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Kurz vor dem Stuben- und Revierreinigen sieht Weidauer ins Zimmer: «Schon was gelesen?» Ich springe auf, nicke, ja, ich habe schon was gelesen.

Gerade las ich in der <Wolokolamsker Chaussee> von Alexander Bek, erschienen 1968 im Militärverlag, daß «der Feind nur so lange Schrecken einjagt, bis ich sein Blut gekostet habe». Dieses kasachische Sprichwort verwendet der Kommandeur in seiner Rede vor dem ersten Gefecht auf Seite 89. Ich las, daß Versprengte und Gefangene «Feiglinge sind, die eigentlich erschossen werden müssen». Ich las, daß «krankes Fleisch mit einem Messer aus dem gesunden Körper herausgeschnitten werden muß; keine Nachsicht mit diesen ängstlichen, verweichlichten Volksschädlingen, die der Heimat nicht alles geben ...» 

Daran denke ich bei Weidauers Frage ... «die Heimat», wer ist das? Im Buch steht: «Die Heimat, das ist der Kreml, das ist Moskau, das ist die ruhmreiche Führung.»

Weidauer blättert im Buch.

Ich las, daß «ein Vorgesetzter durchgreifen, strafen muß». Daß er niemals lockerlassen darf. Daß «der wahre Soldat muskulös und kriegerisch schön ist», daß der Offizier der Roten Armee, der Armenier Baurdshan Momysch-Uly, «an den großen Feldherrn Dschingis-Khan erinnert und an die edlen Gesichter von Indianerhäuptlingen». Ich las, daß «Ehre und Pflicht die wichtigsten Begriffe sind im Leben eines Soldaten, eines sowjetischen Menschen» ... Was für ein Drücken und Zwingen auf jeder Seite, was für ein Blutvergießen, was für eine Verherrlichung des Krieges!

Ich hatte beim Lesen das Gefühl: So ähnlich wird es schon gewesen sein, Landserhefte und Wildwestromane mögen vereinfachen und lügen, aber dieser Kommandeur hat wahrscheinlich so gedacht und gehandelt. Das ist das Niveau, so wird befohlen und gestorben, für die Heimat, für die Freiheit, für das Vaterland, das ist der «Kampf», in welcher Sprache auch immer...

Das kann ich Weidauer nicht sagen.

Am Telefon sagt im Buch der zweitgrößte Feldherr aller Zeiten: 
«<Verluste?> – <Nicht bedeutend> – <Präziser!> – <Zwanzig Mann, Tote und Verwundete.>» 

Wo? Auf Seite 501, beim Durchblättern gefunden. Ich dachte an Borchert: 

«<Wieviel haben Sie noch?> – <Wenn es gut geht: viertausend.> – <Wieviel können Sie mir geben?> – <Höchstens achthundert.> – <Die gehen drauf.> – <Also tausend.> – <Danke.>  Die beiden Männer gingen auseinander. Sie sprachen von Menschen. Es waren Generäle. Es war Krieg.» 

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Diese Stelle kann ich auswendig ...
Vorhin las ich in einem Buch auf Weisung von Weidauer und fand solche Dialoge ...

«Schon so weit?» fragt Weidauer.
«Jawoll, Genosse Unterfeldwebel. Den ersten Teil gerade beendet.»
«Das ging aber schnell», sagt Weidauer staunend und erleichtert. 
«Dann können Sie ja morgen loslegen zur Gruppenversammlung.»
«Zu Befehl, Genosse Unterfeldwebel.»
«Dann lesen Sie mal weiter, unser Zimmer saubermachen müssen Sie heute nicht, morgen früh Holz und Kohlen holen ...»
«Zu Befehl, Genosse Unterfeldwebel.»

Also lese ich weiter. Schwabe schreibt wieder Briefe, ab und zu steht er auf und geht zum Schrank, kämmt sich, zupft an der Uniformjacke. Glöckner wartet am Fenster, hat die Stirn an die Scheibe gelegt, hält die Brille in der Hand.
«Heimweh?» fragt Schwabe.
«Quatsch», sagt Harald Glöckner hastig und erschrocken.
Weint er? Warum hält er seine Hand vor die Augen? Ich weiß fast nichts von ihm ...
«Dieser Haarwuchs ...» Schwabe betrachtet sich wieder im Spiegel, «wer kann mir denn mal am Hals was wegrasieren, diese Borsten, man fühlt sich ja gar nicht mehr wohl.»
«Wozu denn?» Glöckner hat sich umgedreht, setzt seine Brille wieder auf. «Sieht ja doch keiner.»
«Na hör mal, und ihr? Ich denke nicht an Frauen!»
Glöckner sieht Schwabe erstaunt an und verläßt das Zimmer.

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«Machst du es?» Schwabe wendet sich an mich.
«Was denn?»
«Am Hals wegrasieren ...»
«Später, erst mal lesen. Morgen muß ich berichten.»
«Na, na, ist das so wichtig? Wie heißt das Buch, ach, genügt ja, wenn du es liest. Interessiert mich weniger. Reisebeschreibungen, so was ja, oder das <Magazin>. Ob man das hier bestellen kann?»
«Keine Ahnung.»
«Nicht was du denkst, Aktfotos habe ich genug zu Hause, das sind ja Kindereien.» Er winkt ab, nimmt mir wohl übel, daß ich meine Lektüre fortsetze, und verläßt das Zimmer.
Rasieren soll ich ihn ... 

Weiterlesen. Auf Seite 124 läßt der Kommandeur auf eine einzeln stehende Tanne feuern: «Stillgestanden! Halblinks um! Laden! Auf die Spitze der Tanne — Salve! Der ganze Zug ...» 
Und dann steht da: «Leise, bedrohlich knackten fünfzig gutgeölte Gewehrschlösser. Die Karabiner wurden an die Schulter gerissen. Auf der Uferböschung hob sich am Abendhimmel als schwarzgeschnittene Silhouette die hohe, kräftige Tanne ab. Die Soldaten warteten auf mein Kommando. <Feuer!> <R-r-r-r ...> hallte es. Für einen Augenblick zeigte sich eine Linie rötlicher Feuerzungen. Dann splitterten Zweige. Wieder knackten die Gewehrschlösser. Die Tanne war bereits gelichtet. <Feuer!> Wieder blinkten rötliche Zünglein auf, wieder krachte eine Salve, wieder fielen Äste zu Boden. <Feuer!> Nach der dritten Salve neigte sich die Baum kröne langsam zu einem Winkel, hing sekundenlang m der Schwebe und stürzte dann, untere Zweige und Äste mit sich reißend, hernieder. Vom Himmel hob sich ein gezackter, stumpfer Kegel ab. <Gewehr ab!> Ich sagte: <Ihr schießt gut!> Die Soldaten antworteten ebenso einmütig, wie sie geschossen hatten: <Wir dienen der Sowjetunion!>»

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Emmrich kommt herein. Er hält seine Stiefel in der Hand, geht zum Schrank, bearbeitet sie mit einem Lappen. Sie beginnen zu glänzen. Dazu summt er leise ein Lied, keinen Schlager, etwas anderes: «Durch das kleine Dorf marschiert unsre Kompanie ...» Es ist wie im Buch: Emmrich ist ein vorbildlicher Soldat. Er hat schon seine Stiefel gereinigt und eingecremt, beim Blankreiben summt er ein Marschlied ...

Auf eine Tanne hat der Kommandeur schießen lassen. So lange, bis sie umknickte. So bereitete er Rotarmisten auf das Gefecht mit den Deutschen vor. Auf einen Baum ließ er schießen ... Wir haben auch auf junge Birken gezielt, ohne Patronen, aber gezielt und abgedrückt. «Klick» hat es gemacht, als ich den Abzug bediente, «klick». Im Wald, auf der Lichtung, auf dem Übungsgelände. Danach verunglückte Münchow.

Emmrich packt das Schuhputzzeug weg, verschließt den Schrank, zieht den Schlüssel ab, prüft das Schloß, legt sich aufs Bett.
Die deutschen Panzer im Film, dazu ein Lied. Auch im Buch werden Lieder gesungen ...

Die Beatles, Jimmy Hendrix, die Rolling Stones ... Täglich und laut kamen sie zu Hause aus dem Radio. «Satisfaction» und «Nowhereman». 
Das legte sich quer und schubste aus dem deutschen demokratischen Gleichschritt. Nach diesen Liedern konnte man nicht marschieren, konnte man keinen 1.-Mai-Vorbeimarsch proben auf dem Sportplatz am Wasserturm unter Leitung von Major der Reserve Übel. Danach konnte man auch keine in der «Tanzstunde» bei Fräulein Büttner eingeübten Schrittkombinationen vollführen. Diese Lieder waren freier, aufreizender, böser, verrückter ... Waren schön, kitschig, unverständlich, verführerisch, kamen von weit her.

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«Paint it black», dagegen kam kein Gedicht an von Becher oder Majakowski, von Preißler oder Deike, kein Spruch, kein Panzerlied und keine Nationalhymne, kein Fahnenappell und kein Stillgestanden. Das riß uns hoch und weg vom dummen Trott. Ja, die sangen für Geld und machten Umsätze mit ihren Platten. Na und, das betraf uns nicht. Der Beat, die Rockmusik, Jagger, Dylan, Janis Joplin, Hendrix, die Elektrogitarren und Verstärker aus Liverpool und Chicago, aus den Drecklöchern und Glitzerstraßen dieser Welt, haben uns gerettet ... 

Ob es eine Rettung gibt nach dieser Lagerzeit, nach dieser Lektüre? ... Sie brüllten in ihre Mikrofone, das hat uns gefallen. Da begann es zu dämmern, da wollten wir keine allzu braven Idioten mehr sein, da wollten wir aufmucken und ein eigenes Leben haben. Da war es vorbei mit den Pioniernachmittagen, da vergaßen wir unseren Herrn Zaradnik. Da wollten wir frei sein und nicht mehr mitmarschieren. Und? Marschieren wir nicht mehr mit? Haben die Schalmeienkapelle und der Fanfarenzug gereicht? Treten wir nie mehr an auf einen Pfiff hin? Was ist los mit uns? Jugel hat «Lied durch» geschrien als letzter Mann. Und die zweite Reihe, allen voran Dominiak, hat zu singen begonnen. «Durch das kleine Dorf marschiert unsre Kompanie ...» 

Und doch wußten viele von uns, als wir auf der wunderschönen Waldstraße gegrölt haben auf Befehl, daß es noch etwas anderes gibt. Daß «Je t'aime» und «Purple Haze» besser sind als Weidauers Befehle und Pickels Geschrei. Und besser als unser trauriger Gesang.

«Stuben- und Revierreinigen!»
Kein Radio, kein «Lady Jane». Dort stehen zwei Doppelstockbetten, vier Schränke und vier Hocker. Emmrich ist hinausgegangen, den Flur, «sein Revier», kehren. Auf dem Tisch liegt ein Buch.

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Es ist schon nach zehn. Wir erwarten den Stubendurchgang, sitzen in Schlafanzügen auf den Betten. Kompanieschreiber Fröhlich öffnet die Tür, zeigt auf mich:
«Zum Kompaniechef!»
Ich springe vom Bett.
«Ich?»
Er nickt. Ich frage verwirrt:
«Was muß ich da anziehen?»
«Trainingsanzug genügt», sagt er, «Beeilung!»
Ich renne durch das Treppenhaus, klopfe im Erdgeschoß an das Dienstzimmer von Oberleutnant Patsch.
«Herein!»

Im Zimmer ist nicht Patsch, sondern ein Leutnant, der zum 4. Zug gehört. Ich kenne ihn vom Sehen. Er sitzt salopp hinter dem Schreibtisch, raucht, nickt mir zu:
«Guten Abend, Genosse Fuchs, nehmen Sie bitte Platz. Nichts Unangenehmes, ich weiß ja, wenn man so spät gerufen wird, erschrickt man. Ich will mich nur kurz mit Ihnen unterhalten. Das ist alles. Ich habe viel Gutes von Ihnen gehört.»
«Von mir?»
«Ja, im Politunterricht sind Sie sehr positiv aufgefallen.»
Ich werde verlegen, rot, muß grinsen, fühle mich geehrt: Ein Lob! Ein gutes Wort!
«Na ja...»

«Doch, sehr positiv», wiederholt der Leutnant. «Man kann sich offenbar auf Sie verlassen.»
Er steht auf, geht zum Fenster. Mittelgroß ist er, Ende Zwanzig, Rundschnitt, ziemlich lange Haare für militärische Verhältnisse ... Er spricht ohne Herablassung, ganz anders als Meier, der Jugel im Waschraum gepiesackt hat.

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«Wie ist die Stimmung? Der erste Schreck ist vorbei, langsam kehrt Ruhe ein, man hat sich umgestellt auf Kasernenhof.» Er lächelt. «Gibt es Beschwerden?»

«Beschwerden?» frage ich.
«Es kommt doch immer wieder zu Fehlern», sagt er, «einzelne Genossen werden zu hart behandelt, zu grob ... Das können Sie mir sagen, Ehrlichkeit schätze ich. Ich habe weitergehende Aufgaben und Kompetenzen, kann auch Unteroffiziere zur Rechenschaft ziehen. Die sind ja sehr verschieden, das werden Sie gemerkt haben ...»

Ich antworte nicht gleich, überlege, bin überrascht.
«Verstehen Sie unser Gespräch nicht falsch», er lehnt sich an den Fenstersims, «ich möchte Sie nicht aushorchen ... Sie interessieren sich für Literatur?»
«Ja.»
«Sie lesen Gedichte ...»
Ich zögere, sehe ihn an, muß wieder lächeln, er fragt mich nach Gedichten ...
«Sie werden sich fragen, woher ich das weiß.»
Ich nicke.
«Es gibt Stubendurchgänge. In Ihrem Schrank steht ein Lyrikband von Johannes Bobrowski. Kennen Sie die Sprechplatten mit ihm?»
«Ja.»
«Erschienen im Unionverlag ... ein toller Mann ... ganz selten, daß Soldaten so etwas mitbringen ... Aber zurück zu unserem Thema, es ist spät: Gibt es Genossen, die Probleme haben? Denen wir helfen müssen? Das wollte ich Sie fragen.»

Ich sitze da in Trainingssachen, habe den Schlafanzug darunter, draußen ist es dunkel, oben auf den Zimmern läuft der Stubendurchgang. Ich werde gelobt, der Mann

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hinter dem Schreibtisch ist nicht unsympathisch, ein ganz anderer Typ als Meier oder Weidauer. Er weiß Bescheid, kennt sogar Bobrowski, spricht von Schikanen und Fehlern der Unteroffiziere ... Zwodreivier fällt mir ein, sein plärrendes Genöle. Was Münchow tat auf der wunderschönen Waldstraße. Aber dafür hat er die Strafe bekommen. Pohl und die Gasmasken ...

Ich höre mich sagen:
«Ja, bei einem muß noch Überzeugungsarbeit geleistet werden. Der nimmt im Politunterricht nichts ernst.»
«Wer?»
«Bauer... Soldat Bauer.»
Der Leutnant mit den weitergehenden Aufgaben lächelt kurz, nimmt einen kleinen Bleistift und macht sich Notizen.
«In welche Richtung gehen seine Probleme?»
«Nichts weiter ... nur ... er ... also, Soldat Bauer nimmt nichts ernst...»
«Ich verstehe», sagt der sympathische Leutnant, «wir werden sehen, werden die notwendigen Schritte einleiten, wenn er Hilfe braucht. Machen Sie sich keine Sorgen, es ist nur zu seinem Vorteil, wir tun ihm nichts. Wir wollen helfen.»
«Nichts weiter ...» stammle ich, plötzlich beunruhigt und beschämt über meine Worte.
Der verständnisvolle Vorgesetzte fühlt den Konflikt, drängt nicht, entläßt mich:

«Gehen Sie jetzt nach oben, Sie haben Nachtruhe. Und die haben Sie verdient. Heute war volles Programm. Schlafen Sie gut, Genosse Fuchs. Sie haben uns geholfen.»
Ich stehe auf, sage «Auf Wiedersehen», verlasse das Zimmer mit einem heißen, hellen Gefühl in der Stirn, einem Brennen, das nicht nachläßt. Was geschieht jetzt mit Bauer?

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Warum nannte ich seinen Namen? Ich weiß nicht ... Es war eine so merkwürdige Situation. Ich werde in ein Zimmer geholt und gelobt ... Nein, ich wollte ihn nicht melden. Ich hatte mich über Bauer geärgert ... Ich wollte antworten, hatte plötzlich das Gefühl: Du mußt einen Namen nennen, das erwartet er.

Ich gehe aufs Klo, schließe mich in eine Kabine ein. Beginne zu ahnen, was geschehen ist, was er wollte, was ich getan habe. Er hat mich eingewickelt... Als er mich fragte, als ich so dasaß, sah ich plötzlich keine Veranlassung mehr, nichts zu sagen. Ich gab nach, es ging ganz schnell. Ich begann zu reden ... Er hat mich gelobt ... Ich war allein mit diesem Leutnant, er drängte nicht...

Scheiße, Scheiße ... Er redete von «Schikanen der Unteroffiziere» ... Ich muß es Bauer sagen.

Morgen früh, denke ich auf dem Flur, jetzt nicht, morgen früh. Wie grell die Flurbeleuchtung ist. Was habe ich denn gemacht? Was bin ich denn für einer?
«War was?» fragt Schwabe im Zimmer.
«Nichts weiter», sage ich.
Aufs Bett legen, die Augen schließen. Umzug. Oktoberrevolution, Bauer ... Es ist wie Morast, wie ein Loch ... Emmrich löscht das Licht. Das Bett quietscht. So war es im Ferienlager, in der Jugendherberge Schneidenbach, als wir über das Lagerfeuer sprangen. Da lag ich auch oben. Aber es waren Holzbetten. Die hier sind aus Eisen.
Er hat mich gelobt...

 

Als wir geweckt werden, ist es bereits sieben Uhr. Glöckner, der als erstes aus dem Fenster sieht, teilt uns mit:
«Es liegt Schnee.»
Eine neue Landschaft, noch halb dunkel und grau, aber wahrscheinlich doch weiß wie der Hügel vor dem

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Fenster zu Hause, von dem wir Schlitten fuhren, wenn dieser ersehnte Tag gekommen war. Zehn Zentimeter werden es sein. Auf dem Dach der Nähwerkstatt, den Zäunen und dem kleinen Stück Wiese vor dem Kompaniegebäude liegt er, der Freund der Kindheit, schon Mitte November hier oben im Gebirge.

Und was jetzt? «Schneeschippen», hatte Bauer geflüstert, als er im Fernsehraum die Bilder vom Roten Platz sah. Bauer ... Wieder beginnt dieses Brennen hinter den Augen. Ich muß mit ihm sprechen ...

In Zweierreihen geht es zum Speisesaal, kein Frühsport, kein Antreten der ganzen Kompanie. Zugweise, beinahe locker, stapfen wir durch den Schnee.

Zwei Stück Kuchen gibt es heute und eine Flüssigkeit, die nach Bohnenkaffee riecht. Was ist los? Sonntag! Heute ist Sonntag! Zwei Stück Kuchen und dünnen Bohnenkaffee. Ich habe nicht auf die Wochentage geachtet, keine Berechnungen angestellt wie andere. Auch ein Taschenkalender fehlt mir. Der blaue Himmel, die strahlende Sonne neulich kamen mir schon komisch vor, unpassend. Ich bin doch in einem Lager, werde Soldat. Und jetzt Schnee, Kuchen, Bohnenkaffee und Sonntag. Was soll ich davon halten? Sind das die «angenehmen Seiten»?

Dominiak muß immerzu kichern, er fragt den Tischdienst nach der Kaffeesahne. Siegfried Biellaus Teller ist fast schon wieder leer. Bauer will anschließend «zum Frühschoppen gehen». Beinahe ausgelassen ist die Stimmung.

Nach dem Kaffeetrinken werden Schaufeln verteilt, das von Bauer prophezeite Schneeschippen beginnt. Pulverschnee. Zuerst müssen wir den Platz vor dem Stabsgebäude räumen, dann den Zugang zum Tor, die Garagen, die Lagerstraße vor den Kompanien. Wir tragen Dienstuniform. Bald sehen wir wie Schneemänner aus, immer wieder ändert eine Schaufel die Richtung und füllt benachbarte Stiefel- und Kragenöffnungen.

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Mit Schaufeln und einem Eimer Wasser bauten wir jedes Jahr die kleine Sprungschanze auf der Hohle. Der Lange Karl fuhr die Spur ein vom ersten Abhang. Ein, zwei Meter flogen wir durch die Luft, landeten breitbeinig oder mit einem «Telemark-Aufsprung», wir sagten «Dänemark», und mußten aufpassen, daß wir im Tal nicht an Starks Gartenzaun preschten vor lauter Skikünsten. Schneeballschlachten gab es nach der Schule, wenn es taute und die Bälle eisig wurden. Es ist Sonntag im Ausbildungslager Johanngeorgenstadt. Wie Kinder bewerfen wir uns. Alles sieht heute anders aus, heller, freundlicher. Jetzt müßten noch die Schneeschuhe vom Boden geholt und gewachst werden ...

Erst als Känguruhn das Kommando übernimmt, weiß ich wieder genau, wo ich bin.
«Genosse, Sie haben das Buch gelesen ... von ... äh ... Bek... wie heißt der Kommandeur?»
Weidauer hat uns zu einer Gruppenversammlung zusammengerufen und sieht auf mich. Ich antworte sicher, es fällt mir leicht, den Namen auszusprechen:
«Baurdshan Momysch-Uly, Genosse Unterfeldwebel.»
«Gut ...» Weidauer hat wieder sein Grinsen, halb kumpelhaft, halb ärgerlich, «also, dieser Kommandeur der Roten Armee leistete im Kampf gegen die Faschisten Vorbildliches. Genosse Fuchs hat das Buch gelesen und wird jetzt einiges vortragen.»
«Ich wollte noch fragen: Soll ich etwas Bestimmtes vorlesen?»
«Och ...» Weidauer macht eine unentschiedene Bewegung.

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«Sehen Sie mal ... was von der Ausbildung, vom Krieg... was er, wie heißt er...»
«Baurdshan Momysch-Uly.»

Einige lachen, Bauer zwinkert mir zu. Glöckner reibt an seiner Brille, nur Emmrich sitzt kerzengerade und ernst vor seinem Schrank. Die Versammlung findet in unserem Zimmer statt.
Bauer fragte im Hereinkommen: «Findet hier der Gottesdienst statt?»
«Also weiter. Ich meine ...» stottert Weidauer, «was er den Soldaten beibrachte, der Kommandeur, das wollen wir hören.»

Ich blättere und beginne zu lesen, sage, daß das Kapitel die Überschrift trägt «Nicht sterben, sondern leben!», daß der Kommandeur seinen Abschnitt kontrolliert und die jungen Soldaten noch kein Gefecht erlebt haben:
«<Wie gestern schaufelten sie auch heute Schützengräben. Doch waren sie traurig. Nirgendwo konnte das Ohr Gelächter wahrnehmen, dem Blick begegnete kein Frohsinn. Es ist schwer, Kommandeur von Soldaten zu sein, die nicht heiter sind. Ich näherte mich einem Deckungsgraben und sah: Der Rotarmist hatte dünne Stangen darübergelegt und sie mit Erde bedeckt.
,Was hast du gemacht?'
,Einen Graben, Genosse Bataillonskommandeur.'
,Und was ist das?'
,Holz, Genosse Bataillonskommandeur.'
,Komm mal da raus! Gleich werde ich dir zeigen, was für Holz das ist.'
Der Rotarmist kletterte heraus. Ich zog meine Pistole und schoß mehrere Male auf die Grabendecke.
,Geh hinein, sieh nach, ob es durchgeschlagen hat.'
Nach einer halben Minute rief er eifrig: ,Hat durchgeschlagen, Genosse Bataillonskommandeur!'

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,Was hast du also gemacht? Eine Hütte für einen Feldhüter von Melonen in Mittelasien. Willst du dich im Schützengraben vor der Sonne schützen? Warum antwortest du nicht?'
Der Rotarmist erwiderte verdrossen: ,Es trifft einen überall...'
,Wer ist es?'
Er antwortete nicht.
Ich begriff: Er fürchtet den Tod. Ich fragte: ,Was denn, willst du nicht leben?'
,Ich will, Genosse Bataillonskommandeur.'
,Dann nimm alles auseinander, schmeiß dieses Stück fort! Nimm Stämme, so dick wie Telegrafenstangen, lege fünf Reihen auf, damit kein Geschoß durchschlagen kann.'

Der Rotarmist blickte traurig bald auf den Graben, bald in den Wald. Die schweren Stämme mußte man im Forst, weit entfernt vom Waldessaum, fällen und hierherschleppen.
,Vielleicht trifft's nicht', meinte er.
Auch hier, wo es kaum irgendwen erfreute, lebte dieses Wörtchen vielleicht. Das war kein Wort für einen auf Kampf eingestellten Soldaten.
,Schmeiß das alles sofort auseinander!' brüllte ich. ,Und wenn du nicht fünf Reihen baust, wirst du's noch mal auseinandernehmen!'
Mit einem Seufzer nahm er eine Schaufel und schippte die Erde hinunter.

Ich sah schweigend zu. Nein, er kann es noch nicht glauben, daß er, gefeit gegen den Widersacher, aus diesem Graben die Deutschen schlagen wird. Er kann es nicht glauben, daß sie unter seinen Kugeln fallen werden. Etwas anderes beherrscht sein Gemüt.>»

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«Halt», Weidauer macht mir ein Zeichen, «Moment. Wie findet ihr denn das?»
Schweigen. Bauer schlägt sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel.
«Was hättet ihr denn gemacht? Findet ihr das richtig, was der Kommandeur sagt?»
«Im Prinzip ja», sagt Schwabe, «hart, aber gerecht. Er will, daß seine Truppe überlebt, daß die Deutschen besiegt werden ... In Filmen sieht man das immer wieder ... ohne Härte geht es nicht.»
Weidauer nickt.
Emmrich sagt:
«Krieg ... äh ... Krieg ist kein Pappenstiel... da muß man durchgreifen.»
«Weiterlesen!» Weidauer nickt mir zu.

Warum habe ich gerade diese Stelle ausgesucht? Sie handelt von der Vorbereitung auf den Kampf, von der Ausbildung, die auch wir absolvieren ... Einige Passagen habe ich gefunden, die mir schlimm vorkommen, blutrünstig, brutal. «Willst du leben, dann bringe den Tod» oder «Den Soldaten niemals etwas durchgehen lassen» ... solche Sätze. Aber bei dem, was ich gerade vorgelesen habe, bin ich unentschieden. Hat der Kommandeur nicht recht? Er zwingt zu Dingen, die notwendig sind zum Überleben. Solche Härte kenne ich auch aus Indianerbüchern.

«An einer anderen Stelle kritisiert er einen Politoffizier», sage ich laut, «der zuviel vom Sterben spricht, von den Opfern des Krieges. Der Kommandeur hält ihm vor: <Nicht darin, nicht in dieser rauhen Wirklichkeit liegt die Wahrheit des Krieges.>»

«Worin denn?» ruft Bauer dazwischen.
«Das kommt noch», sage ich und lese:

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«<Einen Soldaten fragt er:
,Willst du nach Hause zurückkehren, deine Frau und Kinder umarmen?'
Jetzt ist nicht die Zeit für zu Hause, jetzt heißt es kämpfen.'
,Und nach dem Krieg, willst du da?'
,Wer will das nicht?'
,Du willst es nicht!'
,Wieso will ich nicht?'
,Von dir hängt es ab, zurückzukommen oder nicht. Das liegt in deinen Händen. Du willst am Leben bleiben. Das heißt, du mußt denjenigen töten, der es auf dein Leben abgesehen hat.'>»
Ich füge hinzu:
«Die rauhe Wirklichkeit des Krieges», so sagte dieser Kommandeur, «liegt nicht im Wort <stirb>, sondern im Wort <töte>! Er erläutert: <Ich gebrauchte den Ausdruck ,Instinkt' nicht, doch wandte ich mich an ihn, an den mächtigen Instinkt der Selbsterhaltung. Ich wollte ihn wecken und ihn auf den Sieg im Kampf lenken ...>»

Und wem gehört dieser Sieg? denke ich. Dem Soldaten, der im Graben überlebt oder verreckt oder verwundet wird? Dem strengen Kommandeur, der Versprengte erschießen läßt? Oder dem «Größten Feldherrn aller Zeiten», Stalin, dessen Namen ich bisher nicht ein einziges Mal im Buch begegnet bin, obwohl das Jahr 1941 beschrieben wird?

Weidauer nickt:
«Selbsterhaltung, das ist wichtig! Auch an der Grenze! Der Grenzverletzer kann Waffen tragen. Er oder ich, so steht es dann ... das kann ich aus eigener Erfahrung sagen ... Weiterlesen!»
«Da hätte ich mal eine Frage», Bauer meldet sich. «Das war im Zweiten Weltkrieg. Aber heute gibt es Atombomben.»

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«Na und?» Weidauer zuckt mit den Schultern, sieht Bauer verständnislos an.
«Das ist meine Frage, was heute ist...»
«Genosse Bauer, heute ist es genauso wichtig, einen vernünftigen Graben zu bauen. Und dem Vorgesetzten zu gehorchen...»
«Gehorchen, na ja...»
«Befehle müssen ausgeführt werden.»
«Schon, schon. Mein Bruder...»
«Das interessiert mich nicht, Genosse Bauer!»
«Und was ist mit Nagasaki?»
«Was soll sein?» Weidauer sieht sich um, zeigt auf Schwabe:
«Genosse Schwabe, was sagen Sie dazu?»
Schwabe hebt das Kinn, streicht sich über die Lippen:
«So genau weiß ich das auch nicht. Darf man rauchen?»

Weidauer nickt.
«Weiterlesen!»
Ich blättere, weiß nicht, was ich noch vortragen soll.
Bauer räuspert sich.
«Genosse Unterfeldwebel, noch eine kurze Frage: Waren eigentlich bloß die Russen gute Soldaten?»
Weidauer verzieht das Gesicht:
«Die Russen ...»
«Wie soll ich sagen...» Bauer will sich korrigieren, «die Soldaten, die, wie soll ich sagen, Sowjetmenschen ...»
Glöckner beginnt hüstelnd zu lachen.
«Die Rote Armee führte einen gerechten Krieg, darum geht es!» Weidauer will das Thema wechseln.
«Mein Vater», sagt Bauer und streckt seinen Kopf vor, «der war auch an der Front.»
Weidauer zuckt unwillig mit den Schultern, will nicht weitersprechen:

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«Und? Was soll das?»
«Ich meine nur», stottert Bauer, «weil auf Deutsche geschossen wird im Buch ...»
«Gottseidank», sagt Emmrich plötzlich, «gottseidank!»
«Wieso denn?» fragt Bauer und dreht sich zu ihm um.
«Also Hitler», erwidert Emmrich, «also Hitler, der... also ... die Deutschen haben den Krieg begonnen, die Deutsche Wehrmacht...»
«Richtig, Genosse Emmrich!»
Eine merkwürdige Stimmung ist im Raum. Bauer winkt ab:
«Ich will nichts gesagt haben. Zum Schluß heißt es noch, ich bin für Hitler, nee, bin ich nicht. Aber ich mußte daran denken, weil von Töten die Rede war. Da wollte ich fragen...»
«Weiterlesen!» Weidauer gibt sich einen Ruck, «keine schiefen Diskussionen! Wir müssen von unserem Standpunkt ausgehen. Die Rote Armee ist der Sieger der Geschichte, da gibt's nichts zu fackeln. Weiterlesen!»

Ich blättere, was soll ich bloß lesen? Was Bauer meint, weiß ich: Wir sind die Söhne des Feindes. Alles ist doppelt verrückt und verdreht: gegen Hitler und für Stalin, obwohl er im Buch gar nicht vorkommt ... Ist es das? Der eigene Vater war ein Deutscher, auf den geschossen wurde. Und der auf andere schoß. Der die falsche Uniform trug mit einem Funkgerät auf dem Rücken. Volltreffer, aus! Sollen wir uns freuen, wenn unsere Väter von diesem Kommandeur und seinen Soldaten getötet werden? Tod dem Faschismus, Scheißhitler, Scheißkrieg, ja, aber was ist mit unseren Vätern?

«Weiterlesen!»
«<An einem sonnigen Augusttag war das Bataillon zum Schießplatz in die Steppe gezogen>», setzte ich fort.

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«<Es ist leicht und bequem, zwei, drei Kilometer über solch glatten Boden zu gehen, eben wie ein Plättbrett, zu schießen und zurückzukehren. Ich aber bildete Soldaten für den Krieg aus. Leicht? Bequem? Also weg mit dem idealen Schießplatz. Ich führte die Truppe in die Berge. Wir erklommen die erste Terrasse, gerieten in trockenes, dorniges Gestrüpp. Nein, hier war an Schießen nicht zu denken. Ein steiler, steiniger Weg führte in die Höhe. Wir kletterten auf den Berg. Unter den Soldatenstiefeln rollten raschelnd Steine hinab. Endlich erreichten wir einen breiten Raum. Hol's der Teufel, auch hier war an Schießen nicht zu denken! Hier stand fast in Mannshöhe saftiges Gras. Wohin jetzt? Am Steilhang weiter oben schimmerte das dunkle Grün eines Eichenwaldes. Wo sollten wir schießen? Ich ließ das Bataillon in vier Reihen aufstellen und führte diese Mauer gegen jene des Grases. Wir gingen einige Male hin und zurück; die schweren Soldatenstiefel zerdrückten, zerbrachen, zerstampften das Gras. Zum Schluß zupften wir mit der Hand übriggebliebene Stengel aus. Ich stand abseits, freute mich und hatte Minuten unvergeßlichen Glücks. Was für eine Kraft das ist — ein Bataillon! Mit solch einem disziplinierten, abgehärteten, zum Kampf bereiten Bataillon schiebe ich mich wie ein Keil in die feindliche Front und stampfe sie in die Erde, ins Grab.

Bauer stöhnt, schüttelt den Kopf. Jugel hat seine schmalen Augen. Emmrich sitzt unverändert steif auf seinem Hocker, die Pickel im Gesicht leuchten, um den Mund ist ein dienendes Lächeln. Strempel, aus dem Zimmer neben dem Fernsehraum, mittelgroß, mit glatten, nach hinten gekämmten Haaren, von Beruf Verkäufer, dreht Däumchen. Schwabe raucht, holt sich jetzt einen Aschenbecher. Harald Glöckner hantiert an seinem Brillengestell.

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«Gibt es Fragen?»

Es gibt keine Fragen.
«Danke für das Vorlesen, Genosse Fuchs, ich denke, das genügt.» 
«Denke ich auch», platzt Bauer dazwischen. i
Weidauer reagiert nicht, wendet sich dafür an Emmrich:
«Ist der Kommandeur ein Vorbild? Was meinen Sie, Genosse Emmrich?»
«Jawoll, Genosse Unteroffizier, ein Vorbild!»
«Weitere Fragen? Sie, Genosse Fuchs?» Weidauer sieht mich prüfend, fast skeptisch an.
Ich schüttle den Kopf.

 

Nach dem Mittagessen, es gab Rouladen, Salzkartoffeln, Rotkraut und Pfirsichkompott, werden Zettel ausgegeben. Wir sollen «persönliche Verpflichtungen» schreiben und innen an der Spindtür befestigen. In der eigenen Handschrift soll zu lesen sein, was auf einem ebenfalls hereingereichten Blatt steht, in einer anderen Handschrift:

«Im sozialistischen Wettbewerb der bewaffneten Organe <Operation 70> zu Ehren des 100. Geburtstages von W. I. Lenin verpflichte ich mich:

1. Ein Höchstmaß an militärischen Kenntnissen zu erwerben.
2. Die Gefechtsbereitschaft ständig zu erhöhen.
3. Militärische Sauberkeit und Ordnung stets zu gewährleisten.
4. In meiner Freizeit die Werke Lenins und die Materialien der Partei der Arbeiterklasse, der SED, zu studieren.

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5. Hervorragende Schießergebnisse zu erzielen.
6. Die Grundausbildung und die bevorstehende Abschlußübung mit ausgezeichneten Ergebnissen zu absolvieren.»

Dazu Datum und Unterschrift.

«Aufpassen», sagt Weidauer, «nicht die Unterschrift von der Vorlage verwenden, sondern die eigene. Wer noch eine Verpflichtung hinzufügen will, kann das tun.» Sein undefinierbares Lächeln blitzt auf.

Glöckner handelt sich mit der Frage «Warum denn das?» strafende Blicke von Weidauer und Emmrich ein.

Ich schreibe auf kariertes Papier in «meiner Schrift» einen vorgeschriebenen Text und befestige ihn dort, wo er befestigt werden soll: an der Innenseite der Spindtür, in Augenhöhe.

Glöckner will seine «Verpflichtung» unten am Stiefelfach anheften.
«Laß», sagt Schwabe, «das gibt nur Ärger.»
Und Harald Glöckner läßt es.

Bauer, die Wolokolamsker Chaussee, die Verpflichtung im Spind, alles wird immer enger ... Ich liege auf dem Bett, bin nicht mehr unschuldig, bin «drin», bin ein Teil dieses Lagers. Mit der Hand kann ich die Zimmerdecke berühren. Die Wände sind dünn, schnell hochgezogene Häuser für die Wismut-Kumpels, die aus allen Städten kamen und nach der Arbeit einschliefen wie Tote. Und vorher noch einen Schluck nahmen aus der Flasche... So wird es gewesen sein ... Auch aus dem Fenster kann ich sehen, wenn ich den Kopf etwas hebe. Der Zaun ... Es taut, kurz nach dem Mittagessen begann es von den Dächern zu tropfen. Noch kein Brief von Eva...

297


Schwabe hat sich eine Tasse Tee aufgebrüht.
«Woher hast du das heiße Wasser?» frage ich.
«Aus dem Fernsehraum, hab gefragt, anstandslos haben die mir was gegeben. Nachher bestelle ich mir einen Kaffee.»
«Geht denn das?»
«Probieren.»

Mit dem Löffelstiel bewegt er den Teebeutel hin und her. Aus dem Schrank holt er einen Weihnachtsstollen, schneidet ein großes Stück ab, teilt es, gibt mir eine Hälfte. Ich bedanke mich, springe vom Bett, setze mich an den Tisch. Emmrich und Glöckner kommen ins Zimmer.

«Oho», sagt Glöckner.
Schwabe versorgt die beiden ebenfalls mit Stollen.
«Paket bekommen?» frage ich.
Schwabe nickt.
«Schwarzer Tee?»
«Ja. Willst du einen Beutel?»
Ich winke ab, Schwabe hat mir schon Stollen gegeben.

Ein Soldat kommt ins Zimmer, den ich nicht kenne.
Er hat breite Schultern und trägt eine Hornbrille. Glöckner kennt ihn, sie begrüßen sich.
Der Gast läßt sich auf einen Hocker fallen, hält uns seine Zigarettenschachtel hin, beginnt hastig zu rauchen, stöhnt, schüttelt den Kopf, redet auf Glöckner ein:
«Stell dir vor, sie wollen mich nicht fahren lassen. Du kennst mich, Harald, ich bin immer auf den großen Brummern gefahren, acht Jahre unfallfrei, toitoitoi, und jetzt wollen sie mich nicht ranlassen. Sattelschlepper, Kipper, die schweren Lastzüge, alles kein Problem. Du weißt, die haben den ganzen Fuhrpark

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auf <W 50 umgestellt. Bus bin ich ja auch gefahren, kann Personen befördern. <Ikarus>. Die schweren Dinger, bei jedem Wetter, auf Heinz war Verlaß. Stimmt doch, Harald?»
Glöckner klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter:
«Klarer Fall, Heinz, auf dich ist Verlaß.»

«Ihr habt das vielleicht gar nicht so gemerkt in eurem Büro, aber bei jedem Wetter ... Und jetzt wollen die mich nicht ans Lenkrad lassen. Stecken mich in eine Latscher-Kompanie, den Wolf soll ich mir laufen. Bei meiner Berufserfahrung ... Ganz junge Spunde lassen sie hier die Fahrerlaubnis machen. Die verplempern ein halbes Jahr ... Bei mir ist alles da, alle Scheine, und was ist? Abgelehnt, obwohl ich für Transport gemustert bin. Nicht geeignet für Kfz ...»

«Warum wollen sie dich nicht?» fragt Schwabe.
«Wegen der Brille!»

Glöckners Freund zieht den Kopf ein, ist dem Weinen nahe. Die dunkelbraune Hornbrille hockt wie ein Feind auf seiner Nase. Er nimmt sie ab, hält sie gegen das Licht, nimmt ein Taschentuch, beginnt an ihr zu reiben, setzt sie wieder auf.

«Was sagst du, Harald, ist das gerecht? Im Gelände soll ich herumkriechen, achtzehn Monate ... bei meiner Berufserfahrung ...»
«Das ist die Grundausbildung», wirft Glöckner sanft ein.
«Bei dir ist das was anderes, Harald, du bist kein Kraftfahrer, hast nicht mal einen Mopedschein. Aber ich ...»
Er sieht sich hilfesuchend um. Wir nicken, können gar nicht anders, als ihm zustimmen.
«Schweinerei», sagt Schwabe.
Glöckner nickt.
«Was soll ich nur machen», setzt Glöckners Freund

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seine Klage fort, «sämtliche Klassen ... Da müssen sie mir eben eine Sportbrille verpassen mit Gummizug, so was gibt's, ich weiß das. Wie die Taucher haben. Kann man auch unter der Gasmaske tragen. Und die Geländeprüfungen, die mache ich doch spielend, mit geschlossenen Augen. Sofort würde ich die machen. Mit und ohne Brille ... wegen der...»

Wieder nimmt er seine Brille ab, hält sie gegen das Fenster, holt sein Taschentuch hervor.
«Sag selbst, Harald, ist das gerecht? Du kennst mich doch!»
Und Glöckner, einen Kopf kleiner als der Freund, tröstet ihn, wie er mich beim Friseur getröstet hat:
«Das wird sich schon einrenken. Die werden dich schon holen. Gute Kraftfahrer sind selten ...»
«Sattelschlepper, Zehntonner, alles gefahren, acht Jahre unfallfrei, bei jedem Wetter... und jetzt das ...»

Jugel sieht herein.
«Wer geht mit Volleyball spielen in die Turnhalle am Stabsgebäude?»
«Kann jeder hin?» frage ich.
Jugel nickt: «Freizeit, hat Pohl gesagt. Sportsachen anziehen.»
«Jetzt gleich?»
«Ja.»

Ich ziehe mich schnell um. Schwabe überlegt offenbar, ob er mitkommen soll. Aber dann bleibt er doch sitzen, will wohl versuchen, im Fernsehraum eine Tasse Kaffee zu ergattern ...

Glöckners Freund hat sich eine neue Zigarette angezündet:
«Harald, ganz ehrlich, wo gibt's denn so was, einen wie mich nicht ans Steuer zu lassen ...»

Jugel und ich gehen los. Bauer kommt aus der Toilette, auch in Sportsachen, schließt sich uns an. Mit den Fingern vollführt er Pritschbewegungen.

300


«Na, dann wollen wir mal sehen ...»
Auf der Lagerstraße stapfen wir durch nassen Schnee. Ich muß es Bauer sagen.
«Hartmut», zum erstenmal nenne ich seinen Vornamen, er sieht mich verwundert an, «ich muß dir was sagen...»
«Was denn?»
«Ein Offizier hat sich nach dir erkundigt. Gestern abend wurde ich gerufen, der Stubendurchgang lief schon ... ins Zimmer des Kompaniechefs. Er fragte nach dir.»
Bauer bleibt stehen: «Nach mir?»
«Ja, wahrscheinlich wegen deiner Äußerungen im Politunterricht...»
«Was denn für Äußerungen? Ich hab doch gar nichts gesagt, nur was gefragt...»
«Ich weiß auch nicht, jedenfalls hat er nach dir gefragt. Ich habe nichts weiter gesagt. Hinterher habe ich mich geärgert, daß ich überhaupt mit ihm sprach ... die verwenden ja alles ...»

«Stasi, klarer Fall.» Bauer sieht vor sich hin, bückt sich dann, formt einen Schneeball, wirft ihn auf das Dach des Stabsgebäudes. «Die horchen jeden aus. Weiß ich von meinem Bruder. Mit denen gutstellen und nicht viel sagen, das ist das beste. Keine Namen. Danke, daß du es mir gesagt hast. Finde ich große Klasse. Dagegen sind sie machtlos. Meine Meinung vertrete ich überall ... Wer war es denn?»

«Ein Leutnant vom 4. Zug. Ziemlich freundlich ...»
«Schwarze Haare, Ende Zwanzig?»
«Ja.»
«Kann mir schon denken, habe ihn in der Kantine gesehen. So ein Hübscher, hat mit Jutta geflirtet.»

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«Kann sein.»
Ich habe gelogen und bin erleichtert.
Bauer ist gewarnt.

Vor der Halle putzen wir unsere Lederturnschuhe ab. Durch die angelehnte Tür höre ich Rufe und das Aufschlagen eines Balls.
Ein Volleyballnetz ist gespannt. Etwa zehn, zwölf Spieler beteiligen sich. Fast alle tragen Trainingsanzüge, nur einige gelbe Turnhemden und kurze, rote Hosen. Ein langer, dünner Oberleutnant hat seine graue Bluse mit den Schulterstücken anbehalten und schlägt gerade einen Schmetterball. Am Rand der Halle hantiert ein stämmiger, untersetzter Mann mit nacktem Oberkörper an Gewichten. Er reibt sich die Hände, macht Lockerungsübungen. Über ihm baumeln zwei Seile, an denen Holzringe befestigt sind. Wir werden herangewinkt.

Sind die Mitspieler Soldaten? Unteroffiziere? Pfeffis? Einen kenne ich vom Sehen, der ist vom 1. Zug. Aber die anderen ... Der Ball kommt, ich nehme ihn an, spiele ihn aus hinterer Position hoch ans Netz. Jugel bleibt auf meiner Seite, Bauer muß zur gegnerischen Mannschaft.

Wir spielen Volleyball. Plötzlich ist die militärische Hierarchie außer Kraft gesetzt. Der Oberleutnant ist ein Spieler unter anderen. Der Ball nimmt keine Befehle entgegen. Der einfache Soldat Jugel, der Rotarsch, der aufsässige Rekrut, der gerade eingezogen wurde, kann einen Offizier am Netz austricksen, wenn es ihm gelingt.

Es gelingt ihm nicht, der Oberleutnant ist schneller und kann höher springen! Kommt da nicht Känguruhn durch die Tür? Tatsächlich! Mit Trainingsanzug und grün-weißen Einlaufschuhen. Er geht auf die andere Seite, zu Bauer. Muß ich mich jetzt weigern weiterzuspielen? Känguruhn macht Angabe, zieht den Ball scharf übers Netz. Ich werfe mich aufs Parkett, will ihn abfangen, vergebens. Ein Punkt für Känguruhn. Bauer lacht.

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