichts übersetzt, aber man muss auch gar nicht die Worte verstehen, man begreift auch so. Jedes Kind steigert sich in flammende Wut, schreit am Ende mit hoch gereckter Faust ins Publikum hinein und läuft dann wie flüchtend davon. Nur das Wort UCK ist ein paar Mal herauszuhören.

Das ist offenbar einstudiert. Die Kinder sind schon zu kleinen Kämpfern präpariert. Aber es ist wohl auch dabei, was man als Reaktion von Kindern kennt, die Grausames mit angesehen haben, nämlich die Verwandlung von Angst in Aggression — als Identifikation mit dem Aggressor. Erfahrungsgemäß sind es sonst eher die Jungen, die als bedrohende Angreifer im Spiel den Schrecken verbreiten wollen, der noch in ihnen steckt. Aber hier sind auch die Mädchen dabei.

Die Blicke der Eltern, der Erwachsenen, verraten so etwas wie Genugtuung, als könnten sie durch die Kinder vermitteln, was auch in ihnen gärt. Wie Not täte es, denke ich, sich nach dem Krieg nicht nur um die Reparatur der Häuser, sondern auch um die Verarbeitung der inneren Verletzungen und Zerstörungen zu kümmern! Was nützen alle Fortschritte der psychopathologischen Trauma-Forschung, wenn man nicht gerade dort Konsequenzen zieht, wo Verfolgung und Gewalt sich ewig als seelische Beschädigungen und Dispositionen für atavistische Racheaktionen forterben?

Verrückte Welt. Da hat man in der westlichen Welt inzwischen gelernt, den Hilfebedarf für die Opfer oder auch nur für die Zeugen von Gräueln oder anderen blutigen Katastrophen zu erkennen, deren seelische Nachwirkungen lange Zeit unterschätzt wurden. Deshalb zum Beispiel jetzt die Zusammenarbeit unseres psychoanalytischen Sigmund-Freud-Institutes mit den Frankfurter Feuerwehrmännern, die laufend mit den Opfern von Straßenunfällen und Bränden zu tun haben. Da akzeptiert man die Notwendigkeit einer Unterstützung, um die Anstauung abgespaltener, sprachloser, bedrückender Bilder zu verhüten. 

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Warum denkt kaum einer daran, dass die Kriegsregion im Balkan, wenn das Bomben aufhört, nicht nur kontrollierendes Militär, Polizei und materielle Aufbauhilfe braucht, sondern nicht minder Zentren, wo speziell geschultes Personal Beratung und Betreuung für psychisch Traumatisierte anbieten kann, auch Krisenhilfe bei Gruppenkonflikten? Da müsste der Westen doch, nachdem er fürs Bombardieren und für Zerstörungen viele Milliarden ausgegeben hat, die Kosten für einen großen konstruktiven zivilen Friedensdienst aufbringen, der sich um die Heilung des massenhaften psychischen Elends und um eine Basis für das allmähliche Wachsen von Verständigungs- und Versöhnungsbereitschaft kümmert. Die internationale Vereinigung der Friedensärzte und diverse psychosoziale Fachgesellschaften könnten mit Personal, vor allem aber bei der Schulung örtlicher Kräfte helfen. 

Ein besonderer Schwerpunkt müsste auf der Betreuung der massenhaft traumatisierten Kinder liegen, denn in einem Land mit alter Blutrache-Tradition könnte aus ihren ungeheilten psychischen Verletzungen später ein neues kollektives Gewaltpotential aufbrechen. Vielleicht könnte ich mich trotz meines Alters noch einmal an eine entsprechende Initiative anschließen. Ich kenne nicht wenige jüngere Therapeuten, Psychiater, Sozialarbeiter, die darauf brennen würden, sich an einem Friedensdienst solcher Art zu beteiligen. Besondere Hoffnungen setze ich in Peter Riedesser, Kinder- und Jugendpsychiater im Hamburg, der ähnlich wie ich durch die beschämende Rolle der Medizin im Hitlerkrieg zum Engagement in der ärztlichen Friedensbewegung gelangt ist und nun große Pläne hat, die in der von mir angedachten Richtung liegen. 

Wenn ich — eher selten — mal das eigene vorgerückte Alter bedauere, dann ist es in diesem Fall, dass ich mir nur noch beschränkt unterstützen zu können zutraue, was Jüngere auf den Weg bringen müssen. Aber es ist gut und tröstlich, dass solche da sind.

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Nach fast drei Monaten schweigen die Nato-Waffen. Vor den staunenden internationalen Beobachtern ziehen sich 47.000 serbische Soldaten, 250 Kampfpanzer, 450 Panzerwagen und 800 Artilleriesysteme aus dem Kosovo zurück — Zahlen, die es nach den Nato-Erfolgsmeldungen gar nicht mehr hätte geben dürfen. Haben die Serben überhaupt mehr als 26 Panzer, deren Wracks man später gefunden hat, verloren? Unabhängige Journalisten bezweifeln es. Jedenfalls haben sage und schreibe 32.000 Luftangriffe in 79 Kriegstagen dem serbischen Militär nur wenig anhaben können, dafür haben sie — nach vorläufigen Berechnungen — etwa 200 Fabriken, 190 Schulen, 50 Spitäler, 50 Brücken, 5 Zivilflughäfen sowie ungezählte Wohnhäuser und Agrarbetriebe vernichtet, etwa im Wert von 30 Milliarden Dollar. 

Hunderte von Zivilisten wurden getötet. Mit der Ruinierung der ökonomischen und der Versorgungs-Infrastruktur des Landes hat man ein großes Volk, dem Schonung versprochen worden war, ins Elend gebombt. Das hohe Ziel, wieder für ein friedliches Zusammenleben der Ethnien in der Region zu sorgen, wurde vollständig verfehlt. Die Kosovo-Albaner sind zurückgekehrt. Dafür sind inzwischen die Serben Hauptopfer der von der Nato indirekt unterstützten ethnischen Säuberungen auf dem Balkan geworden. 180.000 sind schon aus dem Kosovo geflohen, 200.000 wurden zuvor, wie schon erwähnt, im Schutz der Nato von den Kroaten aus der Krajna vertrieben. Weitere 30.000 mussten Ostslawonien und die Region Sarajewo verlassen. So wurde das total verarmte Serbien inzwischen zum größten Flüchtlingslager Europas. Der Kosovo-Krieg wurde militärisch, politisch und moralisch für den Westen zu einem Fiasko. Der Frieden in der Region — Fazit des Frankfurter Friedens- und Konfliktforschers Ernst-Otto Czempiel — ist in der Region heute weiter entfernt als vor Rambouillet.

Dass der Nato-Oberbefehlshaber General Clark am Ende des Krieges mit der Gefahr eines neuen riesigen Unglücks spielte, ist erst durch eine Indiskretion des Magazins Newsweek bekannt geworden. Mit Panzern und Luftangriffen wollte er gegen die 200

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Russen vorgehen, die überraschend den Flughafen von Pristina besetzt hatten. Hubschrauber und Bodentruppen waren bereits für den Angriff in Mazedonien in Bereitschaft versetzt worden. Der britische General Jackson, Oberkommandierender der KFOR-Verbände, erhielt von Clark den Einsatzbefehl. Doch dieser weigerte sich. Er bezweifelte, dass die Atommacht Russland eine solche Provokation hinnehmen würde. Clark wurde wütend. Aber laut Newsweek sprach Jackson den denkwürdigen Satz: Ich werde für Sie nicht den Dritten Weltkrieg anfangen! Nachträglich wurde Clark von Washington zurückgepfiffen und erfuhr seine vorzeitige Pensionierung. Aber in dem kritischen Augenblick war es allein die mutige Befehlsverweigerung des britischen Generals, die der Welt das Risiko einer unabsehbaren Katastrophe ersparte. — In Scharpings rühmendem Kriegsbuch wird man von dieser dramatischen Szene kein Wort finden.

Die Öffentlichkeit lässt sich die schöngefärbte Bilanz des Krieges gefallen. Als Sieg wird gefeiert, dass man die Ersetzung der einen Vertreibung durch die andere in umgekehrter Richtung erreicht hat. Als humanitärer Erfolg für die Menschenrechte soll ein 79-tägiger Bombenkrieg gegen das zivile Leben des neben den Griechen größten Balkanvolkes gelten, an dem man die misslungene Rache an seinem Präsidenten abreagiert hat. Dennoch ist es insofern ein Sieg für die USA geworden, als diese mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg an der UNO vorbei die eigene Stellung als Weltpolizei befestigt haben. Und ein grandioser Erfolg ist es für die Rüstungsindustrie, die sich keinen besseren Impuls für die Forcierung ihres Beitrags, künftige Kriege führbar zu machen, wünschen konnte. Schließlich ist es ein Sieg für die Kräfte in Deutschland, die schon lange die Rehabilitierung des Militärischen als »Normalisierung« und als »Wahrung der neuen deutschen Verantwortung« ersehnt hatten und sich nun der Fürsprache ausgerechnet der Parteien erfreuen, von denen sie bisher konsequent gebremst worden waren. Wie ich es sehe, verdankt sich dieser »Sieg« indessen vor allem der Feigheit einer immer noch vorhandenen Antikriegs-Mehrheit, die gegen den Gesinnungsschwenk ihrer rot-grünen Oberen nicht aufzumucken gewagt hat, außerdem der fatalen Verführbarkeit durch die suggestive Verheißung, im Mitschießen gegen einen vermeintlichen Hitler-Nachfolger die Schatten der Nazischuld loswerden zu können.

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Die Berge, der Vater und ein paar Kristalle  

 

 

Das Juliwetter 1999 in Zermatt, wo ich mit Bergrun wie seit vielen Jahren einige Sommerwochen verbringe, ist ausnehmend schön. Das Frühjahr war feucht, deshalb blühen die kleinen einzeln stehenden Männertreu oder Kohlröschen, eine nach Vanille duftende Orchideenart, so reich wie lange nicht mehr. Oder kommt es uns nur so vor, weil wir, je älter wir werden, das Leben der Natur um so intensiver in uns aufnehmen? 

An einem uns bekannten etwas abgelegenen Platz am Riffelberg entdecken wir wieder ein paar Edelweiß. Höher oben, am Gornergrat, kämpfen zwei verspielte junge Steinböcke. Noch höher, am Stockhorn, kraxele ich wieder mal im Blockwerk herum, um den einen oder anderen kleinen Lazulith-Stein aufzuspüren, der früheren Schürfern weggesprungen und in irgendeinem Loch gelandet ist. Ich erfreue mich auch an kleinen Splitterstückchen mit ihrem kräftigen Blau auf schneeweißem Quarzgrund. 

Warum es immer wieder die Berge sind, die mich mit einem neuen Kraftgefühl erfüllen — wie damals 1945, als ich mich mit Freund Ulrich in die Tiroler Hütte geflüchtet hatte? Ist es vielleicht auch immer noch die Begegnung mit dem verschlossenen Vater, dem ich nie so nahe gekommen war wie in der Freude an dieser Landschaft und am Bergsteigen?

Ich sehe mich auch in den abgekämpften Matterhorn-Bergsteigern wieder, die, mit stillem Stolz auf ihren Gesichtern, abends erschöpft auf der Zermatter Dorfstraße zurückschlendern, nach dem stundenlangen Blick vom Hörnligrat in die Tiefen der Ostwand, im Gefühl, sich ihrer Lebendigkeit wieder einmal auf besondere Weise versichert zu haben. Kein anderer hat die Psychologie der Angstlust so genau erfasst wie der verstorbene Psychoanalytiker Michael Balint.

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14 der Viertausender in der Runde habe ich selber in den Jahren bestiegen, einige von verschiedenen Seiten, die schwierigsten mit Führer, andere selbst als Führer mit dem Sohn, mit Bergrun oder angelernten Gießener Kolleginnen und Kollegen. Jetzt bin ich froh, dass mir das wieder rhythmisch schlagende Herz überhaupt noch das Steigen erlaubt. Ich habe es am Breithorn probiert. Allein, langsam bin ich über den großen Gletscherhang hinaufgegangen, dankbar, dass mir die Höhe von 4.160 Metern keine Beschwerden gemacht haben.

In den nächsten paar Wochen werde ich vor allem wieder »strahlen«, wie sie hier die Suche nach Kristallen nennen. Viele Jahre habe ich gebraucht, um einen Blick für die Bänder der Muttergesteine zu gewinnen, in deren Klüften noch schwarzbraune Vesuviane oder flaschengrüner Epidot aufzuspüren sind. Einen kleinen Stein mit zentimetergroßen glänzenden Vesuvianen trage ich wie einen Talisman fast immer bei mir. Einmal im Leben findet man so etwas, meinte dazu mein alter Strahler-Freund Bruno, dessen Prunkstücke, in einem Glasschrank verwahrt, ich jedes Jahr in Zermatt von neuem bewundere.

Gestern habe ich viele Stunden lang zusammen mit Bruno den Hang der »Schwärze«, hoch über dem Gornergletscher, abgesucht. Nichts. Aber plötzlich lag da ein Stein, groß wie eine Hand, voll besetzt mit blitzenden Quarznadeln. Ein paar Mal werde ich es noch am Findelen-Gletscher versuchen, dort, wo eine brüchige Felswand von Zeit zu Zeit große Blöcke hinabwirft mit der einen oder anderen kleinen unzerstörten Kristallfläche. Dann picke ich mir ein Stückchen heraus, lege es in die Sonne, setze mich dazu und bin glücklich, dass meine Augen noch gut genug sind, die Schönheit aufzunehmen.  

Die hellste Lampe, mit der ich dann zu Hause die interessantesten Stücke auf einem alten Rhöntisch anleuchte, ersetzt nicht die Sonne in der Höhe. Dennoch werde ich später wieder jede Nacht, wenn ich ins Bett gehe, vor diesem Tisch stehen und bei jedem Stein, den ich ins Licht rücke, wissen, wo und wie ich ihn gefunden habe. Bergrun und zwei Enkeltöchter habe ich schon mit Schmuckstücken versorgt. Und Birgit, der RAF-Ehemaligen, werde ich einen kleinen Stein mit rot glänzenden Granaten, die sie besonders liebt, ins Gefängnis mitbringen.

Nur noch an wenigen Fundstellen kann ich ungestört suchen. An manchen Plätzen, wo früher niemand hinkam, sind neuerdings Gruppen von halbprofessionellen Strahlern am Werk, die mit Bohrmaschinen und Sprenggerät das mineralienhaltige Gestein durchwühlen und aufbrechen und nur noch Zerstörung hinterlassen. Einer hat eine ganze Partie von wunderschönem blauen Glaukomatit-Fels aufgesprengt und die Blöcke per Hubschrauber zur Schmuckherstellung nach Zürich geschafft. Wäre ich noch jünger, würde ich mich gern dem Widerstand gegen diese Barbarei, den es schon gibt, anschließen. Aber das überlasse ich nun den Einheimischen.

Noch kenne ich ein paar stille Plätze, wo ich wenigstens mal einen mit grasgrünem Uvarovit überzogenen Schiefer oder ein Stück mit feinen Diopsid-Nadeln erspähen kann. Oft aber kehre ich auch ohne den kleinsten Fund zurück, dennoch voll zufrieden mit dem bloßen Schauen in die Landschaft und gestern zum Beispiel mit der Freude an einem braunen Schmetterling, der sich minutenlang auf meinem Handrücken ausruhte.

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  Blauäugiger Träumer? Störenfried? Und warum immer noch engagierter Optimist?  

 

 

In den zehn Monaten, die ich mit diesen Notizen zugebracht habe, ist das politische Gesicht Deutschlands ein anderes geworden. Es sah so aus, als würde eine neue Regierung wieder stärkere soziale und friedenspolitische Akzente setzen. Aber das sah nur so aus. Ich hatte die eigene Biografie im wesentlichen als ein Leben gegen den Krieg beschreiben wollen und keinen Augenblick lang befürchtet, dass ich wieder bei einem von diesem Land geführten Krieg enden würde. 

Zugleich mit vielen meiner Generation hatte ich mir einen stärkeren Widerstand gegen eine internationale Entwicklung vorgestellt, die wieder auf die Mode zuläuft, Konfliktlösungen nach der Dramaturgie des klassischen Schurken­stücks zu suchen: Die Niederwerfung satanischer Verfolger durch die Repräsentanz moralischen Edelsinnes — Geschichte als Kette der »humanitären« Befreiung von Weltfeinden mit der Gewalt moderner Vernichtungs­waffen.

Ich hatte meine Chancen zu aktiver Einmischung während der Aufbruchsstimmungen unter Willy Brandt und Michail Gorbatschow, jeweils abgelöst von Perioden, in denen ich bestenfalls als blauäugiger Träumer, wenn nicht als lästiger Störenfried mit meinen sozialkritischen und pazifistischen Engagements dastand und dastehe. Eben in dieser Rolle habe ich mich gerade wieder erfahren, als mich die täglichen Bombardierungen serbischer Industrie- und Versorgungsanlagen, vom Nato-Sprecher mit gefrorenem Grinsen vorgetragen, in zornigen Gegensatz zu der gelassenen Genugtuung der westdeutschen Mehrheit versetzten. 

Aber auch diesen Rückschlag werde ich wieder einmal überstehen, werde in der Bewegung der Ärzte für Frieden und soziale Verantwortung weiter mitstreiten, solange meine Kräfte noch reichen, werde mir demnächst wieder mit einer Satire Luft machen, um im Gegenwind des paranoiden Klimas, in dem Versöhnung und Verständigung weniger angesagt sind als Verfolgung und Bestrafung des Bösen in der Welt, mit der nötigen Lebensfreude weiterleben zu können.

Der Vorteil des Alters ist ja, dass man — als vermeintlich nur noch beschränkt zurechnungsfähig — den vom momentanen Zeitgeist geschützten Anführern des fragwürdigen ökonomischen und militärischen Machtdenkens ungeschminkt die Meinung sagen kann, so Verleger und Redakteure dazu die Hand leihen.

Aber, oh Wunder, plötzlich kommen wieder allerhand Anfragen, ob ich denn nicht zum Millennium etwas über Solidarität, Friedensfähigkeit oder etwas Kritisches zum Gotteskomplex der modernen Gesellschaft sagen oder schreiben möchte. Ob solche Einladungen aus Alibi-Suche stammen oder ob sich nach dem martialischen High-noon-Drama im Kosovo auf leisen Sohlen Katerstimmung einschleicht, in der wieder auf soziale Erwärmung gehofft wird — wer weiß das schon?

Wie auch immer. Ich halte es unbeirrt mit dem 70-jährigen Immanuel Kant, dem die Begeisterung der auswärtigen Zuschauer für die Ideen der Französischen Revolution als Beweis dafür ausreichte, dass den Menschen eine moralische Anlage innewohne, die trotz aller Wechselfälle der Geschichte einen Fortschritt zum Besseren verspreche. 

Für mich persönlich waren die von Willy Brandt und Michail Gorbatschow entfachten weltweiten Hoffnungen vergleichbare Signale, ähnlich wie die von Martin Luther King, Nelson Mandela und Itzhak Rabin gesetzten Zeichen, die auch mich an jene unzerstörbare menschliche Anlage glauben lassen und mich trotz aller Gründe für einen theoretischen Pessimismus zur Fortsetzung meines praktischen optimistischen Engagements ermutigen.

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