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Teil 1    Der natürliche Regelkreis  

 

Gruhl-1975

 

   Die Natur   

31-46

Wodurch entstand das Leben auf unserem Planeten? Durch Energieumwandlung. Alle Energie wird zunächst von der Sonne geliefert. Diese war und bleibt die Grund­voraussetzung des Lebens auf dieser Erde. Die Erde umkreist die Sonne in einem Abstand, der ausreicht, genügend Energie zu empfangen, der aber wiederum die Strahlung nicht so groß werden läßt, daß alles versengt würde. Nach dem Stande unserer Erkenntnis wird die Sonnen­energie mit heutiger Intensität mindestens noch elf Mrd. Jahre zur Verfügung stehen.1 Für unser Vorstellungsvermögen ist das eine endlose Zeit.

Eine ebenso unvorstellbar lange Zeit der Entwicklung liegt hinter uns. Zunächst war unser Planet von abiotischen, d.h. völlig leblosen Wüsten, wie wir sie heute noch auf dem Mond finden, und von Wasserflächen bedeckt. »Über eine lange Evolutions­kette bildeten sich in klimatisch günstigen Gebieten geschlossene Pflanzen­decken und schließlich Wälder, die eine gewisse Speicher­kapazität besitzen. Gleichzeitig stellte sich ein Gleichgewichtszustand beim Sauerstoff- und Kohlen­dioxyd­umsatz zwischen der Luft und den Organismen ein.«2

Die Sonne setzte auf der Erde verschiedene Kreislaufprozesse in Gang. Diese entstanden ineinander­greifend und dürfen eigentlich nicht isoliert betrachtet werden; denn nur ihr Zusammen­wirken führte zu dem Ergebnis, das wir in der Natur vor uns haben. Der sichtbarste dieser Kreisläufe ist der des Wassers. Wasser bedeckt die Erdoberfläche zu über 70 Prozent. Täglich werden durch die Sonnenenergie fast 1000 Kubikkilometer verdunstet, wovon der größere Teil als Regen wieder ins Meer fällt. Der kleinere Teil der Niederschläge verteilt sich über das Land, füllt Seen und Grundwasserbestände; der Überfluß strömt ins Meer zurück. Aus den Meeren entwickelte sich auch der Kreislauf des Sauerstoffes.

Nach neuesten Forschungen begann die Photosynthese in den Blaualgenriffen bereits vor 3,7 Mrd. Jahren.3 Die Sauer­stoff­atmosphäre hat sich vor 2 Mrd. Jahren herausgebildet. Die grünen Pflanzen im Meer und auf dem Festland verwandeln Wasser und Kohlendioxyd im Prozeß der Photosynthese zu Kohle­hydraten und produzieren Sauerstoff. Inzwischen hat sich ein Gleich­gewichts­zustand von rund 20 Prozent Sauerstoff in der Luft eingestellt; 0,0053 Prozent befinden sich im 10 Grad warmen Wasser, was für die Lebensvorgänge dort ausreicht.

In den letzten 700 Mill. Jahren wurden höhere Lebensformen in all ihrer Vielfalt möglich, nachdem die Sauerstoff­atmung die Gärungsatmung abgelöst hatte.

»Der in der Luft vorhandene Sauerstoff wird von den tierischen Lebewesen eingeatmet und gelangt - als Häminkomplex an die roten Blutkörperchen gebunden - zu den Stellen des Körpers, wo das chemische Potential des Sauerstoffs und der ebenfalls im Blut vorhandenen Nährstoffe in die vom Lebewesen benötigten Energieformen verwandelt wird. Als ein Stoffwechselprodukt entsteht Kohlendioxyd, das beim Ausatmen an die Atmosphäre abgegeben wird. In den mit Chlorophyll belegten Chloroplasten der grünen Pflanzenzellen werden unter Aufnahme von Sonnen­energie aus dem Kohlendioxyd und Wasser ...« (4)   

Damit ist auch schon der Kreislauf des Kohlendioxyds beschrieben. Es gibt weitere Kreisläufe: des Kohlenstoffs, des Stickstoffs, des Phosphors, des Schwefels u.a., die sich jeweils wieder überschneiden.

Die Pflanzen sind die »Primärproduzenten«; nur sie können aus anorganischen Stoffen organische Produkte hervorbringen. Von ihnen wird die Sonnenenergie biologisch genutzt; 0,04 % davon genügen, um innerhalb von 50 Jahren 20 Billionen Tonnen organischen Materials(5) zu erzeugen.

Die nächste Stufe der lebendigen Welt wird von den pflanzenfressenden Tieren gebildet. Von diesen Pflanzenfressern und direkt von Pflanzen nähren sich wiederum andere Tierarten (auch der Mensch); einige Fleischfresser höherer Ordnung nähren sich ausschließlich vom Fleisch. Die fleischfressenden Tiere verhindern eine übermäßige Vermehrung der Pflanzenfresser. »So kreist die einmal durch die Pflanzen aufgenommene Lichtenergie in Form von organischer Materie weiter durch das gesamte Ökosystem. Am Schluß stehen die Endverbraucher, die tote Pflanzen und Tiere für ihre Ernährung nutzen und sie dabei wieder in die ursprünglichen Bestandteile — Wasser, Kohlendioxyd und Mineralsalze — zerlegen. In diesen sehr komplizierten Kreislauf­prozeß ist letztlich auch der Mensch eingeordnet.«6

In diesem Kreislauf herrscht eine in sich geschlossene Ordnung, in der alle Fäkalien, die abgestorbenen Pflanzen und die Tierleichen von Bakterien und Pilzen in die Ausgangsstoffe zerlegt werden. Nichts Verwesendes bleibt sich selbst überlassen. Für alles gibt es Organismen, die es verwerten, oder chemisch ausgedrückt: Im natürlichen Kreislauf gibt es für jedes organische Molekül auch ein Enzym, das imstande ist, es zu zerlegen. So kommt es zu selbstreinigenden Umsetzungen in der belebten Erdschicht, wie in den Gewässern.

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Nur weil — und solange — das Kreislaufprinzip restlos aufgeht, ist die Dauerhaftigkeit aller Lebensvorgänge auf dem Planeten gewährleistet. Der Ökologe Karl Heinz Kreeb entwarf in seinem 1973 veröffentlichten Aufsatz <Ökosystem> die folgende bildliche Darstellung der Kreisläufe.7)

 

     

1 Sonneneinstrahlung
2 grüne Pflanzen 
3 Pflanzenfresser 
4 Allesfresser 
5 Fleischfresser 1. Ordnung 
6 Fleischfresser höherer Ordnung 
7 organische Abfälle 
8 belebter Boden mit Abfällen 
9 Mikroorganismen 
10 mineralische Nährstoffaufnahme -
11 pflanzliche Nahrungsstoffe
12 tierische Nahrungsstoffe
13 CO2-Kreislauf
14 O2-Kreislauf
15 diffuse Energieabstrahlung 

Quelle: Kreeb, Ökosystem, 751.

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Eine ebenso einfache, aber stärker schematisierte Darstellung gibt der Schweizer Professor für Ökologie und Evolution, Pierre Tschumi:

 

  

Grundschema eines Ökosystems  Quelle: Tschumi, 1. St. Galler Symposium, 20.

Das einfallende Sonnenlicht, die einzige vorerst unbegrenzte Energiequelle, löst folgende 3 ineinandergreifende gleichzeitige Abläufe aus:

1. Es befähigt die Grünpflanzen, die Produzenten in unserem Ökosystem, anorganische energiearme Stoffe auf- und umzubauen zu organischen energiereichen Verbindungen. Von diesen leben direkt (linker Strang) und/oder indirekt (mittlerer Strang) alle übrigen Organismen. Unmittelbar dienen die Pflanzen nämlich den Pflanzenfressern (Herbivoren), den Konsumenten 1. Ordnung, als Nahrung. Von diesen wiederum ernähren sich die Fleischfresser (Karnivoren), die Konsumenten 2. Ordnung, darunter der Mensch.

2.  Sämtliche Abfälle und Rückstände im Ökosystem (Kot, Müll, Kadaver, Leichen usw.) werden von den sog. Zerlegern abgebaut — Bakterien, Pilzen und zahlreichen anderen Kleinlebewesen, die etwa im Humus des Bodens leben und sich von den organischen Verbindungen nähren, welche die Grünpflanzen <erzeugen>. Die dabei anfallenden Mineralsalze sowie das Kohlendioxyd (CO2), das auf allen Organisationsebenen durch Atmung entsteht und freigesetzt wird (recht. Strang), werden gegenläufig von den Grünpflanzen mittels Lichtenergie wieder aufbereitet und in den Kreislauf zurückgeführt.

3.  Dergestalt sind alle Vorgänge eines Ökosystems kreisförmig angelegt - nur die Sonnenenergie wird im Stoffwechsel der Organismen endgültig degradiert und geht dem irdischen Ökosystem als Abwärme (AW) unwiderruflich verloren. Die sonst gewährleistete Konstanz der Materialbestände sowie das zwischen Grenzwerten unerheblich schwankende Mengenverhältnis unter den verschiedenen sog. trophischen Ebenen der (im Schema) gewissermaßen auf der Spitze stehenden Öko-Pyramide ermöglichen prinzipiell ein unbegrenztes Fortbestehen der Kreisläufe, vorausgesetzt die Energiezufuhr bleibt ausreichend gesichert.

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Aus der Masse der absterbenden und verrottenden Pflanzen konnte sich je nach Gunst der Erdkruste und des Klimas in Jahr­millionen eine mehr oder weniger starke Humusschicht auf der Erde bilden. (In einem Kubikzentimeter Humus leben etwa 5 Mill. Kleinstlebewesen!) »Der Boden, auf dem wir stehen, den wir bebauen oder den Wälder, Wiesen und Siedlungen bedecken, ist ein Friedhof des Gewesenen und zugleich die Wiege künftigen Lebens. Mit jedem Atemzug und jedem Bissen Brot verleiben wir uns ein, was vor uns unzählbaren Organismen ihr Dasein ermöglichte.«7 Soweit der Ökologe Gerhard Helmut Schwabe, der in seinem Buch ein komplizierteres Modell des Ökosystems von H. Ellenberg wiedergibt, (s. nächste Seite)

Für jede noch so extreme Bodenbeschaffenheit, Witterung, Höhenlage, Sonnenbestrahlung entwickelten sich Arten, die für die Inbesitznahme gerade dieses Gebietes geeignet waren.8 Das reichhaltigste Leben entsteht dort, wo eine Vielfalt von Arten zusammenwirkt. Jede Art versucht, einen möglichst großen Anteil des Lebensraums für sich zu erobern, stößt aber auf natürliche Grenzen und auf die anderen Arten. Die Nahrung reicht dann nicht mehr aus. Oft hat eine Lebensform die Aufgabe, einer anderen den Weg zu bahnen. So bilden sich ökologische Gleichgewichtszustände heraus, die um so beständiger bleiben, je mehr Arten dabei vertreten sind. Ein Musterbeispiel solcher Vielfalt ist der tropische Regenwald.

In Hunderten von Millionen Jahren ist die Mannigfaltigkeit des Lebens ständig gewachsen, wenn einzelne Arten auch unter­gegangen sind. »Global herrscht im gesamten belebten Raum, der sogenannten Ökosphäre, eine allgemeine Entwicklungstendenz: Die Vielfalt der Arten nimmt zu, und damit steigt die Stabilität des Systems.«9

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Quelle: Schwabe, 43.

 

 

Heute ist das wichtigste Merkmal der Ökosphäre ihr hoher Organisationsgrad. Sie setzt sich aus zahllosen ökologischen Unter­systemen zusammen, die selbst wieder Eigenorganisation aufweisen und in noch kleinere Systeme gegliedert sind. Jedes dieser Untersysteme umfaßt Populationen verschiedener Art, die in enger Wechselbeziehung zueinander und zu ihrer abiotischen (leblosen) Umwelt stehen.10 So ist in der Ökosphäre im Laufe der Evolution der Organisationsgrad ständig langsam gestiegen. Für den Aufbau lebender Materie in der Ökosphäre ist eine ständige Energiezufuhr erforderlich, weil die komplizierten organischen Verbindungen hochenergetisch sind und nur durch den Energieumsatz der Lebensvorgänge aufrechterhalten werden können.

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Der Schweizer Physiker und Chemiker Werner Kühn schätzte 1963 die von allen Lebewesen der Biosphäre jährlich erzeugte Energie auf 100.000-200.000 Billionen Kilokalorien (Kk). In diesem Biosystem stehen Materieumsatz und Energieumwandlung im Einklang mit der Sonneneinstrahlung, von der ein Teil als Wärme wieder diffus in den Weltraum abgestrahlt wird. »Der Energieumsatz läuft insgesamt gesehen so, daß sich die mittleren Temperaturen auf der Erde, langfristig berechnet, nicht ändern.11

Die Natur arbeitet unwahrscheinlich ökonomisch; mit geringstem Aufwand erreicht sie ein hohes Maß an Effektivität. Sie benötigt wenig Energie und wenig Materie. Dieser Sparsamkeit bei den Umwandlungs­vorgängen verdankt sie ihre außerordentliche Dauer­haftigkeit. Die Natur läßt sich bei allen Vorgängen riesig viel Zeit. Wenn ihre Grundprinzipien auch höchst einfach sind, so ist sie andererseits doch so vielfältig und verwirrend organisiert, daß bis vor kurzem von der Wissenschaft immer nur Teilaspekte erfaßt wurden — ganz selten der große Zusammenhang. 

Man hielt das störungsfreie Arbeiten der Natur für so selbstverständlich, daß man es nicht für nötig erachtete, sich damit überhaupt zu befassen. Während man sehr früh einzelne Arten und Aspekte bis in alle Feinheiten erforschte, hat man das großartige Zusammenwirken alles dessen, was lebendig ist, erst in den letzten Jahren näher untersucht. Erst unter dem Schock erster Störungen des Gleichgewichts der Natur begannen mehr Menschen, sich mit der Natur als Ganzem zu befassen. Erst jetzt spricht man in der Öffentlichkeit allenthalben von »Ökologie«, obwohl Ernst Haeckel diesen Begriff schon 1866 verwandt hatte. Ökologie ist die »Haushaltlehre von der Natur« oder die »Ökonomie der gesamten Natur«.12

Die Entwicklung der Natur zu immer neuen, differenzierteren und höheren Lebensformen ist nur möglich, weil sie ein gnadenloses Ausleseprinzip anwendet. Nur die jeweils kräftigsten und der Umgebung angepaßten Organismen überlebten, wie wir seit Charles Darwin wissen. Die Zweigeschlechtigkeit der Lebewesen ermöglichte eine solche Vielzahl von Kombinationen der Erbsubstanzen, daß nur die geeignetsten »Treffer« aus diesen Kreuzungen jeweils zu überleben brauchten. Die Natur arbeitet nach dem Prinzip: Das Individuum ist unwichtig, die Art wird erhalten und entwickelt. »Trotz ständigem individuellen Werden und Vergehen bleibt das Ganze potenziell, d.h. ohne äußere Eingriffe, als übergeordnete strukturelle und funktionelle Einheit erhalten.«13

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Mutationen der Erbanlagen führen dazu, daß die Art sich ihrer Umwelt immer besser anpaßt. Aber auch die geeignetsten Arten verfallen dem Tode, wenn ihnen durch äußere Umstände die Lebensbedingungen entzogen werden — oder wenn sie sich so übermäßig vermehren, daß sie ihre eigene Lebensbasis aufzehren. Keine Art behält für längere Zeit allein die Oberhand.

Der Tod sorgt für das Gleichgewicht. Er muß dafür sorgen, da in allen Lebewesen ein unbewußter Wille zum Leben und zur Vermehrung mächtig ist. Dieser Trieb ist so rücksichtslos und so radikal, daß nur ein ebenso mächtiges Prinzip das Gleichgewicht in der Natur aufrecht­zuerhalten vermag. Darum gehören Leben und Tod untrennbar zueinander.

 

    

   Der Mensch in der Natur   

 

Der Mensch ist von keinem Naturgesetz ausgenommen. Für ihn gelten die gleichen Abhängigkeiten wie für höhere Tiere. Er hat den gleichen Stoffwechsel. Wie sie braucht er Luft zum Atmen, Wasser zum Trinken, Nahrung zur Erhaltung der Körperenergie. Gegenüber diesen Primär­bedürfnissen ist alles andere zweitrangig. Der Mensch ist den »ökologischen Gesetz­mäßigkeiten unterworfen, die sich, wenn er nicht über vernünftige Planung von selbst zu einem Ausgleich mit sich und der Umwelt kommen sollte, aufgrund biologisch-ökologischer Regulationsmechanismen unbarmherzig gegen ihn richten würden«.14

Wie vielfach dargestellt, ist der Mensch für den Kampf ums Dasein besonders schlecht ausgestattet. Diesen Nachteil mußte er durch geistige Kräfte kompensieren und er erreichte dies auch. In den letzten fünf Millionen Jahren der Erdgeschichte sammelte und erjagte sich der Mensch seine Nahrung die längste Zeit wie die anderen Raubtiere auch. Er wagte sich allerdings an immer größere Tiere heran, die er nur mit Klugheit und bei Zusammenarbeit in der Horde erlegen konnte. Trotzdem blieb die Über­legenheit des Menschen auch die letzten Hunderttausende von Jahren in engen Grenzen. Er stellte sich zwar Handwaffen und schützende Behausungen her und nahm schließlich einige Tiere in seinen Dienst. Dies hob ihn aber nur sehr langsam aus der Gemeinschaft der übrigen Lebewesen heraus, somit störte er das natürliche Gleichgewicht noch nicht.

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Es bildete sich im Gegenteil eine enge Gemeinschaft des Menschen mit dem Tierreich heraus.15 Das Tier war der mächtige Partner des Altsteinzeitmenschen.

»Der Wilde behandelt alles in seiner Umgebung, Tier, Baum, Fluß usw., als ob es mit Bewußtsein begabt wäre. Zwar dient ihm der Bock als Nahrung, doch betrachtet er das lebende Tier nicht ausschließlich in seiner Funktion als Nahrungsmittel. Die Umgebung des Wilden wimmelt von beseelten Wesenheiten.«16  

Es hat Völker und Stämme gegeben, die in völliger Harmonie mit der Natur lebten. Meist sind uns darüber keine Selbstzeugnisse erhalten, da diese Menschen zur mündlichen und schriftlichen Wiedergabe ihrer Gedanken nicht imstande waren. Ein eindrucksvolles Zeugnis vermittelte uns Henry A. Smith, der die Rede des Indianerhäuptlings Seattle beim Abschluß eines Vertrages mit dem Gouverneur Isaac Stevens wiedergibt: 

»Es gab eine Zeit, da unser Volk das ganze Land bedeckte, wie die Wellen der winddurchwühlten See seinen muschelgepflasterten Boden bedecken, aber diese Zeit ist lange vorbei, die Größe der Stämme ist heute fast vergessen. Ich will nicht bei unserem frühzeitigen Niedergang verweilen, nicht klagen oder meinen bleichgesichtigen Brüdern vorwerfen, daß sie diesen Niedergang beschleunigt haben, weil auch wir vielleicht Verantwortung tragen ... Wir sind zwei verschiedene Rassen und müssen es immer bleiben, uns trennt der Ursprung und uns trennt das Schicksal. Wir haben wenig gemeinsam. 

Uns ist die Asche unserer Ahnen heilig, und ihre letzte Ruhestätte ist geweihter Boden, während ihr fern von den Gräbern eurer Ahnen weilt und es nicht zu bedauern scheint ... Unsere Toten vergessen niemals diese schöne Welt, die sie erhielt. Sie lieben noch immer die sich windenden Flüsse, die hohen Berge und die einsamen Täler ... Jeder Teil dieses Landes ist meinem Volke heilig. Jeder Hügel, jedes Tal, jede Ebene und jedes Gehölz ist durch eine liebe Erinnerung oder eine traurige Erfahrung meines Stammes geweiht. 

Selbst die Felsen, die dumpf in der sengenden Sonne am schweigenden Strand in einsamer Größe zu liegen scheinen, sind erfüllt mit Erinnerungen an vergangene Ereignisse, die mit dem Leben meines Volkes verbunden sind ..... Selbst der Staub unter euren Füßen erwidert unsere Schritte liebevoller als eure, weil es die Asche unserer Ahnen ist, und unsere bloßen Füße sind sich der teilnehmenden Berührung bewußt, denn der Boden ist angefüllt mit dem Leben unserer Rasse.«17  

Dieser gebildete Indianer stellte auch noch folgende Betrachtung an: »Eure Religion schrieb ein zorniger Gott mit Eisenfingern auf Steintafeln ... Unsere Religion ist die Tradition unserer Ahnen — die Träume unserer Alten, die ihnen der Große Geist in den feierlichen Stunden der Nacht gab ... Und sie ist in die Herzen unseres Volkes eingeschrieben.«18

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Aber auch die Navajo-Indianer in dem geographisch völlig anders beschaffenen Südwesten der Vereinigten Staaten erklärten noch vor einigen Jahrzehnten in einer Eingabe an die Regierung: »... bevor wir geboren wurden, schlossen die weißen Männer und unser Volk einen Vertrag. In dem Vertrag stand, daß dieses Gebirge immer uns gehören sollte, so daß wir mit ihm leben könnten. Dieses Recht wurde uns verliehen, auf daß alle Navajos im Einklang mit der Bergerde leben könnten und im Einklang mit dem Blütenstaub aller Pflanzen. Alle Navajos leben im Einklang mit ihnen.«19

»Wohl bei kaum einer anderen Völkergruppe war der Zusammenklang von primitivem Jägertum, einfacher Lebensweise und starker Verbundenheit mit der Natur erfolgreicher als bei den Indianern«, stellt H. Wendt dazu fest.20 Das mitfühlende Welt­verständnis wurde aber auch von der buddhistischen und taoistischen Kultur entwickelt.21

 

Die nächste Wirtschaftsstufe des Menschen besteht in der Bebauung des Bodens zum Zwecke der Ernte. Sie verrät schon einen neuen Zeitbegriff. Die Arbeit wurde vorausschauend für ein ganzes Jahr verrichtet; sie war das Ergebnis langfristiger Überlegungen. Wir weigern uns zu Recht, die Tätigkeit der Tiere »Arbeit« zu nennen; es sei denn, daß der Mensch sie arbeiten läßt, indem er sie eigens für seine Zwecke »einspannt«. Der Mensch grübelte zuerst darüber, was er erreichen wollte — für dieses Ziel arbeitete er.

Mehrere hundert Millionen Jahre lang hatte nur die Natur produziert (P = N), und die wenigen Menschen hatten sich als »Sammler« aus ihrem Überfluß versorgt. Nun versuchten sie durch Züchtung und Landbearbeitung das Ergebnis der Natur zu steigern und vorauszuplanen. Dies war der Beginn der menschlichen »Wirtschaft«; von nun an wurden Resultate durch Arbeit erreicht. Das Produkt besteht nunmehr aus Natur + Arbeit (N + A):

P = N + A

So blieb es einige zehntausend Jahre. Der Landbau, verbunden mit einigen handwerklichen Fertigkeiten, bildete die Wirt­schafts­form des Menschen. Auch sie stand noch in beinahe völligem Einklang mit der Natur. »Selbst als der Mensch die Fähigkeit erlangte, in bestimmtem Maße auf seine Umwelt einzuwirken, blieben diese Einwirkungen infolge seiner geringen Zahl, seiner lokal begrenzten Verbreitung und der Schwäche seiner Techniken lange Zeit unbedeutend.

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Verglichen mit den sehr eindrucksvollen Spuren, die schon verhältnis­mäßig bescheidene Konzentrationen von Elefanten oder Nilpferden in ihren Lebensräumen zurücklassen, oder mit den weitverbreiteten und drastischen Veränderungen, die sogar Kaninchen ... in der Landschaft Groß-Britanniens verursachten, müssen die Einwirkungen des Menschen auf die Natur für viele Jahrtausende als ganz unbedeutend angesehen werden — sogar wenn man sie nur im Rahmen der Einwirkungen von Lebewesen betrachtet.«22

Erst mit dem Feuer bekam der Mensch eine zerstörende Kraft in die Hand, die sich schon bei der vorsätzlichen Anwendung zur Rodung der Wälder verheerend auswirkte. »Die Anwendung und Beherrschung des Feuers muß deshalb als der erste Fortschritt der menschlichen Technik angesehen werden, der einen groben Eingriff in die Umwelt ermöglichte.«23

Im übrigen arbeiteten die Bauern bis vor 100 Jahren noch überall auf der Erde im natürlichen Regelkreis: Ein Bauernhof erzeugte so gut wie keine Abfälle. Er arbeitete nur mit menschlicher und tierischer Energie. Diese wurde durch die auf eigenem Boden gewachsene Nahrung erzeugt, und die menschlichen wie die tierischen Abfälle wurden wieder als Stallmist und Jauche auf die Fluren gebracht. Die angebauten Pflanzenarten und die gehaltenen Tiere waren so gemischt, daß man von jedem etwas hatte. Als Baumaterial diente vorwiegend das Holz des eigenen Waldes. Durch gute Bodenbearbeitung und Züchtung wurde in Mitteleuropa schon ein beträchtlicher Überschuß an Nahrung erzielt. Dafür konnten bereits der Schmied, der Müller, der Bäcker, der Spengler, vielleicht sogar der Schneider und andere Spezial­handwerker in Anspruch genommen werden; bei schweren Krankheiten auch der Arzt. Und es blieb noch etwas für den Staat und für die Kirche übrig.

Erst vor etwa 200 Jahren brach ein Teil der Menschheit einen ebenso gigantischen wie rücksichtslosen Eroberungskrieg gegen die wehrlos gewordene Natur vom Zaun. Sie wurde plötzlich nur noch als Objekt der Ausbeutung gesehen. Nun mutet sich diese Art von Lebewesen als einzige zu, »die ganze unübersehbare Mannigfaltigkeit des Lebendigen nach eigenem Ermessen zu handhaben«.24 Der hochzivilisierte Mensch in seinem Siegesrausch fühlt sich der Natur nicht mehr zugehörig und will schließlich an seine Kreatürlichkeit ebensowenig erinnert sein wie an seinen Tod.

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     Der Mensch und der Raum     

  

Der Mensch lebte wie andere Lebewesen fast die ganze Zeit seiner bisherigen Geschichte in einem abgegrenzten natürlichen Raum und von einem solchen Raum! Diesen betrachtete er als den Besitz seiner Familie oder Sippe. Darin besteht kaum ein Unterschied zu vielen Tierarten. Denn schon einzelne Vogelpaare haben ebenso wie viele Vierbeiner einen bestimmten Raum inne, den sie als den ihren betrachten.25 Landbesitznahme ist also keine Erfindung des Menschen. Nicht nur die seßhaften Völker haben ihr Territorium. Selbst Nomaden betrachteten den jeweiligen Raum eine Zeitlang als den ihrigen. Der Unterschied zu den seßhaften Völkern bestand nur darin, daß sie weiterzogen, wenn die Natur erschöpft war oder ihnen das Gebiet nicht mehr zusagte; Raum gab es genug.

Die Nomaden waren verschiedentlich schon Umweltverderber. Es gibt einige Stämme und Völker, die nie ein stabiles Verhältnis zu ihrer Umwelt gefunden haben. Nicholson charakterisiert diese Haltung: 

»Ein großer Teil der produktiven Erdoberfläche, die sich unter der Herrschaft der Viehzüchter befindet, ist eine Zone im Zwielicht. Es ist dies kein vom Menschen planmäßig umgestaltetes Gebiet, aber es befindet sich auch nicht in seinem natürlichen Urzustand. Es ist Land, das seit Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden blind und zu seinem Nachteil von einem Menschentyp verändert wird, der sehr nahe der Natur lebt und sie doch ständig rücksichtsloser schädigt als nahezu alle anderen. Beduine oder Gaucho, Cowboy oder Hochland-Schafhirt, Rancher oder Kosak — die Internationale der Viehzüchter ist sich einig. Sie lebt nach einer Uhr, die längst abgelaufen ist. Das Opfer ist unsere Erde.«26  

Erst die seßhaften Bauern mußten größtes Interesse daran haben, ihren natürlichen Lebensraum auf Dauer zu erhalten und zu pflegen. Jede intensivere »Kultivierung« des Landes mußte die Kultivierung des Eigentums­begriffes zur Folge haben.

Rousseau irrte nie so gründlich wie mit seiner Feststellung: 

»Der erste, dem es in den Sinn kam, ein Grundstück einzuhegen und zu behaupten: dies gehört mir, und der Menschen fand, die — einfältig genug — ihm glaubten, war der eigentliche Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Mordtaten, Elend und Niederträchtigkeiten hätte der Mann dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen, den Graben eingeebnet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: <Hütet euch, diesem Betrüger zu glauben! Ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem!>« 27

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Das Gegenteil ist richtig. Eine Übereinkunft über den territorialen Besitzstand war geradezu lebens­notwendig. Was wäre denn geschehen, wenn es zu keiner Abgrenzung gekommen wäre? Dann hätten alle dorthin gedrängt, wo die besten Lebensbedingungen, die besten Früchte ohne Arbeit oder das fruchtbarste Land zur Bestellung zu finden gewesen wären. Darum hätte es Mord und Totschlag gegeben. Daß dies die schlechteste Lösung sein mußte, wußten schon die Tiere! Je seßhafter die Menschen wurden und je mehr Geräte und Baulichkeiten sie sich herstellten, um so mehr mußte ihnen daran gelegen sein, ihren Raum rechtlich anerkannt zu wissen. Wer das schlechteste Land besaß, dem mußte dies lieber sein, als überhaupt keins zu haben; er lief auch geringere Gefahr, daß es ihm jemand zu nehmen versuchte.

Die Aufteilung des Territoriums hatte den weiteren Vorteil, daß jede Gemeinschaft wußte, wieviel ihr zum Leben zur Verfügung stand und daß sie mit dem Vorhandenen auskommen, es also pfleglich behandeln mußte. Man wußte auch, daß man den Raum nicht übervölkern durfte; es sei denn, es wären noch genügend unbewohnte Lebensräume oder Bereitschaft vorhanden gewesen, sich solche mit Gewalt anzueignen. Diese konnten auch »über See« liegen; infolgedessen sind besonders die fruchtbaren Küsten­streifen am frühesten besiedelt worden: Meere verbinden.

Wie steht es nun mit der gemeinsamen Benutzung eines begrenzten Landstriches, wie es sie als gemeinsame Viehweide, »Allmende« genannt, in verschied­enen Gebieten Europas lange Zeit gegeben hat? Garett Hardin hat in seiner schon klassisch gewordenen Studie »Die Tragik der Allmende« (1968) das Problem dargestellt.28 Das System der Allmende funktioniert nur so lange, wie jeder Viehbesitzer stets die gleiche Zahl von Tieren auf die Weide schickt. Sobald ein Viehhalter — ob er nun von Adam Smith gehört hat oder nicht — sich fragt:

»Was nützt es mir, wenn ich meiner Herde ein weiteres Stück Vieh hinzufüge?«, kommt er zu folgender Überlegung:

  1. »Die positive Komponente besteht in der Funktion der Hinzufügung eines Stückes Vieh. Da der Viehhalter den ganzen Erlös vom Verkauf eines zusätzlichen Tieres erhält, beträgt der positive Nutzwert fast plus 1.

  2. Die negative Komponente besteht in der Funktion der zusätzlichen Abgrasung durch ein weiteres Stück Vieh. Da nun die Auswirkungen des Abgrasens alle Viehhalter betreffen, beträgt der negative Nutzwert für den einzelnen Viehhalter nur einen Bruchteil von minus 1.

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Wenn er seine anteiligen Nutzwerte addiert, wird der rational denkende Viehhalter zu dem Schluß kommen, es sei für ihn das einzig Vernünftige, seiner Herde ein weiteres Tier hinzuzufügen und noch eins und so weiter. Aber zu diesem Schluß wird jeder rational denkende Viehhalter bei freier Nutzung der Allmende kommen, und darin liegt die Tragödie. Der einzelne ist in ein System eingeschlossen, das ihn drängt, seine Herde in einer begrenzten Welt unbegrenzt zu vergrößern. — Indem die Individuen einer Gesellschaft, die an die freie Nutzung der Gemeingüter glaubt, ihre eigenen Interessen verfolgen, bewegen sie sich in Richtung auf den Ruin aller.«29

Die Folgerung ist:

Alle Dinge, die niemandem gehören, werden von allen sehr gern benutzt, aber von niemandem gepflegt. Das beweisen heute die Weltmeere. Weil sie frei sind, holt jedes Land soviel wie möglich heraus mit der Folge, daß eine Fischart nach der anderen vernichtet wird. Die Meere werden als erster Naturbereich der globalen Vernichtung anheimfallen; es sei denn, man teilt sie auf die einzelnen Staaten auf, die dann auch ein Interesse daran haben werden, ihren Anteil für dauernd produktions­fähig zu erhalten.

Eine Übereinkunft von Lebewesen über die Aufteilung des vorhandenen Lebensraumes ist die Voraussetzung für die Erhaltung ihres eigenen Lebens wie des Lebens der Natur, von der sie leben.

Den ersten entscheidenden Schritt aus diesen (vom natürlichen Raum her noch völlig übersichtlichen) Verhältnissen heraus tat der Mensch, als er die ersten Städte baute. Diese waren nur in fruchtbaren Landstrichen lebensfähig, in denen ein Stand der Technik erreicht war, der Überschüsse aus der Bewirtschaftung des Landes und deren Transport in die Städte zuließ. Nur damit konnten die städtischen Handwerker, Krieger, Staatsbediensteten und Kaufleute ernährt werden.

Solange der Mensch allein von der Natur lebte, war für eine gesunde Verteilung der Bevölkerung über das Land gesorgt. Nachdem der Mensch den Transport erfand und lernte, wie er auch von anderen Tätigkeiten leben könnte, setzte eine unnatürliche Konzentration von Menschen­massen ein. Diese mußten zwangsläufig die enge Bindung an die Natur verlieren. Mit den Städten entstanden die ersten Umweltprobleme, da die räumliche Enge den natürlichen Kreislauf nicht mehr zuließ, für technische Lösungen aber oft noch die Voraussetzungen fehlten. Diese schon im Altertum existierenden Probleme beschreibt der Ökologe Hans Liebmann in seinem Buch <Ein Planet wird unbewohnbar>.

* (d-2015:)  H.Liebmann bei detopia

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Mit den Städten begann allerdings auch die menschliche Geschichte, die eine Stadtgeschichte ist, wie Oswald Spengler sehr richtig dargestellt hat. Die kulturellen Leistungen der Völker entstanden in Städten, die allerdings längst nicht den heutigen Massenkonzentrationen entsprachen. Mit der Stadtkultur begann aber auch eine neue Art von Verteilungskampf unter den Menschen.

Früher waren die Verhältnisse klar. Man wußte, daß man von den Erzeugnissen des eigenen Landes oder Wassers leben mußte. Von der jährlichen Ernte hing die Versorgung für das ganze Jahr ab. War sie schlecht, dann hatte es keinen Sinn, irgendwelche Instanzen zu verdächtigen, daß sie an der Lage schuld seien. Dann konnte man nur beten und versuchen, sich selber über das Jahr hinweg zu helfen.

Mit der Stadt-Land-Trennung mußte es automatisch strittig werden, welches der gerechte Anteil für jeden war; denn jeder Stand ging einer anderen Beschäftigung nach, und es wird immer schwierig sein, diese gerecht zu bewerten. Im Zweifelsfall bekommt nicht der Stand einen Vorteil, der die größte Leistung für die Gemeinschaft erbringt, sondern derjenige, der die größere Gewalt anwenden kann, die Krieger also. Diese Unübersichtlichkeit wuchs mit der Zunahme der Technik, des Handels und des Verkehrs.

Von dieser Entwicklung wurden in der Neuzeit immer mehr Völker ergriffen. In den Städten, wo Arbeit allein schon die Lebensbasis ausmachen kann, entsteht das Proletariat. Wenn man nicht mehr jeder Familie ein Stück Land geben kann, wird die von der Natur gezogene sinnvolle Einteilung überschritten. Damit beginnen die Probleme des vertikalen Verteilungskampfes; denn der Mensch durchschaut die Wirtschaft nicht mehr. Der Demagogie sind Tür und Tor geöffnet, was schließlich zu Bürgerkriegen und auch äußeren Kriegen führt. Diese Entwicklung ging mit Verstädterung einher.

Die höchst sinnvolle und notwendige Art von Eigentum ist die des Besitzes von Grund und Boden. Das Eigentum an Kapital ist undurchsichtig, folglich nicht ohne weiteres verantwortbar; außerdem hat es das Bestreben, sich stets zu vermehren, was zu den verschiedenen Formen der Ausbeutung führt. Marx übertrug seine Erkenntnisse über die Übel des Kapitals auf jede Art von Eigentum. Die Folge war, daß bei jeder kommunistischen Revolution gerade das Eigentum weggenommen wurde, welches das allersinnvollste war, das der Bauern. Die vielen negativen Folgen sind bekannt. Der Kommunismus hatte nie Erfolg mit der Land­wirtschaft; noch 55 Jahre nach der Oktober-Revolution muß die Sowjetunion im Westen Getreide kaufen. In der Industrie dagegen hat sie durchaus dem Westen vergleichbare Erfolge aufzuweisen, wenn man die kürzere Zeit der technischen Realisation berücksichtigt.

Die Enteignung des Bodens hatte nur negative Folgen; die Enteignung des Kapitals dagegen überhaupt keine. Wenn er ökonom­ischen Erfolg haben wollte, mußte der Staat nämlich haargenau so verfahren wie der Privatkapitalist. Aktien sind Anteile auf Teilnahme an der Ausbeutung der Erde. Diese Anteile sind völlig unabhängig vom Landbesitz. Der Inhaber hat aber weder Einfluß auf die betriebliche Tätigkeit noch eine Vorstellung davon, was mit seinem Anteil wirklich geschieht. Die Wirtschaft wird immer anonymer, genau wie der Staatsapparat.

Dennoch wußten die meisten Völker noch bis zum 20. Jahrhundert, daß sie auf Gedeih und Verderb auf ihr Territorium angewiesen waren. Daß sie daraus ihren Lebensunterhalt erwirtschaften oder darben mußten, war unbestritten. Erst im 20. Jahrhundert geht die Spezialisierung ganzer Völker soweit, daß sie ohne Güteraustausch nicht mehr lebensfähig sind. Damit ging aber auch alles Gefühl für die Bedeutung des Raumes und seiner Besiedelungs­dichte verloren.

Den nun schon auf Milliarden angewachsenen Einwohnern der Städte ist jeder Sinn für reale Zusammenhänge und die Lebensgrundlage abhanden gekommen. Sie entdeckten die Welt erst zu Ende der sechziger Jahre als verschmutzte Umwelt wieder. Dies aber ist nur ein kleiner Teilaspekt der modernen Welt; gegenüber all den anderen bedrohlichen Aspekten sind die Menschen noch immer blind und werden weiter blind gehalten.

Wie konnte es geschehen, daß der natürliche Regelkreis auf dem größten Teil unseres Planeten durch die menschliche Wirtschaft in den Hintergrund gedrängt wurde? Und wie konnte es soweit kommen, daß auch das Bewußtsein für seine Gesetze fast völlig verlorenging? Weil die heutigen geschichtslosen Bewohner dieses Planeten nicht einmal mehr die letzten 200 Jahre überblicken, geschweige darüber hinaus denken. 

Damit sind wir beim eigentlichen Thema. Dem Prozeß der Industrialisierung.

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Herbert Gruhl   Ein Planet wird geplündert   Die Schreckensbilanz unserer Politik