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2  Weitere Aspekte des Wiedererlebens und erste Überlegungen dazu

 

 

2.1 Wiedererleben als Folge traumatischer Erlebnisse 

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Nicht immer ist das Wiedererleben so angenehm und fruchtbar wie in Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« oder so heilsam wie in den obigen Fallbeispielen. Klinische Psychologen mit Patienten, die unter »Posttraumatischen Belastungsstörungen« leiden, kennen die Schattenseiten des Wiedererlebens:

»Zu den charakteristischen Symptomen (der Posttraumatischen Belastungsstörung) gehören das Wiedererleben eines traumatischen Ereignisses (...). Das traumatisierende Ereignis kann auf verschiedene Weise wiedererlebt werden. Häufig hat die Person wiederholte, sich aufdrängende Erinnerungen an das Ereignis oder wiederholte, stark belastende Träume, während derer das Ereignis noch einmal durchlebt wird. In seltenen Fällen kommt es zu dissoziationsartigen Zuständen, die einige Sekunden, mehrere Stunden oder sogar Tage dauern können, bei denen das Ereignis teilweise wieder durchlebt wird und die Person sich so verhält, als ob sie das Ereignis gerade durchsteht. Oft besteht intensives psychisches Leid, wenn die Person mit Ereignissen konfrontiert ist, die dem traumatischen Ereignis in irgendeiner Weise ähnlich sind oder das traumatische Ereignis symbolisieren wie etwa Jahrestage.« 

(Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, DSM-III-R)

Über Alpträume, in denen ein traumatisches Ereignis ständig wiedererlebt wurde, ist erstmals nach dem Ersten Weltkrieg auffällig häufig, wenn auch vertraulich, berichtet worden. Soldaten, die während des Stellungskrieges in Frankreich verschüttet worden waren, und Matrosen von Unterseebooten, die mit knapper Not und oft wider jede Hoffnung dramatische Situationen überlebt hatten, wurden jahre- oder jahrzehntelang von Alpträumen heimgesucht, in denen sie jedesmal ihre Todesangst wiedererlebten. 

Doch dieses Phänomen wurde öffentlich nicht zur Kenntnis genommen, es blieb Privatangelegenheit der Betroffenen, die sich oft genug dessen schämten, weil sie es als Schwäche ansahen. Wenn überhaupt darüber gesprochen wurde, dann waren es meist die Ehefrauen, die — vertraulich und schamhaft — davon berichteten. Das gleiche wiederholte sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist bezeichnend, daß ich von den entsetzlichen Alpträumen meines Vaters, der in jugoslawischer Gefangenschaft den berüchtigten dreitägigen Hunger-und-Durst-Marsch überlebt hatte, erst nach seinem Tod von seiner zweiten Frau erfuhr.

Die offizielle Ignoranz in bezug auf dieses Phänomen konnte erst nach dem Vietnamkrieg nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Häufigkeit von unerträglichen Alpträumen und anderen psychischen Störungen bei den Veteranen dieses Krieges (auch hier wurden die Betroffenen zunächst als Feiglinge und Schwächlinge diffamiert) zwang die widerwilligen amerikanischen Behörden schließlich zu mehr oder minder halbherzigen Maßnahmen, die zudem durch — verständliche — Unbeholfenheit gekennzeichnet waren. Das jüngste Beispiel der Posttraumatischen Belastungsstörung als Massenphänomen finden wir bei den Opfern der Greueltaten im ehemaligen Jugoslawien — meist Frauen und Kinder. Die Presseberichte über die Versuche, diesen Menschen durch Psychotherapie zu helfen, sind leider auch Dokumente der Hilflosigkeit der Helfer.

Ich bin überzeugt, daß die Alpträume von traumatisierten Personen signifikante, wenn auch unzulängliche Versuche des menschlichen Organismus sind, sich durch wiederholtes Wiedererleben von den Auswirkungen einer traumatischen Erfahrung zu befreien. Immerhin führen diese Versuche manchmal nach 20 oder 30 Jahren doch zum Ziel: die Alpträume und die anderen Symptome der Posttraumatischen Störung verschwinden fast plötzlich ohne erkennbaren Grund. Und diese Versuche weisen — wie ich glaube — den richtigen Weg: Nutzt man nämlich das Wiedererleben gezielt und systematisch zur Behandlung der Störung, kann den Opfern wirksam und relativ schnell geholfen werden. Genau dies geschieht beim »Begleiteten Systematischen Wiedererleben«.

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2.2 Erlebnislernen und kognitives Lernen — Das Erlebnisgedächtnis

Das Phänomen des Wiedererlebens läßt darauf schließen, daß die Inhalte des Erlebten irgendwo im Organismus des Menschen in einer Art von Gedächtnis gespeichert werden, aus dem sie durch einen spezifischen Prozeß abgerufen werden können. 

Der Speichervorgang, der dabei im Spiele ist, unterscheidet sich — wie eine genauere Untersuchung zeigt — radikal von dem Prozeß des Einprägens von Informationen, wie wir ihn aus dem Alltag kennen. (Denken Sie zum Beispiel an das Auswendiglernen von Telefonnummern, Postleitzahlen, Gedichten, Vokabeln, Namen, Fakten oder anderen Informationen.) 

Als erster wesentlicher Unterschied sei vorerst nur erwähnt, daß das Speichern wiedererlebbarer Informationen (im weitesten Sinne verstanden) unbeabsichtigt, unbewußt und mühelos erfolgt, während konventionelles Lernen (das zwar auch unbeabsichtigt erfolgen kann, so wie sich ein Schlagertext oder ein Werbespruch einprägt) bewußte und genaue Wahrnehmung und meist mehrere, oft mühsame Wiederholungen erfordert: »Die Wiederholung ist die Mutter der Studien.« Genauso radikal unterscheidet sich aber auch der Prozeß des Wiedererlebens eines Geschehens von dem alltäglichen Vorgang des Erinnerns an gelernte Informationen. Auch hierfür zunächst nur ein einziges Argument: Das Wiedererleben ist kein ganz alltäglicher, gewohnter Vorgang und setzt — von rudimentären und »klinischen« Formen abgesehen — ein gewisses Training voraus. Dies ist ja gerade der Grund dafür, daß es so wenig bekannt ist. Lassen Sie uns — zunächst einmal hypothetisch — annehmen, daß Wiedererleben und alltägliches Erinnern tatsächlich zwei wesentlich verschiedene Vorgänge sind, denen zwei gänzlich verschiedene Lernvorgänge vorausgegangen sind und denen zwei verschiedene Arten von Gedächtnissen oder Informationsspeichern zugrunde liegen. Um die Verständigung zwischen uns zu erleichtern, möchte ich einige Begriffe zur Benennung und Unterscheidung dieser verschiedenen Prozesse und Speicher einführen: Das übliche Lernen nenne ich (nach dem Sprachgebrauch der Pädagogischen Psychologie) kognitives Lernen; das Erinnern von kognitiv gelernten Informationen nenne ich kognitives Erinnern

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(auch kurz: Erinnern); der den beiden Vorgängen zugeordnete Datenspeicher heißt kognitives Gedächtnis:

Der dem Wiedererleben vorausgegangene Speicher- oder Lernvorgang heißt fortan Erlebnislernen; das dazugehörige Gedächtnis nenne ich Erlebnisgedächtnis oder Erlebnisspeicher. Für die im Erlebnisgedächtnis gespeicherten »Aufzeichnungen« benutze ich künftig den Begriff Protokolle. Für die Aufzeichnungen im kognitiven Gedächtnis verwende ich den in der Gedächtnisforschung üblichen Begriff Engramme.

 

Nach diesem Schema können kognitives Lernen und Erlebnislernen als zwei analoge Vorgänge betrachtet werden, die auf zwei verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichen Prozessen und mit Hilfe unterschiedlicher Organe stattfinden und die sich, wie ich noch zeigen werde, qualitativ und quantitativ wesentlich voneinander unterscheiden. Die formale Analogie aber ist offensichtlich: Beiden Prozessen vorgeordnet — in obigem Schema nicht dargestellt — ist die Wahrnehmung irgendwelcher Reize. Auf der Stufe des Lernens entspricht dem kognitiven Lernen das Erlebnislernen. (Dies ist, wie sich zeigen wird, ein so umfassender und zudem so müheloser und dem Erleben beiläufiger Vorgang, daß Erlebnislernen praktisch mit dem Erleben selbst gleichgesetzt werden kann.) Auf der Stufe des Erinnerns entspricht dem kognitiven Erinnern

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das Wiedererleben. Das Anliegen der folgenden Kapitel ist es aufzuzeigen, daß Erlebnislernen und Wiedererleben nicht-kognitive und — entwicklungsgeschichtlich gesehen — präkognitive Formen des Lernens bzw. des Erinnerns sind, die praktisch den gesamten Organismus betreffen: Erlebnislernen erfaßt die Wahrnehmungen des ganzen Organismus und seine Reaktionen darauf; beides, Wahrnehmungen und Reaktionen, können mit dem ganzen Organismus erinnert (genauer: wieder erfahren) werden, und diese ganzheitliche Form der Erinnerung ist das Wiedererleben. Studiert man das Phänomen »Wiedererleben« etwas genauer und vergleicht es mit dem kognitiven Lernen und Erinnern, so fällt vor allem auf, daß das Erlebnisgedächtnis in vieler Hinsicht weitaus leistungsfähiger ist als das kognitive Gedächtnis. (Dies ist ein weiteres Argument dafür, daß es sich um zwei verschiedene Speicher handelt.) Lassen Sie mich zur Begründung dieser Aussage zunächst etwas ausholen.

In den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts, nach der Entwicklung der Informationstheorie durch WIENER und SHANNON (1948/49), wurden deren Begriffe und Methoden auch zur Untersuchung der Leistungsfähigkeit der menschlichen Sinne und des kognitiven Gedächtnisses angewandt. Zunächst wurde untersucht, welche Informationsmenge in einer Sekunde von den einzelnen Sinnesorganen (Sensoren) in die sogenannten sensorischen Projektionszentren des Gehirns übertragen werden können. Die dazu benötigte Maßeinheit für Informationsmengen war inzwischen von der Informationstheorie definiert worden und heißt Bit. (Da wir im folgenden diese Einheit nur für Vergleiche benötigen, brauche ich auf ihre Definition und ihren Wert nicht einzugehen. Zur Veranschaulichung möchte ich jedoch erwähnen, daß 1 Bit ein Achtel der Informationsmenge 1 Byte ist, die zur Beschreibung des Fassungsvermögens von Datenspeichern bei Computern verwendet wird.)

Bei diesen Untersuchungen ergab sich, daß alle Sinnesorgane des Menschen zusammen einen Informationsfluß (= Informationsmenge pro Zeiteinheit) bis zu etwa 10" bit/s aufzunehmen vermögen (10" bit/s sind etwa 1010 byte/s = 107 Kilobyte/s = 10 Megabyte/s), ein — wie Computerbesitzer wissen — immenser Informationsfluß. Von dieser Informationsflut gelangen aber »nur« etwa 107

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bit/s zu den sensorischen Projektionszentren des Gehirns, und zwar über den

 

 

Von diesem Informationsfluß wird allerdings nur ein fast verschwindend kleiner Teil bewußt wahrgenommen, und noch viel weniger davon wird kognitiv weiterverarbeitet. Erste Untersuchungen darüber hat schon EBBINGHAUS (1885) vorgenommen, wobei er die Geschwindigkeit des Lernens und Vergessens sinnloser Silbenreihen maß. Lebensnähere Forschungen wurden von RIEDEL (1967) mit modernen Hilfsmitteln durchgeführt. Ich berichte im folgenden nur über die für uns wichtigen Ergebnisse: Die erste Station der bewußten Datenverarbeitung (vergleichbar dem Arbeitsspeicher eines Computers) ist das »Gegenwartsbewußtsein« oder Kurzspeicher (von einigen Autoren auch Ultrakurzzeitgedächtnis genannt), ein Speicher von sehr geringer Kapazität (ca. 160 bit) und kleiner Zuflußgeschwindigkeit; er kann maximal nur einen Informationsfluß von 16 bit/s aufnehmen, also nur etwa den millionstel Teil dessen, was ihm von den Sinnesorganen über die sensorischen Projektionszentren angeboten wird. In diesen 16 bit/s ist auch der Informationsfluß enthalten, der aus dem Gedächtnis in das Bewußtsein strömt, so daß zum Beispiel beim Tagträumen oder beim tiefen Nachdenken möglicherweise eine Zeitlang gar keine neuen Informationen aus der Umgebung bewußt wahrgenommen werden.

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Von diesem Informationsfluß von 16 bit/s werden — nach einer gewissen Aufbereitung — aber nur etwa 0,7 bit/s in das (vorbewußte) Gedächtnis übernommen, also gelernt. Dieser Teil wird zunächst nur in das »Kurzzeitgedächtnis« aufgenommen, wo die Informationen nach relativ kurzer Zeit (maximal 20 Stunden) wieder vergessen werden. Jedoch wird ein kleiner Teil dieses Informationsflusses, nämlich etwa 0,07 bit/s, in das »Langzeitgedächtnis« übernommen. (Hierzu ein Beispiel: Aus dem angegebenen Wert läßt sich abschätzen, daß zum Lernen einer einzigen fremdsprachigen Vokabel mittlerer Länge eine — auf mehrere Wiederholungen verteilte — Lernzeit von ein bis zwei Minuten benötigt wird, was mit der praktischen Erfahrung gut übereinstimmt.) Im Langzeitgedächtnis werden die Informationen zwar nachhaltiger gespeichert, wenn sie aber längere Zeit nicht benötigt und abgerufen (erinnert) werden, werden sie im Laufe einiger Monate immer schwerer und unsicherer zugänglich. (Diese Eigenheit des Gedächtnisses erinnert an das Verhalten eines Menschen, der selten gebrauchte Gegenstände an entlegeneren Orten verwahrt, was zur Folge haben kann, daß er sie — wenn sie einmal gebraucht werden — schwer findet.) So kommt es, daß zum Beispiel ein Auswanderer in einigen Jahrzehnten sogar seine Muttersprache verlernt, wenn er sie niemals benutzt.

Außerdem können die gespeicherten Informationen durch Gefühle und subjektive Einstellungen (zum Beispiel Vorurteile und Aversionen) sowie durch später ablaufende Prozesse bis zur Unkenntlichkeit verfälscht werden. (Das Gehirn arbeitet nach dem Prinzip Lewis Carrols: »Was ich dreimal sage, ist wahr.«) Zusammenfassend kann man sagen: Kognitives Lernen erfordert im allgemeinen Aufmerksamkeit (Zuwendung des Bewußtseins), lange Lernzeit und meist mehrere Wiederholungen. Informationen, die auswendig gelernt werden, ohne daß ihr Sinn und ihr Zusammenhang mit anderen, bereits bekannten Informationen erkannt und verstanden wurden, erfordern noch wesentlich mehr Lernzeit und werden schneller wieder vergessen als solche, die mit Verständnis gelernt wurden.

Hier drängt sich die Frage auf, warum der Mensch mit so leistungsfähigen Sinnesorganen ausgestattet ist, wenn weniger als ein Milliardstel der von ihnen aufgenommenen und nur etwa ein Millionstel der von ihnen ans Gehirn weitergeleiteten Informationen bewußt verarbeitet werden. Dies verstößt so sehr gegen das in der Natur weithin wirkende Prinzip der Ökonomie und der Funktionalität, daß es eine Erklärung verlangt.

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Eine erste, freilich noch unzureichende Erklärung ist folgende: Nach heutiger Auffassung gelangt ein (weiterer) Teil des von den Sinnesorganen aufgenommenen Informationsflusses am Kurzzeitspeicher (dem Bewußtsein) vorbei, zum Teil direkt, zum Teil nach einer vorbewußten Aufbereitung, in das »Unbewußte«, wo er sehr schnelle unwillkürliche, automatische Reflexe auslösen kann. Dabei wird unter dem »Unbewußten« eine dem Bewußtsein nicht zugängliche Leitzentrale unbewußt ablaufender Prozesse (unter anderem der Reflexe) verstanden, die von Sinneswahrnehmungen ausgelöst werden und eine Schutzfunktion haben (wie zum Beispiel der Lidschlußreflex). Auch das Verhalten der Mutter eines Säuglings, die von keinem Straßenlärm im Schlaf gestört wird, aber beim ersten Laut ihres Kindes erwacht, gehört zu diesen Prozessen, für die übrigens eine nachhaltige Speicherung der Informationen nicht nötig ist. (Das Unbewußte im FREUDschen Sinne dagegen ist der Ort, in den aus dem [kognitiven] Gedächtnis verdrängte Informationen absinken können.)

Eine zweite, und zwar neuartige, Erklärung für den oben aufgezeigten immensen Unterschied zwischen der Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane und der Aufnahmefähigkeit des Bewußtseins liefert folgende Überlegung: Stellt man den oben beschriebenen Forschungsergebnissen die Beobachtungen beim Studium des Erlebnislernens gegenüber, dann zeigt sich, daß die Lerngeschwindigkeit beim Erlebnislernen um mehrere Zehnerpotenzen größer sein muß als beim kognitiven Lernen. Beim Erlebnislernen wird also ein sehr viel größerer Teil der von den Sinnesorganen aufgenommenen Informationen verwertet. (Der Unterschied schon in der quantitativen Leistungsfähigkeit — von der qualitativen wird später zu berichten sein — ist so überwältigend, daß dadurch unsere Vermutung weiter erhärtet wird, es müsse sich um zwei gänzlich verschiedene Vorgänge handeln.) Wie später erörtert wird, besitzen auch Tiere, und selbst »niedere« Tiere, offenbar ein Erlebnisgedächtnis, während das kognitive Gedächtnis lediglich beim Menschen (und allenfalls keimhaft bei einigen Hominiden) anzutreffen ist. Daraus folgt aber, daß der ursprüngliche Partner der Sinnesorgane, der eigentliche Adressat ihrer Informationsfülle, nicht das

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entwicklungsgeschichtlich sehr junge (und vielleicht noch in seinen Anfängen steckende) kognitive Bewußtsein (und das ihm angekoppelte kognitive Gedächtnis) ist, sondern das sehr viel ältere und für das Überleben des Individuums (unter »natürlichen« Bedingungen) so sehr viel wichtigere Erlebnisgedächtnis. (Auch darüber später mehr.)

Abschließend sei noch folgendes erwähnt: Nach unseren Beobachtungen erfolgt das Erlebnislernen nicht nur sehr schnell, sehr umfassend, mühelos und ohne vorherige bewußte Wahrnehmung der Einzelheiten, sondern auch im Schock, im Blackout (siehe Fallbeispiel 4) und selbst unter Narkose (siehe unten: »Hören unter dem Messer«).

Sicherlich ist das Erlebnisgedächtnis entwicklungsgeschichtlich sehr viel älter als das kognitive Gedächtnis, vermutlich ist es überhaupt das Gedächtnis der Tiere. Beobachtungen, über die später berichtet wird, stützen die Vermutung, daß das Erlebnisgedächtnis eine archaische, nicht-kognitive, entwicklungsgeschichtlich präkognitive Form des Gedächtnisses ist. Jedenfalls ist es ein Gedächtnis, das von der Existenz und der Intaktheit kognitiver Funktionen unabhängig ist.

 

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Fallbeispiel 4: Erlebnislernen im Blackout

Dieses Beispiel stammt aus einer Therapiesitzung mit meiner 41jährigen Patientin Thea, die in der Kindheit über mehr als ein Jahrzehnt von ihrem Vater sexuell mißbraucht und gefoltert wurde. Sie wiedererlebt hier ein Geschehen aus ihrem neunten Lebensjahr. Sätze in Anführungszeichen sind wörtliche Wiedergaben ihrer Äußerungen. Die Situationsbeschreibungen wurden — soweit es sich dabei nicht um direkt beobachtbare Körperreaktionen handelt — im Laufe mehrerer Sitzungen von Thea selbst gegeben und von mir zusammengefaßt. Das Beispiel ist äußerst grausam, aber in der Biographie Theas und der vieler anderer mißbrauchter Kinder nicht außergewöhnlich.

Der Vater befiehlt Thea, in einer halben Stunde zu ihm ins Arbeitszimmer zu kommen. Trotz ihrer großen Angst — sie ahnt schon, was er wieder von ihr will — ist sie folgsam. Nachdem sie ihn unter Zwang manuell befriedigt hatte, benutzt der Vater eine geringfügige Aufsässigkeit Theas als Vorwand für ein offenbar schon länger geplantes und vorbereitetes »Experiment«. Er läßt sie hinknien, bindet ihr die Hände auf dem Rücken zusammen, ermahnt sie, stillzuhalten und sich nicht zu wehren (»dann geht es schneller«), und stülpt ihr eine Zellophantüte über den Kopf, die er um den Hals mit Klebeband zubindet. Thea, voller Angst, sieht durch die Tüte sein Gesicht: »Er ist ganz ruhig und schaut mich an, als ob er alles ganz genau beobachten will.« Thea will aufstehen, doch er hält sie an den Schultern nieder. »Mir wird so komisch ... und dann wird es dunkel ...« In diesem Moment spürt Thea »ganz tief drinnen und nur ganz kurz« einen intensiven Schmerz, der sie plötzlich traurig werden läßt. Wir müssen diesen Augenblick auf Minutenlänge dehnen, damit Thea deutlich wiedererleben kann, was in diesem Moment wie im Zeitraffer abläuft: »Ich denke noch, jetzt geht es zu Ende mit mir ... und ich bin doch noch so klein ... ich will doch noch nicht sterben ... Sie wollen nicht, daß ich lebe ... meine Mama hat's nie gewollt, daß ich lebe ... und mein Papa macht mich jetzt tot ...« Dann wird Thea ohnmächtig, ihr Kopf fällt zur Seite, ihre Glieder erschlaffen. »Auf einmal ist es ganz leicht und schön ... es ist, als ob ich schwebe ... ich habe gar nicht gedacht, daß es so angenehm sein kann ... — Und dann ist da wieder Luft ... es ist anstrengend ...« Thea atmet wieder, schaut sich erstaunt um, beschreibt ihre (da-

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malige) Situation: »Ich liege auf der Couch ... ich weiß gar nicht, wie ich hier hergekommen bin! ... Was war da? ... Was ist passiert? ... Was habe ich gemacht?« Ich frage die Achtjährige, woran sie sich noch erinnern könne. »Er hat zu mir gesagt, ich soll in einer halben Stunde zu ihm kommen ... Bin ich hingegangen? Ich weiß es nicht mehr, ich weiß es nicht mehr! Ich weiß überhaupt nicht mehr, was dann war!«

Dieses Beispiel bestätigt zum einen die bekannte Tatsache, daß Wahrnehmungen, die eine Person während einer Zeitspanne von etwa zehn bis zwanzig Minuten vor einem intensiven Trauma gemacht hat, nicht im (kognitiven) Gedächtnis gespeichert werden, weshalb die Person sich nachher nicht an das erinnern kann, was in dieser Zeit geschah. Es zeigt zum anderen aber auch, daß die Wahrnehmungen während dieses Blackouts im Erlebnisgedächtnis zuverlässig gespeichert werden.

Beim Erlebnislernen können ganze Sätze praktisch ohne jeden Zeitaufwand gelernt werden, selbst wenn ihr Sinn (zum Beispiel von einem Baby oder einem Ungeborenen — siehe dazu Fallbeispiel 5) kognitiv nicht verstanden werden kann. Die Informationen können — ohne daß sie je wiederholt wurden — noch nach Jahrzehnten erinnert werden und scheinen völlig unverfälscht zu sein.

Hier werden Sie vermutlich einwenden, woher ich das denn wissen könne. Zum einen gibt es — freilich noch seltene, aber sich mehrende — Fälle, in denen wiedererlebte Geschehnisse aus der frühen Kindheit nachträglich durch dritte Personen bestätigt wurden (das Fallbeispiel 6 zeigt zwei solcher Begebenheiten). Zum anderen läßt sich — und das häufiger — folgendes beobachten: Wenn eine Person dieselbe Episode, deren Protokoll noch nicht aufgelöst wurde, nach mehreren Wochen oder Monaten nochmals wiedererlebt, reproduziert sie bis ins Detail die gleichen Wahrnehmungen und zitiert wortgetreu dieselben Sätze. Die Zuverlässigkeit der Reproduktionen beim Wiedererleben belegt auch folgendes Beispiel: Eine Patientin wiedererlebte in einer Sitzung zwei Abtreibungsversuche, von denen sie verständlicherweise bis dahin nichts wußte, und die ihr starke Schmerzen in der Brust- und Nierengegend zugefügt hatten. Jetzt wurde ihr auch klar, woher die bei früheren Röntgenaufnahmen beiläufig festgestellten narbenartigen Veränderungen an der Lunge und an einer Niere stammten, die seinerzeit nicht erklärt werden konnten.

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Um die überraschenden Leistungen des Erlebnisgedächtnisses zu dokumentieren, hier ein weiteres Beispiel:

 

Fallbeispiel 5: Ein Abtreibungsversuch

Der folgende Text ist die gestraffte Aufzeichnung einer Therapiesitzung. Die Klammern enthalten Kommentare. Alles übrige sind wörtlich zitierte Äußerungen der Patientin während der Sitzung. (Diese Anmerkungen gelten auch für alle anderen als Sitzungsprotokolle gekennzeichneten Fallbeispiele.) — Falls Sie bezweifeln sollten, daß Ungeborene Wahrnehmungsfähigkeiten haben, wie sie im folgenden dargestellt werden, lesen Sie bitte die Übersicht auf den Seiten 39 ff.

(Die Patientin Eva — jetzt 36 Jahre alt — wiedererlebt eine Szene im Leib ihrer Mutter, die kurz zuvor einen vergeblichen Abtreibungsversuch mit einer Droge gemacht hatte. Eva ist heiter und entspannt, sie lacht und schaukelt mit den hochgestellten Knien hin und her. Dann berichtet sie:)

Alles ist so selbstverständlich. Da ist Leben um mich, und ich bin mitten drin. (Wir hatten zuvor schon herausgefunden, daß bei ihr noch ein zweites Kind ist; Eva nennt es »das Andere«. — Plötzlich wird ihr Gesicht ernst und angespannt.)

Etwas verändert sich. Ich weiß nicht ... es wird so eng ... es ist, als ob der Raum um mich kleiner würde. (Dann spürt sie plötzlich einen Schmerz im Rücken.) Meine Mutter sagt: »Es tut so weh, ich halt' es nicht mehr aus, ich halt' es nicht mehr aus!« (Wieder ein Schmerz im Rücken.) »Es tut so weh ...« Mein Vater sagt: »Reiß dich zusammen! Stell dich nicht so an! Du wolltest es ja!« (Wieder ein Schmerz im Rücken.) Meine Mutter schreit: »Geh raus, verdammt, geh raus!« Sie stöhnt. »Es tut so weh!« Sie stöhnt wieder. »Wann geht es endlich ab? Wann verschwindet dieses verdammte Kind endlich?« Da ist noch eine Stimme, die ist total ruhig: »Es ist gleich vorbei. Gleich ist es weg, gleich hast du es los.« Meine Mutter stöhnt und stöhnt immer lauter. Die andere Stimme sagt: »Gleich tut es noch einmal weh.« Meine Mutter schreit. (Gleich darauf spürt Eva einen heftigen Schmerz am Rippenbogen rechts der Magengrube.) Es ist, als wenn mich etwas

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langsam durchbohrt, bis zum Rücken und drüben wieder hinaus. Die andere Stimme sagt: »Sei ruhig, verdammt, sei ruhig!« Sie ist gar nicht mehr ruhig, sie ist wütend und aufgeregt. »Willst du, daß sie uns erwischen? Willst du, daß wir auffliegen? Reiß dich endlich zusammen!« (Eva ist sehr unruhig. Sie fühlt sich offenbar sehr unbehaglich.) Ich hab' das Gefühl, daß das alles mir gilt. (Gleich darauf wieder ein Schmerz an derselben Stelle.) Als ob da etwas herausgezogen würde. Alles ist so weit weg. Irgend etwas kann ich nicht festhalten. Ich fühle etwas um mich herum ... das Andere! ... Es ist wie zerrissen ... Es sind lauter Fetzen um mich herum, und ich kann es nicht festhalten (heftiger Ekel). Jetzt ist es auf einmal weg. Meine Mutter sagt: »Ich will es gar nicht sehen, ich will es gar nicht sehen!« (Eva wird sehr traurig.) Ich hab' etwas verloren ... wir haben doch zusammengehört! Ich fühl' mich so allein. Ich hab' Angst ... etwas bedroht mich. Ich muß mich festhalten, sonst verschwinde ich in dem schwarzen Loch ... Es ist so anstrengend ... Ich will nicht mehr. In dem Moment, wo ich aufgeben will, da höre ich sie lachen und sich freuen. Irgendwie beziehe ich das auf mich. Sie freuen sich, daß ich tot bin, und dabei lebe ich doch! Ich bin traurig, und es ist kalt, und ich fühl' mich so allein. Irgendwie hab' ich das Gefühl, ich bin schuld, ich hab' nicht genug auf das Andere aufgepaßt. Ich hätte es festhalten müssen ... ich bin schuld! (Dieses merkwürdige Schuldgefühl beschäftigt Eva auffallend stark und lange. Schließlich frage ich sie, ob sie schon einmal so einen ähnlichen Satz gehört habe. Sofort beginnt sie heftig mit den Armen zu zittern, und gleich darauf bricht es aus ihr hervor:) Sie ... sie schreit ... sie schreit: »Du bist schuld, du hast nicht aufgepaßt!« Zuvor ist da gar nichts, und ganz plötzlich ist da dieser Schrei. Ich erschreck' so (Eva zuckt auch jetzt zusammen). »Du bist schuld, du hast nicht aufgepaßt!« (Offenbar macht die Mutter ihrem Mann Vorwürfe wegen ihrer Schwangerschaft.) Ich weiß gar nicht, was das bedeutet, aber ich bin so furchtbar erschrocken. Und seitdem ist da dieses komische Gefühl ... ich weiß nicht, was es bedeuten soll ... (Eva beginnt zu weinen.)

Lange Zeit später kommt Eva während einer Sitzung zu einem Geschehen in ihrem vierten Lebensjahr: Sie wird, vor der Wohnzimmertür stehend, unfreiwillig Zeugin eines Gesprächs ihrer Mutter mit deren Freundin. »Ich hab' alles versucht, dieses Kind loszukriegen. Was hab' ich nicht alles probiert!« (Eva steht wie angewurzelt vor der Tür.) Komisch, ich weiß das ja alles (aller-

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dings weiß sie nicht, woher sie es weiß), ich weiß das ja alles, aber sie soll es nicht sagen! Ich will es nicht hören! Hör auf! Sie soll aufhören! Es ist komisch, ich weiß gar nicht, warum das so weh tut. Ich steh' lange vor der Tür — ich kann nicht rein, und ich kann auch nicht weg. (Eva weint lange herzzerreißend.)

Dieses Beispiel zeigt, wie beim Erlebnislernen selbst unverstandene und nur einmal gehörte Sätze unauslöschlich eingeprägt werden können. Es zeigt ferner, daß der emotionale Gehalt von Sätzen, ihr wesentlicher Sinn, auch ohne kognitives Verstehen des Wortlauts intuitiv verstanden wird und heftige Reaktionen wie Erschrecken oder Angst auslösen kann. Diese und andere Gefühle (wie Ekel, Unsicherheit, Schuldgefühle, das Gefühl des Nichtgewolltseins und des Abgelehntwerdens und viele andere) prägen sich beim Erlebnislernen ein und werden beim Wiedererleben des Geschehens — ganz anders als beim kognitiven Erinnern — reproduziert (»wiederhervorgebracht«) und von der Person neuerlich empfunden. Das Beispiel zeigt auch, daß Eva bereits sehr früh die Stimmen ihrer Eltern identifizieren kann, was die entsprechenden Erkenntnisse der pränatalen Psychologie bestätigt. Verwundern könnte, daß sie die sprechenden Personen Mutter und Vater nennt. Dies ist dadurch zu erklären, daß beim Wiedererleben stets ein Teil der Aufmerksamkeit und des Bewußtseins der Person in der Gegenwart bleibt, Gegenwärtiges wahrnehmen und darauf reagieren kann (dazu gehören zum Beispiel die Worte, die der Therapeut spricht). Mit diesem Teil ihres Bewußtseins kann die Person auch die von ihr gerade wiedererlebten Vorgänge beobachten und sie oft (wenn auch nicht immer) mit Begriffen aus ihrem heutigen Wortschatz beschreiben. Daß sie die wiedererlebten Vorgänge dabei auch kognitiv registriert, erweist sich dadurch, daß sie sich nach der Sitzung an alles erinnern kann, was sie wiedererlebt hat. Mit dem in der Gegenwart verbleibenden Teil ihres Bewußtseins vermag die Person bei so existentiell bedeutsamen Menschen wie Vater und Mutter auch die Verbindung zwischen den damaligen Wahrnehmungen und ihrem heutigen kognitiven Wissen herzustellen, jedenfalls dann, wenn — wie dies bei den Personen von Vater und Mutter im allgemeinen der Fall ist — eine kontinuierliche Folge von Erinnerungen besteht, die bis in die Gegenwart oder doch bis in die spätere Kindheit reicht. 

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Besteht eine solche Kontinuität dagegen nicht, dann werden die in der wiedererlebten Episode auftretenden Personen nicht erkannt. Der letzte Teil dieses Sitzungsprotokolls schließlich zeigt einen nicht selten beobachtbaren Effekt: Ein bestimmter Satz (hier: »Du bist schuld!«), der an eine dritte Person gerichtet war, wurde auf die eigene Person bezogen und dann zur Ursache psychischer Störungen; im obigen Beispiel waren es diffuse, bis zur Behandlung des Traumas immer wiederkehrende Schuldgefühle.

 

Fallbeispiel 6: Das Findelkind

Die Ihnen schon aus dem Fallbeispiel 2 bekannte Nathalie hat in ihrer Kindheit etwa fünf Jahre in einem von Ordensschwestern betreuten Säuglings- und Kinderheim verbracht. Im Alter von vier Monaten war sie von der Mutter in lebensgefährlich unterernährtem Zustand in das Heim gebracht worden, nachdem sie daheim die Nahrungsaufnahme verweigert und unter schwersten Schlafstörungen (Alpträume mit Erstickungsanfällen) gelitten hatte. Im Heim wurde sie durch liebe- und aufopferungsvolle Anstrengungen der Ordensschwester Erika mühsam dazu gebracht, wieder Nahrung zu sich zu nehmen. Bis zum Ende ihres ersten Lebensjahres aber war das Überleben der kleinen Nathalie immer noch ungewiß. All dies haben wir erst nachträglich aus Erzählungen und Tagebuchaufzeichnungen der Schwester Erika (die heute noch lebt) erfahren. Die Gründe für den erbarmungswürdigen Zustand der kleinen Nathalie aber hatten wir schon früher durch das Wiedererleben der Vorgeschichte erfahren. In der Therapie wurden auch viele wichtige, freud- wie leidvolle Erfahrungen im Kinderheim aufgedeckt; soweit sie nicht intim und nur Nathalie bekannt waren, wurden sie später von Schwester Erika bis in die Details bestätigt.

In einer der Sitzungen erlebte Nathalie auch, wie eines Tages im Heim plötzlich eine kleine Magda auftauchte, die etwa ein Jahr jünger als Nathalie war und — genau wie diese — kein Wort sprach*. Nathalie war damals gerade vier Jahre alt. Die beiden stummen Mädchen wurden bald unzertrennliche Freundinnen und verständigten sich durch eine von ihnen erfundene Zeichen-

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spräche, die außer Schwester Erika niemand verstand. Schwester Erika bestätigte später auch diese Einzelheiten und fügte hinzu, daß Magda an einem kalten Herbstmorgen zwischen vier und fünf Uhr von der Leiterin halberfroren auf den Stufen vor dem Portal des Heims gefunden worden war mit einem Pappschild um den Hals: »Ich heiße Magda.« (Selbstverständlich ist der Vorfall bei den Behörden aktenkundig gemacht worden; Magda erhielt vom Standesamt einen Nachnamen und ein fiktives Geburtsdatum, das ihrem vermutlichen Alter entsprach.) Magda blieb bis zum 16. Lebensjahr im Heim und kam dann zu einem Schneider in die Lehre. Von da an sprach sie wieder.

Nachdem Nathalie in der Therapie Einblick in ihre frühe Kindheit gewonnen hatte, nahm sie — nach mehr als 30 Jahren — Verbindung mit Schwester Erika auf, die ihr auch die Anschrift von Magda sagen konnte. Bald darauf trafen sich die beiden alten Freundinnen, und Nathalie berichtete der staunenden Magda, wie es zu dem Wiedersehen gekommen war. Magda hatte nun keinen dringlicheren Wunsch, als auf ähnliche Weise ihre eigene Vergangenheit zu erkunden und — vor allem — ihre Abstammung zu erfahren.

Nathalie, die inzwischen selbst »Traumabegleiterin« geworden war, benutzte zum Einstieg ins Wiedererleben einen traumatischen Autounfall, den Magda vor einigen Jahren erlebt hatte und der ihr seither das Autofahren praktisch unmöglich machte. Nachdem dieses Erlebnis während eines Wochenendes aufgearbeitet worden war und unmittelbar danach Magda ihre erste Autofahrt absolviert hatte, verabredeten die beiden, sich an einem langen Wochenende wieder zu treffen und sich »auf die Suche nach der verlorenen Zeit« zu machen. (Hinweise zur Methodik der Rückführung s. Kap. 2.4.) Schon bald sah Nathalie vor sich eine vor Kälte zitternde Magda, die sich mit beiden Händen krampfhaft an einem imaginären Schild festhielt, das sie um den Hals zu tragen schien. Natürlich war dieses Erlebnis und seine Vorgeschichte für Magda ein schweres Trauma gewesen, das vor-

 

* Nathalie hatte sehr früh sprechen gelernt und eine ungewöhnliche Sprachbegabung gezeigt (siehe dazu auch die Fallbeispiele 10 und 11). Gegen Ende des dritten Lebensjahres aber hatte sie plötzlich aufgehört zu sprechen. Durch Wiedererleben konnte die Ursache aufgedeckt werden: der Großvater hatte ihr unter Androhung schwerster Strafen verboten, über gewisse Vorgänge zu sprechen. Aus ihrer ungeheuren Angst heraus, sich zu verplappern, verstummte sie bis zu ihrem neunten Lebensjahr, als sie mit ihrer Familie in eine andere Stadt umzog.

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dringlich aufgelöst werden mußte, womit die beiden das Wochenende über beschäftigt waren. Ein paar Wochen später trafen sie sich wieder, und nun wurde es schwierig. Die kleine Magda sträubte sich hartnäckig, irgend etwas aus der Zeit vor ihrer Aussetzung zu verraten.

Der Grund dafür war, wie sich bald herausstellte, ein mit schweren Drohungen bewehrtes Verbot der Mutter, darüber zu sprechen: »Wenn du im Heim etwas über uns sagst, stecken dich die Leute in die Hölle, und dann mußt du verbrennen!« (Diese Drohung war auch der Grund für ihre Sprachlosigkeit: Aus Angst, etwas zu verraten, sprach sie — genau wie Nathalie — lieber gar nicht mehr.)

Nathalie aber war noch hartnäckiger, und nach einem dramatischen Ringen, das ihr viel List, Geduld und Ausdauer abforderte, war die Angst der kleinen Magda überwunden, und sie zitierte nicht nur den bedrohlichen Satz, sondern nannte auch ihren Nachnamen und die Adresse ihrer Mutter. »Und jetzt weiß ich endlich auch, warum ich immer so fürchterliche Angst vor Feuer habe«, meinte sie nach der Sitzung erleichtert. Glücklicherweise hat Magda einen Schwager, der im Einwohnermeldeamt arbeitet, und bald besaß sie außer der Bestätigung ihrer in der Rückführung gewonnenen Erinnerungen auch ihr richtiges Geburtsdatum und wenig später auch eine echte Geburtsurkunde. Aus den Akten ging hervor, daß Nachbarn angegeben hatten, die junge Frau sei mit ihrem kleinen Mädchen eines Tages plötzlich verschwunden gewesen; weitere Nachforschungen seien erfolglos geblieben. Inzwischen hat Magda auch ihre 86jährige Großmutter väterlicherseits gefunden, die ihr erzählte, Magdas Mutter habe ihr seinerzeit gesagt, ihre kleine Tochter sei gestorben, sie selbst halte es vor Kummer über den Verlust hier nicht mehr aus und gehe nach Amerika. Magdas Vater, also der Sohn der Großmutter, sei auf die schiefe Bahn geraten und habe Frau und Kind schon vorher verlassen. Seitdem wisse sie nichts mehr von ihm und wolle auch gar nichts wissen.

Das Auftauchen der kleinen Magda im Kinderheim hatte übrigens noch ein amüsantes Nachspiel, dessen Überlieferung wir ebenfalls der Zuverlässigkeit des Erlebnisgedächtnisses verdanken (und die diese wiederum bestätigt):

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Nathalie — als Vierjährige — wußte während der Sitzung plötzlich, daß die Nonnen damals oft auffällig erregt miteinander getuschelt hatten (sie waren im Umgang mit der kleinen Nathalie etwas unvorsichtig geworden; weil sie stumm war, glaubten die Schwestern schließlich, sie sei auch taub). Sie fragten sich, was wohl die Frau Oberin an jenem Morgen, als sie Magda fand, zwischen vier und fünf draußen vor dem Heim gemacht habe. Als Nathalie Schwester Erika jetzt nach dieser Episode fragte, lachte diese und meinte, nun, da die ehemalige Oberin schon lange gestorben sei, dürfe sie wohl darüber sprechen. Die mißtrauisch gewordenen Schwestern hätten damals Nachtwachen organisiert und bald herausgefunden, daß die Oberin regelmäßig zwei Nächte der Woche außer Haus verbrachte. Der Versuch der Schwestern, die Oberin zu beschatten und das Ziel ihrer nächtlichen Ausflüge herauszufinden, wäre allerdings gescheitert.

 

2.3 Teilweiser Verlust der Wiedererlebensfähigkeit

Meine Erfahrungen als Therapeut wie als Klient zeigen, daß die im Laufe des Heranwachsens offenbar verkümmerte Fähigkeit des Wiedererlebens meist durch ein einfaches Training in wenigen Stunden (oft auch sehr viel schneller) zumindest ansatzweise zurückgewonnen werden kann, wenn man sich dabei zunächst auf traumatische, körperlich oder seelisch schmerzhafte Geschehnisse beschränkt (s. Kap. 2.4.). Die so wiedererlangten Ansätze reichen für den Beginn einer Therapie mittels »Begleiteten Systematischen Wiedererlebens« aus. In derem weiteren Verlauf entwickelt sich die Fähigkeit des Wiedererlebens gleichsam nebenher und wie von selbst weiter. Dabei zeigt sich, daß anscheinend jeder Mensch eine große Menge von im Erlebnisgedächtnis gespeicherter Daten (Informationen) besitzt, die keineswegs nur traumatische Geschehnisse betreffen. (Vielleicht werden, wie es die buddhistische Philosophie seit langem lehrt, überhaupt alle Erlebnisse eines Menschen in diesem Gedächtnis aufbewahrt, das in der buddhistischen Philosophie allerdings anders genannt wird.) Sie sind normalerweise unzugänglich und reichen einerseits bis in die allerfrüheste Kindheit, ja selbst in die Zeit vor der Geburt zurück, erstrecken sich andererseits aber auch auf das Jugend- und Erwachsenenalter bis in die Gegenwart. Daraus folgt, daß die in der Kindheit einsetzende Verkümmerung der Wiedererlebensfähigkeit lediglich darauf

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beruht, daß die Erlebnisse nicht mehr ohne weiteres reproduziert werden können, nicht aber darauf, daß ihre Daten nicht mehr gespeichert würden. Anders gesagt: die Speicherung von Erfahrungen im Erlebnisgedächtnis findet weiterhin statt, auch nachdem die Fähigkeit zu ihrer Reproduktion verlorengegangen zu sein scheint.

Mit zunehmender Übung und Erfahrung in der Therapie werden der Person mehr und mehr ihrer im Erlebnisgedächtnis gespeicherten Daten zugänglich, und zwar auch solche aus der frühesten Kindheit, aus der es kognitive Erinnerungen anscheinend nicht gibt, ja sogar solche aus frühen embryonalen Stadien, in denen nach heutigem Wissen die neuronalen Vernetzungen im Großhirn noch nicht oder erst ansatzweise ausgebildet sind. Kognitive Erinnerungen setzen im allgemeinen bei ganz vereinzelten Geschehnissen im dritten, vierten und manchmal erst fünften Lebensjahr ein. Danach werden sie langsam umfangreicher, bleiben aber immer sehr lückenhaft. Frühere Geschehnisse werden anscheinend ausschließlich im Erlebnisgedächtnis gespeichert. Durch die spätere Verkümmerung der Reproduktionsfähigkeit werden sie dem Individuum schließlich unzugänglich; es kann sich dann nur noch an Inhalte des kognitiven Gedächtnisses erinnern, zu deren charakteristischen Merkmalen ihre Lückenhaftigkeit und ihre UnZuverlässigkeit gehören.

Kognitives Lernen ist Lernen von abstrakten Daten und Zusammenhängen, die durch Begriffe repräsentiert bzw. durch Sätze beschrieben werden. Kognitives Lernen und Erinnern ist also an Sprache gebunden und setzt — wenn es sinnvoll und ökonomisch sein soll — Sprachverständnis voraus. Da die Rückbildung der Wiedererlebensfähigkeit etwa in dem Alter beginnt, in dem der Wortschatz des Individuums angesammelt wird und in das die frühesten kognitiven Erinnerungen zurückreichen, kann ein ursächlicher Zusammenhang vermutet werden: Das kognitive Lernen und Reproduzieren scheint das Wiedererlebenkönnen (nicht das Erlebnislernen selbst) in den Hintergrund zu drängen. Über die sicher komplexen Gründe dafür kann vorerst nur spekuliert werden. Ein Grund mag die Faszination des Kindes durch die neuerworbenen Fähigkeiten des Sprechens und des kognitiven Lernens sein; ein anderer mag darin liegen, daß diese Fähigkeiten von der Gesell-

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schaft — hier vor allem der Familie — sehr geschätzt werden und ihrem Besitzer Lob und Zuwendung einbringen; das Kind wird für jedes neue Wort durch Beifall und Anerkennung belohnt. Diese ständige »positive Verstärkung« fördert das kognitive Lernen sicher in hohem Maße, während das Phänomen des Wiedererlebens unbekannt ist und auftretende Fälle daher entweder unbeachtet bleiben (die wirksamste Form der »negativen Verstärkung«) oder als Phantasien oder Lügen (siehe dazu das nächste Fallbeispiel) abgetan werden. Maßnahmen zur Pflege oder gar Weiterentwicklung des Wiedererlebens gibt es nirgendwo auch nur ansatzweise; sie wären in einer Gesellschaft, in der nur Realitäten zählen, auch schwer vorstellbar. Dabei wäre die Fähigkeit, sich jederzeit in eine vergangene Situation zu versetzen und diese wiederzuerleben, nicht nur eine wichtige Gedächtnisstütze und Lernhilfe, sondern auch eine einfache Möglichkeit, belastende Erfahrungen zu verarbeiten und unser Leben zu bereichern. Aber weder in der Familie noch im Kindergarten, schon gar nicht in der Schule, wird diese Fähigkeit gepflegt; durch die dort vorherrschende, geforderte und geförderte Art des Lernens wird sie eher zerstört als erhalten. Auch die dominierende Bedeutung des geschriebenen und gesprochenen Wortes in unserer Kultur mag dazu beitragen. Und so geht diese Fähigkeit mehr und mehr verloren, verschwindet aber kaum je ganz. Die verbleibenden Reste ergänzen manchmal recht wirksam, doch unerkannt, das kognitive Lernen und Erinnern, sind aber hinsichtlich Art und Intensität individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Vermutlich rühren die verschiedenen »Lerntypen« (visueller, auditiver, haptischer Typ), die die Lernpsychologie beobachtet hat und beim Lernen zu berücksichtigen empfiehlt, von unterschiedlichen Ausprägungen dieser Reste her. (Dazu ein einfaches Beispiel, das viele kennen werden: Sie suchen in einem Buch, das Sie gelesen haben, eine bestimmte kurze Textpassage. Während Sie an das Gesuchte denken, sehen Sie plötzlich vor Ihrem inneren Auge, daß die gesuchte Stelle an einer bestimmten Position einer Seite steht, zum Beispiel oben rechts — und finden dies dann auch bestätigt.)

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Auch die eingangs erwähnten Spuren des Wiedererlebens in unserem Alltag gehören zu diesen Resten: ein aufblitzendes und wieder vergehendes Gefühl, plötzlich an einen anderen Ort und in eine andere Zeit versetzt zu sein; eine merkwürdige Stimmung, die uns abrupt und scheinbar ohne Grund überfällt, die angenehm sein kann, die uns aber auch »verstimmen« und die Laune verderben kann; merkwürdige, irrationale, überzogene Reaktionen, die wir an uns selbst und anderen beobachten und über die wir uns nachher wundern. 

Hierbei handelt es sich, wie wir inzwischen wissen, um Ansätze des Wiedererlebens einer früheren Situation, das durch eine situative Ähnlichkeit zwischen »Jetzt« und »Damals« angestoßen wird, wobei jedoch die Inhalte der damaligen Situation noch unbewußt bleiben. In manchen provokativen Varianten von Psychotherapie (insbesondere in »Psychogruppen«) werden solche Ereignisse — ohne daß sie als Wiedererleben erkannt werden — absichtlich hervorgerufen. Je heftiger sie sind, desto freudiger werden sie begrüßt; sie wirken (auch wenn — und oft gerade weil — die Erlebnisinhalte dabei nicht erkennbar werden) zunächst befreiend, entlastend, ja euphorisierend; aber da mit diesen Ausbrüchen nicht verständig umgegangen werden kann, verschwinden die Wirkungen nach kurzer Zeit wieder. Übrig bleibt die Sehnsucht, sie beim nächsten Wochenendworkshop neuerlich zu erfahren, und diese Sehnsucht hält das einträgliche Geschäft der Veranstalter in Gang. Auch die verschiedenen Formen von Regressionstherapie arbeiten (unsystematisch) mit dem Wiedererleben, beschränken sich aber im allgemeinen auf prä- und perinatale Traumata. Im Schlaf, wenn die kognitiven Funktionen ruhen, kann das Wiedererleben traumatischer Situationen spontan in Form von Alpträumen auftreten.

Die Kinder und Jugendlichen der Gruppen, in denen meine Mitarbeiter tätig sind, zeigen manchmal Verhaltensstörungen, die für sie selbst und andere fast unerträglich sind. Bei der therapeutischen Arbeit mit diesen jungen Menschen wurde erkannt, daß die Störungen unter anderem mit nächtlichen Alpträumen, mit bestimmten aktuellen Belastungen oder damit zusammenhängen, daß ihnen tagsüber plötzlich furchterregende Erinnerungsbilder durch den Kopf schössen. Auch hier handelt es sich um situativ angeregtes, bruchstückhaftes Wiedererleben, wobei die Inhalte des Geschehens zunächst meist nicht erkennbar werden. Die Kinder spüren dann vor allem eine diffuse Aggressivität (auch Autoaggressivität) und Wut, hinter denen sich oft Angst und Trauer verbergen. Mei-

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ne Mitarbeiter erkannten bald den Zusammenhang dieser Störungen mit traumatischen Erfahrungen in der frühen Kindheit, meist Mißhandlung oder sexueller Mißbrauch. Durch Begleitetes Wiedererleben der Traumata konnten die Störungen gelindert und schließlich behoben werden. Manche Kinder spüren inzwischen selbst diese Zusammenhänge, sprechen untereinander darüber und verlangen »Sitzungen«, wenn ein weiteres Trauma in ihnen emporsteigt.

Neuerdings gibt es auch Beobachtungen einer Mitarbeiterin, die darauf schließen lassen, daß bei Altersdemenz, wo die kognitiven Funktionen mehr und mehr ausfallen, die Fähigkeit des Wiedererlebens wieder deutlicher hervortritt. Ein alter Mensch, der, obwohl ganz allein, sich mit Personen aus einer weit zurückliegenden Lebenszeit unterhält, als seien diese anwesend, während er gleichzeitig in der Gegenwart völlig desorientiert ist, scheint eine frühere Episode wiederzuerleben. Daß er dabei einem Unwissenden als verwirrt erscheint und seine Reaktionen auf Gegenwärtiges (Gesprächsangebote etwa oder Aufforderungen zu gewissen Tätigkeiten) diesem störrisch vorkommen, ist nicht überraschend. Betrachtet man aber die Situation aus der Perspektive der kranken Person, dann erscheint es als Zeichen eines gesunden Urteilsvermögens, wenn sie umgekehrt die Menschen in ihrer Umgebung manchmal als widerborstig und bösartig empfindet. Geht man auf die Person und ihre (Wieder-)Erlebnisse ein, dann kann es sein, daß sie ganz sanft, fügsam und fast verständig wirkt.

 

Fallbeispiel 7: Wiedererleben in der Kindheit

Wie sich in einer Therapiesitzung herausstellte (siehe Fallbeispiel 5), hat die Patientin Eva einen Abtreibungsversuch überlebt, dem ihr Zwillingsembryo zum Opfer fiel. Eva selbst wurde dabei mit einem langen, spitzen Gegenstand durchbohrt. In mehreren späteren angstbesetzten Situationen, besonders in solchen, die mit einem schmerzlichen Verlust oder einer Verlustdrohung verbunden oder die selbst lebensbedrohend waren, hat Eva wesentliche Teile dieser Situation wiedererlebt, insbesondere auch die körperlichen Schmerzen. Ich zitiere vier Sitzungsprotokolle; die ersten drei Episoden spielten sich in Evas viertem Lebensjahr ab.

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1. Sie streiten sich ... mein Papa und meine Mama ... ich steh' dabei ... Da sagt sie, sie geht weg, für immer. Sie fängt an, einen Koffer zu packen, und ich steh' dabei. »Nicht weggehn, nicht weggehn, bitte, bitte!« Sie schickt mich weg, ich soll zu meinem Papa gehen ... (Während Eva weggeht, spürt sie plötzlich heftige Schmerzen rechts neben der Magengrube und im Rücken. Sie schreit auf:) »Au, au!« Meine Mama glaubt mir nicht, daß es weh tut. Sie sagt, ich soll kein Theater machen. Ich versteh' nicht, woher der Schmerz kommt. Ich denk', sie müßt' mir's erklären. Sie packt mich und legt mich ins Bett. Ich soll sie nicht mehr stören ... (Plötzlich hat Eva höchst seltsame Wahrnehmungen:) Sie schreit, sie schreit, daß es so weh tut ... Und dann ist da dieser fürchterliche Schmerz, als ob mich was durchbohrt. (Eva bäumt sich auf, stöhnt, verzerrt das Gesicht vor Schmerz.) Da sind so fürchterliche Bilder! Ich weiß nicht, wo die herkommen ... die sind da drin! (Sie schlägt sich entsetzt und verzweifelt mit den Handballen an die Stirn. Gleich darauf korrigiert sie sich:) Es sind keine richtigen Bilder ... so komisch ... ich versteh's nicht ... (Nun macht sie suchende und hilflos zugreifende Bewegungen mit halb ausgestreckten Armen.) Ich kann es nicht festhalten ... es ist ganz ... es ist ganz ... ganz kaputt ... ganz zerrissen ... (entsetzter Gesichtsausdruck). Ich kann es nicht festhalten ... (sie wird traurig) ... Ich versteh' das alles nicht, ich versteh' nicht, woher die Bilder kommen ... was das alles bedeutet ... es macht mir Angst...

2. Vor dem im folgenden beschriebenen Geschehen hatte Eva sich geweigert, sich von ihrem Vater »streicheln« zu lassen. (Eva ist von ihrem Vater lange Zeit sexuell mißbraucht worden.) Er fragt mich, ob ich ihn denn nicht mehr liebhabe. »Nein, nicht mehr lieb, nicht mehr lieb!« Er fragt, ob ich meine Puppe liebhabe. (Eva dreht den Kopf ganz nach links, schaut die anscheinend neben ihr liegende Puppe liebevoll lächelnd an, nickt dann eifrig.) »Ja, ja!« Da nimmt er mir die Puppe weg und geht mit ihr zum Ofen. »Schau her, was ich mit der Puppe mach'!« Er macht die Ofentür auf und wirft die Puppe ins Feuer! (Eva schaut entsetzt weg.) »Nein, nein!« — »Wenn du nicht lieb bist, werf ich deinen Teddy auch ins Feuer!« — »Nein, nein, bitte nicht, bitte nicht!« (Nun ist Eva ihm gefügig.) Dann geht er weg. (Eva legt plötzlich ihren rechten Unterarm über die Magengrube und den rechten Rippenbogen, ihr Gesicht verzerrt sich vor Schmerz.) 

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Es tut plötzlich so weh, so furchtbar weh ... es ist, als würd' mich was durchbohren (sie wälzt sich auf die Seite; am Rücken ist eine Stelle rechts von der Wirbelsäule sehr berührungsempfindlich. Langsam läßt der Schmerz nach; Eva beginnt zu weinen). Ich bin so traurig ... so allein ... nicht nur wegen der Puppe ... da ist noch etwas anderes (sie macht fahrige Greifbewegungen mit den Armen) ... ich kann es nicht festhalten ... es ist weg, für immer weg ... ich bin so allein ... ich weiß gar nicht, was das ist ... ich hab' irgendwie das Gefühl, ich bin weit weg ... ganz woanders ... (sie kreuzt die Arme über der Brust und nimmt Embryohaltung an). Plötzlich wird mir so kalt, so furchtbar kalt ...

3. Zu Beginn des anschließend beschriebenen Geschehens liegt Eva im Dunkeln in ihrem Bett und erwacht schreiend. Bald kommt ihre Mutter; sie ist ärgerlich und schreit Eva an, sie solle ruhig sein, solle endlich still sein. Eva kann nicht aufhören. Da wird die Mutter wütend: »Ich hasse dich, ich hasse dich!« (Eva erschrickt darüber so, daß sie prompt verstummt. Gleich darauf spürt sie den bekannten Schmerz rechts der Magengrube.) Es ist, als ob sich etwas in mich reinbohrt, und jedesmal, wenn sie sagt »Ich hasse dich!«, immer tiefer, immer tiefer. Es tut furchtbar weh, aber ich trau' mich nicht mehr zu schreien. (Eva krümmt sich und bäumt sich auf vor Schmerz.) Irgendwann geht sie einfach ... Sie soll nicht weggehn, nicht weggehn ... nicht allein lassen ... es ist so kalt ... (Eva wird sehr traurig.) Ich hab' das Gefühl, mir fehlt irgend etwas ... irgendwas vermisse ich ... ich weiß nicht, was. Es ist nicht nur, weil meine Mutter weggegangen ist ...

4. Nun folgt die Beschreibung eines Geschehens aus Evas zwölftem Lebensjahr. Vorausgegangen war eine von Eva als lebensgefährlich empfundene Bedrohung: der Vater hatte ihr ein Messer an den Hals gesetzt.

Ich hab' seine Augen gesehen, da hab' ich gewußt, daß er es tut ... Ich hab' mir überlegt, wie sich das wohl anfühlt, wenn er da hineinsticht ... Auf einmal geht er weg. Plötzlich ... (Eva verzerrt das Gesicht vor Schmerz und drückt die rechte Faust auf die Magengrube und den Unterarm unter den Rippenbogen) ... plötzlich ist da ein Schmerz ... ein furchtbarer Schmerz ... als wenn mich etwas durchbohrt. (Als sie sich vor Schmerz auf die Seite wälzt, prüfe ich vorsichtig mit der Hand, ob sie am Rücken berührungsempfindlich ist. Sofort zuckt sie zusammen und stöhnt heftig.) Ich weiß gar nicht, warum es so weh tut ... ich weiß gar nicht,

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was das ist! (Sie streckt die Arme aus und macht ziellose Bewegungen damit:) Ich kann es nicht halten ... und jetzt bin ich so allein. Ich werd' auf einmal so traurig ... ich fühl' mich so schrecklich allein ... es tut so weh ... es ist so furchtbar kalt ... (Etwas später wundert sie sich:) Was war das nur? Ich weiß gar nicht, was das war! Was hat da so weh getan? Da war doch gar nichts! Und wieso bin ich auf einmal so traurig geworden?

An diesen Beispielen wird die Zuverlässigkeit des Erlebnisgedächtnisses deutlich: Zwischen dem ersten und dem letzten Wiedererleben des vorgeburtlichen Traumas lagen acht Jahre; dann verging mehr als ein Vierteljahrhundert bis zum Wiedererleben der früheren Reproduktionen in der Therapie, wo die einzelnen Episoden in Abständen von mehreren Wochen oder gar Monaten wiedererlebt wurden. Dennoch wurde (sowohl in der Kindheit wie jetzt) nicht nur das Geschehen einschließlich der Körpersymptome genau reproduziert, auch die Sätze, mit denen Eva ihre Empfindungen beschreibt, sind fast identisch.

 

2.4 Exkurs: Die Rückgewinnung der Wiedererlebensfähigkeit — 
Das Einleiten und Begleiten des Systematischen Wiedererlebens

 

An dieser Stelle erscheint es angebracht, kurz auf folgende Fragen einzugehen:

Wie kann eine Person das »aktive« Wiedererleben (im Gegensatz zum »passiven«, erlittenen oder erduldeten Wiedererleben nach situativer Anregung oder in einem Alptraum) erlernen und durch eine Begleiterin* dazu angeleitet und dabei unterstützt werden? Wie kann eine Person in den außergewöhnlichen Bewußtseinszustand** gelangen, in dem sie vergangene Ereignisse fast wie gegenwärtig ablaufend erleben kann? Welche Voraussetzungen und Bedingungen sind dazu förderlich? Welche Hindernisse gibt es? Welche Verhaltensweisen der Begleiterin sind dazu notwendig oder erwünscht? Wie wird das Protokoll einer traumatischen Erfahrung schließlich aufgelöst? Ist es danach noch erforderlich, das traumatische Erlebnis kognitiv und emotional aufzuarbeiten, zu bewältigen, zu »integrieren«?

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Die Wiedererlebenstherapie beginnt nach einem ausgedehnten Vorgespräch mit Anamnese und Fragebogenerhebungen damit, daß die Person das Wiedererleben (neu) erlernt. Die Vervollkommnung dieser Fähigkeit geschieht dann während der Behandlung nebenher und fast von selbst. Die Anfangsphase, auf die ich später näher eingehen werde, ist der einzig schwierige und kritische Teil der Behandlung, da es kein standardisiertes Verfahren gibt, das zuverlässig zum Erfolg führt, und die Begleiterin ganz auf ihre Wahrnehmung, auf ihre Aufmerksamkeit und ihre Intuition angewiesen ist. Diese Schwierigkeit und das mögliche Mißlingen der Einleitung sind durch eine wesentliche Eigenschaft des Begleiteten Systematischen Wiedererlebens mitbedingt: Die »Therapeutin« ist eigentlich nur die Begleiterin der Person bei der Therapie, die sie im Grunde selbst ausführt, wobei eine unbewußte Instanz in der Person gleichsam Regie führt, indem sie die Auswahl der wiederzuerlebenden Geschehnisse vornimmt. Dies geschieht nach unserer Erfahrung nach Maßgabe der Reife, der inneren Be-

 

* Seit ich das Begleitete Systematische Wiedererleben als therapeutische Methode entwickelt habe, ausübe, andere darin ausbilde und supervidiere, überwiegt die Anzahl der Begleiterinnen deutlich die der Begleiter. Als kleines Zeichen meiner Wertschätzung und meiner Anerkennung für den Mut, die Aufgeschlossenheit und die Geduld meiner Schülerinnen spreche ich wenigstens hier konsequent von Therapeutin oder (bevorzugt) von Begleiterin.

Bezeichnenderweise sind es überwiegend Frauen, die auch — und gerade — an der Überwindung der sexuellen Traumatisierungen arbeiten (oder sich darauf vorbereiten), die überwiegend von männlichen Tätern an überwiegend weiblichen Opfern verursacht wurden.

** Das »Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen« (DSM-III-R) bezeichnet den Zustand beim Wiedererleben traumatischer Situationen als »dissoziationsartig«. Eine objektivierbare Abgrenzung dieses außergewöhnlichen Bewußtseinszustandes gegenüber Trancezuständen, die durch Hypnose oder auf andere Weise induziert wurden, ist nicht leicht, solange keine Messungen der Hirnstromaktivitäten durch EEG vorliegen. Charakteristisch scheinen mir vor allem zwei Merkmale zu sein: Beim Wiedererleben ist die Person mit wechselnden Anteilen ihres Bewußtseins gewissermaßen gleichzeitig in zwei verschiedenen Situationen (im »Jetzt/Hier« und im »Damals/Dort«) anwesend, während der Zustand ihres Organismus ein Gemenge (mit ebenfalls wechselnden Anteilen) aus seinem aktuellen und seinem damaligen Zustand darstellt. Außerdem ist die Person während des Wiedererlebens nicht suggestibel und unempfänglich für posthypnotisch wirkende Befehle.

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reitschaft und der (im Laufe der Therapie stetig wachsenden) Belastungsfähigkeit der Person und häufig in der Reihenfolge zunehmender Schmerzhaftigkeit der Geschehnisse. Dies ist ein wertvoller Selbstschutz der Person, die die Traumata ja verdrängt und Schutzbarrieren um sie errichtet hatte, um überhaupt weiterleben zu können. Die Begleiterin muß solche Barrieren respektieren und darf die Person nicht mit »Gewalt« in ein Geschehen hineinführen, das sie überlasten würde. (Diese Barrieren sollten jedoch nicht mit Vermeidungswünschen verwechselt werden, die von Zaghaftigkeit oder — durchaus verständlicher — Angst herrühren und die die Person mit Unterstützung der Begleiterin aufzugeben lernen muß.) Nun ist es aber durchaus möglich, daß die Person — aus welchen Gründen auch immer — innerlich noch gar nicht bereit ist, die Verdrängung aufzuheben, von sich aus die Barrieren zu überwinden und das aktive Wiedererleben zu beginnen — und dann werden natürlich bereits die ersten Schritte mißlingen. Meist jedoch gelingen die erste Rückführung und das Wiedererleben eines ersten Geschehens überraschend leicht, insbesondere dann, wenn ein aktueller Anlaß vorliegt, das heißt, wenn die Person erst kürzlich eine traumatische Situation erlebt hat, von deren Nachwirkungen sie sich befreien möchte. In diesem Fall bittet die Begleiterin die Person, mit Hilfe ihrer kognitiven Erinnerungen von diesem Geschehen zu berichten, und zwar in der Gegenwartsform (als ob es gerade passierte). Den ersten Bericht kann die Person zur besseren Einstimmung ziemlich weit im Vorfeld des Geschehens beginnen, und sie kann auch noch ihre Erlebnisse nach dem eigentlichen Trauma beschreiben. Bei den folgenden Wiederholungen kann die Begleiterin die Person gleich in die Nähe des traumatischen Kerns führen und unmittelbar danach den Bericht abbrechen lassen. Dabei sollte sie von Anfang an auf Zeichen besonderer Erregung, aber auch auf Vermeidungen achten. (Nicht an der Angst vorbei, sondern durch die Angst hindurch geht der Weg!)

 

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Exkurs über die Angst:

Wohl bei jedem traumatischen Geschehen ist Angst (neben den Gefühlen seelischer Verletzungen) die wichtigste und stärkste Emotion: Angst als unmittelbare Reaktion auf das (erkennbar bevorstehende oder bereits ablaufende) Geschehen. Diese Angst ist ein wesentlicher Bestandteil des Traumas; sie ist es, die in den Alpträumen über das Trauma das Schrecklichste ist und Schweißausbrüche und Herzjagen erzeugt. Sie ist der Hauptgrund für die Verdrängung des Traumas, und sie ist dessen eigentlicher emotionaler Kern. Daher muß vor allem sie wiedererlebt werden, und die Begleiterin muß diese Angst sogar »anheizen«. Hier darf die Begleiterin nicht trösten, darf keine Hoffnung oder Zuversicht verbreiten, nicht bagatellisieren. Diese »Primärangst« ist wesenhaft Angst vor Schmerzen und physischen wie psychischen Verletzungen, letztlich vor Beeinträchtigung, Beschädigung oder gar Verlust des Lebens. Um diese Angst nicht zu spüren, kratzt und schlägt sich die Person oder reißt sich die Haare aus. Ihretwegen wendet sie den Blick ab oder hält sich die Ohren zu und tut alles, was ihr dabei helfen kann, die Angst nicht wahrzunehmen. Solche Vermeidungshandlungen muß die Begleiterin unterbrechen. In ihnen äußert sich »die Angst vor der Angst«, die »Sekundärangst«. Aber gerade diese Angst gilt es zu überwinden, wenn das Trauma überwunden werden soll. Hier darf und soll die Begleiterin Mut machen und Hilfe bieten: »Hab keine Angst vor der Angst! Schau dir an, was dir angst macht! Hör, was dir angst macht! Spür die Angst! Du bist stärker als die Angst, du kannst sie besiegen! Dazu bin ich bei dir!«

Es werden nun weitere »Durchgänge« durch das traumatische Geschehen gemacht. Dabei treten im allgemeinen plötzlich und blitzlichtartig kurze Phasen des Wiedererlebens auf: die Person fühlt sich schlagartig in die geschilderte Situation hineinversetzt und glaubt das Geschehen gerade wirklich zu erleben. Damit ist ein wichtiger Durchbruch erzielt. In der Folge werden die Phasen des Wiedererlebens länger, intensiver und detailreicher, bis die Person schließlich das ganze Geschehen intensiv wiedererlebt. Die Durchgänge werden so lange wiederholt, bis das Protokoll des Geschehens gelöscht ist, was sich darin zeigt, daß die Person nicht mehr in der Lage ist, irgend etwas davon wiederzuerleben. Gelingt dies nicht, bevor die verfügbare Sitzungszeit abgelaufen ist, dann werden die Wiederholungen nach dem Ende eines Durchgangs abgebrochen und in der nächsten Sitzung fortgeführt. 

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Die Begleiterin fordert die Person auf, wieder in die Gegenwart zu kommen. Es ist nützlich, die Person dann noch kurz über ihre Erlebnisse sprechen zu lassen, evtl. auch darüber, was sie am Verhalten der Begleiterin als förderlich oder hinderlich empfunden hat. Die Begleiterin kann sich nötigenfalls wichtige Einzelheiten des Geschehens näher erklären lassen, sie hüte sich aber, die Erlebnisse der Person zu interpretieren oder auch nur zu kommentieren. Überhaupt sollte die Begleiterin während der Sitzung im allgemeinen nicht mehr sprechen, als zur Lenkung des Wiedererlebens (»Geh noch mal an den Anfang zurück und erleb alles noch einmal!«), zur Unterstützung der Person und zur Überwindung ihrer Vermeidungen (siehe oben) nötig ist. Eine »kognitive und emotionale Aufarbeitung, Bewältigung und Integration« des Erlebten nach der Sitzung im Beisein der Begleiterin ist überflüssig; dies leistet die Person (bewußt oder meist unbewußt) ganz allein, so wie eine lange schwärende Wunde von selbst heilt, sobald der darin verborgene Splitter entfernt wurde. Es gibt nicht nur Selbstheilungskräfte des Körpers, sondern auch solche der Seele und des Geistes, und diese bringen ganz allein wieder Ordnung in die oft chaotische Hinterlassenschaft des Traumas. Zudem: Die Person weiß stets viel besser, was ihr fehlt, was ihr guttut und was richtig ist, als selbst die gescheiteste Begleiterin.

Gibt es in der jüngeren Vergangenheit der Person kein traumatisches (oder auch nur sehr unangenehmes) Geschehen, so kann man bei den ersten Rückführungsversuchen auch auf einen älteren Vorgang zurückgreifen, an den sich die Person noch einigermaßen erinnern kann, insbesondere auf eine Situation aus der frühen Kindheit. Nicht selten springt die Person dann während des Wiedererlebens dieses Geschehens spontan in ein noch früheres, ihr meist unbekanntes Ereignis etwa aus der Säuglingszeit oder davor (sie »fällt zurück«, wie wir dazu kurz sagen). Dann hat die Person bereits selbst die Regie übernommen, und selbstverständlich sollte die Begleiterin darauf eingehen und nicht etwa darauf bestehen, daß erst das Ausgangsgeschehen zu Ende bearbeitet wird. (Auch hier hat die Person immer recht!)

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Ein anderer, quasi-aktueller Anlaß für den Beginn einer Therapie ist das Auftreten akuter heftiger Störungen (oft schon im Jugendalter) nach schon länger bestehenden leichteren chronischen Beschwerden. Meist gehören dazu auch Alpträume ständig gleichen Inhalts. Durch Anknüpfen an diese Alpträume ist die Rückführung zu dem ursächlichen Erlebnis recht einfach. Selbst wenn keine Alpträume auftreten, klagt die Person im allgemeinen über unangenehme, meist diffuse Gefühle, die sie quälen (sie sagt zum Beispiel: »Ich habe Angst und weiß nicht, wovor« oder: »Ich habe so ein Durcheinander im Kopf; ich bin so verwirrt; ich mache oft so komische Sachen, über die ich mich nachträglich wundere ...«). 

Dies sind wichtige Signale, auf die die Begleiterin sofort eingehen sollte: »Leg dich hin ... sprich jetzt nicht viel darüber ... fühl die Angst/Verwirrung ... geh in die Situation hinein, in der du dich so merkwürdig verhalten hast ... spür, was dabei in dir vorgeht... laß dich ganz in die Angst/Verwirrung usw. hineinfallen ...« — Sehr häufig fällt die Person dann ganz schnell zurück in die traumatische Situation, aus der das Gefühl bzw. Verhalten stammt. Eine weitere Möglichkeit der Einleitung des Wiedererlebens besteht darin, die Person (entweder gleich anfangs oder später, wenn die anderen Versuche nicht möglich oder fehlgeschlagen sind) zu einem sehr frühen Geschehen »zurückzuschicken«, etwa zu ihrer Geburt oder in die pränatale Phase. Empfehlenswert ist dabei die Wahl relativ vager oder mehrdeutiger Aussagen wie »du treibst in der Zeit ganz weit zurück ... zurück zu einem Geschehen, das für dich wichtig ist« oder »du treibst ganz weit zurück, ganz an den Anfang deines Lebens« oder »du treibst ganz weit zurück, so weit wie du heute zurückgelangen kannst«.

Da die Person bei der Einleitung des Wiedererlebens nicht durch Hypnose in Trance versetzt und ihr dann suggeriert wird, sie befinde sich in einem bestimmten Lebensalter oder in einer bestimmten Situation, bleiben ihre Freiheit und Selbstbestimmung unangetastet. Dies hat zur Folge, daß die Einleitung mißlingen kann. Sollte sich auch nach mehreren Sitzungen noch gar kein Fortschritt eingestellt haben, dann kann dies an den eingangs erwähnten Blockierungen, an mangelndem Vertrauen oder einer persönlichen Antipathie liegen. Nach meinem heutigen Wissen ist es dann zweckmäßig, die Person zu bitten, es mit einer anderen Begleiterin zu versuchen oder zu einer späteren Zeit (ein bis zwei Jahre) nochmals zu kommen.

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Wichtige Voraussetzungen für das Gelingen der Rückführung sind ausgeprägtes Vertrauen der Person zur Begleiterin und der Mut, sich auf eine Reise ins Ungewisse einzulassen. Wichtigste und unersetzliche Grundlage des Vertrauens der Person zur Begleiterin ist deren eigene Furchtlosigkeit. Wenn die Begleiterin ihre eigenen Sekundärängste noch nicht bewältigt hat, kann sie der Person nicht bei der Überwindung ihrer Angst beistehen. Mehr noch: Die Person wird dies sehr genau spüren, die Begleiterin einerseits mit ihren schrecklichen Erlebnissen verschonen wollen — und ihr andererseits nicht mehr vertrauen. (Schon aus diesem Grund — Bewältigung der eigenen Sekundärängste — sollte die Begleiterin sich selbst einer Wiedererlebenstherapie unterzogen haben.)

Nach meinen Erfahrungen sind umfangreiche, mehr oder weniger ritualisierte Vorbereitungen zum Erlernen des aktiven Wiedererlebens nicht nötig. Auch Entspannungsübungen sind allenfalls dazu nützlich, daß die Person etwas Abstand zu ihren Alltagssorgen und -gedanken findet und zu sich selbst kommt. Die bequeme Haltung (im Sitzen oder bevorzugt im Liegen) und das Schließen der Augen sind nötig, damit die Person sich auf ihre Gefühle konzentrieren und diese intensiv wahrnehmen kann, worin sie von der Begleiterin bestärkt wird (»Spür genau, was in dir vorgeht; halt inne und spür die Traurigkeit, die Kränkung, die Angst...«). Schwer traumatisierte Personen können sich überhaupt nicht entspannen. Manche geraten bereits in Angst, wenn man sie, während sie mit geschlossen Augen daliegen oder -sitzen, auffordert, den Mund ein wenig zu öffnen oder in den Bauch zu atmen. Dann ist das sanfte, aber bestimmte Bestehen darauf, verbunden mit der Anweisung, die dabei auftretenden Gefühle zu beachten, zuzulassen und sogar zu verstärken, möglicherweise ein sehr guter Zugang zum aktiven Wiedererleben eines angsterregenden Ereignisses.

Ganz wichtig ist es, die Person anfangs schon von Leistungsdruck und Versagensängsten zu entlasten. Andererseits können starke Versagensängste auch zum Einstieg benutzt werden: »Spür deine Angst, zu versagen, etwas nicht richtig zu machen, bestraft zu werden ... geh dahin zurück, woher diese Gefühle stammen ...« — wie überhaupt jedes starke Gefühl zum Einstieg benutzt werden kann. Eine gute Begleiterin arbeitet immer mit dem, was sich gerade anbietet.

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Die Hauptaufgabe der Begleiterin (und nach der Einleitung eigentlich ihre einzige) ist es, die Person auf ihrem oft qualvollen Weg zu begleiten und sie zu bestärken, sich den Schrecknissen zu stellen, die sie erwarten. Bei allem Mitgefühl (nicht Mitleid!) aber darf die Begleiterin die Person nicht schonen, denn sie kann nur geheilt werden, wenn sie den früheren Schmerz und das frühere Leid in vollem Ausmaß wiedererlebt. Ein Protokoll löst sich nicht auf, bevor alle schmerzlichen Einzelheiten des Traumas aufgedeckt und hinreichend oft wiedererlebt wurden. 

Das Einleiten des aktiven Wiedererlebens ist buchstäblich kinderleicht (siehe dazu ALDOUS HUXLEY, a.a.O.), wenn es kurz (d. h. unmittelbar bis einige Tage) nach einer Traumatisierung erfolgt (»psychologische Erste Hilfe«). Bei Erwachsenen und bei Kindern, die schon sprechen können, braucht man diese das Erlebnis nur einige Male »erzählen« zu lassen, wobei dann ein kontinuierlicher Übergang zum Wiedererleben stattfindet. Aber selbst zur Behandlung von Kleinkindern und Säuglingen gibt es einfache Methoden (z. B. sanfte Berührung an den traumatisierten Stellen des Körpers bei gleichzeitig bergendem und beschützendem Im-Arm-halten und ermutigendem Zuspruch), um sie etwa eine traumatische Geburt oder die nicht seltenen seelischen und körperlichen Mißhandlungen danach (von denen einige geradezu Bestandteil der Klinikroutine sind) wiedererleben zu lassen und dadurch spätere Störungen an der Wurzel zu unterbinden (siehe dazu auch S. 131 f.). 

Unser derzeit (April 1996) jüngster Patient war ein elf Tage alter Säugling, der mit Hilfe einer Hebamme nach fünf Wiederholungen das Trauma seiner sehr schweren Geburt und die dadurch verursachten, schon erheblich ausgeprägten Störungen (Unruhe, Schreien, Nahrungsverweigerung u. a.) überwunden hat. Ich halte jedoch selbst eine noch frühere Bearbeitung und Überwindung prä- und perinataler Traumatisierungen für möglich und angebracht. Grundsätzlich gilt wohl auch für Säuglinge die allgemeine Regel, daß ein Trauma so früh wie möglich aufgelöst werden sollte, nämlich bevor sich auf Grund der Speicherung im Erlebnisgedächtnis und des dadurch ausgelösten passiven Wiedererlebens Folgestörungen entwickeln und ausbreiten können (Näheres dazu im 2. Teil). Sicherlich könnten dadurch nicht nur akute Störungen, sondern auch späteres schweres Leid verhindert werden, wenn Hebammen, Säuglingsschwestern oder beherzte Mütter von dieser Möglichkeit wüßten.

Auf die Systematik der Langzeittherapie eines komplexen Falles (s. Fallbeispiel 20) kann hier nur andeutungsweise eingegangen werden: Die Reihenfolge der zu bearbeitenden Traumata bestimmt im allgemeinen die Person (unbewußt) selbst. Generell gilt, daß die begonnene Arbeit an einem Trauma beendet werden soll, bevor ein anderes in Angriff genommen wird. Eine Ausnahme wird gemacht, wenn die Person während der Arbeit an einem Trauma spontan in ein früheres Trauma »zurückfällt«. (Dies ist ein Merkmal der Selbstbestimmung.) 

Das frühere Trauma, das mit dem späteren stets thematisch verwandt ist, wird in einem Exkurs vorrangig behandelt. Oft sind mehrere ähnliche Traumata kettenartig verknüpft und treten kurz nacheinander hervor. Eine solche Kette wird in der chronologischen Reihenfolge ihrer Glieder bearbeitet. Wenn die Person nach Ende der Arbeit an einem Trauma ausnahmsweise nicht spontan zu einem anderen gelangt, dann fordert die Begleiterin sie auf, ein möglichst frühes Trauma aufzusuchen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei die Geburt (falls sie nicht schon bearbeitet wurde) und die pränatale Zeit, da hier häufig grundlegende Traumatisierungen zu finden sind.

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